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Die Obrigkeit

 

Das Ende unseres Idylls

Unser – nach den Lagermaßstäben – idyllisches Leben auf dem Unterlager 3 war leider nicht von langer Dauer. Schuld daran hatte ich selbst. Es war nicht nötig, den Proviantmeister mit den Theorien der trotzkistischen Abweichung bange zu machen, dazu noch diese Theorien zur Erlangung des Überudarnik-Mittagessens anzuwenden; es war auch nicht nötig, den Kolonnenführer an einen schlechten Ort zu wünschen. Man mußte vielmehr mäuschenstill sein und sich nicht rühren. Man mußte möglichst nicht auffallen.

Eines Spätabends machte der Chef des Unterlagers eine Runde durch unsere Baracke, begleitet von der ehrerbietigen Gestalt des Kolonnenführers – desselben, den ich weit fortgewünscht hatte. Der Chef ging majestätisch an all unseren Wanzenlöchern vorbei; der Kolonnenführer erklärte ihm etwas mit gedämpfter Stimme und zeigte bedeutungsvoll auf Georg und mich mit den Augen. Der Chef warf einen unbestimmt-erstaunten Blick in unsere Richtung. Und dann gingen beide weiter. Über solche Fälle heißt es in Romanen: »Eine düstere Vorahnung beschlich sein Herz.« Doch war hier auch ohne Vorahnungen alles klar. Man wird versuchen, uns Hals über Kopf abzuschieben. Ich fluchte wütend in mich hinein und beschloß, am anderen Tage einige noch unklare, doch heroische Maßnahmen zu ergreifen. Aber am anderen Tage, frühmorgens, als die Brigade auf ihrem Marsch zur Arbeit an dem Chef des Unterlagers vorbeizog, rief er mich aus der Front und fragte mißtrauisch, warum ich mich solange auf dem Unterlager 3 herumtreibe. Ich machte ein unschuldiges Gesicht und antwortete, daß ich kleiner Mann von nichts weiß, und daß, wenn man mich hierhalte, die Obrigkeit wohl ihre besonderen Absichten habe. Der Chef betrachtete mich zweifelnd und sagte: »Ich werde Erkundigungen einziehen.«

Das paßte keineswegs in meine Berechnungen. Wenn man über unsere seinerzeitigen »Anforderungen« Erkundigungen einzöge, würden wir sofort mit drei Atmosphären Druck aus dem Unterlager 3 hinausfliegen, irgendwohin, zwar nicht unbedingt nach Norden; aber die Maßnahmen meiner besagten Anforderungen gehörten nicht zu den von der Sowjetmacht besonders gebilligten Taten. An diesem Tage ging ich gar nicht zur Arbeit, sondern begann alle Lagerbüros abzulaufen. Es gab eine Unmenge Möglichkeiten. Wir konnten als Zimmerleute in einer der Brigaden unterkommen, als Übersetzer in der technischen Bibliothek der Hauptverwaltung, als Maschinenschreiber, als etatmäßige Verlader bei dem Zentralverpflegungsbüro, als Laboranten im Photolaboratorium und noch in einer ganzen Reihe von Stellen Unterschlupf finden. Ich versuchte es zunächst bei der Kolonisationsabteilung. Diese befaßte sich mit der Ansiedlung der »freiwillig umsiedelnden« Bauern in der Taiga Kareliens. Auf dem Gebiet der Touristik und Landeskunde hatte ich einen Namen und könnte hier etwas erreichen. Doch stießen alle diese Pläne auf das Abbaufieber. Dieses Fieber mußte man überdauern: »Kommen Sie so nach einem Monat, wir werden Sie unbedingt unterbringen« – beschied man mich. Doch konnte ich mich mit einem Monat auf keinen Fall zufrieden geben. Nicht in einem Monat, sondern noch vor Ablauf einer Woche konnten wir irgendwo nach Segescha geraten, und aus Segescha, wie uns bereits bekannt war, konnte man nicht fortlaufen: ringsherum Moorsümpfe, in denen nicht nur Menschen, sondern sogar Elche einsinken.

Ich beschloß, mit meiner alten Sportbetätigung aufzutrumpfen, und ging unmittelbar zum Chef der Kultur- und Bildungsabteilung, zum Genossen Korsun. Genosse Korsun, ein etwas buckliges, kleines Männlein, empfing mich außerordentlich höflich und korrekt:

»Ja, solche Mitarbeiter wie Sie brauchen wir … Wie ist es mit Ihren Paragraphen? …«

Ich antwortete, daß ich mich, o weh, mit den Paragraphen nicht rühmen könne: 58,6 und so weiter … Korsun breitete hoffnungslos die Arme aus:

»Nichts zu machen … Ihre Mitarbeit auf dem Kulturland Bildungsgebiet, dazu noch im Zentralapparat ist ganz ausgeschlossen; es hat keinen Zweck, darüber weiter zu reden.«

Nach einem Monat versuchte der gleiche Genosse Korsun, mich unter Aufbietung aller Kräfte zu sich herüberzuziehen, obwohl meine Paragraphen sich in der Zeit nicht geändert hatten. Doch im Augenblick hatte er eine solche Möglichkeit nicht vorausgesehen. Ich entschuldigte mich und wollte gehen.

»Wissen Sie was«, sagte Korsun hinter mir her, »versuchen Sie, bei der Dynamo vorzusprechen. Sie ist der Lagerordnung nicht unterstellt, vielleicht kommt dabei was raus.«

 

Dynamo

Dynamo ist »die proletarische Sportvereinigung der Truppen und der Mitarbeiter der GPU« – dem Wesen nach eine der Unterabteilungen der GPU –, eine im höchsten Grade ekelhafte Einrichtung – sogar nach sowjetistischen Maßstäben. Offiziell befaßt sie sich mit der körperlichen Ertüchtigung der Tschekisten; inoffiziell kauft sie alle einigermaßen hervorragenden Sportler in der Sowjetunion auf und steht infolgedessen in allen Sportarten an erster Stelle. An irgendeinen Iwanoff, auf den man als Torwart große Hoffnungen setzt, tritt ein »Käferchen« heran – das ist ein besonderer etatmäßiger Werber-Einkäufer – und sagt:

»Treten Sie zu uns über, Genosse Iwanoff, Sie verstehen doch selbst – Sonderration, hohes Gehalt, eigene Wohnung …«

Die Aussicht auf eine eigene Wohnung ist zu verführerisch. Doch sollte wider Erwarten Iwanoff selbst der Wohnung standhalten, dann sagt das Käferchen mißtrauisch:

»Wie? Genieren sich wohl, unter dem tschekistischen Schild aufzutreten? Tja–a … Wird nichts übrigbleiben, als sich mit Ihnen näher zu befassen …«

Dynamo erfüllt die Funktionen der Bespitzelung in den Sportkreisen. Dynamo befaßt sich auch mit sehr verzweigten Wirtschaftsangelegenheiten: baut Stadions, hat die Herstellung von Sportgeräten monopolisiert, verfügt über eine ganze Reihe von Fabriken, wobei alles ausschließlich durch die Arbeit der Häftlinge gebaut und produziert wird. Dynamo untergräbt die Wurzel jedweder Sportethik; denn »moralisch ist das, was den Zielen der Weltrevolution dient«.

Bei der »Weltspartakiade« im Jahre 1928 habe ich als Schiedsrichter einen der »Dynamomeister« im Streckenlauf dafür disqualifiziert und von der weiteren Teilnahme ausgeschlossen, weil er absichtlich die Wade seines Vordermannes mit den langen Nägeln seiner Laufschuhe aufriß. Der Vormann mußte den Sport für immer aufgeben. Der »Meister« aber sagte mir im Vorbeigehen »Nun, wir werden noch sehen.« Am gleichen Tage abends erhielt ich eine Vorladung von der GPU: eine durchaus unerfreuliche Vorladung. In der GPU sagte man mir kurz, eindringlich und wütend: »Daß das nicht noch einmal vorkommt!« – Das kam auch nicht mehr vor; ich habe es vorgezogen, nicht mehr als Schiedsrichter aufzutreten.

Die Gerechtigkeit muß man Dynamo widerfahren lassen – ihre Meister verpflegte sie glänzend. Das ist eines der Geheimnisse der sportlichen Erfolge der Sowjetunion. Manchmal treten diese Meister unter der Flagge der Berufsverbände auf, manchmal unter der Militärflagge, mitunter sogar im Namen der Gewerbegenossenschaften – je nachdem die politische Konjunktur des Augenblicks es verlangt. Doch sind sie sämtlich von der Dynamo gekauft.

In den Jahren, als ich noch die Rekorde aufstellen konnte, hat es mich große Mühe gekostet, mich von den Einladungen der Dynamo zu drücken. Die einzige reale Möglichkeit dazu war, jedwedes, wenigstens offizielle Training einzustellen. Nachher verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Dynamo und mir mehr und mehr, und wenn ich nicht wegen der Dynamo ins Lager kam, dann jedenfalls nicht infolge Überfluß an Sympathie seitens dieser ehrenwerten Organisation mir gegenüber. In Anbetracht dessen, auch meiner Paragraphen wegen, beschloß ich, nicht zur Dynamo zu gehen. Meine Stimmung war unter aller Kanone.

Ich kehrte in die Monteurstube ein, wo Georg und Pigoliza hinter der Trigonometrie saßen, und Muchin an einem Filzstiefel herumflickte. Georg teilte mir mit, daß seine Sache in Butter sei, und Muchin ihn als Monteur unterbringen wolle. Ich brachte gewisse Zweifel vor:

»Menschen, die höher im Rang stehen als Muchin, können nichts ausrichten.«

Muchin zuckte die Achseln:

»Wir sind nur kleine Leute, und bei uns ist alles furchtbar einfach. Zum Beispiel: In der Wohnung vom Chef der dritten Abteilung ist Kurzschluß – er ruft mich an, ich antworte ihm: ›Leider nicht zu machen … heute geht's nicht … alle sind auf Montage. Wir haben überhaupt einen großen Mangel an Spezialarbeitern‹ Er sitzt einen ganzen Abend ohne Licht, dann unterschreibt er jede beliebige Order.«

Mir wurde leichter ums Herz. – Wenn ich irgendwohin hinausgepfeffert werde, wird Georg doch bleiben, und ich werde die Möglichkeit haben, mich mit Hilfe unserer Bekannten in Medgora wieder aus der Patsche herauszuziehen … Doch immerhin …

Auf dem Heimwege erstattete ich Georg Meldung über die Lage an meinem Frontabschnitt. Georg fiel gleich über mich her: »Selbstverständlich muß man zur Dynamo gehen, auch wenn die Chance, dort unterzukommen, nur eins zu hundert steht.«

Ich verspürte sehr wenig Lust, hinzugehen. So schritten wir einher und haderten … Ich stellte mir vor, daß man mir, selbst im günstigsten Fall, nicht ohne Schadenfreude sagen wird: Aha, als wir Sie riefen, da wollten Sie nicht kommen … Na, und so weiter. Auch die Chancen erschienen mir null und nichtig. Später erwies sich, daß ich die bolschewistische Wirklichkeit und manche andere Dinge stark unterschätzt hatte … Kurzum, das Endergebnis dieses Zankes war, daß ich mich verzagt zur Dynamo schleppte.

 

Genosse Honigkocher

Das Dynamo-Stadion lag auf dem Gelände der freien Stadt. Um das Stadion gruppierten sich niedrige Holzhäuschen: Büros, Magazine und Dienstwohnungen. Ich betrete das Büro. Das erste Zimmer ist ein Billardsaal. An der Tür des zweiten hängt ein Schildchen: Dynamo-Verwaltung. Ich trete ein. Die Brille ist angelaufen, ich setze sie ab, sehe fast nichts und frage:

»Kann ich den Chef der Lehrabteilung sprechen?«

Hinter dem Schreibtisch erhebt sich jemand, der mir wie im Nebel erscheint, starrt auf mich und schweigt. Ich schweige auch und fühle mich außerordentlich ungemütlich. Ein nebelhaftes Gespenst spreizt die Hände:

»Ach, du kriegst die Motten, oder höflicher gesagt, wie sind denn Sie hierher geraten, Genosse Solonewitsch? Oder vielleicht sind Sie es gar nicht?«

»Offensichtlich bin ich's. Und geraten? – Wie gewöhnlich – mit dem Transportzug.«

»Schon lange? Und was machen Sie jetzt?«

»Ungefähr einen Monat; ich reinige Aborte und Müllkästen.«

»Na, wissen Se, das ist doch en Unding. Haben Se denn nich gewußt, daß das BBK auch eine Dynamoabteilung hat? Mache mer's kurz, von dieser Sekunde ab stehen Sie im Dienste des proletarischen Sportverbandes Dynamo – über Ihre Arbeit sprechen wir später. Nehmen Se Platz und erzählen Se.«

Ich setzte die geputzte Brille auf. Vor mir steht eine mir völlig unbekannte Gestalt, auf jeden Fall aber ein klar ausgeprägter Odessit Einwohner Odessas.. Seine eigene Mutter hätte nicht bestimmen können, wieviel türkisches, jüdisches, griechisches, russisches und sonstiges Blut in seinen Adern fließt. Auf dem stämmigen Rumpf sitzt ein dicker, fetter Hals, auf ihm ein spitzbübisch gutmütiger und energischer Kopf, mit dichtem Kraushaar bedeckt … Wo habe ich ihn bloß gesehen? Keine Ahnung …

Ich setze mich:

»Mit meiner Arbeit in der Dynamo scheint es mir nicht so einfach zu sein. Meine Paragraphen …«

»Ei was, wir pfeifen auf Ihre Paragraphen. Brauche ich Ihre Paragraphen? Will nicht mal danach fragen. Werden Se stemmen die Gewichtstange mit den Paragraphen oder mit Ihren Armen? Erzählen Sie erst!«

Ich erzähle.

»Dann ist im allgemeinen alles in Ordnung. Blättern wir weiter die Seiten Ihrer Geschichte. Mache mer hier eine Sache, daß Moskau sagen wird: ›Ach!‹ Können Se spucken auf den Chef des Unterlagers. Sie verstehen doch, unser Vorsitzender ist Uspenski Chef des BBK. selbst, sein Stellvertreter Radetzky ist Chef der GPU des BBK, und die RVZ? Pche, wir pfeifen auf die RVZ.«

Ich sehe mir diesen Chef der Lehrabteilung an und beginne dahinterzukommen, erstens, daß man bei ihm gut aufgehoben sein wird, und zweitens, daß er durch mich irgendeine Karriere zu machen beabsichtigt. Wer ist er aber? Zu fragen schickt sich nicht.

»Und wohnen werden Sie mit dem Sohn hier, wir räumen Ihnen ein Zimmer ein … Ei freilich, auch Ihren Sohn bringen wir unter – Sie wissen doch, wenn Dynamo etwas anfaßt, dann macht sie Nägel mit Köppen … Das paßt ja gut, jetzt kommt auch Batüschkow dazu; kennen Se Batüschkow?«

Ins Zimmer tritt ein kräftiger, militärisch aussehender Mann: Fjedor Nikolajewitsch Batüschkow, einer der besten Sportinstruktoren Moskaus, der auch im Zusammenhang mit der bekannten Politisierung des Sports vom Moskauer Horizont verschwand. Wir murmeln ein paar dem Augenblick entsprechende Begrüßungsworte.

»So«, beendet Batüschkow seine Begrüßung, »wie man so sagt – alle Wege führen nach Rom. Doch, die Hauptsache – wieviel?«

»Acht.«

»Paragraphen?«

»58,6 und so weiter.«

»Sind Sie schon lange hier?«

Ich erzähle.

»Das ist, entschuldigen Sie, Iwan Lukjanowitsch, einfach eine Schweinerei! Wenn Sie selbst ein Vergnügen daran finden, die Abtritte zu reinigen, dann ist es Ihre Sache. Aber Sie haben auch Ihren Sohn dabei! Haben Sie denn wirklich gedacht, daß es in Rußland eine Sportorganisation gibt, in der man Sie nicht kennt? Es gibt in der Welt eine Klassensolidarität, eine nationale Solidarität, na ich weiß nicht welche sonst noch, doch etwas Höheres als die Sportsolidarität gibt es nicht. Im Handumdrehen hätten wir Sie untergebracht.«

»Fjedor Nikolajewitsch«, sagt der Chef der Lehrabteilung, »Sie brauchen sich nicht mehr einzumischen. – Wir haben schon alles verabredet.«

»Na schön, ihr habt die Sache fertiggemacht, und ich möchte reden … Von nun ab werden wir ein schönes Leben haben. Wir werden, erstens«, Batüschkow zählte an den Fingern ab, »Tennis spielen, zweitens – baden, drittens – Wodka trinken, viertens, viertens – anscheinend nichts …«

»Hören Sie mal, Batüschkow«, unterbricht ihn im offiziellen Ton der Chef der Lehrabteilung, »was erlauben Sie sich eigentlich? Wir haben auch noch die Arbeit.«

»Lassen Sie das doch sein, Honigkocher, wem wollen Sie das erzählen? Etwa Iwan Lukjanowitsch? In seinem Leben hat er Tausende von allerhand Sportorganisationen revidiert. Sollte er sich da nicht auskennen? Es fehlte noch, daß wir uns gegenseitig falsche Tatsachen vorspiegeln! Den Anschein muß man allerdings geben …«

»Nun ja, Sie verstehen«, sagt der Chef der Lehrabteilung etwas beunruhigt, »wir müssen doch Klasse zeigen!«

»Das versteht sich von selbst. Den Anschein geben, das ist das einzige, was wir werden tun müssen. Seien Sie unbesorgt, lieber Honigkocher – Iwan Lukjanowitsch wird hier eine Klasse zeigen, daß man Sie direkt zum Mitglied des Zentralkomitees der Partei macht«, und zu mir gewandt: »Können Sie reiten? Nein? Dann bringe ich's Ihnen bei – wir werden zusammen spazierenreiten … Vielleicht wissen Sie, Iwan Lukjanowitsch, vielleicht auch nicht, wie angenehm es ist, einem Menschen zu begegnen, der ernstlich für den Sport kämpfte … Wir, die unteren Mitarbeiter, wußten, wenn einer, dann hat Solonewitsch für den Sport gearbeitet. Nicht etwa so wie Honigkocher. – Der spekuliert einfach mit dem Sport. – Warum er mit dem Sport und nicht mit Insektenpulver spekuliert, das verstehe ich nicht.«

»Hören Sie mal, Batüschkow«, braust Honigkocher auf, »der Teufel soll Sie holen. Sie erlauben sich etwas zu viel!«

»Brüllen Sie nicht, mein Lieber, ich kenne Sie doch. Sie sind einfach eine Seele von Mensch. Nur haben Sie einen Fehler gemacht, daß Sie vor der Revolution und als Honigkocher geboren wurden und nicht vor tausend Jahren und als Dieb von Bagdad …«

»Pfui!« spuckte Honigkocher aus, »kann mer sich unterhalte denn mit ihm? Sie sehen doch, wir wollen machen ein gutes Geschäft und dieser besoffene Kerl …«

»Ich bin völlig nüchtern. Auch gestern war ich leider völlig nüchtern.«

»Wo nehmen Sie das Geld zum Saufen her?« staunte ich.

»Dort, wo Sie es auch hernehmen werden. Das große Geheimnis des Lagerdaseins. Sie meinen nicht? Lassen Sie man das – unbedingt werden Sie es! Nach einem Monat schon werden Sie sich selbst Vorwürfe machen, daß Sie sich nicht fünf Jahre früher ins Lager gesetzt haben, daß Sie so närrisch waren, ihre Nerven in Moskau zu vergeuden und dergleichen mehr. Ich versichere Ihnen, die ruhigste Stelle der Sowjetunion, das ist die Dynamo in Medgora. Glauben Sie nicht? Na, Sie werden's schon glauben …«

 

Das Lächeln des Schicksals

Ich verließ die Dynamo in einer sehr verworrenen Geistesverfassung. Erst später konnte ich mich überzeugen, daß man in der Dynamo der BBK-GPU inmitten der voll Leichen steckenden Sümpfe, der Gevierte 19 und der Besprisornikkolonien tatsächlich wie in einem Kurort leben konnte – doch im Augenblick wußte ich es noch nicht. Nachdem Georg meinen Vortrag über das Vorgefallene gehört hatte, sagte er mir, belehrend und erfreut: »Na, siehst du, und du wolltest nicht gehen – ich sage doch immer, wenn es schon ganz dreckig wird, dann muß ›Spiegel‹ erscheinen.«

Ja, wir haben Glück gehabt, und das zur rechten Zeit. Aber wenn die Gefahr, die uns vom Chef des Unterlagers 3 drohte, etwas früher in Erscheinung getreten wäre, so hätte ich auch früher bei der Dynamo vorgesprochen. Bei der gegebenen Lage war es die einzige Möglichkeit, sich zu retten, und warum sollte die Dynamo mir keine anständige Arbeit geben?

Am anderen Tage ging ich mit Honigkocher zur dritten Abteilung, um meiner Ernennung »amtliche Form« zu geben.

»Das sind Kleinigkeiten«, sagte Honigkocher, »leere Formalitäten; Gollmann, unser Sekretär, unterschreibt, und die Sache klappt.«

»Was für ein Gollmann? Vom Obersten Rat der Sportkommission?«

»Ja, der, wer sonst?«

Die glänzenden Perspektiven begannen zu verblassen. Gollmann war einer der Aktivisten, die ihre Karriere durch die Politisierung des Sports machten – ich war einer der wenigen, die diese Politisierung bekämpft hatten, und der einzige, der aus diesem Kampf mit einem blauen Auge davonkam. Nach einem meiner Gefechte mit ihm fragte er einmal einen der Anwesenden:

»Was ist das für ein Solonewitsch? Der, der auf den Solowetzki-Inseln saß?«

»Nein, das war sein Bruder.«

»Aha … Dann überbringen Sie diesem, daß er auch sitzen wird.«

Man hat's mir natürlich hinterbracht.

Es erwies sich, o weh, daß Gollmann ein Prophet war … Ob er sich jetzt mit meiner Mitarbeit in der Dynamo zufriedengeben wird? Er empfing mich sehr korrekt, sogar etwas zeremoniell. Er fragte lange und eindringlich, wofür ich eigentlich sitze, und sagte dann, daß er gegen meine Ernennung nichts einzuwenden hätte, daß er aber auf meine unbedingte Loyalität hoffe:

»Sie verstehen doch – wir bringen Ihnen ein außergewöhnliches Vertrauen entgegen, und wenn Sie es nicht rechtfertigen …«

Das war auch ohne seine Andeutungen klar, obwohl Gollmann mir in Wirklichkeit kein Vertrauen, geschweige denn ein außergewöhnliches, entgegenbrachte.

»Den entsprechenden Befehl für die Dynamo unterschreibe ich, und für das Unterlager 3 bekommt Honigkocher von Radetzky ein Schreiben über Ihre Versetzung und Neuernennung. Also, einstweilen …«

Ich ging wieder zur Dynamo, um mich mit Batüschkow darüber zu unterhalten, warum »er so tief gesunken war«. An sich war nichts Außergewöhnliches mit ihm, nur hatte er nicht fünf Jahre wie die übrigen, sondern als ehemaliger Offizier zehn Jahre bekommen. Fünf Jahre hatte er schon abgesessen, ein Teil davon auf den Solowetzki-Inseln. Sein Leben erwies sich nicht als so kurortmäßig, wie er es beschrieb: in der Freiheit ließ er Frau und Kind zurück.

Nach etwa zwei Stunden kam Honigkocher verstimmt zurück:

»Eh, ist nichts geworden aus Ihrer Ernennung. Hundertprozentiger Reinfall, hol's der Teufel.«

Mir wurde sehr unbehaglich zumute: »Was ist passiert?«

»Weiß ich? Dort, bei der dritten Abteilung, wie sich herausgestellt hat, liegt eine Sache gegen Sie. Sie sollen gestohlen haben in der Podporoger Abteilung einige Aktenstücke. Ich sagte Gollmann: ›Sie müssen doch verstehen, wozu braucht zu stehlen Solonewitsch die Akten, sieht er denn so aus?‹ … Gollmann sagt mir, daß er von nichts weiß … Wenn aber Solonewitsch sich mit ähnlichen Sachen auch im Lager befaßt …«

Sofort begreife ich, daß es die Denunziation Starodubzeffs ist, die ich schon längst für »liquidiert« hielt. Ich ging zu Gollmann. Er verhielt sich ebenso korrekt wie das letzte Mal, doch äußerst trocken. Ich wiederholte meine alte Deduktion: wenn ich aus Sabotage hätte stehlen wollen, dann hätte ich bestimmt etwas anderes, doch nicht die Akten gestohlen, nach denen siebzig Menschen freigelassen werden sollten. Gollmann zuckte die Achseln:

»Mit psychologischen Erwägungen können wir uns nicht befassen. – Die Sache ist im Gang, und die Frage Ihrer Ernennung ist somit erledigt.«

Ich entschließe mich, nach dem letzten Strohhalm zu greifen – nach Jakimenko. Zwar kein verläßlicher Strohhalm; aber was riskiere ich auch?

»Der Chef der RVZ, Genosse Jakimenko, ist über die Sache völlig im Bilde. Auf seinen ausdrücklichen Befehl hin hat man diese Sache bei der Podporoger Abteilung eingestellt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Das hat er mir selbst gesagt.«

»So? Na, da wollen wir mal sehen.« – Gollmann nahm den Hörer ab:

»Ist dort das Kabinett des Chefs der RVZ? Genosse Jakimenko selbst? Hier Gollmann, Chef der Operationsabteilung … Wir haben hier eine Untersuchungssache, wonach ein gewisser Solonewitsch des Diebstahls von Akten bei der NVA in Podporog beschuldigt wird … So? So-so … Dann gut. Ja, wird eingestellt. Ja, hier … Hier bei mir im Kabinett.« Gollmann reicht mir den Hörer.

»Dort stecken Sie?« höre ich die Stimme Jakimenkos. »Und Ihr Sohn? … Ausgezeichnet! Wo arbeiten Sie jetzt?«

Ich sage, daß ich soeben beabsichtige, meine alte Spezialität, den Sport, aufzunehmen.

»So, dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich an mich.«

Der Ton und das Angebot Jakimenkos überraschten mich. Ich war so überzeugt, daß Jakimenko die ganze Geschichte mit den BAM-Listen kannte, und daß es am richtigsten für mich wäre, ihn zu meiden – und nun …

»Also, die Frage ist geklärt, freut mich sehr. Ich weiß, daß Sie arbeiten können, wenn Sie wollen. Aber, Genosse Solonewitsch – keine Debatten! Absolute Disziplin!«

»Mir ist jetzt gar nicht nach Debatten zumute.«

»Warum nicht früher so, dann säßen Sie nicht hier. Gleich bringe ich Ihre Ernennung Radetzky zur Unterschrift; nehmen Sie im Empfangszimmer Platz und warten Sie solange!«

Ich sitze im Empfangszimmer. Hier ist die GPU-Zentrale des BBK. Aus den Kabinetten kommen und gehen verschiedene Detektivromangestalten … Einige Verhaftete werden vorbeigeschleppt. Neben mir, unter Bewachung von zwei »Operateuren«, sitzt ein Alter, dem Äußeren nach ein Priester, starr schaut er irgendwohin in die Ferne, direkt durch die Wände der dritten Abteilung, als ob er die ihm noch auf Erden gebliebenen Tage nachzählt … Gegenüber sitzt ein nicht näher zu bestimmender Bursche mit ganz abgemagertem, totenkopfähnlichem Gesicht … Eine Frau weint lautlos in ihren Schoß hinein … Es sind offensichtlich Menschen, die auf ihre Erschießung warten – mit Kleinigkeiten gibt man sich hier nicht ab. Es bemächtigt sich meiner das Gefühl eines scheußlich-klebrigen Ekels – auch gegen mich selbst: warum sitze ich hier nicht mit als Verhafteter, obwohl ich auch nicht frei bin … Nein, heraus hier und fliehen, fliehen, fliehen!

Gollmann kommt mit einem Papier in der Hand:

»Hier haben Sie Ihre Versetzung nach Unterlager 1 und das übrige, von Radetzky selbst unterzeichnet.« Etwas ratlos, und als ob er ein wenig unzufrieden wäre, zuckt Gollmann die Achseln und fügt hinzu: »Radetzky will Sie und Ihren Sohn sehen … Anscheinend kennt er Sie … Morgen um neun Uhr.«

Von Radetzky weiß ich gar nichts, abgesehen davon, daß er so eine Art Dserschinski oder Jagoda in Karelien und im BBK ist. Was, zum Teufel, will er von mir? Und dazu noch mit Georg? Viele beunruhigende Fragen regen sich wieder …

 

Abschied vom Chef des Unterlagers 3

Abends kommt der Kolonnenführer zu uns.

»Solonewitsch senior, zum Chef des Unterlagers!«

Der Kolonnenführer sieht finster und drohend aus: jetzt will ich sehen, was du mit deinen trotzkistischen Abweichungen machst …

Der Chef des Unterlagers sieht ganz und gar wie ein Inquisitor aus, allerdings einer kleineren Kalibers, so in der Art eines eingebildeten Dorfschulzen.

»Nun, Bürger Solonewitsch«, beginnt er in einem Ton, der das Blut zum Erstarren bringen sollte, »erklären Sie gefälligst, was bedeutet all dieser Kram!«

Vor ihm auf dem Tisch liegt ein ganzer Stoß meiner berühmten Anforderungen … Aber in meiner Tasche habe ich das von Radetzky unterschriebene Papier.

»Abweichungen hat er immerzu gedeutet«, lachte giftig der Kolonnenführer.

Beide haben ein befriedigt sadistisches Aussehen: Aha, jetzt haben wir einen Intellektuellen erwischt, dem werden wir's gleich zeigen … In mir steigt eine kalte Wut auf – die Wut auf das ganze Starodubzeffsche Lumpenpack. – Ach so, ihr denkt, mich gefangen zu haben? Nun, wir werden ja sehen, wer den kürzeren zieht.

»Was für ein Kram?« frage ich in ruhigem Ton. »Ach so? Die Anforderungen? Das interessiert mich in keiner Weise.«

»Wollen Sie mich hier zum Narren halten?« brüllt plötzlich der Kolonnenführer. »Jeder Schweinehund …«

Sofort balle ich meine Faust vor seiner Nase:

»Sehen Sie die an! Ich zeige Ihnen den Schweinehund, daß Sie selbst auf dem Faulen Fluß noch nicht zu sich kommen!«

Auf der stumpfsinnigen Fratze des Kolonnenführers flimmern wie die Schatten auf der Leinwand: die Wahrnehmung, daß, wenn jemand ihm die Faust vor die Nase hält – dieser Jemand irgendwelche Gründe dazu hat; es flimmern noch die Wut, die beleidigte Eigenliebe und noch manches – genau so, wie seinerzeit auf dem Gesicht Starodubzeffs.

»Ich habe überhaupt keine Lust, mich mit Ihnen zu unterhalten«, schneide ich ab. »Fertigen Sie mir bitte für morgen früh ein Begleitschreiben nach Unterlager 1 aus.«

Ich reiche dem Chef des Unterlagers das Schreiben, auf dem über der roten fetten und schnörkelhaften Unterschrift Radetzkys steht: »Iwan Solonewitsch wird unverzüglich zur unmittelbaren Verfügung der dritten Abteilung abkommandiert. Der Chef des Unterlagers 1 hat für die entsprechende Ausrüstung zu sorgen …«

Der Chef des Unterlagers 1 hat zu sorgen, und dem Chef des Unterlagers 3 stehen die Haare zu Berge. »Zur unmittelbaren Verfügung der dritten Abteilung!« Das bedeutet – irgendein vorübergehend in Ungnade gefallener Tschekist hohen Ranges. Wahrscheinlich saß er hier sogar mit irgendeinem »streng vertraulichen Auftrag« … Saß, spionierte und schnüffelte.

Der Chef des Unterlagers 3 wischt sich den Schweiß von der Stirn … Er spricht stockend:

»Entschuldigen Sie schon, Genosse, Sie wissen ja selbst, der Dienst … Allerhand Volk kommt hier vorbei … Man müht sich ab – aus Leibeskräften … Und da kann es nicht ohne Fehler gehen … Selbstverständlich werde ich sofort … Ein Fuhrwerk müssen wir auch beordern – denn Sie können Ihre Sachen doch nicht auf dem Buckel tragen … Entschuldigen Sie schon gütigst!«

Wenn der Chef des Unterlagers 3 einen Schwanz hätte, würde er bestimmt damit wedeln. Doch er hat keinen. Er hat nur ein grenzenloses Lakaientum, das die Atmosphäre gleich grenzenlosen Sklaventums geschaffen hat.

»Morgen früh ist alles fertig. Seien Sie bitte unbesorgt. Gewiß ein Mißverständnis, entschuldigen Sie!«

Ich entschuldige selbstverständlich und schreite hinaus. Der Kolonnenführer läuft vorweg und macht die Tür auf … In der Baracke fragt mich Georg, warum meine Hände zittern … Nein, es ist kein Leben, man darf hier nicht leben, man darf nicht! … Man kann innerlich verbrennen in dieser Atmosphäre von dauernd unterdrückten Empfindungen des Hasses, des Ekels und der Hilflosigkeit … Man darf hier nicht leben. Allmächtiger, wann wird es endlich so weit sein, daß ich nicht mehr hier leben muß?!

Am anderen Morgen hat man uns tatsächlich bis Medgora ein Fuhrwerk mitgegeben. Dienernd war der Chef des Unterlagers um uns bemüht. Meine Wut von gestern war verflogen; ich sah, daß der Chef ein vielgeplagter und müde gejagter Mensch war, natürlich ein Dieb, natürlich ein Lump, doch im großen und ganzen dasselbe Opfer einer allgemeinen Versklavung wie ich. Ich schämte mich meines gestrigen Jähzornes, meiner Grobheit und meiner Faust.

Jetzt half er uns, unsere armseligen Klamotten im Fuhrwerk zu verstauen und entschuldigte sich nochmals für das gestrige Geschimpfe. Ich antwortete auch mit einer Entschuldigung für meine Faust. Freundlich verabschiedeten wir uns, gleich freundlich begegneten wir uns später wieder. Was soll man machen, jeder muß sich in dieser Kaschemme herauswinden, wie er eben kann. Was hätte ich selbst getan, wenn ich meine gegenwärtigen Anhaltspunkte nicht hätte? Es wäre dann nur die eine Alternative möglich: entweder zum »Aktiv« oder an den Faulen Fluß! In der Theorie läßt sich diese Alternative sehr einfach lösen … In der Praxis ist es schon viel schwieriger.

 

Audienz

Auf dem Unterlager 1 hat man uns in einer der bevorzugtesten Baracken untergebracht, die ausschließlich von den Verwaltungsangestellten, vorwiegend Eisenbahnern, und dem Wasserstraßenpersonal belegt wurde. Urkis gab's hier nicht. Die Baracke war »waggonartig« gebaut, das heißt es gab keine Stellagen, sondern Einzelpritschen mit Durchgängen, wie zwischen den Bänken in den Wagen dritter Klasse. Wir wählten zwei obere Pritschen, verteilten unsere Sachen und gingen unruhigen Herzens zur Audienz beim Genossen Radetzky.

Radetzky empfing uns pünktlich zur angesetzten Stunde. Der Passierschein zum Betreten der dritten Abteilung lag schon bereit. Gollmann kam selbst heraus, um sich zu vergewissern, ob wir es tatsächlich waren. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, führte er uns in Radetzkys Kabinett – ein großes Zimmer, dessen Wände mit Bildern der Parteiführer und geographischen Karten des ganzen Gebietes behangen waren. Mit Begierde im Herzen betrachtete ich die Karten.

Ein großer, massiger Mann, Mitte fünfzig, empfängt uns freundschaftlich und ein ganz wenig spöttisch, als ob er sagen wollte, daß er unsere Bekanntschaft auffrischen und uns durch sein Lächeln daran erinnern möchte.

Ich erinnere mich aber nicht und verwünsche mein Personengedächtnis … Aber es sind auch zu viele an meinen Augen vorübergegangen … Radetzky hat ein volles, glattrasiertes, sehr intelligentes Gesicht und die ruhigen, korrekten Manieren eines Parteiwürdenträgers, der sich mit einem parteilosen Spezialisten unterhält: Parteiwürdenträger unterhalten sich immer mit ausgesuchter Korrektheit. Aber – ich erinnere mich nicht!

»Und das – Ihr Sohn? Auch Sportsmann? Nun, dann wollen wir Bekanntschaft schließen, junger Mann. Warum nur beginnen Sie Ihre Karriere so schlecht: direkt vom Lager! Ei ei, das ist nicht gut, nicht gut.«

»Ja, Kismet«, lächelt Georg.

»Na, nitschewo, nitschewo, nicht verzagen, junger Mann … alles wird sich schon finden … Wissen Sie, woher das ist?«

»Jawohl.«

»Nun, woher?«

»Aus Tolstoi.«

»Gut, gut, brav! Aber nehmen Sie doch Platz!«

Auf alles, aber auf einen solchen Empfang war ich nicht gefaßt. Was ist das? Eine Falle? Oder einfach eine Komödie? Ein väterlicher Ton in dem Kabinett, wo jeden Tag Todesurteile unterschrieben werden, vielleicht Dutzende von Todesurteilen. Wieder empfinde ich einen tiefen Ekel und bin ratlos.

»Also, Sie erinnern sich nicht?« wendet sich Radetzky mir zu. »Schön, ich helfe Ihnen. Es war, glaube ich, im Jahre 1928, da bauten Sie in Rostow einen Sportpark und schimpften dauernd mit allen, die es verdient und nicht verdient hatten, darunter auch mit mir.«

»Jetzt weiß ich! Sie waren Sekretär Etwa stellvertretender Oberpräsident. des Nordkaukasischen Bezirkskomitees.«

»Ganz recht«, nickte Radetzky befriedigt. »Und folglich auch Vorsitzender des Rates für Sportwesen. Diesen Park, man muß Ihnen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, haben Sie prachtvoll geplant und den Bau glänzend durchgeführt, so daß Sie gar nicht ohne Recht schimpften … Nebenbei bemerkt, wir haben diesen Park für uns genommen: die »Dynamo« ist immerhin ein besserer Besitzer als der Verband der Sowjetangestellten.«

Radetzky sieht mich durchdringend und ironisch an. Ahnte ich damals, daß ich den Park für die Tschekisten baute? Selbstverständlich nicht. Die Sportparks von Rostow und Charkow waren meine Schöpfung und sozusagen die Krone meiner sportlichen Tätigkeit. Ich habe mich sehr bemüht und vieles riskiert; bemüht und riskiert, wie es sich nun erwies, für die Tschekisten. Jammerschade … Doch ich darf diesen Jammer nicht zeigen.

»Was denn«, zuckte ich die Schultern, »auf den Besitzer kommt es nicht an. Ich denke, daß Sie allen Werktätigen diesen Park zugänglich machen.«

Bei dem Wort »Werktätige« hebt Radetzky ironisch die Augenbrauen:

»Nun das – wie man's nimmt. Manche lassen wir rein, manche auch nicht. Auf jeden Fall erwies sich Ihre Idee als technisch richtig … Nehmen Sie doch eine Zigarette … Und Sie, junger Mann? Rauchen nicht? Trinken auch keinen Wodka? Sehr gut, ausgezeichnet, ein ganz musterhafter Sportsmann … Doch müssen Sie, cum bonus pater familias, immerhin Obacht auf Ihren Erben geben, damit er in der »Dynamo« nicht unter die Saufbrüder kommt – dort sitzen große Spezialisten auf diesem Gebiet.«

Ich brachte einige Zweifel zum Ausdruck.

»Nicht doch, glauben Sie mir. Es gehört zu unserer Spezialität, alles zu wissen: das, was heute nötig ist, und das, was vielleicht später von Nutzen sein könnte … Beispielsweise Ihre Biographie kennen wir mit vollkommener Genauigkeit.«

»Das versteht sich wohl von selbst … Wenn ich im Laufe eines Jahrzehntes unter meinem eigenen Namen schrieb und auftrat.«

»Das ist ja gerade gut, daß Sie es taten. Sie zeigten uns, daß Sie ein offenes Spiel führen. Auch von unserem Standpunkt aus haben Lügen kurze Beine.«

Ich nickte zustimmend mit dem Kopf. Mein Spiel war nicht besonders offen, von vielen Einzelheiten meines Lebens hatte die GPU keine Ahnung, doch Radetzky zu widersprechen, wäre ein ganz überflüssiger Luxus: mag er weiter in seinem amtlichen Selbsttrost verweilen. Die Legende vom allsehenden Auge wird von der GPU weitgehend mit der Absicht verbreitet, den Bürger bange zu machen. Ich verhalte mich dieser Legende gegenüber äußerst skeptisch, ebenso wie ich von der Tatsache, daß Radetzky eine sehr schwache Vorstellung von meiner Biographie hat, vollkommen überzeugt bin. Aber wozu streiten?

»Also, gehen wir zum geschäftlichen Teil unserer Unterredung über. Sie verstehen wohl, daß wir Sie in die Dynamo nicht wegen Ihrer hübschen Augen einladen. (Ich nicke mit dem Kopf.) Wir kennen Sie als einen bedeutenden Spezialisten des Sportwesens für die gesamte Sowjetunion und als einen glänzenden Organisator. (Ich senke bescheiden die Augen.) Mitarbeiter Ihres Formats gibt es im BBK nicht. Honigkocher ist überhaupt kein Spezialist; Batüschkow ist nur ein Instruktor … Folglich haben wir kein Interesse, Sie beim Aufräumen der Höfe und beim Zersägen von Brennholz zu lassen. Wir werden Sie gemäß Ihrer Spezialität verwenden. Ich will nicht fragen, weshalb Sie hierhergeraten sind. Ich erfahre es auch ohne Sie und genauer, als Sie es selbst wissen. Augenblicklich interessiert es mich auch nicht. Wir übertragen Ihnen die Aufgabe, eine mustergültige Dynamoabteilung zu schaffen … Sagen wir, im Herbst werden die Meisterschaftskämpfe des Nordwestgebietes ausgetragen, Dynamomeisterschaften … Können Sie einige Sportriegen zusammenstellen und eindrillen, daß wir der Leningrader Abteilung eins auswischen? Wie? Da können Sie mal Ihre Klasse zeigen!«

Nun ist das Geheimnis der Audienz gelüftet. Für jedes Werksportkomitee und für jede Dynamoabteilung ist der Sieg eine Frage des Ehrgeizes, der Mode und des Glückspiels zugleich. Die Werke locken gute Stürmer zu sich herüber, und die Dynamo kauft die Meister auf. Für das Werkkomitee ist die Produktion eine unangenehme, doch unvermeidliche Lebensprosa – die Fußballmannschaft aber ist ein Gegenstand des Stolzes, ein Objekt der zärtlichen Pflege, ein poetischer Streifen auf dem grauen Hintergrund des Lebens. So hat mancher Edelmann aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts mehr Gefühl für seine Hundemeute als für den Ernteertrag seiner Felder gehabt; ein guter Barsoi kostete viel mehr als ein fleißiger Bauer, und ein qualifizierter Hundewärter wurde beinahe mit Gold aufgewogen. Die Rolle eines solchen Hundewärters muß ich nun spielen. Zu gern möchte Radetzky der Leningrader Dynamo eins auswischen. Für so einen Triumph wäre er bereit, auch beide Augen wegen meiner Paragraphen zuzudrücken.

»Genosse Radetzky, ich möchte immerhin ehrlich vorher sagen, daß ich Ihnen nichts Unmögliches versprechen kann.«

»Wieso nichts Unmögliches?«

»Weil es mir nicht klar ist, wie Medgora mit seinen fünfzehntausend Einwohnern mit Leningrad konkurrieren kann.«

»Ach, das meinen Sie? Medgora hat nichts zu sagen. Wir beabsichtigen gar nicht, Sie im Medgoramaßstab zu verwenden. Sie werden bei uns im Maßstabe des ganzen BBK arbeiten. – Sie bereisen alle Abteilungen, suchen sich Menschen aus … Die Wahl werden Sie ungefähr unter dreihunderttausend Menschen treffen können …«

Dreihunderttausend! In Podporog versuchte ich, die »Bevölkerung« des BBK zu zählen, das Ergebnis lag bedeutend niedriger. Kann das stimmen – dreihunderttausend? Mein Gott, mein Gott … Freilich wird es möglich sein, einige Riegen zusammenzustellen. – Allein an Sportinstruktoren gibt es hier schon eine ganze Menge!

»Also, fangen Sie mit Abteilung Medgora an! Besichtigen Sie sämtliche Unterlager, stellen Sie einzelne Riegen zusammen. Sollten Sie geschäftliche Mißverständnisse mit Honigkocher oder mit Gollmann haben, dann wenden Sie sich direkt an mich.«

»Genosse Gollmann hat mich gewarnt, ›mit Debatten‹ zu arbeiten.«

»Ich bin hier der Herr, und nicht Gollmann! Ja, ich weiß, daß Ihre Beziehungen zu Gollmann in Moskau nicht gerade die besten waren, deshalb hat er auch … Ich verstehe, daß es für Sie keinen Sinn hat, dieses Verhältnis wieder zu trüben. Sollten irgendwelche Mißverständnisse entstehen, dann kommen Sie zu mir, sozusagen durch den Lieferanteneingang. Wir beraten das dann. Gollmann sowie Honigkocher bekommen die Befehle direkt von mir, so bleiben Sie aus dem Spiel … Ach so, was Ihre Lebensbedürfnisse anbetrifft – das werden wir selbstverständlich sicherstellen; denn wir haben großes Interesse daran, daß Sie reibungslos arbeiten … Für Ihren Sohn denken Sie etwas Passendes aus. Einstweilen werden wir ihn als Sportinstruktor anstellen.«

»Ich möchte eigentlich aufs Technikum gehen.«

»Aufs Technikum? Na, meinetwegen aufs Technikum. Allerdings sollte man Sie mit Ihren Paragraphen nicht dorthin lassen; aber ich hoffe«, Radetzky lächelte gutmütig ironisch, »daß Sie sich umschmieden?«

»Ich habe mich fast zur Hälfte umgeschmiedet, Bürger Chef«, fängt Georg den Scherz auf.

»Also, dann bleiben nur Kleinigkeiten. Wir wollen nun unsere Besprechung als beendet betrachten und die Resolution als einstimmig angenommen. Nebenbei«, wendet sich Radetzky an mich, »Sie scheinen ein guter Tennisspieler zu sein?«

»Nein, ein ziemlich durchschnittlicher.«

»Erlauben Sie mal, Batüschkow sagte mir, Sie hätten seinerzeit einen großen Feldzug zur Rehabilitierung des Tennissportes eingeleitet. Sie hätten nachgewiesen, daß es eine durchaus proletarische Sportart ist. Nun, wir werden gelegentlich eine Partie spielen. Gelt? Also, einstweilen, und viel Erfolg!«

Wir verließen Radetzky.

»Man muß noch eine Sitzung anberaumen«, sagte Georg, »denn ich verstehe rein gar nichts …«

Wir kehrten in dem Hof ein, auf dem wir neulich die Bretter aufstapelten. Wir setzten uns auf unsere eigene Schöpfung, und ich hielt Georg eine kleine Vorlesung über den Sport im allgemeinen und über den sportlichen Ehrgeiz der »Dynamos« im besonderen. Georg war nicht sehr im Bilde über meine Tätigkeit auf dem Gebiete des Sports; denn sie hinterließ bei mir einen zu bitteren Nachgeschmack. Wieviel Gehirnarbeit, Nerven und Geld habe ich da hineingesteckt, und im Grunde genommen fast ergebnislos … Von den zweiunddreißig Strandbädern blieben nur klägliche Reste; denn dort befahl jeder, der dazu Lust hatte, und die sportliche Selbstverwaltung – sogar in rein wirtschaftlichen Sachen – wurde als Konterrevolution betrachtet; die Sportparks gerieten in die Hände der GPU, und Tennis, für das ich so sorgfältig das »ideologische Fundament« unterbaute, spielen Radetzkys und ihre Trabanten … Und sonst fast niemand … Was ist da noch über den Sport für die »Masse« zu reden, wenn diese Masse, von allem übrigen abgesehen, nichts zu essen hat … Umsonst waren sechs Jahre Arbeit mit Risiko vertan, und über solche Dinge spricht man nicht gern … Doch vom Standpunkte unserer Flucht aus verschafft uns meine neue Rolle Möglichkeiten, von denen ich nicht mal träumen durfte.

Bereits am anderen Tag bekam ich einen Passierschein, wonach ich das Recht hatte, mich auf dem Gelände von Medgora frei zu bewegen, das heißt etwa fünfzig Kilometer in meridionaler Richtung sowie etwa zehn Kilometer gen Westen, und zwar zu beliebiger Tag- und Nachtzeit. Das war eine große Errungenschaft. Faktisch gab sie mir eine größere Bewegungsfreiheit, als sie die ansässige »Freibevölkerung« genoß. Die Fluchtpläne begannen konkrete Formen anzunehmen.

 

Der Großkombinator

In der Dynamo war es leer. Nur Batüschkow spielte mit gelangweiltem Gesicht eine Selbstpartie Billard. Mein Erscheinen munterte ihn etwas auf.

»Schön, daß Sie kommen, jetzt habe ich einen Partner. Wollen wir ein Pyramidchen spielen?«

Doch stand mir jetzt der Sinn nicht nach einem Pyramidchen: »Pyramidchen machen wir nachher mal, sagen Sie mir erst, wer ist eigentlich dieser Honigkocher?«

Batüschkow setzte sich auf den Rand des Billardtisches:

»Honigkocher ist seinem Grundberuf nach Odessit.«

Die Erklärung genügte mir nicht.

»Sehen Sie«, fuhr Batüschkow fort, »der Odessit ist ein Mensch, der von der Luft lebt. Hat keine gründlichen Kenntnisse, befaßt sich mit allem, und, stellen Sie sich vor, etwas kommt doch immer dabei heraus … In Moskau war er zunächst Spekulant, dann pirschte er sich an die Dynamo heran, reiste als Vertreter der Moskauer Riegen – na, Sie wissen ja – mehr um Spesen, Mittagessen und dergleichen zu erschachern. Danach schlich er sich in die Partei ein. Doch kann man mit ihm leben – lebt selbst und läßt die anderen leben. Ein Spitzbube, aber ein sehr anständiger Mensch.« Ziemlich unerwartet endete Batüschkow.

»Woher kennt er mich?«

»Aber, Iwan Lukjanowitsch, Sie kennt doch jeder Sporthase. Und dazu noch dreimal soviel wie Sie es verdienen … Warum dreimal? Sie und Ihre beiden Brüder waren ständige Erscheinungen im Sportleben: wer soll dann daraus klug werden, wer von diesen Solonewitschs der erste oder der dritte ist. Nebenbei, wo ist der mittlere von Ihnen?«

Mein zweiter Bruder fiel bei der Wrangel-Armee. Es war aber besser, nicht darüber zu sprechen. Ich sagte daher etwas für den Augenblick Passendes. Batüschkow sah mich verständnisvoll an:

»Hm–ja–a, nicht viele von allen Sportsleuten sind mit heiler Haut davongekommen. Beispielsweise ich. Dachte auch, heil zu bleiben – bei den weißen Armeen war ich nicht, mit der Politik befaßte ich mich nicht, sitze aber doch … Mit Honigkocher werden Sie schon fertig. Ach, da kommt er hereinspaziert.«

Allerdings spazierte Honigkocher nicht herein – er flog. Auch jetzt, ins Zimmer hereingeflogen, überschüttete er mich gleich mit Fragen:

»Nun, was hatten Sie mit Radetzky? Weshalb hat er Sie befohlen? Woher kennt er Sie? Und was sitzen Sie, Fjedor Nikolajewitsch, wie eine Krähe auf diesem schäbigen Billard, wenn Arbeit da ist … Heute verlangt man von mir die Arbeitsübersicht der Dynamo für Monat März – was soll ich denen geben, wie denken Sie, was kann ich denen geben?«

»Nichts denke ich. Auch ohne Denken weiß ich es.«

Honigkocher warf seine Aktentasche auf den Billardtisch:

»Da sehen Sie, Iwan Lukjanowitsch, er will nicht mal den Anschein geben, daß gearbeitet wird … Schickte nach Leningrad, Sie verstehen, die Arbeitsübersicht für Februar und hat nicht mal hiergelassen die Kopie. Und glauben Sie, er weiß, was in dieser Übersicht stand? Und was solle mer schreiben jetzt für März? Wir müssen doch Wachstum zeigen. Und was für Wachstum? Von wo sollen wir ausgehen?«

»Kochen Sie nur nicht gleich über, Honigkocher, das ist doch alles Quatsch.«

»Ein schöner Quatsch!?«

»Natürlich Quatsch! Im Februar hatten wir Wintersaison, jetzt haben wir Frühjahrssaison. Kein Mensch kann doch verlangen, daß bei uns im März der Schisport wächst. Für das Frühjahr muß man schon etwas anderes ausdenken.« Batüschkow versuchte, seinen Zigarettenstummel in die Ecke des Billards zu stecken, besann sich aber und steckte ihn in die Aktentasche Honigkochers.

»Wissen Se, Fjedor Nikolajewitsch, Sie sind ein netter Kerl, aber für solche Odessaer Mätzchen haue ich Ihnen eine herunter.«

»Eine herunterhauen werden Sie zwar nicht; aber ich gebe Ihnen bei einem Pyramidchen dreißig vor und lasse Sie wie einen Säugling sitzen.«

»Das erzählen Sie Ihrer Großmutter. Er will mich sitzenlassen?! Habe Sie gesehen so einen Frechdachs? Wollen Sie nicht selbst fünfzehn vorhaben?«

Die Unterredung begann einen »amtlichen Charakter« anzunehmen. – Honigkocher warf seine Aktentasche unter das Billard und bewaffnete sich mit einem Queue. In Anbetracht dessen wandte ich mich zum Gehen.

»Gestatten Sie, Iwan Lukjanowitsch, wo wollen Sie denn hin? Ich wollte doch mit Ihnen über Radetzky sprechen. Soviel zu tun, daß einem brummt direkt der Schädel … Wissen Se was, Batüschkow«, Honigkocher sah bedauernd auf die bereitliegenden Kugeln, »scheren Sie sich einstweilen zum Teufel, kommen Sie nach einer Stunde, dann zeige ich Ihnen, wie der Hase läuft.«

»Das werden Sie morgen zeigen. Ich gehe jetzt pennen.«

»Na, sehen Sie, wieder besoffen bis zur ekstatischen Trance. Pfui!« Honigkocher kroch unter das Billard und holte seine Aktentasche wieder. »Gehen wir in mein Kabinett!« Sein Gesicht drückte eine aufrichtige Empörung aus:

»Da sehen Sie selbst, nette Mitarbeiter sind das! … Auf Sie, Iwan Lukjanowitsch, werde ich mich stets verlassen. Sie sind ein solider Mensch. Stellen Sie sich vor, wie werden mer aussehen, wenn von der Zentrale kommt die Inspektion. Ein glatter Reinfall. Und Batüschkow wird's auch nicht gut ergehen. Ist es nicht genug, daß er spielt Tennis mit Radetzky und herumsäuft mit der ganzen Spitze? Wenn die Inspektion von der Zentrale …«

»Ich sehe, Honigkocher, daß Sie in dieser Sache ein Neuling und zu nervös sind. Von der Zentrale aus habe ich selbst mindestens zweihundert Inspektionen vorgenommen. Ist alles großer Quatsch, Chalojmes!«

Wie ein Huhn schaute mich Honigkocher von der Seite an. Der Ausdruck »Chalojmes« bedeutet im Odessaer Platt Murks in dritter Potenz.

»Waren Sie in Odessa?« fragte er vorsichtig.

»Auch das – sechs Jahre.«

»Wissen Sie was, Iwan Lukjanowitsch, wolle mer reden ehrlich wie Geschäftsleut'. Sie verstehen, keine Fisimatenten zwischen uns beiden.«

»Schön, keine Fisimatenten.«

»Sie verstehen doch, wozu brauche ich Ihnen zu erklären? Auf dieser verantwortlichen Arbeit bin ich zum ersten Male, ich muß Klasse zeigen. Das ist für mich eine Frage der Karriere. Also, was hatten Sie mit Radetzky?«

Ich berichtete von unserem Besuch bei Radetzky.

»Das ist ja glänzend. Daß Jakimenko Sie in Ihrer Sache unterstützt hat, ist ja gut; aber wenn Radetzky Sie kennt, dann wären Sie auch ohne Jakimenko ausgekommen, obwohl, wissen Sie, Gollmann hatte keine große Lust, Sie anzustellen. Wissen Sie was, wir wollen halbpart arbeiten. Ich habe, unter uns gesagt, ein Projekt. Hier bei der Hauptverwaltung ist die kulturerzieherische Abteilung – so was Ähnliches im allgemeinen wie die Kultur- und Erziehungsabteilung der Berufsverbände. Nun, jede Kultur- und Erziehungsabteilung hat ihren eigenen Instruktor. Ist doch ein unentbehrlicher Teil der Kulturarbeit, und dann ist es eine Schweinerei große, wenn hat unsere KEA keinen Instruktor – das ist eine Unterschätzung der politischen und der erzieherischen Rolle der Sportkultur. Ist das etwa nicht wahr?«

»Natürlich, eine Unterschätzung«, pflichtete ich bei.

»Sie verstehen doch, sie brauchen dort einen Mitarbeiter, nicht irgend jemand, sondern von großem Maßstab, so einen wie Sie. Und wenn ich Sie frage, ob Sie zur KEA gehen …«

»War schon dort – nicht angenommen.«

»Also, nicht angenommen«, freute sich Honigkocher, »habe ich nicht gesagt? Und wenn man Sie angenommen hätte, dann hätte man Ihnen gegeben dreißig Rubel Gehalt, was haben Sie davon? Nichts haben Sie davon. Wissen'se, Iwan Lukjanowitsch, wir sind unter uns, wozu wollen wir dann drumherum reden – ich weiß doch, daß Sie sind im Vergleich mit mir ein Spezialist von Weltmaßstab. Aber, Sie sind Lagerinsasse, und ich bin Parteimitglied. Jetzt nehmen Sie an, daß ich hätte bekommen die Stelle als Inspektor der Sportkultur bei der KEA, dann wird man mir geben fünfhundert Rubel Gehalt … Nein, fünfhundert werden die Lumpen nicht geben, die werden sagen, daß ich bin zum Teil ein Doppelverdiener. Aber dreihundert Rubel werden sie geben, unbedingt. Jetzt so – Sie würden mir schreiben die nötigen Direktiven, methodischen Hinweise, Instruktionen und was weiß ich, und ich würde laufen, dem Ganzen geben die nötige Form und das Gehalt, verstehen Sie – halbpart. Sie verstehen, Iwan Lukjanowitsch, ich will Sie gar nicht berauben; aber Ihnen als einem Insassen wird man geben doch nur ein paar Kopeken für solche Arbeit, und ich werde auch nicht bekommen umsonst diese hundertfünfzig Rubel. Ich werde doch laufen müssen …«

Honigkocher sah mich an, als ob ich ihn ausbeuterischer Tendenzen verdächtigte. In Wirklichkeit kam mir Honigkocher in diesem Falle wie ein Wohltäter der Menschheit vor. Hundertfünfzig Rubel pro Monat! Das ist für Georg und mich je ein Kilo Brot und je ein Liter Milch täglich. Das bedeutet, daß wir unsere Flucht nicht entkräftet antreten werden wie fast alle, die es versuchen, und bei denen dann die Kräfte für höchstens fünf Tage ausreichen und dann – Untergang.

»Wissen Sie, Honigkocher, in meiner Lage hätten Sie mir nicht hundertfünfzig, sondern fünfzehn Rubel anbieten können, und ich hätte es angenommen. Dafür, daß Sie mir hundertfünfzig anbieten und dazu noch mit einem sich entschuldigenden Aussehen, schlage ich Ihnen einen, sozusagen, Gegen-›Produktionsfinanzplan‹ vor.«

»Was für ›Prodfinplan‹?« wurde Honigkocher etwas unruhig.

»Versuchen Sie, mit der GULAG einen Vertrag für die Ausgabe eines Buches abzuschließen. So vielleicht über das Thema: ›Instruktion für die Sportpflege in den Besserungs- und Arbeitslagern der GPU.‹ Das Buch schreibe ich. Das Honorar halbpart. Gemacht?«

»Topp«, machte Honigkocher einen triumphierenden Hopser. »Wie ich sehe, haben Sie nicht umsonst gelebt in Odessa. Ehrenwort – das ist doch prachtvoll. Was sage ich Ihnen, wir machen uns doch einen Namen! Das heißt natürlich, ich mache es – wozu brauchen Sie einen Namen bei der GULAG. Sie haben auch ohne GULAG einen Namen. Schreiben Sie zunächst den Buchplan und den Arbeitsplan in der KEA. Ich laufe sofort zur KEA, bearbeite ich Korsun. Oder nein, besser nicht Korsun; Korsun ist, was den Sport betrifft, ein kompletter Idiot, dazu noch ein buckliger. Nein, ich mache so – gehe zu Uspenski – das ist ein Kopf! Nun, selbstverständlich, zu Uspenski. Wie bin ich, Idiot, nicht gleich darauf gekommen? Und noch was – Sie sitzen natürlich ohne Geld?«

Ohne Geld saß ich bedauerlicherweise schon lange.

»Dann werde ich Ihnen morgen anweisen einen Vorschuß. Werde mer zahlen Ihnen sechzig Rubel pro Monat. Mehr können wir nicht, bei Gott nicht, müsse mer doch noch abführen für Sie an das Lager hundertachtzig Rubel … Und dem Sohn werden wir auch ein Gehalt festsetzen … Morgen werde ich Sie noch zuteilen der ITR-Kantine Kantine für Ingenieure und technische Mitarbeiter – die bevorzugteste im ganzen Lager, wo die besten Udarniki aus den Reihen von Technikern und Ingenieuren verpflegt werden.

 

Feuchtfröhliches Leben

Der kurze und warme Lenz des Jahres 1934 traf Georg und mich in einer völlig phantastischen Lage an. Honigkocher realisierte sein Projekt: er wurde »Inspektor« bei der KEA und zahlte mir meinen Anteil von hundertfünfzig Rubeln ehrlich aus. Außerdem bekam ich von der Dynamo sechzig Rubel und hielt Vorlesungen über Sport und Literatur im Technikum. Diese Vorlesungen wurden allerdings nach dem üblichen »Lagertarif« bezahlt: fünfzig Kopeken je akademische Stunde. Fünfzig Kopeken waren gleich dreißig Gramm Zucker. Verpflegt wurden wir in der ITR-Kantine – durch Vermittlung von Honigkocher und mit Unterstützung von Radetzky. Honigkocher gab mir einen entsprechenden Papierfetzen für den Verpflegungschef des BBK, Genossen Neumeyer.

Auf dem Fetzen stand in unmöglichem Russisch unter anderem: »Sportinstruktor kann nicht arbeiten, wenn hungrig« … Warum ein Holzfäller oder Erdarbeiter arbeiten kann, »wenn hungrig«, das versuchte ich nicht aufzuklären. Außerdem stand auf dem Fetzen der Vermerk »auf Anordnung des Genossen Radetzky« …

Neumeyer empfing mich sehr wütend:

»Wir haben soeben von der ITR hundertzweiundvierzig Mann abgesetzt. Sollen wir Ihretwegen noch den hundertdreiundvierzigsten absetzen? …«

»Und den hundertvierundvierzigsten«, verbesserte ich mit Nachdruck, »es handelt sich um zwei Mann.«

Neumeyer sah die gleichlautenden Namen und verstand, daß es sich hier nicht um einen Udarnik, sondern um eine Protektion handelte.

»Gut, ich werde Radetzky anrufen«, sagte er etwas sanfter.

In die ITR-Kantine aufgenommen zu werden, war schwieriger als in der Freiheit in die Partei. Aber wir wurden aufgenommen. Unangenehm war es, daß die betreffenden Karten zwei Ingenieuren abgenommen wurden; aber wir trösteten uns damit, daß es nicht für lange Zeit ist und daß diese Ingenieure sowieso sitzenbleiben, während wir Kräfte für die Flucht brauchen. Allerdings gab es mit der Karte für Georg eine unangenehme Geschichte: für ihn wurde die Karte seinem hohen Vorgesetzten, Direktor des Technikums, Ingenieur Staschewski, abgenommen – so daß wir beschlossen, sie zurückzugeben – selbstverständlich illegal, einfach von Hand zu Hand; denn sonst hätte Staschewski diese Karte nicht mehr bekommen –, man hätte sie unterwegs weggeschnappt. Außerdem brauchte Georg zu der Zeit die Karte nicht unbedingt. Ich pendelte von Unterlager zu Unterlager und wurde dort verpflegt, auch ohne Karte, und Georg aß in der Kantine für mich.

In der ITR-Kantine bekam man: als Frühstück – so etwa einen Teller Linsensuppe, als Mittagessen – mehr oder weniger genießbare Schtschi mit leichten Spuren von Fleisch, irgendeinen Brei oder Fisch und Pudding, als Abendessen – wieder Linsensuppe oder Brei. Im allgemeinen war alles nicht gerade fett; aber wir hungerten nicht. Es gab noch zwei Unbequemlichkeiten: das uns in Aussicht gestellte Zimmer bei der Dynamo wollten wir nicht benutzen, um durch unsere spätere Flucht einige sehr nette Menschen, von denen ich vorziehe, in diesen Aufzeichnungen überhaupt nichts zu erwähnen, nicht zu gefährden. Wir blieben in der Baracke und gefährdeten somit nur den »örtlichen Aktiv«, dessen Schicksal uns aber völlig gleichgültig war. Allerdings geschah es später, daß die wesentlichste Hilfe bei unserer Flucht uns der Oberchef des Lagers selbst, Genosse Uspenski, erwies – dem man natürlich nichts anhaben konnte. Das einzige, was ihm nach unserer Flucht blieb, war, sich mit ein paar teilnehmenden Worten an sein Spiegelbild zu wenden. Aber sonst konnte ihn im Lager niemand für unsere Flucht verantwortlich machen. Und noch eine Unbequemlichkeit – wir beschafften uns kein »Bettzeug«: eine Seegrasmatratze und ein gleiches Kissen. So haben wir die ganze Lagerzeit auf den nackten Brettern geschlafen. Georg drängte mehrmals, und es war eigentlich nicht allzu schwer, daranzukommen. Erst später kam ich dahinter, warum ich mich nicht sehr bemühte: instinktiv wollte ich nicht ein Atom der Nervenkraft auf etwas verwenden, was in keinem direkten Verhältnis zu unserer Flucht stand. Das Bettzeug hatte mit der Flucht nichts zu tun – im Walde wird man unter Umständen noch schlechter als auf der Pritsche schlafen müssen.

Nach dem Erscheinen des ersten Bandes dieser Aufzeichnungen bekam ich von meinen Lesern sehr viel Briefe, darunter auch solche, wo gewisse Zweifel an der Glaubwürdigkeit unserer Lagererlebnisse zum Ausdruck gebracht wurden. Ich möchte daher, nicht in Form einer literarischen Beteuerung (wie es am Anfang von Phantasieromanen gemacht wird), sondern mit vollem Ernst folgendes sagen: In den ganzen Aufzeichnungen über unsere Erlebnisse gibt es keine einzige Phantasiegestalt und keine einzige Phantasiebegebenheit. Die Namen der »Mitwirkenden«, mit Ausnahme von besonders erwähnten, sind richtige Namen. Von meinen Lagerbegegnungen war ich gezwungen, einige sehr interessante Episoden und Gestalten auszulassen (beispielsweise die gesamte Intelligenz des Swirlagers), um niemand zu schaden – sonst hätte es die GPU nach den Spuren meines Aufenthaltes im Lager nicht schwer gehabt, festzustellen, wer in Wirklichkeit hinter einem erdachten Namen steckt. Das in diesen Aufzeichnungen gegebene Material ist so bearbeitet, daß niemand von den im Lager zurückgebliebenen Menschen gefährdet werden kann. Ich glaube nicht, daß in meinen Berechnungen mir irgendein Fehler unterlaufen ist. Die Klausel über die Realität, sogar der unglaubwürdigen Sachen, bin ich deshalb gezwungen zu machen, weil wir den Sommer des Jahres 1934 unter tatsächlich kaum glaubwürdigen Bedingungen verlebten.

Wir waren stets satt. Ich tat fast gar nichts. Georg tat überhaupt nichts – sein Technikum erwies sich als der gleiche Murks wie die Dynamo. Wir spielten Tennis, manchmal mit Radetzky, badeten, nahmen Haufen Bücher mit und gingen ans Seeufer, lagerten uns in die Sonne und lasen ganze Tage hindurch. Das war ein Kurortleben, von dem ein Moskauer Ingenieur nicht einmal zu träumen wagte. Wenn ich im Lager geblieben wäre, dann hätte ich – unter Beibehaltung sämtlicher Umstände, von denen später die Rede sein wird – unter den Bedingungen eines solchen Sattseins, Komforts, der Sicherheit und sogar der Freiheit gelebt, die selbst einem bedeutenden Moskauer Ingenieur nicht zugänglich sind. Den ganzen Sommer erinnerte ich mich an die Worte Markowitschs: Wenn die GPU nicht zu vermeiden ist, dann soll sie bei mir im Hause sein. – Ich hatte die GPU im Hause – Radetzky. Stünde die Flucht nicht bevor, dann hätte ich im Lager viel ruhiger schlafen können als seinerzeit bei mir zu Hause, in der Nähe Moskaus. Doch schließt dieses Paradiesleben nicht aus, daß bereits fünfzehn Kilometer weiter nördlich eine ganze Reihe von Unterlagern an Skorbut ausstarben, daß sechzig Kilometer noch weiter nach Norden die Kolonisationsabteilung »Kulakenfamilien« ansiedelte – ein ganzes Dorf aus dem Dongebiet, dessen sechshundert Kinder noch auf dem Transport nach hier umkamen, oder daß noch weitere zwanzig Kilometer nördlich viertausend Besprisornikikinder in eine unwegsame, sumpfige Gegend geworfen und sicherem Aussterben ausgeliefert wurden … Unser Paradiesleben in Medgora und die Perspektiven der materiellen Sicherheit, von der ich nicht wußte, ob sie in der Emigration zu erreichen sein wird, haben nicht im geringsten und nicht für eine Sekunde unseren Willen zur Flucht geschwächt, ebenso wie es das Gesetz vom 7. Juni 1934 nicht schwächen konnte, das für den Versuch, das sozialistische Paradies zu verlassen, die Todesstrafe vorsah. Man kann ein lauer Christ sein; aber die beste Ration im BBK bleibt einem in der Kehle stecken, wenn das »Mädchen mit dem Eistopf« im Hintergrund steht.

 

Auf der Walze

Die »Methodik« für Genosse Honigkocher beanspruchte nur wenig Zeit. Ich hatte selbstverständlich nie vor, das Buch zu schreiben – den Vorschuß, hundert Rubel, habe ich allerdings bekommen – das einzige, was ich der Sowjetmacht schuldig blieb. Übrigens blieb auch die Sowjetmacht mir etwas schuldig – na, gelegentlich rechnen wir ab.

Meine Hauptaufgabe war das Zusammenstellen einer Fußballmannschaft, um, wie Radetzky sich poetisch ausdrückte, »den Leningradern eins auszuwischen«. Im Grunde genommen konnte man ihnen schon eins auswischen; denn unter dreihunderttausend Mann waren wohl elf meisterhafte Fußballer zu finden. In Medgora organisierte ich aus den Verwaltungsangestellten drei sehr schwache Elf und entschloß mich, für weitere Auslese die nächsten Unterlager aufzusuchen. Die Verwaltungsabteilung fertigte mir ein Kommandoschreiben für die Durchfahrt zum Unterlager 5 aus, sechzehn Kilometer südlich die Bahnlinie entlang und dann zehn Kilometer westlich in die Taiga hinein. Auf dem Kommandoschreiben war ein Stempelaufdruck: »Reist mit Wachebegleitung.«

»Mit solchem Kommandoschreiben«, sagte ich dem Chef der Verwaltungsabteilung, »fahre ich nicht.«

»Ihre Sache!« knurrte der Abteilungschef. »Wenn Sie nicht fahren, dann werden Sie und nicht ich bestraft.«

Ich ging zu Honigkocher und erzählte ihm von dem Stempel: »Mit solchem Kommandoschreiben zu fahren, das bedeutet die Autorität der Dynamo untergraben.«

»Habe ich Ihnen nicht gesagt? Dort sitzen lauter Idioten, werde ich gleich Radetzky anrufen.«

Am gleichen Abend erhielt ich ein neues Kommandoschreiben, sozusagen »ins Haus« gebracht – von einer Wache stand darin kein Wort. An Reisegeld für die Bahnfahrt bekam ich vier Rubel vierundsiebzig Kopeken, ich ging aber selbstverständlich zu Fuß: Sparsamkeit, Training und Geländeaufklärung. Meinen Rucksack packte ich möglichst voll, um auch das einzutrainieren und außerdem festzustellen, wie die Wegpatrouillen sich zu dem Rucksack verhielten und inwieweit sie ihn abtasten würden. Die Wachtposten, die die Ausgänge aus der Medgoraer Abteilung des sozialistischen Paradieses überwachten, fragten nicht einmal nach dem Passierschein. – Ich weiß nicht warum.

Die Bahn verlief in Schleifen am Ufer des Onega-Sees. Rechts, das heißt von Westen her, war sie begrenzt von einem steilen, unförmigen Chaos von Granitfelsen – die Überbleibsel der Eiszeit und des Dynamits. Links, nach dem See zu, fielen Böschungen ab, mit undurchdringlichen Dickichten von allerlei Buschwerk bewachsen. Dahinter breitete sich der blaßblaue Seespiegel aus, ausgesägt von Einbuchtungen, Landzungen, Inseln und See-Engen. Für das Auge eines Malers war die Landschaft in den Strahlen einer hellen Frühlingssonne bezaubernd schön. Vom praktischen Standpunkt aus machte sie einen bedrückenden und beunruhigenden Eindruck – wie kann man nur durch solche Dschungel und Felsbrüche hundertzwanzig Kilometer bis zur Grenze kommen?

Ich ging ungefähr fünf Kilometer, vergewisserte mich, daß hinter mir niemand her war, daß man mir nicht nachspürte, und tauchte in westlicher Richtung in die Büsche unter, um »das Gelände aufzuklären«. Es war ein höllisches Gelände. Chaotisch aufgehäufte Steinblöcke, auf denen, wie durch ein Wunder, Kiefern, Tannen, Wacholder und vereinzelt auch Espen und Birken wuchsen. Das Unterholz bestand aus Buschwerk, in dem man nur kriechend weiterkam. Das Steingeröll wurde durch viele riesige, mit Wasser gefüllte Löcher unterbrochen, die Steine waren mit glitschiger und dünner Moosschicht bedeckt. Zwei Kilometer weiter hörte das Steingeröll auf, und in der Breite von etwa zweihundert Metern zog sich ein Sumpf hin, den ich von Süden her umgehen mußte. Weiter erhob sich wieder ein mit Bäumen bewachsenes Steinchaos, das nach Westen zu einen Gebirgsgrat bildete. Ich erklomm den Grat. Er fiel fast wie eine steile Steinmauer von etwa fünfzig Meter Höhe ab. Auf dem Kamm fand ich hie und da Windbrüche, die uns später auf unserer Flucht soviel Zeit und Kraft kosteten. Die Windbrüche bildeten einen Wirrwarr vom Sturm entwurzelter Bäume mit ineinander verwickelten Zweigen, Ästen und Wurzeln. Sich hindurchzuarbeiten, war überhaupt unmöglich, man mußte sie umgehen – was ich auch tat. Unten schimmerte roströtlich ein schilfbewachsener Sumpf. Ich warf einen größeren Stein hinein. Der Stein klatschte ins Wasser und versank. Ja, in dem Gelände fliehen – Gott erbarm! Doch andererseits: hier untergetaucht, bleibt man unauffindbar. Ich kam wieder auf die Bahnstrecke, schaute umher, niemand. Ich ging noch zwei Kilometer und fühlte auf einmal, daß ich todmüde war und die Beine kaum bewegen konnte. Die Erregung vom ersten Spaziergang im Freien war vorüber, und die Monate der Einzelhaft, der RVA, der Lagerverpflegung machten sich bei den Nerven bemerkbar. Ich erklomm einen am Wege liegenden Findling, breitete auf ihm meine Lederjacke, zog das Hemd aus, ließ meine in den letzten Monaten schlaff gewordene Haut von der Frühlingssonne bestrahlen, rauchte eine Selbstgedrehte an und versank in Glückseligkeit.

Herrlich … Kein Lager, keine GPU … Im Grase tummelte sich geschäftig, wie Honigkocher, allerlei kleines Getier. Ein Vögelchen mit ebenso geschäftigem Gebaren flog von Baum zu Baum und zwitscherte lebhaft mit sich selbst … Zu tun hatte es offensichtlich nichts, aber das Zwitschern und Springen überkam es einfach: vom Frühling, von der Sonne, von der Freude an seinem Vogeldasein. Dann zog meine Aufmerksamkeit ein Eichhörnchen an, das eine noch ernstere Beschäftigung hatte: es wollte sein eigenes Schwänzchen fangen. Selbstverständlich blieb das Schwänzchen zwar in kürzester, doch immer unerreichbarer Entfernung, und das Eichhörnchen setzte seiner buschigen Fortsetzung, sich um die Spitze einer Tanne wirbelnd, nach und schimmerte in den Tannenzweigen wie ein rötlich-braunes Sonnenfleckchen. In diesem Spiel entwickelte es ungeheure Kräfte, nicht so wie ich – zwölf Kilometer zurückgelegt und schon schlapp gemacht! Hätte ich diesen Vorrat an Energie, blieb ich nicht einen einzigen Tag mehr in der Sowjetunion. Ich richtete mich etwas auf, das Eichhörnchen bemerkte mich. Sein spitzes, bewegliches Schnäuzchen schaute hinter dem Baumstamm hervor, das Schwänzchen blieb verborgen. Meine Anwesenheit gefiel ihm nicht – es ließ in seiner Eichhörnchensprache etwas Schimpfliches hören und verschwand. Mir wurde lustig und traurig zugleich: fröhlich lebt dieses Tierchen dahin und kennt keine GPU.

 

»Freiarbeiter«

Die Bahn entlang, auf mich zu, kamen drei Bauern – ein schon älterer, so Mitte fünfzig, und zwei jüngere – zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt. Sie waren unbeschreiblich zerlumpt! Zwei hatten Bastschuhe, der dritte zerrissene Stiefel an. Ihr ganzes Gepäck bestand aus winzigen Bündeln, wahrscheinlich mit Brot gefüllt. Nach Lagerflüchtlingen sahen sie nicht aus. In gleicher Höhe mit mir, begrüßten sie mich. Ich erwiderte den Gruß. Der Ältere blieb stehen und fragte:

»Haben Sie vielleicht Streichhölzer, Meister?«

Ich hatte Streichhölzer und holte die Schachtel hervor. Der Bauer überkletterte den Graben und kam zu mir. Er sah etwas verschämt aus:

»Haben Sie vielleicht auch etwas Machorka? … Von den Streichhölzern, das habe ich nur so gesagt … wollte sehen, was Sie für einer sind.«

Auch Machorka fand sich. Der Bauer drehte sich behutsam ein »Rehbeinchen«. Die Jüngeren taten verlegen und warfen sehnsüchtige Blicke auf den Machorka. Ich reichte den Tabaksbeutel auch ihnen. Mit schüchterner Hand griffen sie danach, und ebenso behutsam, ohne ein Krümchen zu verschütten, begannen sie ihre Zigaretten zu drehen. Wir rauchten an und setzten uns.

»Fünf Tage haben wir nicht geraucht«, sagte der Ältere – »kaum auszuhalten war das …«

»Wo kommt ihr her? Seid ihr Lagerinsassen?«

»Nein, freie Arbeiter, haben beim Holzfällen gearbeitet. Ist aber gar nicht auszuhalten – kaum, daß wir mit dem Leben davonkamen.«

»Verdienen wollten wir«, sagte einer der Burschen sarkastisch, »da haben wir unseren Verdienst.« Er zeigte seinen mit zerrissenem Bastschuh bekleideten Fuß. »Der ganze Verdienst ist – das.«

Der ältere Bauer räusperte sich schuldbewußt:

»Ja, wer konnte es wissen …«

»Das ist es ja eben«, sagte der Bursche, »was man nicht kennt, soll man nicht anfassen.«

»Was schimpfst du immer?« sagte der Bauer. »Zu uns kamen doch Staatsangestellte, Beamte, haben uns klar gesagt, wir bekommen je Kubikmeter beim Ausladen – eineinhalb Rubel. Als wir aber hierher kamen – schönes Ausladen war das – einen halben Kilometer Holzstämme schleppen und dazu noch über die Sümpfe. Brot gab es täglich sechshundert Gramm und Schluß, gar nichts mehr, nicht mal Brei! Da soll einer schleppen und aufladen können!«

»Ach, da seid ihr angeworben worden?« warf ich ein.

»Ja, so angeworben, daß man nicht weiß wohin nun jetzt.«

»Kleider wollten wir verdienen«, sagte der Bursche giftig, »wo hast du die?«

Der Bauer überhörte diese Bemerkung.

»Durch die Kolchosverwaltung wurden wir dazu bestimmt. Da kann man nicht viel sagen. Auf Befehl mußte das Kolchos vierzig Mann für verschiedene Arbeiten zur Verfügung stellen. Teils ging man auf die Torfstiche, teils hierher, teils woanders … Vertrag haben sie uns auch vorgelegt, unterschrieben haben wir, und was nützt uns der? Gott gebe, daß wir zu Hause ankommen.«

»Und was willst du zu Hause machen?« fragte der zweite Bursche.

»Zu Hause, da ist es anders«, sagte der Bauer nicht besonders sicher. »Zu Hause, da wird man nicht umkommen.«

»So siehst du aus«, sagte der giftige Bursche, »Fleischpastetchen backt man für dich zu Hause. Man wird sagen – Fjedor Iwanowitsch ist angekommen, hat guten Verdienst mitgebracht …«

»Und mit den Arbeitstagen klappt es auch nicht immer«, bemerkte traurig der Bursche mit den Stiefeln. »Auch die ununterbrochen arbeiten können, haben nichts zu essen, und wenn ihnen die Arbeitstage unverschuldet gestrichen werden, dann – leg' dich hin und stirb.«

»Wo seid ihr her?«

»Aus der Gegend von Smolensk, und Sie? Sind Sie nicht von den hiesigen Vorgesetzten?«

»Nein, ich bin kein Vorgesetzter, ich sitze hier im Lager.«

»Ach du lieber Gott … Nicht umsonst erzählt man, daß es jetzt im Lager besser als in der Freiheit ist – Brot und Brei bekommt man dort immer …« Ich dachte an das Geviert 19 und hatte keine Lust, über das Lager zu sprechen. »Und in der Freiheit?« sprach der Bauer weiter, »da hast du die Freiheit: man hat uns hierher in die Taiga gelockt, zu essen gibt man nichts, Kleidung auch nicht, Unterkunftsräume gibt es auch nicht, von Mücken wird man ganz zerstochen, und nach Hause läßt man uns nicht – und die Papiere hat man uns gleich beim Arbeitsbeginn abgenommen. Um Christi willen haben wir gebeten: laßt uns gehen, ihr seht doch selbst – wir sterben hier. Halb verhungert waren wir schon von zu Hause her, hatten keine richtigen Kräfte, und die leichtesten Stämme wogen an zwei Zentner … Und dazu noch durch die Sümpfe schleppen … Egal weg, sagte ich, sterben wir … Schließlich hat man es doch eingesehen, und uns unsere Papiere wiedergegeben. So gehen wir; müssen mal um Brot, mal um was anderes betteln … Fünfzig Kilometer sind wir mit der Bahn gefahren, sonst zu Fuß … Wenn wir nur Petersburg erreichen!«

»Und was sollen wir in Petersburg?« fragte der bissige Bursche. »Meinst du, man wird dich in Petersburg gut füttern, so siehste aus!«

»In Petersburg wohl«, warf ich dazwischen. »Ich habe noch nie gesehen, daß zwar selbst darbende Städter den hungernden Bauern ein Stück Brot verweigert hätten. Vor einem Jahr, noch vor der Paßportisation waren die beiden Hauptstädte von bettelnden ukrainischen Bauern überfüllt – auch diese haben etwas erhalten.«

»Ja, dann werden wir auch um Christi willen bitten«, sagte der Bauer ergeben.

»Kleidung wollte er verdienen«, wiederholte der bissige Bursche, »und jetzt … was man anhat, ist total zerlumpt – nackt kommen wir zu Hause an. Los, gehen wir weiter!«

Drei freie Bürger der Sowjetunion erhoben sich. Der alte Bauer sah mich bittend an: »Vielleicht haben Sie etwas Brot übrig? Wie?«

Ich überlegte. Das Unterlager werde ich auch ohne zu essen erreichen, und dort wird man mir schon etwas geben. Ich band also meinen Rucksack auf, holte Brot und ein mit diesem zusammengewickeltes Stück Speck von hundert Gramm heraus. Angesichts des Specks verschlug den Bauern der Atem. »Allmächtiger, habt ihr gesehen? Speck!« – Ich gab ihnen auch den Speck. Das Stückchen wurde mit der Genauigkeit eines Apothekers in drei gleiche Teile geschnitten … – »Jetzt werden wir schmausen«, rief der Bauer entzückt, »selbst in Eseserien Verächtlicher Spitzname der Sowjetunion im Volksmunde. sind die guten Menschen noch nicht alle geworden!«

Die »Freiarbeiter« gingen weiter. Das Eichhörnchen erschien wieder hinter der Tanne und starrte mich mit seinen Perläugelchen an … Mir kam es vor, als ob es sagen wollte: na, Kultur baut ihr? Glaubt an Gott? Fördert die Wissenschaften? – Da seid ihr schön dumm …

Was konnte man darauf erwidern? Ich zog mich wieder an, warf den Rucksack über und ging.

Zwei Kilometer weiter, hinter einer Wegbiegung stoße ich wieder auf die Bauern, die eine WOCHR-Patrouille durchsucht: ein WOCHR-Mann betastet sie, der andere prüft die Papiere, und der dritte steht etwa zehn Schritt abseits mit dem Gewehr in Anschlag. Es ist klar, daß auch ich »geprüft« werde. Meine Papiere sind vollständig in Ordnung, doch unzählige Leibesvisitationen, denen ich wie auch jeder Bürger »der freiesten Republik der Welt« wiederholt in meinem Leben unterworfen war, haben statt einer Gewohnheit eine besonders ekelhafte, nervöse Sklavenangst vor jeder ähnlichen »Prüfung« erzeugt, sogar in dem Falle, wo eine solche »Prüfung« keinerlei Risiko nach sich zog, wie es auch jetzt der Fall war. Sofort blitzte im Kopf der gewohnte sowjetistische »bedingte Reflex« auf: wie kommt man hier durch? …

Ich trat auf die Gruppe zu, blieb stehen, vergrub meine Hände in die Hosentaschen und betrachtete das Ganze mit prüfendem Auge:

»Na, habt ihr Ausreißer erwischt?«

Der die Ausweise prüfende WOCHR-Mann hob unwillig die Augen von den Papieren:

»Weiß der Teufel, vielleicht auch Ausreißer. Und wer sind Sie? Aus dem Lager?«

Die Lage klärte sich auf: der WOCHR-Mann fragte nicht gewöhnlich grob: »sind Sie Häftling?«, sondern diplomatisch: »sind Sie aus dem Lager?«

»Aus dem Lager«, antwortete ich in administrativem Ton.

»Weiß der Teufel«, sagte der WOCHR-Mann, »aus den Papieren wird kein Schwein klug!«

»Zeigen Sie mal her!«

Er reicht mir die Papiere. Tatsächlich konnte daraus auch ein gebildeterer Mensch als der WOCHR-Mann nicht klug werden. Hier war alles, womit der vielgeprüfte Sowjetbürger sich bepackt, der nach dem Grundsatz handelt: die Butter verdirbt den Brei nicht. Der Teufel soll wissen, welches der zahlreichen Papiere in bestimmten Situationen den Trägern der Macht und der Naganrevolver als das überzeugendste erscheinen wird … Ich habe selbst einmal erlebt, daß mich vor der Verhaftung die Monatsfahrkarte rettete, die den »Machthabern« als der beste Ausweis schien, obwohl ich einen Paß, ein Berufsverbandsbuch, eine Bescheinigung der Zeitung »Die Arbeit«, deren Kommandoschreiben und noch eine ganze Sammlung von weniger bedeutungsvollen Papieren bei mir hatte. Von dem vorerwähnten Grundsatz ausgehend, hat einer der Burschen sogar den Geburtsschein seiner Tochter Eudoxia mitgenommen. Doch half Eudoxia schlecht: das wichtigste Dokument – der Entlassungsschein – war vom Berufsverband ausgestellt, und dieser hatte dazu gar kein Recht. An vielen Orten der Sowjetunion, fast überall, muß ein Bauer, der sein engeres Gebiet verläßt, eine besondere Reisebescheinigung vom Dorfsowjet ausgestellt bekommen. Diese Bescheinigung erhält man gewöhnlich für einen Liter Wodka. Dafür hat auch der Bursche sie bekommen, und man sah ihm an, daß er am meisten für dieses Papier fürchtete, er stand am ganzen Leibe zitternd da.

»Nein«, sagte ich mit einer ein wenig enttäuschten Stimme, »die Papiere sind in Ordnung. Wo habt ihr gearbeitet?« fragte ich streng den Bauern.

»Wir sind von Masselga«, antwortete er schüchtern.

»Wer hat dort die Arbeit geleitet? Wer war Vorsitzender des Arbeiterrates?« Kurzum, es folgte ein Verhör nach allen Regeln der Kunst. Die WOCHR-Männer fühlten, daß vor ihnen eine »administrative Persönlichkeit« stand.

»Habt ihr die Kerle durchsucht?« fragte ich.

»Jawohl!«

»Habt ihr dem auch die Stiefel ausgezogen?«

»Nein, das haben wir vergessen. He, du, zieh die Stiefel aus.«

In den Stiefeln fand sich selbstverständlich nichts, darüber war aber sein Ausweis vergessen.

»Laßt sie latschen«, sagte ich, »dort in Zwanka wird man genau dahinterkommen.«

»Na, dann haut ab«, sagte der Patrouillenführer.

Die Patrouille zog nach Norden weiter, ohne nach meinen Dokumenten gefragt zu haben, und ich ging mit den Bauern weiter nach Süden. Ein Kilometer weiter erteilte ich dem Burschen einen strengen Verweis: damit er das nächste Mal kein Liter Wodka stellt, wo es nicht nötig ist, und daß er stets ein halbes Kilometer entfernt hinter seinen Kameraden bleibt, und, wenn diese auf eine Patrouille stoßen, dann solle er im Gebüsch untertauchen und die Patrouille umgehen. Sie fragten nach dem Lauf des Swir und der Lage des Ortes Zwanka, doch konnte ich hier keinen gescheiten Rat geben – ich wußte lediglich, daß diese Gegend besonders scharf bewacht war. Der Bursche sah niedergeschlagen und hoffnungslos drein und sagte schließlich:

»Unter keinen Umständen wollte man mich entlassen, ich habe dort tatsächlich einem nicht ein Liter, dafür hatte ich kein Geld, sondern nur ein halbes ausgegeben, konnte ich denn wissen …«

Es blieb mir nur übrig, zu seufzen. Dieser Bauer und diese Burschen – die sind nicht wie Akulschin – sie werden umkommen, bestimmt umkommen, nicht mal Petrosawodsk, noch weniger den Swir werden sie erreichen … Der alte Bauer verlor ganz die Fassung und beantwortete meine Ratschläge nur mit: »Ja, ja, wohl, hm, verstehe«, aber er hörte kaum hin und verstand gar nichts. Der Bursche mit den Stiefeln jammerte über sein Schicksal, beklagte sich über die Spitzbuben aus dem Arbeiterrat, die umsonst sein halbes Liter ausgesoffen hätten. Der bissige Bursche schritt in stiller Wut einher. Eine sehr bedrückte Stimmung bemächtigte sich meiner … Ich verabschiedete mich von meinen Gefährten und ging voran.

 

Unterlager 5

Unterlager 5 war eines der bevorzugtesten Produktionslager des BBK. Es befaßte sich mit der Verarbeitung von Kniehölzern. Ein Knieholz, das ist ein Kiefernstamm mit einem von ihm waagerecht abzweigenden Wurzelast. Die Kniehölzer verwendete man als Spanten und Vordersteven für Barken, Barkassen, kleine Ruderschiffe und dergleichen, die auf den drei Werften des BBK gebaut wurden. Man stellte ziemlich scharfe technische Anforderungen an die Kniehölzer – mitunter wurden von hundert Stämmen dreißig und manchmal nur drei für brauchbar erklärt. Ohne die Kniehölzer wären die drei Werften mit ihren sechs- bis siebentausend Mann Zwangsarbeitern völlig arbeitslos geblieben.

In Anbetracht dessen wurde das Unterlager 5 einer besonderen »Wirtschaftlichkeits-Berechnung« unterworfen: es war verpflichtet, eine bestimmte Anzahl von brauchbaren Kniehölzern jeden Monat zu liefern und bekam dafür eine entsprechende Proviantmenge. In die »inneren Angelegenheiten« des Unterlagers mischte sich die Zentralverwaltung nicht ein, und der Chef des Unterlagers, Genosse Wassiltschuk, schlug sich durch, entsprechend seinem Verstand und noch mehr seiner Gewandtheit. Seine Gewandtheit war in der Tat fast unerschöpflich, ebenso die Fürsorge. Kraft dieser Eigenschaften wurde das Unterlager durchaus hinreichend verpflegt – nicht schlechter als die Arbeiter in den Moskauer Werken, was die Qualität der Nahrung anbetraf, und bedeutend besser in bezug auf Kaloriengehalt. Für die Herstellung von Kniehölzern waren sehr kräftige Menschen erforderlich, da es sich nicht um Teile von Stämmen, sondern um ganze Stämme handelte. In Anbetracht all dessen rechnete ich bestimmt damit, daß ich auf dem Unterlager 5 Menschen würde aussuchen können, die nötig waren, um »den Leningradern eins auszuwischen«.

Genosse Wassiltschuk war ein in der Sowjetverwaltung ganz außergewöhnlicher Typ. – Petersburger Arbeiter, ehemaliger Kommunist, bekam er drei Jahre für irgendeine Teilnahme an einer Parteiabweichung und hatte sechs Jahre bereits abgesessen. Die weiteren Jahre hatte man ihm automatisch verlängert. Ein entsprechendes Papierchen hat er einmal in meiner Anwesenheit erhalten. – Es stand darin einfach und prosaisch:

… »Auf Grund des Beschlusses der PP GPU vom soundsovielten, Nummer sowieso, wird angeordnet, dem Lagerinsassen Wassiltschuk A. A. gegen Quittung bekanntzugeben, daß ihm die Strafzeit um ein Jahr verlängert wird …«

Und Punktum. Wassiltschuk bekam, wie er sagte, schon das viertemal diese Verlängerung um ein Jahr. Phlegmatisch setzte er seinen Namen unter dieses Papier und sagte:

»Also, habe ich mir selbst gegen Quittung erklärt … Hierherzugeraten ist einfach, aber heraus, da können Sie gefälligst warten.«

Die ehemaligen Kommunisten, die man nach hier nicht wegen Diebstahl, Mord oder Vergewaltigung, sondern wegen Ungehorsam dem Wink der Stalinschen Hand gegenüber verbannte, läßt man nicht frei und hat offensichtlich auch nicht vor, sie freizulassen.

»Und so werde ich hier bis an mein Ende sitzen«, sagte er. »Die Lumpen, die sollen es bereuen, ich aber werde solange hierbleiben … Bei Gott, es ist schon besser, hier zu sitzen, als die Getreideaufbereitungen abzuklappern … Doch mit dem Sport werde ich mich unbedingt befassen – sonst verfault man hier in Teufels Namen und bekommt die Weltrevolution nicht zu sehen … Schön wäre es, die Weltrevolution mitzuerleben … Feines Tohuwabohu wird's geben, wie?«

Das Unterlager 5 habe ich nur viermal ausgesucht, aber mit Wassiltschuk hatte ich gleich von Anfang an, wenn nicht gerade ein intimes, so doch immerhin ein freundschaftliches Verhältnis. Erstens hatte er und sein Stellvertreter – ein Buchhalter – eine tödliche Langeweile und zweitens trat man meiner Sportspezialität mit der gleichen Sympathie und Hoffnung entgegen, wie man ihr so oft in Werken, in Hochschulen und an vielen anderen Orten begegnete.

 

Etwas über den Sport

In Rußland gibt es eine ganze Reihe gesunder Lebenserscheinungen, die die Sowjetmacht zu ihren eigenen »Errungenschaften« zählt. Dazu gehören: die Festigung der Familie, ein gesundes Sexualleben der Jugend, die Fallschirmabspringerinnen, der Drang zum Studium und vieles andere – darunter auch der Sport. Die russische Emigrantenpresse nimmt dieses Wort umsonst in ironische Anführungszeichen. Es ist ein wichtiges Wort. Es umfaßt alles das, was individuellen Bestrebungen zugänglich ist und der menschlichen Gesundheit dient. Es ist die »Gymnastik« im Sinne Platons, der sie der Medizin gegenüberstellt. Das Interesse am Sport ist gewaltig groß, wie es nie zuvor im alten Rußland gewesen ist. Doch ist dieses Interesse, wie auch die Familie, die Fallschirmabspringerinnen und vieles andere – nicht entstanden durch die Anstrengungen des Staates, sondern als Reaktion auf deren übrige »Errungenschaften«. Die von unerträglicher Arbeit entkräfteten Arbeiter, die tuberkulösen Studenten, die von ewigen Aufundabbaumaßnahmen kopfscheu gewordenen Angestellten: alle unterernährt, zerlumpt und von dem erfaßt, was nach dem offiziellen Terminus »sowjetistische Abnutzung« heißt, stürzen sie sich mit besonderer Gier – in ihrer Lage ist es durchaus verständlich – auf alles, was ihre überspannten und zerrütteten Kräfte auffrischen kann. Ich möchte hier ein Beispiel anführen, das, wie es mir scheint, einige Klarheit in die »Dialektik« der sowjetistischen Errungenschaften bringen kann.

Im Dezember 1928 inspizierte ich Moskauer Schihütten. Die Inspizierung förderte folgende Tatsachen zutage: Arbeiter und Angestellte kommen an ihren Ausgehtagen, um sieben oder acht Uhr morgens, auf die Hütten gefahren und stehen Schlange nach Schneeschuhen. Sie stehen zwei, drei, auch vier Stunden – manchmal bekommen sie Schneeschuhe, manchmal auch nicht. Die Schneeschuhe reichen nicht aus, weil die Sowjetmacht für das Geld eben dieser Arbeiter und Angestellten (Berufsverbandsbeiträge) zum Zwecke der Täuschung Stadien baut, aber keine für den Bedarf notwendigen Fabriken und Schihütten … So macht es die Sowjetmacht bis auf den heutigen Tag. Doch kann sie jedem Ausländer das prachtvolle Stadion der »Dynamo« zeigen und sagen – das sind unsere Errungenschaften. Das Dynamo-Stadion hat etwa zwölf Millionen Rubel gekostet und das bei Ausbeutung der fast kostenlosen Arbeitskraft der Häftlinge. An brauchbaren Schihütten hat man in der Moskauer Gegend lediglich zwei ganz kleine: eine gehört dem Kriegskommissariat und die andere dem Angestelltenverband, von mir nach heftigem Kampf und mit großem Risiko erbaut … Das Stadion wird vom Publikum dreimal im Jahre besucht, und die übrigen dreihundertzweiundsechzig Tage steht es völlig leer; die Schihütten sind täglich in Benutzung und können die Arbeit nicht bewältigen.

Turnsäle existieren in Moskau fast gar nicht. Das lebendige Bedürfnis der Massen nach sportlicher Betätigung, das nicht durch die Bestrebungen der Sowjets, sondern durch die Lebensbedingungen entstanden ist, wird nach meinen Berechnungen bis auf zehn oder zwölf Prozent befriedigt. Sogar kurz vor der Verhaftung versuchte ich immer noch, allerdings nicht mehr sehr energisch, gegen das Bauprojekt eines gigantischen »Sportkultur-Kombinats« auf dem Gelände der Ismailoffschen Menagerie anzukämpfen, das man nach der Art eines Kolosseums als ein Stadion mit dreihundertsechzigtausend (!) Sitzplätzen und einem Kostenaufwand von sechzig Millionen Rubel, bei gleicher Ausbeutung der Häftlingsarbeit, bauen wollte. Wie ich glaube, hat man trotzdem mit dem Bau dieses Kombinats begonnen.

Nimmt man neben dem Sport den Drang zum Studium, so wird man sehen, daß beide Richtungen streng parallel verlaufen und sich entwickeln. Der Drang zum Studium ist entstanden als Reaktion gegen die gegebenen sowjetistischen Lebensbedingungen. Er umfaßt viele Millionen und bleibt unbefriedigt. Es herrscht ein großer Mangel an Schulen, an Lehrbüchern und Programmen, es gibt keine richtigen Lehrer. Sogar jene Schulen, die nicht nur auf dem Papier bestehen – es gibt sehr viele nur auf dem Papier bestehende Schulen –, nehmen der Jugend eine ungeheure Menge an Zeit und Kraft und geben fast gar nichts – die Erfolge dieser Schulen sind aus der »Prawda« ersichtlich, die manchmal auch von der europäischen Presse wiedergegeben werden. Der Schulbetrieb, sogar in Moskau, geht in drei »Schichten« vor sich, und schon gegen die Mitte der zweiten Schicht kann man in den Klassen kaum mehr atmen: Die Kinder können kaum lernen. Stadien baut man weiter. Schulen aber keine. Man baut Büros, Intourist-Hotels, Sowjet- und Verbandshäuser – aber Schulen? Selbst in Moskau wurden in den sieben Jahren, die ich dort verlebte, nur vier bis fünf neue Schulgebäude errichtet. Bereits in nächster Umgebung von Moskau, beispielsweise in Saltykowka mit feinen zehn- bis zwölftausend Einwohnern und nur zwei Schulen, ist die Macht nicht imstande, die Schulgebäude in Ordnung zu halten.

Das alles mit der Dummheit des Sowjetregimes zu erklären, wäre zu naiv. Die Sowjets wollen nicht. Sie sind ja nicht für die Nöte des Landes da, sondern für die Weltrevolution. Die Nöte des Landes sind ihnen im Grunde genommen gleichgültig. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man sich unter irgendeiner anderen Voraussetzung die Geschichte mit den Schihütten, mit den Schulen, mit der Kollektivisation und die Lagertragödien logisch erklären könnte. Unter dieser Voraussetzung aber bekommt das sowjetistische Dasein – sowohl im kleinen als auch im »gigantischen« – eine logische und erschöpfende Erklärung … Mag sie gefallen oder mißfallen: Ich denke, eine andere Erklärung ist nicht zu finden.

Das Unterlager 5 konnte sich, dank einer eigenartigen Fügung von Umständen, einigermaßen von den Auswirkungen der sowjetistischen Kaschemme isolieren und satt essen. Als ich einen Monat später hierher kam, diesmal nicht, um die Fußballspieler herauszufischen, sondern um den Sport zu organisieren, hat die eineinhalbtausendköpfige »Lagerbevölkerung« im Laufe eines einzigen Ausgehtages ein ganzes Sportstädtchen gebaut und drei Korbballplätze planiert. Bei dem Gelände Kareliens war es eine beachtenswerte Arbeit – man mußte Findlinge im Gewicht von fünf bis zehn Tonnen fortwälzen und auf Tragbahren den Sand herbeischleppen, um die entstandenen Löcher zuzuschütten. Doch wurde diese Arbeit schnell und freudig getan. Als ich auch den Leichtathletikunterricht durchzuführen begann, stellte es sich heraus, daß von den Menschen, die sich im Kugelstoßen versuchen wollten, sechs Mann ohne jegliches Training und selbstverständlich ohne jeden Stil – die Kugel auf elf Meter stießen. Ein Bauer mittleren Alters, in Stiefeln und Sträflingskleidung, auch ohne Training und auch ohne Stil, machte einen Weitsprung von fünf Meter siebzig; im Kugelstoßen erreichte er elf Meter achtzig. Das ist eben diese Kraft der »schwarzen Erde«, die vom russischen vorrevolutionären Sport vollkommen unberührt war, die aber bei einigem Training keinem Lande einen Weltrekord überlassen hätte. Ich kann das nicht mit Zahlen belegen, wie ich es von den Rekorden konnte. Doch bin ich vollkommen davon überzeugt, daß in dieser »schwarzen Erde« nicht nur physische Kraft allein enthalten ist. Aus ihr stammen all diese Mamontows, Morosows, Rjabüschinskys, Puschkins und Rjepins. Wenn gegenwärtig die physische Kraft durch bestialische Maßnahmen angegriffen ist, so wird die intellektuelle Kraft dieser »schwarzen Erde«, abgehärtet durch eineinhalb Jahrzehnte einer ungeheuren Spannung und Erfahrung, durch Pläne und Enttäuschungen, aufgeklärt durch die sowjetistische Agitation und sowjetistische Wirklichkeit, ein solches künftiges Rußland erbauen, von dem wir heute nicht mal träumen können … Das aber nur in dem Falle, wenn die physischen Kräfte ausreichen.

 

Geheimpatrouille

Vom Unterlager 5 ging ich nach Medgora zu Fuß zurück. Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen. – Ein Morgen, an dem man weder an die Revolution noch an die Flucht denken mochte. Durch die Straßengräben plätscherten lustig die Frühlingsbäche, die Düsterkeit der Taiga wurde durch das sorglose Zwitschern der Vogelwelt und durch die bunte Pracht der Frühlingsblumen gemildert. Ich ging und dachte über die lustigsten Dinge nach – als plötzlich meine Gedanken durch einen Zuruf unterbrochen wurden:

»Hallo, Genosse Solonewitsch, erkennen Sie mich nicht?«

Wen sollte ich erkennen? – Die Stimme erscholl irgendwo aus dem Gebüsch. Dort war dichter Schatten, und ich konnte von meiner sonnenbestrahlten Stelle nichts sehen. Aus dem Gebüsch kroch ein WOCHR-Mann mit dem Gewehr in der Hand, das Gesicht von einem Moskitonetz zugedeckt.

»Erkennen Sie mich jetzt nicht?« – wiederholte der WOCHR-Mann.

»Hätten Sie noch einen Sack um den Kopf gewickelt, dann würde es mir wohl noch leichter fallen!«

Der WOCHR-Mann nahm das Moskitonetz ab, und ich erkannte in ihm einen der Urkis, der sich seinerzeit im Unterlager 3 herumtrieb.

»Wie sind Sie in die WOCHR geraten? Haben Sie sich ›umgeschmiedet‹?«

»Jawohl, hol's der Teufel, hab mich umgeschmiedet«, sagte der Urka. »Ein herrliches Leben hier. Den ganzen lieben Tag liegt man mit dem Bauch nach oben. Vöglein fliegen und zwitschern …«

»Gehören Sie zur Geheimpatrouille?«

»Ja, wir schnappen die Ausreißer. Kann man sich vielleicht bei Ihnen um etwas Machorka bereichern? Dann setzen wir uns und rauchen. Stefan, schieb mal hierher!«

Aus dem Gebüsch kroch ein zweiter WOCHR-Mann – mir unbekannt. Wir setzten uns und rauchten.

»Erwischen Sie viel Ausreißer?« fragte ich.

»Na, viel kann man nicht sagen, aber wir fangen welche. Ist aber nicht die Hauptsache. Freuen uns, wenn wir hier bis zum Sommer rumpendeln können und nachher – heidi, nach Turkestan, in warme Länder.«

»Werden Sie freigelassen?«

»I wo! Wir machen uns selbständig. Sitzen hier und luchsen, wo die anderen Geheimpatrouillen verteilt sind. Denn hier kann man nur auf den Wegen oder dicht neben den Wegen durchkommen: zwei- bis dreihundert Meter weiter weg – und nichts zu machen! Sumpf über Sumpf! Und wo kein Sumpf, da sitzen Geheimpatrouillen, so wie wir: unterm Busch ein Loch, und im Loch sitzt die WOCHR und sieht alles, sie selbst aber sieht keiner.«

Es war recht ungemütlich, von solchen Geheimpatrouillen zu hören. Ich fragte den Urka nach ihrer Verteilung; er wußte aber selbst nicht viel, und außerdem interessierten mich die Patrouillen um das Unterlager 5 nicht.

Meiner Phantasie drängten sich schon die Bilder auf: da gehe ich mit Georg einher, und aus einem Busch ertönt es: »Halt, wer da!« – und dann ist's aus … Die Frühlingsfarben verblaßten, und die Welt erschien wieder aussichts- und hoffnungslos sowjetistisch.

 

Udarniki-Tagung

Ich kam nach Medgora, es war an einem schönen Frühlingsabend. Georg war nicht in der Baracke. Mich beschlich ein wehes Gefühl der Einsamkeit. Ich entschloß mich, an der »Tagung der besten Udarniki des BBK« teilzunehmen, die schon lange vorbereitet war und heute abend in dem Riesengebäude des BBK-Clubs eröffnet wurde. Ich ging.

Selbstverständlich ein überfüllter Saal. Selbstverständlich lange Vorträge. Gerade redet der Chef der Produktionsabteilung über das Thema: »Wie wir wachsen«. – Wie Sowchose des BBK, die Holzfällerarbeiten, Granitbrüche, Apatitgestein, der Bau des Elektrizitätswerkes von Tuloma, die Werft von Soroki, strategische Chausseen zur Landesgrenze und so weiter sich fortwährend entwickeln. Ich höre, was wir in einem Jahr, was in drei Jahren haben werden. »Gegen Ende des zweiten Fünfjahresplanes werden wir die und die Errungenschaften verzeichnen … Zu Beginn des dritten Fünfjahresplanes erreichen wir …«

Im Zuge des zweiten Fünfjahresplanes sollten die Klassen liquidiert werden, folglich konnte man eigentlich auch auf die Liquidation der Lager hoffen; aber dem Vortrag war nur das eine zu entnehmen: auch die Menge der Zwangsarbeiter muß »wachsen« – mindestens im gleichen Tempo wie das übrige sozialistische Wachstum, und wenn man jetzt 300 000 dieser Arbeiter hat, was wird dann »unter den Bedingungen des weiteren Wachstums« werden?

Dann hörte ich den Vortrag des Chefs der KEA, Genossen Korsun: »Wie wir umerziehen, wie wir umschmieden … Das sowjetistische Besserungssystem ist nicht auf dem Prinzip der Bestrafung, sondern auf dem Prinzip der Besserung durch Arbeit aufgebaut. Wir strafen nicht, sondern impfen den Insassen durch aufmerksame und kameradschaftliche Behandlung die Liebe zur freien, schöpferischen, sozialistischen Arbeit ein …«

Im allgemeinen redet Korsun dasselbe, was seinerzeit Gorki anläßlich der Eröffnung des Weißmeer-Ostsee-Kanalbaues schrieb. Nur mit dem Unterschied, daß Gorki mit der Unwissenheit der »freien Bevölkerung« Rußlands und vor allem des Auslands rechnete. Worauf rechnet aber Korsun? Hier kennen doch alle dieses Besserungssystem, das »nicht straft, sondern umerzieht«, alle kennen hier, was ich kenne: die Gevierte 19, die Dikowsche Schlucht und die Erschießungen ohne Urteil. Viele kennen noch, was ich Gott sei Dank noch nicht kenne und vielleicht auch nie erfahren werde: Strafversetzungen nach dem Faulen Fluß, Lager mit der Brotration von einem halben Pfund pro Tag und mit dem offiziellen Recht jedes Kolonnenführers, die Todesstrafe zu verhängen, grauenhafte Floßarbeiten bei Kem, wo die Menschen tagelang hintereinander bis an die Brust im eisigen, nie gefrierenden Wasser der Gebirgsflüßchen arbeiten müssen. Das Auditorium kennt das alles. Und – nichts geschieht. Man applaudiert sogar … Viele Weltrekorde hat man in der sowjetistischen Geschichte aufgestellt; aber der Rekord an Frechheit hat wahrhaftig weltgeschichtliche Ausmaße. So zu lügen und sich so an das Lügen gewöhnt zu haben, wie es in der Sowjetunion der Fall ist, das ist, wie mir scheint, noch nirgends und niemals geschehen.

Nach dem Vortrag werden auf der Bühne etwa drei Dutzend ziemlich gut gekleideter Menschen ausgerichtet. Das sind »Oberudarniki Arbeiter, die die Normen besonders hoch »übererfüllen«.« – »die Besten der Besten«. Musik und Applaus erschallen. Feierlich heftet Korsun jedem von ihnen den Orden des Weißmeer-Kanalbaues an die Brust, der hier im Lager ungefähr dem Leninorden Der höchste Orden der Sowjetunion. entspricht. Ebenso feierlich drückt Korsun jedem der »Besten der Besten« die Hand und stellt sie den Anwesenden einzeln vor: »Das ist Iwanow, ein ehemaliger Dieb … Hat eine musterhafte Brigade organisiert … Übererfüllte die Norm um … Prozent, hat soundso viel seiner Kameraden in die Umerziehungsarbeit einbezogen.« Na, und so weiter.

»Die Besten der Besten« verbeugen sich stolz vor dem Publikum, das Publikum applaudiert, in den hinteren Reihen lacht man zweideutig, »die Besten der Besten« besteigen nacheinander das Rednerpult und berichten von ihrer »Umschmiedung«. Irgendein Bursche mit dem Aussehen eines Zigeuners erzählt in reinstem Odessaer Hafenplatt, wie er stahl, mordete, Kokain schnupfte, Banknoten fälschte und wie er jetzt bei dem großen Aufbau des sozialistischen Vaterlandes einsehen gelernt hätte, daß … und so weiter, und so weiter. Gut gebrüllt, Löwe, ganz überzeugend. Selbst in mir, der ich doch von allen Hunden gehetzt bin, steigen Zweifel auf; weiß der Teufel, vielleicht hat er sich tatsächlich »umgeschmiedet« … Nun folgen die Treueschwüre auf das »Vaterland der Werktätigen«. Der feierliche Abschluß irgendwelcher sozialistisch begeisternder Verträge steht bevor – aus beruflicher Gewohnheit schreibe ich manches in mein Notizbuch auf; das Aufgeschriebene läßt sich nicht so leicht vergessen, doch fühle ich, daß ich das Ende der Veranstaltung nicht werde abwarten können. Die Höchstdauer der Sowjetsitzungen, die ich aushalten kann, beträgt zwei Stunden. Dann ist es, um auf die Bäume zu klettern. Ich arbeite mich durch die Menge hindurch, die sich vor dem Saaleingang staut. Dort werde ich von einem WOCHR-Mann angehalten: »Wohin jetzt, vor Sitzungsschluß? – Machen Sie kehrt!« Ich halte ruhig dem WOCHR-Mann mein Notizbuch vor die Nase: Radiomeldung. Selbstverständlich hat er keine Ahnung hiervon, und so gehe ich unbehelligt weiter. Ich entschließe mich, zur »Dynamo« zu gehen, nicht ohne den Hintergedanken, dort einen zu heben und etwas zu essen. Aus dem Zimmer Batüschkows höre ich die Stimme Georgs. Ich trete ein und erblicke ein nettes Bild: auf dem Tisch stehen mehrere Wodkaflaschen, teils leer, teils noch unangebrochen. Um die Flaschen herum sind verschiedene Imbisse unordentlich verstreut, die offensichtlich aus der Tschekistenkantine stammen. Am Tisch sitzt der Chef der Operationsabteilung der GPU von Medgora, Genosse Podmokly, bereits stark angeheitert, auf dem Bett sitzt Batüschkow in etwas besserer Verfassung. Georg singt einen deutschen Schlager:

»Jonny, wenn du Geburtstag hast.«

Batüschkow begleitet ihn auf der Gitarre. Wie er mich sieht, unterbricht er die Begleitung, greift dann kräftig in die Saiten und stimmt überlaut den ihm von Georg beigebrachten englischen Schlager an:

» Oh my, wat a rotten song.«

Nachdem die Bravourstrophe zu Ende ist, erhebt sich Batüschkow und umarmt mich:

»Ein allerliebster Kerl bist du, Wanja, ein prachtvoller Mensch. Gott verdamm mich! Los, darauf wollen wir mal einen plätschern.«

»Jawohl«, sagt der Chef der Operationsabteilung im Ton tiefster Überzeugung, »wir müssen unbedingt noch einen plätschern!«

Und es wurde »geplätschert«.

Später, so gegen drei Uhr, sah die weiße Nacht des Nordens, wie durch die menschenleeren Straßen von Medgora der Chef der Operationsabteilung torkelte, an beiden Seiten von zwei Sträflingen gestützt – auf der einen Seite von Georg Solonewitsch, der sich in einem absolut nüchternen Zustand befand, und auf der anderen von Iwan Solonewitsch, der sich nicht in einem absolut nüchternen Zustand befand. Die vorübergehenden Patrouillen der Operationsabteilung der GPU grüßten wohlgefällig und verständnisvoll.

Heldentaten ähnlicher Art geschahen in der »Dynamo« jede Nacht mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit, und es erwies sich, daß Batüschkow mit seiner Prophezeiung über mein künftiges Dynamoleben die Wahrheit gesprochen hatte. Technisch gab es dafür eine einfache Erklärung.

Ob Kommunist, ob nicht – die Lust zum Trinken ist uralt. Doch schmeckt es ganz allein nie so recht. Das Trinken mit den Kommunisten ist aber gefährlich. Ein Kommunist ist dem anderen, wenn auch nicht immer ein direkter Feind, so doch stets ein Konkurrent. Du trinkst mit deinem Parteigenossen, platzt mit etwas heraus, das von der »Generallinie« abweicht, und bist schon reingefallen: bei der nächsten »Säuberung« wird eine tückische Frage gestellt: »Entsinnen Sie sich nicht, Genosse, wie Sie – und so weiter?« Wo soll man dann hin, um zu trinken, wenn nicht zu Batüschkow? Batüschkow hat offensichtlich kein Geld zum Trinken. So kommt der Chef der Operationsabteilung zu ihm und beginnt aus seiner Amtsaktentasche eine Wodkaflasche nach der anderen hervorzuzaubern. Nach deren Aufstellung unterhält man sich über die nötige Unterlage. Mehrere Talons werden aus dem Bezugsbuch gerissen und aus der Tschekistenkantine dafür Schweinebraten, gebratener Auerhahn, Weißmeerlachs oder dergleichen geholt, also etwas Schmackhafteres als das Menü der ITR-Kantine. Alle Anwesenden waren verpflichtet zu trinken. Nur Georg drückte sich von dieser »Pflicht« unter Hinweis darauf, daß er bereits nach dem ersten Glas nicht mehr singen könne. Georg hatte einen gründlichen Vorrat an Liedern von Wertinski, Berliner Schlagern und dergleichen mehr. Alles dieses war ganz neu und herzbewegend – und so saß am Tisch irgendein Podmokly, der in seinem Leben mehr Menschen als ein guter Jäger Hasen erlegt hatte, und ließ Tränen der »Rührung« in das angenippte Glas Wodka fallen.

Das Ganze zusammengenommen sah nicht besonders elegant aus. Ich will gar nicht behaupten, daß mich zu den Trinkgelagen und zu den Appetithappen in dieser Gesellschaft sehr geschäftliche Erwägungen hinzogen, doch hat Georg immerhin im Laufe eines Monats von solchen Sitzungen ungefähr alles erfahren, was nötig war: die Spürhunde, die Geheimpatrouillen, die in Erdlöchern unter dem Gebüsch versteckt lagen, die Patrouillen, die Wege und Pfade bewachten, und die Bauern Kareliens – hier auf dem Lagergelände wurden nur »besonders geprüfte« Bauern belassen, und jeder von ihnen bekam für einen eingelieferten Ausreißer einen Sack Mehl. Übrigens muß ich sagen, daß die Mitglieder der Operationsabteilung stark aufschnitten, wenn sie die Macht ihrer Organisation hochpriesen und davon redeten, daß aus dem Lager nicht einmal eine Ratte, geschweige denn ein Mensch entfliehen könne. Es gelang uns, das allgemeine Schema der Lagerbewachung einigermaßen genau aufzuklären. Mit diesen Sitzungen in der »Dynamo« stand auch unser Plan der Waffenbeschaffung in Verbindung. Aber daraus wurde später nichts. Einmal, als Georg und ich, nur zu zweit, gegen Morgen »nach Hause« in unsere Baracke gingen, sagte er mir:

»Weißt du, Wa, wenn wir endlich im Walde auf dem Wege zur Grenze sind, dann wird es nötig sein, eine rituelle Waschung oder so was Ähnliches vorzunehmen … sich von all diesem reinzuwaschen.«

Eine solche Waschung hat Georg später auch vollbracht. Unsere Besuche bei der »Dynamo« stellten wir einstweilen ein. Ein mehr als genügender Vorwand wurde gefunden: die Lagerspartakiade rückte heran (doch davon später), und man mußte noch entsprechend trainieren. Außerdem näherte sich der Tag der Flucht. Die Nerven ließen mehr und mehr nach, und ich konnte kaum für meine Beherrschung bürgen. Die trunkenen Gespräche der Tschekisten und der übrigen, ihre Prahlereien mit der Kraft der alles unterdrückenden Organisation, ihr Zynismus, von dem in der Trunkenheit alle Schleier einer Idee herabfielen und nur eine nackte Psychologie der allmächtigen Bande von bezahlten Berufsmördern blieb, riefen in mir Haßanfälle hervor, die meinen Verstand zu trüben begannen … Sich aber sieben Jahre lang auf die Flucht vorzubereiten und der Gefahr auszusetzen, einen Monat vor deren Ausführung für die zusammengehauenen Knochen eines Entarteten erschossen zu werden, an dessen Stelle eine unzählige Menge anderer treten wird, das ist eine reine Dummheit. Also brachen wir mit der Dynamoaristokratie allmählich die Beziehungen ab.

 

Umschmiedung in Anführungszeichen

Im Gebäude der Kultur- und Erziehungsabteilung waren zwei sehr große Räume für die Schriftleitung der Lagerzeitung »Umschmiedung« belegt. Die Zeitung – das Zentralorgan aller kleineren Umschmiedungen – erschien dreimal wöchentlich und enthielt nur zwei- bis dreispaltige Seiten. Das ständige Personal der Schriftleitung bestand aus sechzehn halbgebildeten Taugenichtsen, obwohl diese Arbeit ein einziger gescheiter Mensch bewältigen konnte. Erschien ein fremder Mensch bei der Schriftleitung, dann benahmen sich all diese Taugenichtse sofort sehr wichtigtuerisch, genau so wie es in allen »freien« sowjetistischen Schriftleitungen gemacht wird, und empfingen den Ankömmling mit offiziell kühlen Blicken. In die Schriftleitung wurden besonders »geprüfte« und besonders »verdienstvolle« Menschen ausschließlich aus den Reihen der Insassen aufgenommen; sie genossen weitest gehende Privilegien, die Möglichkeit weitest gehender Erpressung und zogen deshalb vor, in ihre Mitte keinerlei Konkurrenten hereinzulassen. In den Tagen, als Markowitsch die Absicht hatte, mich oder meinen Bruder in der schon ganz schäbigen Redaktion seines Podporoger Käseblattes unterzubringen, sprach er über dieses Thema mit dem aus Medgora gekommenen Instruktor des Zentralorgans der »Umschmiedung«, einem gewissen Smirnow. Trotz des Lagerlebens war Smirnow so angezogen und rasiert, wie es die sowjetistischen Journalisten und Kinoregisseure gewöhnlich sind: Ledergamaschen, Breecheshosen, ein buntes Apachenoberhemd, ausrasierter Schnurrbart und Kinn und unter dem Kinn ein amerikanisch aussehendes Bärtchen. Eine runde, schwarz umrandete Brille gab der imposanten Figur des »Instruktors« den letzten kultivierten Anstrich. Auf das Angebot Markowitschs erwiderte er mit kaltem Hochmut:

»Es tut bei uns keine Rolle spielen, wo er da in der Freiheit gewirkt hat. Aber dem seine Paragraphen sind so, daß wir ihn in unsere Redaktion nicht reinlassen können.«

Ich konnte nicht umhin und fragte Smirnow, wo er denn in der Freiheit sein Russisch gelernt habe; für einen Journalisten sei das richtige Russisch doch wohl nicht ganz unentbehrlich … Von den Ledergamaschen, dem Apachenhemd und der Intelligenzbrille Smirnows strömte Verachtung und Kälte mir entgegen.

»Nicht bei Ihnen.«

Aber, o weh, Smirnow mußte später bei mir doch etwas lernen!

Zu Beginn meines Aufenthaltes in Medgora besuchte ich die Schriftleitung der »Umschmiedung« überhaupt nicht: sie war ja in der ersten Zeit, wo es sich als hoffnungslos herausgestellt hatte, dort unterzukommen und ich bei der »Dynamo« angestellt wurde, völlig entbehrlich für mich. Doch eines schönen Tages bestellte Radetzky bei mir einen Artikel über die Sportpflege der Dynamo mit der Anordnung, diesen Artikel in der »Umschmiedung« erscheinen zu lassen. Da ich wußte, daß Radetzky vom Zeitungswesen keine Ahnung hatte, machte ich aus lauter Hohn folgendes: ich stellte die Zeilenzahl der ganzen »Umschmiedung« fest und brachte es schlauerweise fertig, einen Artikel zu schreiben, der die ganze Nummer beanspruchte. Ich muß mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen: der Artikel war gut geschrieben, sonst hätte Radetzky seine Randbemerkung: »An Redaktion der Umschmiedung. Sofort ungekürzt abdrucken!«, nicht gemacht.

Das Wort »ungekürzt« habe ich ihm inspiriert. »Ich bin, sehen Sie, im Zeitungsfach bewandert, die Burschen in der ›Umschmiedung‹ sind nicht besonders gebildet und können aus dem Artikel einen kompletten Unsinn machen.«

Mit meinem Artikel, dem befehlenden Vermerk darauf und mit einer großen Portion Schadenfreude ging ich in die Redaktion der »Umschmiedung«. Es erwies sich, daß Smirnow inzwischen zum Schriftleiter aufgestiegen war. Die Einfassung seiner Brille war noch auffälliger geworden und das Bärtchen – noch mehr kino-amerikanisch. Statt der prosaischen Zigarette hing in einem Mundwinkel eine stilisierte Pfeife, der Machorkagestank entstieg.

»Ach, Sie sind's? Irgendwo habe ich Sie schon gesehen … Ich glaube. Sie sind von den Insassen?«

Daß ich »von den Insassen« war, verriet mein Äußeres ganz. Daß Smirnow mich erkannte, darüber war ich gar nicht im Zweifel.

»Ja, ja«, sagte Smirnow bekräftigend, obwohl ich noch kein einziges Wort gesprochen hatte, »so daß, konkret gesprochen, was wünschen Sie?« Schweigend nahm ich mir einen Stuhl, setzte mich umständlich und begann, ebenso umständlich, aus meinen Taschen verschiedene Papiere auszukramen, mit einem Seitenblick verfolgend, wie der Kerl auf mein Gebaren reagieren wird. – Die Pfeife im Mundwinkel senkte sich noch tiefer, und das amerikanische Bärtchen sträubte sich drohend.

»Na, junger Mann, was führt Sie denn hierher?«

Ich war mindestens zehn Jahre älter als er, doch antwortete ich auf den »jungen Mann« nichts und kramte schweigend in meinen Papieren weiter. Nur so nebenbei warf ich dem Hauptschriftleiter des Zentralorgans der »Umschmiedung« einen warnenden Blick zu. Das blieb nicht ohne Wirkung. Die Pfeife wurde etwas nach der Mundmitte umdirigiert.

»Haben Sie ein Manuskript mitgebracht?«

Ich nahm das Manuskript und reichte es schweigend Smirnow. Ganz aufmerksam studierte er zunächst den Vermerk Radetzkys, dann blätterte er die Seiten: es waren sieben Schreibmaschinenseiten – genau beide Seiten der »Umschmiedung«. Das Gesicht Smirnows druckte berufliche Empörung aus:

»Wir können doch nicht die ganze Nummer mit Ihrem Artikel volldrucken.«

»Das geht mich nichts an. Radetzky hat gerade deshalb ›ungekürzt‹ vermerkt, damit Sie keine Kürzungen vornehmen.«

Smirnow nahm die Pfeife aus dem Mund und legte sie auf den Tisch. Nochmal blätterte er die Seiten:

»Genau für die ganze Nummer!«

»Sie nehmen wahrscheinlich an, daß Radetzky die Größe der ›Umschmiedung‹ nicht kennt? Auf jeden Fall habe ich Ihnen das Manuskript mit dem Vermerk übergeben. Bitte um eine Empfangsquittung!«

»Die Redaktion gibt keinerlei Empfangsquittungen!«

»Das weiß ich – trotzdem muß ich die Quittung haben. Sollte mit dem Artikel ein Mißverständnis geschehen, dann wird Radetzky selbst mit Ihnen über dessen Aufnahme sprechen. Ich beabsichtige nicht, mich damit zu befassen. Geben Sie mir bitte die Quittung, daß ich Ihnen den Artikel mit dem Vermerk ausgehändigt habe. Sonst wird die dritte Abteilung die Quittung anfordern.«

Das Bärtchen und die Brille Smirnows verloren ihr Kinostar-Aussehen. Schweigend schrieb er die Quittung und reichte sie mir. Doch genügte mir deren Inhalt nicht: »Seien Sie so gut und schreiben Sie, daß Sie den Artikel mit Vermerk erhalten haben.« Smirnow sah mich wütend an, schrieb aber doch die Quittung um. Die nächste Nummer der »Umschmiedung« sah tatsächlich komisch aus – die Ausgabe bestand nur aus einem einzigen Artikel. Seine Länge hatte ich ganz genau berechnet. Für diese Nummer annullierte Korsun dem »Redakteur« Smirnow ein halbes Jahr seiner »Semester«, die er sich durch »Umschmiedung« und Denunziation verdient hatte, doch wagte niemand, sich an Radetzky zu wenden. Ich aber empfand immerhin eine gewisse moralische Genugtuung … Nach dieser Geschichte betrat ich die Redaktion der »Umschmiedung« drei Wochen lang nicht. Ich erschien dort erst an dem Tage, welcher der Auszeichnung der »Oberudarniki« folgte, um noch ein Geistesprodukt, die Sportpflege betreffend, ebenfalls mit einem Vermerk von Radetzky, abzuliefern. Diesmal machte Smirnow kein amerikanisches Gesicht und trachtete auch nicht danach, amerikanisch auszusehen. Nur Vorwurf und Ehrfurcht standen in seinem Gesicht … Ich erinnerte mich an Artikel in der »Prawda« über »die bezahlte Feder der Bourgeoisieschreiber« und dachte daran, daß keine Presse der Welt sich so erniedrigen konnte. Ich bin ein Journalist – dem Erbe, dem Beruf und der Berufung nach und behielt sogar nach der sowjetistischen Tätigkeit eine angeborene Achtung vor meinem Handwerk … Was aber machen die Genossen Smirnow und die ihrigen daraus!?

»Haben Sie ein Artikelchen mitgebracht?«

Eingedenk meines Riesenartikels, für den Smirnow ein halbes Jahr draufbekommen hat, spielte das Diminutiv »Artikelchen« jene Rolle, die bei einem Hundegebelfer nicht unbekannt ist: ein kleiner Köter, der merkt, daß es um seine Sache ganz schlecht steht, fällt plötzlich auf den Rücken und beginnt mit allen vieren vor lauter Liebenswürdigkeit in der Luft zu strampeln. Smirnow strampelte zwar nicht mit allen vieren; aber durch die Gläser seiner Brille – einfaches Fensterglas, denn die Brille trug er nur, um sich ein imposantes Aussehen zu geben – konnte man klar den Gedanken lesen: nun aber genug, für Podporog hast du dich gerächt, stelle mir bitte jetzt kein Bein …

Ich fühlte einen Widerwillen – auch gegen mich selbst. Smirnow sollte man eigentlich kein Bein stellen; denn eine besondere Schuld hatte er ja nicht. – Ohne die Revolution hätte er irgendwo in einer abgelegenen Gegend als Telegraphist gesessen, hätte niederschmetternde Krawatten getragen, hätte sein ganzes Leben von dem Reifezeugnis geträumt und dieses doch nicht bekommen … Und nun sitzt er hier im Lager, nachdem er eine offensichtlich umfangreiche Schule von Denunziation und Bespitzelung hinter sich hat; er, ein Dummkopf, der seine Stellung als Hauptschriftleiter des Zentralorgans der »Umschmiedung« ganz ernst nimmt. Hauptschriftleiter einer Zeitschrift, die eigentlich niemand braucht, und die man ausschließlich aus der bolschewistischen Gewohnheit, zu lügen und zu denunzieren, unterhält. Die Lügen gingen nicht über die Lagergrenze hinaus – denn über dem Titel stand immer die Überschrift: »Nicht zur Verbreitung außerhalb des Lagers bestimmt!« –, für die Denunziation aber existierte außer »den Lagerkorrespondenten« ein ganzes Netz von Spitzeln der dritten Abteilung, so daß die »Umschmiedung« eigentlich keinen Sinn hatte. Allerdings trug sie zur Vergrößerung des sinnlosen Durcheinanders mit bei.

Mein »Artikelchen« war kurz, so etwa dreißig Zeilen, und das Gesicht Smirnows drückte einige Erleichterung aus: riecht nicht nach Beinstellen. An den Redaktionstisch trat einer der Taugenichtse und fragte Smirnow:

»Was wollen wir nur mit diesen Oberudarniki machen?«

»Weiß der Teufel! Wird nichts übrigbleiben, als ihn vorläufig zurückzustellen.«

»Worum handelt es sich? fragte ich.

Smirnow schaute mich mißtrauisch an. Ich beruhigte ihn, indem ich ihm sagte, daß ich nicht vorhabe, ihn anzuführen.

»Ich glaube, Sie haben in der Moskauer Presse gearbeitet?«

»Auch das …«

»Hier ist es, verstehen Sie, einfach, um davonzulaufen! – Diese Lumpen von ›Oberudarniki‹, die man gestern im Klub auszeichnete, haben in der Nacht den Torgsinladen geplündert!«

»Ja, verstehe schon, sie haben sich wieder umgeschmiedet!«

»Vollkommen. Einige betranken sich und wurden erwischt. Die anderen aber sind unter Mitnahme von Valuta – auf und davon. Jetzt handelt es sich um folgendes: ihre gestrigen Beichten sind schon gesetzt – Artikel mit Abbildungen und so weiter. Jetzt mag der Teufel wissen – sollen wir die Artikel drucken oder nicht? Wen sollen wir fragen? – Korsun ist zu Radetzky gefahren.«

Ich sah den Hauptschriftleiter erstaunt an:

»Hören Sie mal, wo haben Sie in der Freiheit in der Presse gearbeitet?«

»Hm, in der Provinz«, antwortete er ausweichend.

»Entschuldigen Sie, war es im Rahmen des Autodidaktentums?«

»Was geht Sie das an?« sagte Smirnow ärgerlich.

»Ja, die marxistische Auffassung ist nicht zu sehen. Es ist doch ganz klar, alles muß erscheinen – die Artikel, die Bilder und die Berichte. Wenn Sie's nicht machen, dann frißt Sie Korsun und Uspenski mit Haut und Haaren.«

»Schöne Sache«, breitete Smirnow die Arme, »die Artikel erscheinen, und ich bekomme wieder eine zusätzliche Strafzeit aufgeknallt.«

»Ach was, es ist doch folgendes zu erwägen: hat man die Reden dieser Oberudarniki durch die ganze Sowjetunion verbreitet oder nicht? (Smirnow nickte mit dem Kopf.) Sind nach Moskau, an die ›Prawda‹ und an TASS die Telegramme abgegangen? (Smirnow nickte wieder.) Davon, daß die Menschen sich umgeschmiedet haben, weiß somit, kann man wohl sagen, die ganze Welt. Davon aber, daß sie heute nacht geplündert haben, wissen selbst in Podporog nur einige Menschen. Für die Welt müssen diese Kerle als Heilige bleiben – verlorene Söhne, die in das väterliche Haus der Werktätigen der Sowjetunion zurückgekehrt sind. Wenn Sie die Artikel mit ihrem Konterfei nicht abdrucken, machen Sie eine ganze politische Kampagne zunichte.«

Der Hauptschriftleiter sah mich ehrerbietig an:

»Haben Sie in der Freiheit bei der ›Prawda‹ gearbeitet?«

»Ja, bei der ›Prawda‹«, log ich.

»Wollen Sie nicht bei uns arbeiten?«

Die Mitarbeit in der »Umschmiedung« interessierte mich jedoch keineswegs.

»Na, auf jeden Fall, besuchen Sie uns wieder … Wir sehen Ihnen ein Honorar aus.«

 

Die ersten Terroristen

Als ich über meine ungewöhnliche Lage nachsann, fand ich sie fast ideal. Die Frage der Dauerhaftigkeit, sofern sie überhaupt in meinem Kopf auftauchte, war mehr theoretischer Natur – denn theoretisch gab es unter der Sichel des Sowjetmondes und unter dem Hammer der Sowjetmacht nichts Beständiges. Doch blieben bis zur Flucht etwa zwei Monate, und die bringe ich schon irgendwie herum. Ich bemühte mich nur, die gefahrbringenden Eventualitäten vorauszusehen und vorher auszuschalten, doch einige konnte ich nicht voraussehen.

Mein Sturz von den Höhen der »Dynamo« fiel zeitlich mit der Zusammenstellung der Fußballmannschaften zusammen, wer konnte das aber wissen! Ich bereiste, oder genauer gesagt, beging mehrere Nachbarunterlager und stellte dort zwei ziemlich starke Fußballmannschaften zusammen – mit dem Ersatz waren es achtundzwanzig Mann. Da es aber offensichtlich war, daß diese Menschen bei zwölfstündiger Tagesarbeit und bei der Lagerernährung nicht trainieren konnten, so mußte man für ihre Überführung auf »fettere und ruhigere Weiden« sorgen – im gegebenen Falle sie in die WOCHR aufnehmen. Gollmann sagte mir: »Machen Sie mir eine Aufstellung über diese Mannschaften, erwähnen Sie dort jeden einzelnen mit seinem kurzen Lebenslauf, Strafzeit, Paragraphen, und ich erlasse dann den Befehl über ihre Versetzung zur WOCHR.«

Ich machte die Aufstellung, und als ich sie fertig hatte, war mir völlig klar, daß ich mit ihr nichts würde erreichen können und folglich meine Fußballtätigkeit in der Luft hing. Von achtundzwanzig Mann saßen drei für Bandenwesen, zwei für irgendwelche unbestimmte konterrevolutionäre Paragraphen, und die übrigen dreiundzwanzig hatten in der Kartei den gefährlichen Paragraphen 58, 8: Terror, und je zehn Jahre Haft.

Fünf oder sechs Terroristen konnte man unter der Deckung der anderen irgendwie noch unterbringen, aber dreiundzwanzig verwandelten meine Fußballmannschaft in eine terroristische Organisation innerhalb des Lagers. Selbst wenn Gollmann keinen Verdacht schöpfen würde, daß ich diese Menschen ganz bewußt ausgesucht hätte, so wird weder er noch gar Radetzky riskieren, dieses terroristische Sträußchen in die WOCHR zu verpflanzen. Was sollte ich machen?

Ich wollte zu Honigkocher gehen, mir einen Rat zu holen, traf ihn aber nicht. Ich ging nach Hause, in die Baracke. Vor der Baracke im Sonnenschein saß Georg mit seinem Freund Chlebnikow Der Name ist abgeändert.. Georg hatte Chlebnikow irgendwo in den Baracken des Unterlagers 2 aufgegabelt, angelockt durch seine vielseitige Begabung. Die Begabung Chlebnikows war tatsächlich sehr vielseitig, in mancher Hinsicht nach meiner Meinung sogar genial. Er steckte hier unter den zwei Dutzend anderen Studenten der Moskauer Kunstmalerakademie, die in der Kartei alle den gleichen Paragraphen 58, Absatz 8, und die gleiche Strafzeit: zehn Jahre, hatten. Die übrigen Details des Lebenslaufes Chlebnikows muß ich aus begreiflichen Gründen verschweigen.

Georg und Chlebnikow spielten Schach. Ich trat hinzu und setzte mich daneben. Georg hob seinen Blick vom Schachbrett und sah mich prüfend an: »Was siehst du so sauer drein?« Ich erzählte ihm von der Aufstellung. Chlebnikow sagte: »Tja, für solch eine Aufstellung wird man Ihnen den Kopf bestimmt nicht streicheln.« Daß man mir den Kopf nicht streicheln wird, das wußte ich auch ohne Chlebnikow. Georg sah die Aufstellung aufmerksam durch, als ob er sich vergewissern wollte, und erklärte dann: »Wir müssen andere aussuchen …«

»Hoffnungslose Sache«, sagte Chlebnikow.

»Warum hoffnungslos?«

»Sehr einfach – gute Sportsleute gibt es fast ausschließlich nur unter Studenten.«

»Und was dann?«

»Wofür kann denn ein sowjetistischer Student im Lager sitzen? Stehlen kann er nichts und nirgends. Würde man sie für die antibolschewistische Propaganda festsetzen, dann müßte man alle Hochschulen schließen, was nicht so einfach ist. Alle sitzen wegen Terror!«

»Sie wollen doch nicht behaupten, daß die Sowjetstudenten sich nur mit Bombenwerfen befassen?«

»Das will ich auch nicht. Alle sitzen auch nicht. Versuchen Sie aber zu analysieren. In der Welt ist es schon so eingerichtet, daß vorwiegend die Jugend sich mit Terror befaßt. Der aufgeklärteste Teil der Jugend ist aber die Studentenschaft. Von den Studenten greifen zum Terror die tatkräftigsten, das heißt Sportsleute, natürliche Auslese – nichts zu machen, und nun sitzen sie, das heißt, es sitzen nur jene, die am Leben geblieben sind.«

Die Aufstellung und die mit ihr verbundenen Aussichten verstimmten mich sehr, der akademische Ton Chlebnikows regte mich noch mehr auf:

»Die Lausejungen machen dumme Streiche, und dann sitzen sie zehn Jahre, weiß der Teufel wo!«

Chlebnikow wandte sich mir zu:

»Sind Sie dessen ganz sicher, daß diese Lausejungen nur dumme Streiche machen und nichts weiter?«

Eine derartige Sicherheit besaß ich allerdings nicht.

Ich wußte wohl, daß der Terror sich vornehmlich auf dem Lande verbreitet, und daß auch in den Städten geschossen wird, doch nach weniger bedeutenden Personen. Davon enthalten die Sowjetzeitungen selbstverständlich kein Wort, und in Moskau geht darüber nur dunkles, geheimnisvolles Geflüster von Mund zu Mund.

»Warfen auch Sie Bomben?«

»Ich nicht. Ich spielte nur eine ganz kleine Rolle und bin deshalb hier und nicht im Jenseits. In Sachen der Moskauer Kunstmalerakademie wurden zweiundfünfzig Mann erschossen.«

Über die Sache der Moskauer Kunstmalerakademie habe ich in Moskau seinerzeit gehört – allerdings nur Unklares und Verworrenes. Zweiundfünfzig Mann? Ich sah Chlebnikow nicht ohne ein gewisses Interesse an:

»War das kein Roman, war es wirklich eine Organisation?«

»Jawohl, eine Organisation! Unsere Moskauer Akademie war mit der Renovierung der Dekorationen im ersten Moskauer Künstlertheater beschäftigt. Man plante, von der Bühne aus in die Loge Stalins eine Bombe zu werfen. Leider kamen wir nicht dazu …«

»War die Bombe schon fertig?«

»Ja.«

»Und zweiundfünfzig Mann wollten die Bombe werfen?«

»Na, Iwan Lukjanowitsch, wer sonst; aber Sie müssen doch wissen, daß man nicht nur jene, die vorhatten, eine Bombe zu werfen, erschießt, sondern auch jene, die einfach der GPU gelegentlich ins Garn laufen … Reingefallen war das Laboratorium, das die Bombe angefertigt hatte – nicht die Kerle von unserer Akademie, sondern die Chemiker. Aber immerhin, ich darf schon versichern, daß die Kerle, die – wie Sie sagen – dumme Streiche machen, durch einen ihrer Streiche diesen großen Idioten tatsächlich einmal zum Satan schicken werden – eines gewöhnlichen Todes wird Stalin nicht sterben –, da können Sie ganz unbesorgt sein.«

Die Stimme Chlebnikows drückte keinen Haß aus. Er sprach in dem Ton eines Arztes, der auf die Notwendigkeit einer schweren, doch unvermeidlichen Operation hinweist.

»Und warum hat man dich nicht miterschossen?« fragte Georg.

»Dazu haben verschiedene Umstände beigetragen. Die Hauptsache aber war die, daß mein Vater eine hohe Parteistellung bekleidet.«

»Ach, dann steht Ihr Vater an der Spitze der …« Ich nannte eine hohe Moskauer Institution.

»Jawohl, der ist es! Im allgemeinen hatten fast alle, die in dieser Sache am Leben geblieben sind, ihren hohen Parteivater. Na, selbstverständlich begannen die Väter zueinander zu laufen … Wahrscheinlich sagten sie dasselbe wie Sie eben – Dummejungenstreiche sind es, oder so was Ähnliches. Der Väter waren viele, und so sind wir mit heiler Haut davongekommen.«

»Sie sind also sozusagen ein vollkommen proletarischer Student?«

»Absolut! Bin sogar ein Komsomolez. Ich weiß. Sie wollen mich fragen, warum ich, ein Proletarier und so weiter, vorhatte, mich mit der in der Sportpflege nicht vorgesehenen Sportart – dem Bombenwerfen – zu befassen.«

»Sie haben es richtig erraten.«

»Eben deshalb, weil ich ein Proletarier bin! Stalin hat nicht euch, sondern mich betrogen. – Ihr habt ihm niemals geglaubt, ich glaubte aber! Stalin beutete nicht euren, sondern meinen Enthusiasmus aus. Und dann noch eins. – Sie glauben nicht, wie steht es doch bei Selwinski: ›an die heilige Banalität des Glückes in der Welt‹ …«

»Einstweilen glaube ich nicht.«

»Sehen Sie! Ich glaube aber! Folglich, Sie pfeifen darauf, daß Stalin diese ›Banalität‹ für Jahrzehnte diskreditierte, und ich kann nicht darauf pfeifen. Wenn Stalin noch zehn Jahre regieren wird, das heißt, falls wir ihn nicht vorher umbringen, dann führt es dazu, daß ihr ihn aufhängt.«

»Wen meinen Sie mit ›ihr‹?«

»Das alte Regime – Gutsbesitzer, Fabrikanten …«

»Ich bin weder Gutsbesitzer noch Fabrikant.«

»Das ist auch nicht wichtig. Ich meine die Menschen der alten Welt. Alle jene, die an diese ›heilige Banalität‹ nicht für einen Groschen glaubten. Und wenn Stalin noch etwa zehn Jahre regiert – dann ist es Schluß, dann kommt man in die Lage, zu wünschen, daß nur bloß irgendeiner kommt. – Nicht mal so eine Größe wie Hitler oder Mussolini, sondern meinetwegen Aman Ullah.«

»Denken Sie nicht, daß eine solche Lage bereits schon jetzt geschaffen ist?«

»Also, dann um so schlimmer! Doch glaube ich – noch nicht ganz geschaffen. Verstehen Sie nun meinen Gedanken: wenn es so weit kommt, daß sie Stalin aufhängen und alles Drum und Dran, dann wird jeder mir, dem Proletarier, ins Gesicht sagen dürfen – na, habt ihr die Revolution gemacht, habt die Macht in eure schwieligen Hände genommen? Rußland bis zum Siedepunkt gebracht? – Jetzt aber – raus mit euch! Stillgestanden und kein Wort! Was wird man dann noch viel Worte machen? Darauf kommt es hinaus … Wir wollen aber nicht, daß das Land, das wir aufbauen, von einem Hottentottenfürsten regiert wird. Verständlich?«

»Verständlich, obwohl auch etwas verworren.«

»Warum verworren?«

»Angenommen, sie bringen Stalin um, was dann weiter? Und warum glauben Sie, daß gerade ihr und nicht jemand anders an die Macht kommt?«

»Es gibt ja niemand anderen. – Nur werktätige Massen, und diese werden auch wirtschaften.«

»Und wer wird diese Massen regieren?«

»Niemand wird regieren. Es wird keine Regierung geben – nur eine technische Leitung.«

»Sozusagen Utopie der technokratischen Ordnung«, ironisierte ich.

»Klar, technokratische Ordnung, jedoch nicht als Utopie. Das ist überhaupt eine technische Unvermeidlichkeit. Die Adligen haben wir nicht mehr. Nehmen Sie ein beliebiges Werk und schmeißen Sie die kommunistische Spitze zum Teufel. Wer bleibt dann? Es bleiben Arbeiter und Ingenieure. Die kommunistische Spitze tut doch nichts anderes, als jedem das Leben sauer zu machen und die Arbeitsmöglichkeit zu zerstören. Doch Ingenieure und Arbeiter werden sich immer einig. Man braucht nur die kommunistische Spitze rauszuschmeißen – überall! Und das – besorgen wir!«

Chlebnikow sprach in sehr zuversichtlichem Ton.

»Wir, Nikolaus der Zweite, Selbstherrscher …« hub ich an.

»Sie können lachen, doch wer zuletzt lacht, lacht am besten. Und als Letzte werden wir lachen. Wir schmeißen die Spitze raus, lassen aber die Gutsbesitzer nicht herein. Sollten sie als Direktoren der Sowchose arbeiten wollen – natürlich diejenigen, die von der Sache was verstehen –, dann bitte sehr, Geld auf den Tisch, Macht in die Hand: wirke! Wenn Rjabuschinski Ein bedeutender russischer Großindustrieller aus der Vorkriegszeit. …«

»Woher kennen Sie Rjabuschinski?«

»Kenne ihn schon! – Er prophezeite doch von dem Knochenarm des Hungers, der uns an der Gurgel packen und uns zwingen wird, mit Abbitte zu ihm zu kommen – mit anderen Worten: kommen Sie bitte wieder, beherrschen Sie uns …«

»Weißt du was, Kolja«, sagte Georg, »wir wollen mal ehrlich sprechen: von allen Prophezeiungen über die Folgen der Revolution war diese, glaube ich, die einzige, die in Erfüllung ging – und das auf volle hundert Prozent.«

»Die Revolution ist noch nicht zu Ende, um von vollen hundert Prozent sprechen zu können. Wenn Rjabuschinski will, soll er als Direktor eines Trustes arbeiten. Arbeitet er gut, werden ihm Hunderttausende bezahlt, und das in Gold.«

»Und woher kriegen Sie diese Hunderttausende?!«

»Die kriegt man schon. Wenn alle arbeiten und niemand stören wird, dann kommen wir an Hunderte von Milliarden. Einem gewissen Iwan Lukjanowitsch werden wir das gesamte Sportwesen anvertrauen: wirken Sie nur …«

»Sie mißbrauchen viel zu sehr das Fürwort ›wir‹. Wer sind eigentlich diese ›wir‹?«

»Wir, das sind jene, die arbeiten und trainieren. Nehmen wir als Beispiel die Sportorganisation. Wir wählen, und nun kann Iwan Lukjanowitsch wirken. Gewählt wird er aber nicht auf vier Jahre, wie es die Bourgeoisieländer tun, sondern auf zwanzig Jahre, damit es kein Bockspringen gibt. Zur Verantwortung werden Sie aber nur durch das Gericht gezogen werden können.«

Die Stimme Chlebnikows war ohne Ekstase, ohne Enthusiasmus und auch ohne, wie man es so nennt, Glaubensbegeisterung. – Die Worte fielen wie die Hammerschläge eines Zimmermanns, der die Nägel einschlägt – zuversichtlich und ruhig. Er gestikulierte nicht mal dabei. Von seinen breiten Schultern ging ein Kraftstrom aus.

Das Programm der Technokratie war für mich keine Neuigkeit – es ist unter einem Teil der Sowjetintelligenz sehr populär, aber es wird etwas abstrakt beraten: man beginnt immer mit einem »wenn«. Chlebnikow hatte aber keinerlei »wenn«.

»Somit müssen wir uns beeilen, Stalin den Garaus zu machen, solange er es nicht bis zum endgültigen Zerfall gebracht hat. Und man wird ihm schon den Garaus machen!«

Ich sah Chlebnikow von der Seite an. Mit zweiundzwanzig Jahren erscheint das Leben sehr einfach. Wahrscheinlich erscheint die Technik des Terrors ebenso einfach. Ich glaube aber, daß die Technik der Provokation bei der GPU etwas höher steht. Stalin den Garaus zu machen, ist nicht so einfach, wie bei einem gaffenden Torwart ein Tor zu schießen.

Diese Erwägungen ließen Chlebnikow jedoch gleichgültig:

»Ja, die Technik ist nicht hoch! Nur deshalb lebt er noch! Doch glauben Sie mir, an dieser Technik arbeiten nicht ganz leere Köpfe!«

»Und wie wird es mit den Vätern sein?« fragte Georg.

»Tja, das wird ja ungefähr dasselbe sein. Der meinige ist noch verhältnismäßig harmlos. Stellt er sich aber in den Weg, wird nichts übrigbleiben, als auch ihn zu beseitigen. Ein selbstverständlich zweifelhaftes Vergnügen; aber was soll man machen …«

Georg sah Chlebnikow tadelnd und verständnislos an. Sowohl die Technik als auch die Psychologie der Beseitigung seines eigenen Vaters gingen ihm nicht in den Kopf hinein.

 

Väter und Söhne

Das war meine erste Begegnung mit der sowjetistischen studierenden Jugend im Lager. Die erste, weil, wie es sich später erwies, dieses Volk nur im Norden des BBK gehalten wurde. Selbst nach Medgora kamen nur einzelne – nur die qualifiziertesten und am wenigsten entbehrlichen für allerhand Projektionsbüros, Laboratorien, Versuchsanstalten und dergleichen. Als ich einen Monat später die Zusammenstellung der Riegen für die BBK-Spartakiade begann, bei der die Urteilsparagraphen nicht von Bedeutung waren, befaßte ich mich nebenbei mit der Feststellung der Zahl der im BBK sitzenden Studenten. Hierzu hatte ich alle Möglichkeiten; denn von den erhaltenen Ziffern hing die Summe ab, die das Lager für den Einkauf des Sportinventars zur Verfügung stellte. Es gelang mir jedoch nicht, eine ganz genaue Ziffer zu bekommen – die Abteilungen Kem und Segescha, wo die meisten Studenten saßen, machten keine Angaben. Bei den übrigen sieben Abteilungen stellte ich eine Zahl von insgesamt etwas über sechstausend Mann fest. Ich schloß aber wohl nicht fehl in der Annahme, daß die Gesamtzahl der inhaftierten Studenten neun- bis zehntausend Mann betrug. Nebenbei stellte sich noch ziemlich unerwartet heraus, daß dreieinhalb bis vier Prozent der Lagerintelligenz fast ausschließlich aus Sowjetstudenten besteht … Um das heutige Rußland zu erkennen, ist es unerläßlich, irgendein großes Lager aufzusuchen. Gerade hier kann man die fehlenden »Kettenglieder« der vielen Probleme des »freien« Sowjetrußlands – darunter auch des Problems Väter und Söhne – ausfindig machen.

In der russischen Emigration läßt sich dieses Problem verhältnismäßig schmerzlos lösen. Man holt aus dem hundertjährigen Literaturarchiv »das bittere Lächeln des betrogenen Sohnes über den durch Verschwendung ruinierten Vater«, und die Sache beschränkt sich auf Verbalnoten. Die Emigrantenväter sind wohl verschwenderisch gewesen, aber sich so zu ruinieren, wie es die sowjetistischen Parteiväter fertigbrachten, ist wahrscheinlich in der Weltgeschichte noch niemandem gelungen.

Ich möchte noch meinen Beobachtungsstand festlegen – das heißt jenen Standpunkt, von dem ich den Streit zwischen »Vätern und Söhnen« beobachte. Zwischen »Vätern und Söhnen« nehme ich eine Zwischenstellung ein: aus den »Söhnen« bin ich offensichtlich herausgewachsen – zu den »Vätern« aber wohl noch nicht herangewachsen. – Georg und ich spielten in der gleichen Fußballmannschaft. Er als Läufer, ich als Verteidiger – da kann man schlecht von »Vätern und Söhnen« reden … Wie man die politische Bedeutung der Entschlossenheit Chlebnikows, seinen eigenen Vater zu beseitigen, auch beurteilen mag – immerhin hat sie sowohl bei mir als auch bei Georg einen erschütternden Eindruck hinterlassen.

Als Chlebnikow gegangen war, räumte Georg zerstreut die nicht zu Ende gespielte Partie vom Schachbrett ab und sagte:

»Weißt du was, Wa, es ist die höchste Zeit, auszukratzen. Ich bin kein Spezialist für ein Gemetzel … Und hier wird es ein Gemetzel geben, ein gewaltiges Gemetzel … Kannst du dich des Sjenka B. entsinnen?«

Wohl entsinne ich mich des Sjenka B. und auch manches anderen. Bei Sjenka B. handelt es sich um ein kurzes und doch sehr charakteristisches Beispiel für das Problem »Väter und Söhne«.

Ich hatte in Moskau einen guten Bekannten, Simon B. – einen Kommunisten aus den Arbeiterkreisen. Mitarbeiter der Parteizelle in seinem Werk. Einer der erlöschenden Enthusiasten der Revolution. Dieser Simon B. hatte einen Sohn Sjenka, einen Burschen von zwanzig bis zweiundzwanzig Jahren, der bei dem gleichen Werk als Techniker arbeitete. Er war Erfinder, und wie man sagte, sogar ein begabter. Eines Tages kehrten wir in dem Zimmerchen der beiden in der X-Straße ein. Der Sohn saß mit der Zeitung am Fenster, der Vater wollte irgendwohin gehen und füllte seine Aktentasche mit verschiedenen Papieren. Ich fragte:

»Wo wollen Sie hin, Simon Simonowitsch?«

»Zum Parteikomitee.«

Da sagte der Sohn, ohne von der Zeitung aufzublicken:

»Papachen geht in das Parteikomitee … Dort wird er seine üppige proletarische Männerschönheit verkaufen.«

Der Vater hob die Augen von seiner Aktentasche und blickte den Sohn erbittert und zornig an.

»Du solltest lieber schweigen!«

»Schweigen … Schweigen sollen jene, die vor Hunger krepiert sind.«

Und zu mir gewandt:

»Dirnen sind unsere Väter … Für das Parteibuch – auf jedes beliebige Bett!«

Der Vater schlug mit der Faust auf die Aktentasche:

»Halt's Maul, du Lausejunge; denn sonst werde ich dich …«

»Was werden Sie mich, Papachen? An die Wand stellen … Wie? Für das Parteibuch sind Sie bereit, nicht nur Ihr Volk, sondern Ihren eigenen Sohn zu ermorden?«

Der Vater biß die Zähne zusammen und verzog das Gesicht. Vater und Sohn standen sich gegenüber und rangen nach Atem.

Dann griff der Vater krampfhaft nach seiner Tasche und stürzte zur Tür.

»Simon Simonowitsch, Ihre Mütze!« rief Georg hinterher.

Simon Simonowitsch kam zurück und nahm seine Pelzmütze vom Nagel:

»Da habe ich was großgezogen …« sagte er.

»Schweigen Sie schon lieber, genug habe ich davon!« schrie der Sohn ihm nach.

Das Ganze ist viel ernster als das »bittere Lächeln«.

Ich muß allerdings sagen, daß in diesem konkreten Fall der Sohn im Unrecht war. – Der Vater verkaufte sich nicht. Er war ein ehrliches Zugpferd der Revolution, mit Verwundungen, mit Typhus, mit Zuchthaus, und er wußte wohl, daß all das umsonst gewesen war, daß die Jahre vergingen und daß sie nicht wiederkommen, genau so wie auch die vernichteten Leben des sozialistischen Paradieses nicht wiederauferstehen … Auch wußte er, daß der Tod bereits ganz nahe vor ihm stand (er hatte stark fortgeschrittene Lungentuberkulose), und daß er auf dem Sterbebett keinen Trost, gar keinen Trost haben wird. Auch von dem eigenen Sohn nicht; denn er hält den Vater für eine Dirne und einen Henker.

Wohl hat die Mehrheit der Parteiväter »mildernde Umstände« … doch urteilen die Söhne nach den Tatsachen.

Die Väter spornten die Söhne an: jetzt noch ein wenig, nur noch kurze Zeit den Leibriemen enger ziehen. Nur noch etwas Geduld, und dann sind wir im sozialistischen Paradies!

Die Jugend schuftete, zog den Leibriemen enger, stellte ihren Kopf vor den »Kulakenkarabiner«, kam zu Hunderttausenden um: vor Frost auf den Bahnbauten im Mittelural, an Typhus – auf dem Dnjeprostroj, an Malaria – in den Sümpfen, an Skorbut – in Solikamsk, vor Hunger – überall und durch Unglücksfälle – auf allen Bauten; denn bei all diesen »Sturmarbeiten« war der Arbeitsschutz nur auf dem Papier vorhanden.

Und nun, nachdem fast alles »erfüllt und übererfüllt« ist, sieht die Jugend – die Traktorenfriedhöfe und muß außerdem aus dem Munde von Stalin selbst hören, daß von fünfunddreißig Millionen Pferden nur sechzehn Millionen übriggeblieben sind, daß man aber hofft, durch Steigerung der Traktorenherstellung diesen Verlust auszugleichen. Doch glaubt die Sowjetjugend nicht mehr daran. – Noch im November 1933 schrieb die »Prawda«, daß die Produktionskraft von zehn Sowjettraktoren gleich der Produktionskraft von elf Pferden ist. So konnte jeder Sowjetjüngling sehr einfach dahinterkommen, daß für den Ausgleich siebzehn Millionen neue Traktoren gebaut werden mußten. An die erfolgreiche Durchführung des Baues dieser Traktoren glaubte aber bereits niemand. Die Jugend fühlt, daß sie dann weiterhungern muß. Sie begreift, daß die Kaschemme noch größer wird. »Es braust der fröhliche, sozialistische Aufbau«, der die Metalle in Rosthaufen und die Menschen in Sklaven oder Leichen umwandelt. Als aber die Jugend nach all diesen »Sturmarbeiten« und Siegen zu fragen versuchte: »Liebe Väter, was soll nun weiter werden?« – wurde sie zu Zehntausenden in Zwangsarbeitslager getrieben. Im Ausland und in der Emigration kann man noch wohlgefällige, ruhige Reden halten, uns ist es warm, es zieht nicht, und niemand schleppt uns auf die Solowetzki-Inseln. Der Sowjetstudent, der Komsomolez, der Bauer und Arbeiter aber – sie alle können nicht so reden. Werden auch nicht so reden! Denn es ist zweierlei, dem Vater des gestorbenen Kindes Beileid zu spenden oder sein eigenes Kind beerdigen zu müssen, das vor Hunger starb.

Aus den Seiten der Sowjetzeitungen und Zeitschriften sehen den Leser wohlgenährte Gesichter der neuen Generation an, voll von Enthusiasmus und anderem: es ist die »Ablösung«. Ja, sie kommt. Aber sie sieht gar nicht so wohlgenährt und so gutmütig aus, wie es auf den Bildern der Sowjetpresse erscheint. Die Ablösung wird kommen und wird sehr viel ändern!


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