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Hans Haffner, der Maler, zog auf der Landstraße dahin, die von Adlig-Groß-Lipinsken zunächst nach der Bahnstation Ostrokollen und von dort in die weite Welt führte, mit leichtem Gepäck, aber um so schwererem Heizen. Was er an irdischen Schätzen sein nannte – drei dicke Mappen mit Studienblättern, Malkasten, Schirm, Staffelei und ein schmales Köfferchen mit dem besseren Anzug, etlichen Jägerhemden und ein wenig weißer Wäsche – trieb ein Tagelöhnerjunge auf einem Schubkarren hinter ihm her, er selbst trug nur die Gitarre in wachstuchenem Futteral über dem Rücken und in der Rechten einen derben Knotenstock. Ganz wie er vor einem Jahre eingezogen war, zog er wieder aus, höchstens, daß ihm zum Unterschiede gegen damals der Beutel straff war von schier einer Handvoll an seinem »Gehalte« gesparter Dukaten; die ungewohnte Bürde drückte ihn ordentlich in der Hosentasche. Sonst aber? Wie ein Eroberer war er sich vorgekommen damals, und jetzt schied er von hinnen als ein lästiger Gast, dem man bedeutet hatte, er wäre zu lange geblieben! Welcher böse Geist hatte ihn aber auch getrieben, an jenem verschneiten Frühlingsabend vor vierzehn Tagen das kecke Bild zu zeichnen und, was die Hauptsache war, das Skizzenbuch, das Tante Lieschen so sorgsam geborgen hatte, vor dem Zubettgehen zu vergessen? Am andern Morgen, als er es im Teezimmer wiederfand, fehlten zwei Blätter. Das letzte und ein andres, von dem er im ersten Augenblick sich gar nicht entsann, welch eine zeichnerische Freveltat er wohl darauf begangen haben mochte, bis er's an dem Effekt merkte, den es hervorgebracht hatte. Als Tante Amalie beim Frühstück kaum seinen Gruß erwiderte und ihn mit eisiger Förmlichkeit behandelte, wußte er mit einem Male, wer die beiden Blätter aus seinem Skizzenbuche gerissen, zugleich aber auch, was auf dem andern gestanden hatte. In einem Centaurenkampf hatte er sich einmal versucht, und eine der Zuschauerinnen auf blumigem Hügel hatte unverkennbar Tante Amaliens Züge und hagere Formen gezeigt, eine dürre, abgetriebene Centaurenmähre, der man die Rippen unter dem struppigen Fell zählen konnte. Da überschlich ihn wieder das unbequeme Gefühl, daß seine Tage in Groß-Lipinsken gezählt wären; als aber weder am selben Morgen, noch in der nächsten Zeit ein direkter Ausbruch der Feindseligkeiten erfolgte, nahm er's auf die leichte Achsel, hatte auch keine Zeit, weiter daran zu denken. Am selben Morgen nämlich war ihm endlich das erste große Bild eingefallen, mit dem er als ein fertiger Meister vor die Öffentlichkeit zu treten gedachte, nahm all sein Sinnen und Trachten in Beschlag und verließ ihn nicht, weder im Schlafen noch im Wachen. Wie ein Fieber hatte es ihn gefaßt und, wenn er die Augen schloß, sah er's lebendig.
»Jugend« sollte es heißen und eine Herde Edelfüllen zeigen, die in tollendem Übermute über die frühlingsgrüne Wiese brauste, an der Spitze ein schneeweißer Hengst, und alles schäumende Kraft, pulsendes Leben und ungestüme, drängende Bewegung! Das getraute er sich alles auf die Leinwand zu setzen, daß der Beschauer unwillkürlich einen Schritt zurücktreten müßte unter der plötzlichen Befürchtung, das wilde Heer mit dem weißen Hengst an der Spitze könnte aus dem Rahmen brechen und ihn überrennen. Und gerade als er daran gegangen war, sich aus Königsberg die erforderliche Leinwand zu verschreiben, drei zu vier Meter, denn klein sollte das Bild natürlich nicht werden, ereilte ihn das Verhängnis, als wenn seine Feindin ihn erst in Sicherheit hätte wiegen wollen, ehe sie aus dem Hinterhalt den Streich gegen ihn führte ...
Gestern abend war's gewesen, alles wartete auf die junge Herrin, die fast den ganzen Tag auf den Wiesen verbrachte, ganz, als wenn sie es gar nicht erwarten könnte, daß die Arbeiter beim Ausheben des Grabens auf die eichene Lade stießen, und es herrschte wieder einmal die unfrohe, bedrückende Stimmung, die seit dem verhängnisvollen Tage mit dem Sturze des Klein-Lipinskers angefangen hatte und seither fast zur Gewohnheit geworden war. Nur Tante Amalie schien merkwürdig aufgeräumt, hatte eine neue Spitzenhaube mit lila Bändern angetan und neckte sich mit dem Mechower Hans Heinrich, der am Nachmittag ausgeblieben und dafür am Abend herübergekommen war. Und sie war auch die erste, die die Heimkehr der jungen Herrin bemerkte.
»Aha,« sagte sie, »Elsbeth ist nach oben gegangen,« gab dem alten Diener Friedlich einen Wink, den Tee aufzutragen, und setzte sich mit einem seltsamen Lächeln in ihrem Stuhle zurecht. Ein paar Minuten danach betrat Baroneß Elsbeth das Eßzimmer, hatte sich merkwürdigerweise nicht umgezogen und trug in der zusammengeballten Rechten ein zerknittertes Blatt, ihre Augen aber sprühten vor Zorn. Da wußte Hans Haffner, daß sein Stündlein geschlagen hatte. Er stand auf und sagte: »Gnädigste Baroneß, ich weiß, ich bin ein großer Verbrecher und richte mich selbst, ich gehe. Es ist mir hier zu gut gegangen, und da hatte ich einen Augenblick die Schranken vergessen, war übermütig geworden, aber, glauben Sie mir, nicht in schlechter Absicht. Ich danke Ihnen für all Ihre Wohltaten aus tiefstem Herzen, aber wenn ich jetzt zum Abschied ganz ehrlich sein soll, ich gäb' was drum, wenn das Bild da in Ihrer Hand Wahrheit wäre!« ...
So hatte er stolz und aufrecht gesprochen, einen Augenblick lang noch gewartet, ob die junge Herrin nicht ein einlenkendes Wort finden würde, als sie aber das Bild in ihrer Hand nur noch fester zusammenpreßte, war er gegangen. Hatte das Abendbrot verschmäht, das Tante Lieschens mitleidige Seele ihm auf das Zimmer schickte, seine paar Siebensachen gepackt und war mit grauendem Morgen gewandert ...
»Auch keinem hat's den Schlaf vertrieben, daß ich am Morgen weitergeh',« mußte er unwillkürlich denken, als er sich an der Berglehne noch einmal umwandte, ehe der Weg sich im Walde verlor. Das Dichterwort paßte zwar in die wehmütige Abschiedsstimmung, aber es entsprach nicht ganz der Wirklichkeit, denn die gute Tante Lieschen, deren Zimmer an das seinige grenzte, war aufgestanden, als sie ihn am frühen Morgen rumoren hörte, und im Schlafrock auf den Korridor gekommen.
»Professor, seien Sie nicht so übereilt,« hatte sie gesagt, »ich werd's mit meiner Nichte schon in Ordnung bringen!« Als er aber nur mit dem Kopf schüttelte, weil ihm die Abschiedswehmut die Kehle zuschnürte, drang sie in ihn, doch wenigstens eine ordentliche Tasse Kaffee als Wegzehrung zu nehmen, damit er bis zum Bahnhofe vor leerem Magen es nicht mit der Ohnmacht bekäme. Und als er auch diese Einladung ablehnte, sagte sie »Dickkopf« auf ihn, »und paß auf, mein Junge, die Tasse Kaffee wird dir unterwegs noch fehlen. Aber eins nicht vergessen, Professor, Ihre Königsbergs Adresse, denn die ›Partei Wisotzki‹ wird ja nicht ewig am Ruder bleiben!« Danach schüttelte sie ihm die Hand und klopfte ihm, weil er vor unterdrückten Tränen einen Hustenanfall bekam, mütterlich-folgend den Rücken ...
Und an Tante Lieschen und die verschmähte Tasse Kaffee mußte er denken, während er noch einmal von der Berglehne aus einen abschiednehmenden Blick nach dem Schlosse zurücksandte, denn der Magen kniff und drückte ihn, wie nur je in seinen allerhungrigsten Münchener Zeiten; so ungewohnt war ihm in dem vergangenen üppigen Jahre das Gefühl geworden, daß er es zunächst auf Rechnung des bitteren Abschiedswehs setzte. Als ihm jedoch zum Bewußtsein kam, daß dieses neue Gefühl erheblich tiefer seinen Ursprung nahm, fiel ihm glücklicherweise ein, daß er beim Packen – gewissermaßen aus Zerstreutheit, vielleicht aber auch nur aus Ordnungsliebe – die am Abend vorher verschmähten Gänsebrust- und Schinkenstullen eingewickelt hatte, zuunterst aber im Koffer eine wahre Labung und Herzstärkung mit sich führte, eine Flasche uralten Mechower Kornbranntweins, die der lange Hans Heinrich ihm im vergangenen Winter mit noch fünf andern als Vorbeugungsmittel gegen die böse Influenza dediziert hatte. Dreißig Jahre war er alt, schimmerte tiefgolden, und ein Gläschen nach dem Frühstück sollte genügen, den menschlichen Körper gegen jeden Anfall der heimtückischen Krankheit zu feien. Und weil die Seuche gar bösartig in der ganzen Umgegend grassierte, hatte er die fünf andern der Vorschrift gemäß verbraucht, die letzte aber war übrig geblieben ...
Da setzte er sich an den Grabenrand, schloß den Koffer auf und fing im Angesichte des verlorenen Paradieses, wie er in seinen Gedanken das Groß-Lipinsker Schloß benannte, ein herzhaftes Frühstück an.
Aber eigentlich, wenn er sich's recht überlegte, war dieses Paradies in den letzten beiden Wochen ein recht ungemütlicher Aufenthalt gewesen! Die junge Baroneß ging herum, als wenn eine böse Fee ihr das Lachen verzaubert hätte, Klein-Fränze, sonst der Sonnenstrahl und die Freude des ganzen Hauses, kehrte eine stolze und abweisende Miene heraus, war wortkarg und unfreundlich geworden und ließ ihre veränderte Laune vor allen andern den Mechower Hans Heinrich fühlen, ohne daß der Ärmste eine Ahnung hatte, weshalb. Der Pastor aus Ostrokollen und der Wisotzkische Hauslehrer hatten sich eines Abends aus nichtiger Ursache verzankt, blieben seither fort, weil keiner dem andern begegnen mochte, und Tante Lieschen, die sonst derartige Unstimmigkeiten mit einem Scherzwort oder freundlichem Zureden restlos aus der Welt zu schaffen pflegte, trug eine ganz merkwürdige Miene zur Schau. Rieb sich manchmal verstohlen die Hände, ganz als freute sie sich über die so traurig veränderten Zeiten, und von ihrer Schwester Amalie sprach sie nicht anders als der »Partei Wisotzki«! Wenn sie aber zusammen waren, erging sie sich in allerhand dunklen Redensarten, wie »Hochmut kommt vor dem Fall«, »Heute noch auf stolzen Rossen, morgen durch die Brust geschossen« oder »Wer zuletzt lacht, lacht am besten«. Und Tante Amalie wiederum lächelte dazu, ihr spitzfindigstes Lächeln, revanchierte sich ab und zu mit »Partei Klein-Lipinsken«, sonnte sich im übrigen in der offenbaren Huld der jungen Schloßherrin und hielt mit dem Verwalter Wisotzki lange Konferenzen ab, in denen jedesmal eine neue Niederträchtigkeit gegen den auf seinem Schmerzenslager liegenden Klein-Lipinsker ausgeheckt wurde. Und drei oder vier neue Prozesse. Einmal war das Klein-Lipinsker Vieh über die Grenze gelaufen – Pfändung und Schadenersatz. Ein andermal hatte sie mit dem Verwalter ausgeheckt, der Klein-Lipinsker hatte kein Recht auf Benutzung eines Holzabfuhrwegs, der von der Enklave an den Wiesen über Groß-Lipinsker Gebiet führte – Strohwiepen zum Zeichen des Verbotes, Prügelei zwischen den beiderseitigen Knechten, Streitigkeiten wegen der Krankenkasse und zum Schluß zwei Prozesse: einen um den gesperrtes Weg, den andern um die Kurkosten zweier eingeschlagener Zähne, die ein für die Partei Wisotzki fechtender Knecht aus Groß-Lipinsken bei dem Rencontre mit den Klein-Lipinskern eingebüßt hatte. ... Also es war herzlich ungemütlich geworden im Groß-Lipinsker Schlosse, von den fröhlichen Abenden mit Rundgesang und Saitenspiel keine Spur, keine harmlose Neckerei mehr, und, kaum daß man den abendlichen Tee mit den Butterbroten im Leibe hatte, trennte man sich und lief auseinander, ein jedes in seine einsame Kammer.
Da hätte er eigentlich gleichmütigen Herzens scheiden können, wenn nicht das geplante Bild gewesen wäre, das er gern in dem erstmals erschauten Rahmen der Lipinsker Fohlenkoppel festgehalten hätte, und das niederdrückende Gefühl, nicht freiwillig gegangen zu sein, sondern wie ein schimpflich Verabschiedeter, nicht zuletzt aber ein innerliches Verbundensein mit allen, die im Schlosse saßen, so daß er sich sein zukünftiges Leben ohne sie gar nicht recht vorstellen konnte. Wenn er sich's recht überlegte, glaubte er nicht einmal ohne die ränkespinnende Tante Amalie auskommen zu können, im Augenblick erschien sie ihm als ein untrennbarer Bestandteil alles dessen, was, so weit seine Erinnerung reichte, das Köstlichste seines Lebens ausmachte, und auch der Abschied von ihr tat ihm weh ... Da umflorte sich ihm der Blick, zugleich aber stieg in seinem Herzen der brennende Wunsch auf, allen diesen Menschen seine Erkenntlichkeit zu erweisen, irgend eine Tat des Dankes für sie zu vollführen, etwas, wovon sie in späten Tagen noch immer sagen müßten: Das hat der arme Malergesell für uns getan, dem wir damals so schnöd' die Tür wiesen. ... Daß er der Baroneß Elsbeth sein großes Bild »Jugend« schenkte, nachdem es auf der Berliner Ausstellung seine Schuldigkeit getan und seinen Namen aus dem Dunkel gehoben hatte, stand so wie so schon bei ihm fest als ganz selbstverständlich, aber was war damit geschafft? Das hängte sie an die lange Wand im großen Saal, in den ersten Wochen wurde es noch den Besuchern gezeigt: Wissen Sie, das ist von dem Maler, der sich fast ein ganzes Jahr lang bei uns aufgehalten hat, und er ist in Berlin dafür mit der großen goldenen Medaille ausgezeichnet worden – darunter tat er's in seinen Zukunftsträumen natürlich nicht – und dann wurde er so allmählich vergessen. Und, was die Hauptsache war, hatte nichts ausgerichtet, was in dem Herzen seiner Wohltäterin eine bleibende Spur dankbarer Erinnerung hinterließ. Um das zu erreichen, hätte schon gehört, daß er mit starker Hand in ihr Leben hätte greifen dürfen, ihr ein ganz köstliches Schicksal zu bereiten oder es aus der gegenwärtigen Wirrsal wenigstens zur Klarheit zu führen, aber wie sollte er das wohl anpacken und vollbringen? Ein armer Malergesell, der nichts vorstellte auf der Welt und nichts gelernt hatte als ein bißchen Gitarrespielen, Singen und Farbenklecksen? Und, während er so trübselig den letzten Happen Groß-Lipinsker Brotes in den Mund schob, schon den Koffer schloß, um weiter zu wandern, flog mit einem Male ein fröhliches Leuchten über sein Gesicht: Eine gab's doch vielleicht da unten im Schlosse, der er mit seinem bißchen Kunst helfen konnte! Da besann er sich nicht lange, griff nach seinem Skizzenbuche und begann, am Grabenrande sitzend, emsig zu zeichnen ...
Die Sonne war schon ein ganzes Ende am wolkenlosen Himmel in die Höhe gestiegen, als er endlich fertig war. Da steckte er den Bleistift hinters Ohr, hielt das Bild auf Armeslänge von sich ab und winkte dem Jungen, der geduldig im Graben gesessen, einen Strohhalm zwischen den Zähnen.
»Da, Filuschek, komm her! Und kannst du erkennen, wer das alles sein soll?«
Dem Jungen, der ihm sonst Staffelei und Schirm auf der Fohlenkoppel nachgetragen hatte, war eine solche Aufforderung nichts Neues. Schon oft hatte er sagen müssen, das ist der »Ajax« oder die alte »Butterblume« mit ihrem Saugfohlen »Blandine«, und jedesmal, wenn er den Gaul nicht gleich wiedererkannte, war der Herr Professor unzufrieden gewesen, hatte verbessert und immer wieder verbessert oder gar angefangen, das ganze Pferd neu zu zeichnen. Diesmal aber stutzte er, denn er sollte sein Urteil nicht über Füllen abgeben, sondern über Menschen, dazu noch über die eigene gnädige Herrschaft ...
»Na, Filuschek, sind sie nicht getroffen? Wenn sie nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind, hat's keinen Zweck, und ich zerreiß' es lieber!«
Da hob er erschrocken die Hand.
»Gott behüte, Herr Professor! Lieber dann schon mir schenken, solche schöne Bild! Und ich konnte gleich nur nich so sagen, schämt' ich mir zu sehr vor Herrschaft!«
»So, so, aber erkannt hast du sie?«
Jetzt wurde Filuschek lebhaft und mengte im Eifer seine masurische Muttersprache mit dem in der Schule gelernten Deutsch durcheinander.
» Ale naturalnie, Panie Prefessorszu! Alles richtig! Wo reitet auf Pferd über Brücke, is Mechower Herr, auch Pferd is richtig, englische, und heißt Blechloch, hab' ich oft genug, wenn Pan Leutnant is gekommen zu Kaffee, gehalten. Auch kleine Panna Baroneßka is richtig, wo sich hat hingeschmissen auf Weg, und Pan Leutnant aus Mechowen will reiten über ihr!«
»Na, und die letzte?«
Filuschek grinste übers ganze Gesicht.
»Gesicht is richtig, aber andere weiß ich nich. Hab' ich noch nie nich gesehen gnädigste Baroneß' w kozulim wollt' sagen, in Hemde und barfuß auf Kugel tanzen, wie Mädchen in Buden auf Jahrmarkt!«
Da lachte Hans Haffner laut auf.
»Na, das schadet weiter nichts, wenn nur die Gesichter stimmen. Das Ganze ist nämlich ein Rebus, auf die Kleider kommt es dabei nicht an.« Er versah die Zeichnung mit einer Unterschrift und rollte es säuberlich in ein Zeitungsblatt. »So, mein Junge, vom Bahnhof aus gehst du damit nicht erst nach Hause, sondern gleich quer übers Feld nach Mechowen. Fragst dich bis zum gnädigen Herrn durch und gibst es ihm in die Hand. Aber, hörst du, Filuschek, nur ihm, dem Herrn Leutnant, zeigst es auch sonst keinem andern. Ich komm' nämlich bald wieder, und wenn du's nicht ordentlich gemacht hast, gibt's Katzenköppe. Für jetzt aber und richtige Besorgung eine ganze Mark!«
Filuschek steckte Geld und Bild strahlend in den Brustlatz.
»Pan bog zaplac sto milioni razi, Panie Professorszu, liebe Gott soll verzählen hundert Millionen mal, liebe Herr Professor!«
»Dank schön, mein Junge, ist 'n bißchen viel, aber ich könnt' es gebrauchen. Und jetzt dalli, an den Bahnhof, damit wir den Zug nicht versäumen!«
»Bannoch? Bannoch is all fort. Vorhin hat all gepfoffen, ganz lang, aber Pan Professor haben nich gehört, immer nur gemalen!«
Mit »Bannoch« meinte Filuschek den Zug, denn der Masur bezeichnet alles, was mit der Eisenbahn zusammenhängt, mit diesem, seiner Aussprache angepaßten Lehnwort. Nur die Gebildeteren machen einen Unterschied zwischen Feststehendem und Beweglichem und nennen das letztere »Heiserbann«.
Hans Haffner kratzte sich den Kopf und sah nach der Uhr. Wahrhaftig, der Junge hatte recht. Um sechs Uhr fünfzig Minuten ging der Zug, und jetzt waren es schon zehn Minuten über sieben, mehr als zwei Stunden hatte er zu dem Bilde gebraucht! Der nächste Zug aber fuhr auf der kleinen Klingelbahn erst am Nachmittag, und was in aller Welt mit der langen Zeit anfangen? Sich auf der kleinen Station hinsetzen und von neuem Trübsal blasen? Womöglich gar dem neugierigen und geschwätzigen Bahnhofswirt auf die Frage nach der Ursache seines Scheidens Rede und Antwort stehen? ... Oder ob er lieber den Ostrokoller Pastor aus den Federn warf und mit ihm eine Flasche trinkbaren Rotspons zum Abschiede ausstach? Aber der Mann Gottes hätte auch nur gebohrt und gefragt, was es mit seinem plötzlichen Abschied wohl auf sich hätte, und, wie er gestimmt war, mochte er kaum daran denken, geschweige denn davon sprechen. Also war es wohl am besten, er schickte den Jungen mit den Sachen an den Bahnhof, er selbst aber tat sich irgendwo im Schatten nieder, holte ein Stückchen versäumten Nachtschlafes nach, zeichnete vielleicht auch ein bißchen; unterdessen verging die Zeit, und er konnte sich so einrichten, daß er auf den Bahnhof kam, wenn der Zug sich nach zehn Minuten Aufenthalt so langsamchen zur Abfahrt anschickte. Der Bahnhofswirt reichte ihm das Gepäck in den Wagen: Nanu, Herr Professor, wohin denn die Reise? ... Ach, nur auf ein paar Tage nach Königsberg. Leinwand kaufen und ein bißchen Großstadtluft schnappen! ... Recht haben Sie, Herr Professor, für 'n Menschen, wo Bildung genossen hat, is hier ja nichts los, und Abwechslung will schließlich auch das liebe Vieh haben: Nach dem ewigen Häcksel auch mal wieder Grünfutter! ... Der Zug setzte sich in Bewegung, und Herr Pokroppa, der Bahnhofswirt, konnte denken, was er Lust hatte, wenn er später nicht wiederkam, wie verheißen. Die Hauptsache, er fuhr ohne das Fegefeuer lästiger Fragen von dannen, auf Nie- und Nimmerwiedersehen! ...
Filuschek, sein getreuer Schildknappe, war mit dem Schubkarren schon längst abgezogen, er selbst aber stand noch immer auf der Berglehne vor dem Ostrokoller Wäldchen, von der man den letzten Blick auf das Groß-Lipinsker Schloß hatte, und schaute hinüber, als wollte er sich sein verlorenes Paradies zum Abschied noch so recht fest einprägen.
Wie friedlich das ganze große Anwesen im Morgensonnenlichte dalag. Erst das Dorf der Instleute zu beiden Seiten der Landstraße, ein kleines Gärtchen vor jedem Haus, schmale, hochgeschichtete Brennholzstapel daneben, und aus jedem Schornstein ein seiner Faden bläulichen Rauches. ... Hinter dem Dorfe der eilige und im Sonnenglanze Funken werfende Bach, der die Dreschmaschinen trieb und die elektrische Beleuchtung speiste, der weite Platz mit den Hofgebäuden; Vieh und Menschen krabbelten darauf herum wie Spielzeug aus einer Nürnberger Schachtel, dann die schnurgerade Allee mit den gestutzten Lindenbäumen, an denen die ersten grünen Blättchen sproßten, und dahinter das Schloß. Ein hoher Sandsteinbau in einem Gemengsel von Stilarten, halb Rokoko, halb gotisch, während der ragende Turm, offenbar erst in den Siebzigerjahren daraufgesetzt, die Linien der sogenannten deutschen Renaissance zeigte, an der Auffahrtsrampe aber eine Reihe jonischer Säulen – der Allenberger Maurermeister, der zuzeiten von Baroneß Elsbeths Großvater den Bau aufgeführt hatte, schlief schon längst den Schlaf der Gerechten, konnte nicht mehr sagen, was er sich eigentlich unter dem Ganzen gedacht hatte. Trotz der so verschiedenen Baustile machte aber das Schloß merkwürdigerweise keinen unharmonischen Eindruck; wenn man sich nach der ersten Überraschung an seinen Anblick gewöhnt hatte, sah es sogar recht heiter und gefällig aus, ihm aber, der in seinen weiten Räumen die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht hatte, kam es in der Abschiedsstunde vor wie das schönste Bauwerk der Welt, ein schöneres konnte er sich im Augenblick nicht denken. Zur Linken der Obstgarten mit den Hunderten weißblühender Kirschbäume, zur Rechten der in den Wald übergehende Park, davor aber ein bunter Teppich aus Krokus und blühenden Hyazinthen, die Farben leuchteten im Sonnenglanz ordentlich lockend zu ihm herauf, als wollten sie sagen: Kehr wieder um, du Narr, bitt ab, dann ist alles gut und vergessen ... Der Reitknecht führte an der jonischen Säulenhalle den weißgefesselten Schweißfuchs vor, aus der gläsernen Doppeltür trat die junge Herrin, im schwarzen Reitkleid und wehenden Schleier, streifte die Stulphandschuhe auf und schwang sich leicht wie eine Feder in den Sattel ... das Ziel des Ausritts kannte er: die Lipinsker Wiesen, auf denen ein Dutzend Arbeiter mit Hacke und Spaten den »Dokumentengraben« aushob. Mittags aber kehrte sie wieder, ließ sich kaum Zeit zum Essen, schwang sich von neuem auf den Gaul oder zog sich auch um und fuhr mit dem leichten zweirädrigen Sandschneider hinaus, immer aber mit dem gleichen versteinerten Gesicht, das kein Lächeln mehr kannte ... und dieses Gesicht glaubte er zu erkennen, trotzdem die schlanke Gestalt der jungen Herrin sich in der Entfernung kaum höher darstellte als sein kleiner Finger. Das war natürlich nur Unsinn und Einbildung, das mit dem Erkennen des Gesichts, aber die feige Regung, wieder um gut Wetter zu betteln, war vorüber. Und er zog in Gedanken den dicken Schlußstrich unter die Lipinsker Zeit, den doppelt unterstrichenen, unwiderruflichen, schulterte den Knotenstock und wandte sich zum Gehen. Aus, vorbei und erledigt ... schließlich, wer einen im Grunde so gutgemeinten und harmlosen Malerscherz übelnahm, dem war nicht zu raten, noch zu helfen!
*
Herr Adalbert von Linde, der Herr von Adlig-Klein-Lipinsken, der mit verbundenem Kopf, den linken Arm in der schwarzen Schlinge, aber sonst wieder leidlich zuwege, auf der Freitreppe seinen Morgenkaffee trank und mit dem Inspektor die Arbeit des eben angefangenen Tages besprach, wunderte sich nicht wenig, als er bei einem Aufblicken im Tor des weiten Hofraumes den langmähnigen Groß-Lipinsker Malprofessor stehen sah, anscheinend unschlüssig, ob er näher treten oder wieder umkehren sollte.
»Sie, Hildebrand, springen Sie mal 'runter und fragen Sie den Blondlockigen, was er will. Kommt er als Taube mit dem Ölzweig im Schnabel oder um uns nach dem letzten Treffen am Holzabfuhrweg die ganz große Fehde anzusagen? Zuzutrauen wär's dem verdrehten kleinen Frauenzimmer, dann aber wollen wir das Prävenire spielen. Vierzehn Mann an die Dreschsiegel, die Feuerspritze mobilisieren, den Rest mit Besen und die alten Weiber mit Scheuerlappen. Wer sagen Sie ihm gleich, Angst haben wir nicht hier in Klein-Lipinsken!«
Der Inspektor kam zurück und rapportierte: »Herr Baron, der Professor ist auf der Durchreise nach Königsberg begriffen und möchte Sie in dringlicher Angelegenheit ein paar Minuten sprechen.«
»Professor?« sagte der Klein-Lipinsker, »der Deuwel hat den jungen Dachs zum Professor gemacht oder meine ungnädigste Cousine, was so ziemlich dasselbe besagen will. Und wenn einer auf der Durchreise begriffen ist, fehlt ihm in der Regel das Reisegeld. Also zücken Sie schon ein Zwanzigmarkstück, Hildebrand, und winken Sie ihm, daß er näher tritt! ...«
»Na also, Herr Professor, setzen Sie sich. Stecken Sie sich zuerst mal einen Zimgarrn ins Gesicht, denn Menschen, die nicht rauchen, sind mir ungemütlich ... trinken Sie 'ne Tasse Kaffee mit, ja? ... Also bitte, lieber Hildebrand, sorgen Sie für 'ne dritte Tasse, und – um den Schmerz zwischen uns beiden abzukürzen, Herr Professor – wieviel führt Sie zu mir, und was gedenken Sie mir dafür von meiner bösen Groß-Lipinsker Cousine zu erzählen?«
Da wollte Hans Haffner zuerst aufspringen, entrüstet den Stuhl zurückstoßen und wieder seiner Wege gehen, aber ein gewisser, trotz aller kränkenden Worte jovialer und liebenswürdiger Zug in dem Gesicht da drüben hielt ihn zurück. Außerdem aber hatte er damit schlecht das Gelübde erfüllt, das er sich abgelegt hatte, als er an dem Kreuzwege, wo sich der Wegweiser mit dem langen Arm erhob: Nach Klein-Lipinsken zwei Kilometer, plötzlich auf den Gedanken gekommen war: Probier es mal und mach ihm ordentlich den Standpunkt klar – mehr, als auch dort 'rausgeworfen zu werden, kann dir ja nicht passieren! ... Nur zweierlei verschlug ihm noch vorderhand die Rede, einmal, daß die sorgfältig präparierte und bewegliche Ansprache bei dem Weg über den Hof spurlos verloren gegangen war, und zweitens, daß er in dem bösen Klein-Lipinsker einen so ganz andern kennen lernte, als er erwartet hatte. Einen verfrorenen, steifleinenen Granden hatte er sich vorgestellt, der mühsam und bleich an zwei Stöcken hinkte oder gar noch mit verbundenen Gliedern auf seinem Schmerzenslager lag, und jetzt saß ihm ein zu Scherzen aufgelegter, kräftiger Mann gegenüber, bis auf ein paar Kleinigkeiten ausgeheilt und breitspuriggemütlich, wie etwa der Mechower Hans Heinrich, wenn sie manchmal im Ostrokoller Krug mit dem Pastor zu dritt beisammensaßen, und der sonst so Schweigsame unter Männern und bei tiefem Trunk mit einem Male redselig wurde. ...
»Na also, schießen Sie schon los, Herr Professor, mit wie viel kann ich Ihnen ›auf der Durchreise‹ behilflich sein? Das übrige kann ich mir auch ohne Ihr Gebet denken: Mißverständliche Liebeserklärung, Entrüstung, plötzlicher Hinauswurf durch das vereidigte Ekel in Menschengestalt, Tante Amalie, und – voilà – da sitzen wir, einhundertsechsundachtzig Kilometer bis Königsberg, den Kilometer zu – na sagen wir mal – vier Pfennigen?«
Hans Haffner hatte mit einem Schlage die Sicherheit jener Stimmung wiedergefunden, in der er sich gesagt hatte, auf einen Hinauswurf mehr kommt es ja nicht an, und um zwei Uhr nachmittags geht dein Zug ... er griff mit der Linken in die offene Zigarrenkiste, mit der Rechten aber holte er den gefüllten Beutel aus der Tasche und hieb ihn auf den Tisch: »Da, Herr Baron, falls Sie wegen der Reise in die Königsberger Klinik in Verlegenheit sein sollten; dritter Klasse, wie Sie rechnen, brauchen Sie nicht zu fahren, es langt zu erster für uns alle beide!«
»Hoho,« sagte der Klein-Lipinsker und rückte sich im Stuhle zurecht, »bisher hab' ich an Ihnen so was wie weiße Flagge respektiert, aber Unverschämtheiten ertrag' ich nicht!«
»Ich auch nicht,« erwiderte Hans Haffner und steckte sich gelassen die Zigarre an. Wenn es wirklich ans Hinauswerfen ging, sollte der da drüben zuerst mitgehen, trotz seiner langen Gliedmaßen, denn einen doppelten Scheffelsack Weizen mit zweihundert Pfund Gewicht warf er sich noch immer wie ein Spielzeug auf den Rücken! Und als die Zigarre brannte, fuhr er fort: »So, Herr Baron, nachdem wir uns von mißverständlichen Voraussetzungen aus sozusagen aneinander gescheuert haben, eine kurze Frage: Wollen Sie Groß-Lipinsken haben oder nicht?«
Der andre lächelte spöttisch.
»Wenn Sie es zufällig bei sich haben sollten, Herr Professor, warum nicht? Also öffnen Sie die Falten Ihrer Toga und legen Sie's auf den Tisch. Mein Inspektor kann es nachher hineintragen und in den Geldschrank schließen!«
»Nicht so ironisch, Herr Baron, sonst verzichte ich auf Ihren Kaffee und geh' meiner Wege. Überhaupt wär' es mir lieber, wenn Sie dem Herrn Inspektor einen kleinen Gang in die Wirtschaft vorschlagen wollten, damit wir beide ungestört und unter vier Augen sprechen können!« Der Klein-Lipinsker strich sich nachdenklich den Schnurrbart.
»Hm, na ja ... ich kann mir's schließlich anhören. Das Kammergericht kann ja gar nicht anders, als ... na also, wenn Sie was Neues wissen, schießen Sie los, Herr Professor. Haben die da drüben die Kiste schon gefunden?«
»Vielleicht, Herr Baron,« erwiderte Hans Haffner diplomatisch.
»Na, und war was drin?«
»Fragen hilft bei mir nicht viel, Herr Baron. Erst erzählen Sie mal, weshalb das Kammergericht nicht anders können soll, als zu Ihren Gunsten entscheiden. Ich nehme nämlich an, daß Sie das meinten, als Sie eben mitten im Satze abbrachen.«
Der Klein-Lipinsker verneigte sich, noch immer ein wenig spöttisch.
»Und nicht ganz mit Unrecht, mein Herr!«
»Drüben ist man gegenteiliger Ansicht, Herr Baron.«
»Mag sein,« sagte der Baron von Linde, unwillkürlich ernsthafter geworden, »aber was Recht ist, muß Recht bleiben! Seit vier Jahren prozessier' ich darum, und – so Gott will – werd' ich es in ein paar Monaten in meinen Händen halten, ich bin in der Zwischenzeit ja auch nicht müßig gewesen. Aber, Professor, ehe ich weiterspreche, und nehmen Sie mir's nicht übel: Wer garantiert mir, daß ich's wirklich mit einem ehrlichen Kerl zu tun habe? Sonst gefallen Sie mir ja ganz gut, aber wissen Sie, ich lege gerade keinen besonderen Wert darauf, die Herrschaften drüben über meine An- und Aussichten aufs genaueste zu unterrichten. Und wenn Sie nun wieder nach Groß-Lipinsken zurückgehen?«
»Nach Groß-Lipinsken?« Hans Haffner lächelte trüb. »Das ist ausgeschlossen, Herr Baron. Und ein Zeugnis über meinen anständigen Charakter hab' ich mir noch nirgends ausstellen lassen. Aber wenn Sie inzwischen mit einem ehrlichen Händedruck vorlieb nehmen wollen?«
Und der Baron von Linde schlug ein. Beim Zusammenfassen der Hände aber merkte er's, daß ihm ein braver Kerl gegenübersaß, denn hinterlistige Schleicher griffen nicht so fest zu, daß dem andern die Gelenke krachten.
»Also denn Professorchen, hören Sie, ich habe nämlich gegründete Aussicht, daß das Kammergericht den Spieß umdrehen wird! Ich habe den zweiten Teil von meines Urgroßvaters Tagebuch aufgefunden, und da steht von der Errichtung des Kunkellehens nichts drin! Dieses Buch aber, das ich bei meinen endlosen Nachforschungen auf dem untersten Grund einer Truhe mit Großmütterspielkram entdeckte, – wissen Sie, von Motten zerfressene Puppenbälge und dergleichen Zeug, aus Pietät wird so etwas in den Okelkammern bis ins zehnte Geschlecht aufgehoben, und kein Mensch guckt hinein – also dieses Buch liegt jetzt beim Kammergericht. Unter dem ersten Mai aber, dem entscheidenden Tage, von dem angeblich die Urkunde datiert sein soll, findet sich folgende Eintragung: ›Mit der Aussaat des Sommerwaitzen begonnen, weil nach niedergegangenem Gewitter und erfolgter Abkühlung das Wetter eine stabile Tendence zeigt. Von sonstigen Ereignissen ist an diesem Tage nur zu vermelden, daß beim erstmaligen Austreiben der Herde sich eine schwarzbunte Holländerin, genannt Stafeta, in einem Torfloche verfallen hat und abgestochen werden mußte, wofür der Hirt Chila von mir mit einer angemessenen Tracht Prügel bedacht worden ist!‹ ... Also,« fuhr der Klein-Lipinsker fort, »von der an diesem Tage angeblich stattgefundenen Teilung des Besitzes zwischen den beiden Brüdern kein Wort, ebensowenig von der Errichtung eines Kunkellehens für Groß-Lipinsken. Die Stelle ist vielmehr ein bündiger Beweis für meine Behauptung, daß die Teilung bereits von dem Vater der beiden Brüder vollzogen worden ist, und zwar ohne jeden Vorbehalt für den älteren. Na, und an dieser Tatsache wird, wie mein Anwalt behauptet, das Kammergericht nicht vorbeigehen, sondern meiner gnädigsten Cousine drüben den Beweis auferlegen, daß die im Original angeblich verbrannte und im Duplikat ebenso angeblich gestohlene Urkunde wirklich existiert oder existiert hat, na und dann adieu Groß-Lipinsken!«
»Hm,« sagte Hans Haffner, »wie das Gericht urteilen wird, weiß ich nicht, ist mir auch gleichgültig. Die Hauptsache: Sind Sie von Ihrem guten Recht überzeugt, Herr Baron? Das heißt, ich meine nicht nur so, was man sonst vielleicht ›überzeugt‹ nennt, sondern ob Sie von Ihrem guten Recht auch innerlich so ganz durchdrungen sind, daß Sie daran glauben wie an ... na, sagen wir mal, an Ihre eigene Existenz?«
Der Klein-Lipinsker rückte unwillig mit dem Stuhl.
»Hätte ich sonst wohl den Prozeß angefangen, Herr?«
»Na ja, entschuldigen Sie nur, Herr Baron,« meinte der Maler begütigend, »ich will Ihnen ja gern glauben, aber auf mich kommt es leider nicht an. Andre Leute sind der Ansicht, Sie wollten im Bewußtsein Ihres eignen Unrechts nur eine für Sie günstige Konstellation ausnützen, um ein paar arme verwaiste Mädels aus ihrem väterlichen Besitz zu treiben!«
»Arme Mädels? Meine Cousinen haben von ihrer verstorbenen Mutter, einer Engländerin, eine Stange Gold geerbt! Und väterlicher Besitz? Lipinsken ist von Anbeginn an, seit meine Vorfahren hierher als Deutschordensritter kamen und diesen Boden hier mit ihrem Blut düngten, Lindesches Majorat – Lipinsken heißt nämlich auf deutsch Lindendorf, Herr Professor, falls Sie das noch nicht wissen sollten – und in einem Majorat haben Frauenzimmer nichts zu suchen. Da regiert der erbberechtigte älteste männliche Linde! Die Beinchen in Jagdpantalons stecken, hilft da nichts, auf die Beine kommt es an, ob männlich oder weiblich, und wenn ich mal heirat' und krieg' nichts als lauter Mädeln, muß ich mir's auch gefallen lassen, daß der nächstberechtigte Vetter, der jetzt irgendwo, bei den Tausendsiebenundzwanzigern meinetwegen, seine dreißig Männerchen exerziert, herkommt und zu meiner ältesten Tochter sagt: Ote-toi, que je m'y mette!«
»Ja ja, ganz recht, Herr Baron,« beschwichtigte Hans Haffner, »und regen Sie sich nicht auf, denn Sie sind ja noch in der Rekonvaleszenz. Und nur noch eine ganz kurze Frage: Wenn Sie von Ihrem guten Rechte so durchdrungen waren und an die Existenz der Urkunde nicht glaubten, weshalb haben Sie sich da mit dem Hufschmied Martschinowski auf den Groß-Lipinsker Wiesen ein Rendezvous gegeben?«
Der Klein-Lipinsker wurde rot bis unter die kurzgeschnittenen blonden Haare.
»Herr, ich steh' hier doch nicht vor 'nem Untersuchungsrichter!«
Hans Haffner lächelte freundlich. Wenn's weiter so gut ging, brachte er den Klein-Lipinsker bis zum Abgang des Nachmittagszuges noch dorthin, wo er ihn haben wollte.
»Nein, Herr Baron, sondern vor einem Menschen, der Ihnen gern helfen möchte. Also weiter. An der Tatsache selbst ist nicht zu zweifeln, denn dieser pp. Martschinowski hat sich bei der Baroneß Elsbeth, als sie bei Ihnen Wache hielt, gemeldet. Leider auch gleich auf Nimmerwiedersehen empfohlen, ist, trotzdem Himmel und Hölle, Landrat und Gendarmen in Bewegung gesetzt wurden, nicht mehr aufzufinden gewesen. Aber das nur nebenbei, Sie, Herr Baron, werden mir doch zugeben, daß dieses Rendezvous eine ganz unverzeihliche ... nein, Pardon, also ein taktischer Fehler war?«
Der Klein-Lipinsker ging mit großen Schritten auf der geräumigen Freitreppe auf und ab.
»Nein, nein, Professor, sagen Sie nur Dummheit, denn das ist das Richtige. Aber sehen Sie, der Kerl schreibt an mich aus Amerika, behauptet, er könne zu jeder Tages- und Nachtzeit den Platz wiederfinden, an dem er, kurz vor dem Tode meines Groß-Lipinsker Oheims, mit dem verstorbenen Gärtner Tyrol den ominösen Kasten eingebuddelt hätte, ich sollte ihm nur das Reisegeld schicken. Na, und da sagte ich mir, das ist das beste Mittel, dem ganzen Prozeß mit einem Schlag ein Ende zu machen, und schickte das Geld ab. Zu der Ausgrabung selbst hätte ich natürlich meine gnädigste Cousine nebst einer unparteiischen Gerichtskommission hinzugezogen.«
»Schade, Herr Baron, daß Sie von dieser Absicht nicht auch die Groß-Lipinsker Herrschaften vorher in Kenntnis gesetzt haben!«
Der Klein-Lipinsker blieb stehen.
»Weshalb schade, Herr Professor?« »Na, weil Ihnen das außer mir niemand glauben wird. Drüben zum Beispiel bildet man sich ein, Sie hätten sich mit der Absicht getragen, die Truhe heimlich auszubuddeln und die Urkunde natürlich zu vernichten.«
»Herr, das wär' doch aber eine Infamie?«
»Stimmt, Herr Baron, aber man traut sie Ihnen da drüben zu, und damit müssen wir rechnen. Also ich meine, es wäre am besten, Sie setzten sich in den Wagen und machten drüben in Groß-Lipinsken eine Dankesvisite, bei welcher Gelegenheit Sie ja so nebenher den erwähnten Verdacht zerstreuen könnten. Und Sie haben die schönste Veranlassung zu dieser Visite, nämlich sich bei Baroneß Elsbeth dafür zu bedanken, daß sie Ihnen das Leben gerettet hat.«
»Was sagen Sie da, Professor? Ich denke doch, der alte Förster Ahrens hat meinen verrückt gewordenen Gaul erschossen?«
»Bewahre, Herr Baron. Das ist Ihnen nur von dem Doktor vorerzählt worden, und zwar auf ausdrückliche Anordnung der Baroneß Elsbeth.«
»Hm,« sagte der Klein-Lipinsker, »dann wäre diese verrückte Jagdgeherei doch wenigstens zu etwas nützlich gewesen!«
»Ja, denn nämlich der alte Förster Ahrens hatte gar nicht diese fabelhafte Geistesgegenwart! Hinterher aber hat die Baroneß bei Ihnen gewacht, Ihnen Samariterdienste erwiesen wie eine barmherzige Schwester, vielleicht noch sogar mehr. Weil ich mich erfrecht hatte, diese Szene zu skizzieren, bin ich ja heute früh gegangen oder, richtiger gesagt, gegangen worden. Ich für meine Person wäre nämlich gern noch ein paar Monate geblieben, um mein großes Bild zu vollenden.«
Und als Hans Haffner auf dieses Thema gekommen war, wurde er lebhaft, vergaß im Augenblick den eigentlichen Zweck seines Besuches und schilderte mit weit ausgreifender Armbewegung und einzelnen, in die Luft gesetzten energischen Daumendruckern das geplante Bild in allen Einzelheiten, malte es ordentlich vor seinem Zuhörer. Der aber war ganz nachdenklich geworden, hörte nur mit halbem Ohr zu und sah mit versonnenen Augen vor sich hin, als suchte er in seinem Gedächtnis nach irgend einem verblaßten Eindruck, von dem er sich nicht mehr zu sagen wußte, ob er ihn erlebt oder nur geträumt hatte ...
»Na, und weiter?« sagte er, als der andere mit Reden aufhörte.
»Weiter?« fragte der Maler. »Na, wenn ich's fertig habe, stell' ich's natürlich aus, in Berlin. Anderswo hat's nämlich keinen Zweck!«
»Ach, Unsinn, Professor, ich meine, was soll denn bei dieser Visite für mich herausbraten?«
Hans Haffner lachte herzlich.
»Ach so, und entschuldigen Sie, Herr Baron, ich war eben bei meiner eignen Zukunft. Also, Sie werden nach dieser ersten Visite eben weiter eingeladen, verlieben sich und heiraten. Aber noch ehe das Dokument gefunden wird oder das Kammergericht seinen Spruch fällt, sonst gibt's hinterher doch womöglich noch Verstimmungen.«
Der Klein-Lipinsker, der seine Wanderung wieder aufgenommen hatte, blieb stehen. »Ist das Ihre ganze Weisheit, Herr Professor? Und besteht in dieser Heirat das Mittel, mit dem Sie mir Groß-Lipinsken ausliefern wollten?«
»Ja, Herr Baron!«
»Na, dann entschuldigen Sie schon, dann habe ich Sie überschätzt. Das Mittel ist mir schon von andrer Seite ohne Erfolg angeboten worden.«
»Na ja,« sagte Hans Haffner kleinlaut, »und verzeihen Sie, Herr Baron, aber in meinem Überschwang, zu helfen, hatte ich ganz und gar vergessen, daß Sie ja bereits anderweitig verlobt sind.«
»Sie, Professor, ich glaube, nicht recht verstanden zu haben?«
»Doch, Herr Baron. Drüben wird es erzählt und geglaubt!«
»Aber es ist der bare, blanke Unsinn, ich denke ja gar nicht daran! Hab' überhaupt noch kein Mädel kennen gelernt, wo sich's verlohnt hätte, ernsthaft darüber nachzudenken, ob es wohl wert wäre, die Mutter meiner Herren Söhne zu werden!«
Hans Haffner war aufgesprungen.
»Nicht, noch nicht, Herr Baron? Na, dann ist ja alles in schönster Ordnung!«
»Ja, bis auf die beiden Hauptpersonen. Denn meine gnädigste Cousine hat es mir in den letzten Wochen ja deutlich genug bewiesen, wie sehr sie sich auch nach einer endgültigen Aussöhnung bangt!«
»Herrgott, Herr Baron, Sie sind älter als ich, aber haben Sie denn so wenig Menschenkenntnis, daß Sie nicht merken, weshalb das alles geschieht?« Und da der andre ihn verwundert anblickte, fuhr er eindringlich fort: »Herr, das liegt doch auf der Hand, dieser Haß ist nichts weiter als umgeschlagene Liebe! Wann hassen die Weiber? Wenn sie in einen verliebt waren, und der macht sich nichts aus ihnen! Was Sie aber angeht, Herr Baron, kennen Sie denn die Baroneß, daß Sie so obenhin sagen, Sie wollen nicht?«
»Hm,« sagte der Klein-Lipinsker nachdenklich, »seit sie aus England zurück ist, hab' ich sie immer nur so auf zwei- bis dreihundert Meter Distanz gesehen. Was mir aber aus der vergangenen Zeit in Erinnerung steht, ist so 'ne Art Sack voll Kuhhörner, überall Ecken und Kanten, ein Paar zu lange Arme und Beine daran und ein brauner Wuschelkopp oben drauf – braun ist überhaupt nicht meine Couleur. Auf ihr Gesicht aber besinne ich mich überhaupt nicht mehr, denn, wissen Sie, Professor, wenn man schon Leutnant ist, guckt man sich nach solchen halbwüchsigen Wesen doch nicht um?!«
»Na, dann werden Sie ja was erleben, Herr Baron!« Er legte dem Klein-Lipinsker die Hand auf die Schulter, und seine Augen leuchteten vor Begeisterung: »Herr, haben Sie eine Ahnung, was das für eine herrliche Schöpfung Gottes ist? So ein Mädel gelingt ihm alle hundert Jahre einmal; als ich es zum ersten Male sah, hab' ich bedauert, nicht Menschenmaler geworden zu sein – ein bißchen stümpere ich ja auch darin, aber wissen Sie, was einem zuerst als malerisch erscheint, das entscheidet in der Regel über die Richtung; zu Hause, als ich noch auf dem Schneidertisch saß, habe ich mit Vaters Kreide immer unsre alte Ziege abgezeichnet, die draußen vor dem Fenster weidete – ja, also, was wollte ich doch sagen? Gut, weiß schon wieder, also was soll ich Ihnen mit armseligen Worten schildern, was Sie, wenn Sie gescheit sind, noch heute mit eignen Augen sehen können? Aber warten Sie mal, Herr Baron, um Ihnen wenigstens einen schwachen Abglanz zu geben, ich hab' sie doch erst vor ein paar Wochen gezeichnet, sie war so gütig, mir eine Stunde zu sitzen, nur der Kopf, aber das dürfte für den Anfang ja genügen« – er fing an, eifrig in seinem Skizzenbuche zu blättern – »na also, es scheint, auch das Blatt hat die bittere Tante Amalie ausgerissen. Aber schadet nichts, Herr Baron, in einer halben Stunde können wir alles haben, Sie brauchen nur nach dem Bahnhof Ostrokollen zu schicken und meine Mappen holen zu lassen. Da hab' ich nämlich eine Ölskizze der Baroneß drin, und ich kann wohl sagen, mancher Menschenmaler könnte froh sein, wenn er das Eigenartige dieses jungfräulichen Angesichts so herausgekriegt hätte wie ich. Wissen Sie, Herr Baron, hier um die Augen herum sitzt nämlich das Charakteristische, unergründliche und herbe Augen, die Hauptsache aber ist der Nasenansatz, und ich sage Ihnen, Herr Baron, bei keinem arabischen Vollblutfohlen habe ich was Feineres gesehen!«
Der Klein-Lipinsker, der ihm beim Umblättern des Skizzenbuches über die Schulter gesehen hatte, ließ ihn ruhig ausreden, dann sagte er lächelnd: »Sie, Professor, lassen Sie mal einen Augenblick lang meine Verlobung und beantworten Sie mir eine Frage! Haben Sie das alles selbst gezeichnet?«
»Ja, glauben Sie denn, Herr Baron,« erwiderte Hans Haffner ein wenig verletzt, »ich ließe mir von irgend einem bei der Arbeit helfen?«
»Verzeihung, Professorchen, ich hab' mich eben nur ein wenig ungeschickt ausgedrückt,« begütigte der Klein-Lipinsker, »ich wollte nämlich eigentlich fragen, ob Sie das alles auch mit dem richtigen Verständnis gezeichnet haben, mit dem Verständnis nämlich, was damit zu verdienen ist?«
»Wie meinen Sie das, Herr Baron?«
»Na, wenn das nicht bloßer Zufall ist, daß Sie bei einem einjährigen oder noch viel jüngeren Füllen die Fehler in Fesselung, Kopfansatz, Bau und so weiter gewissermaßen hervorheben, Herr, dann haben Sie ein Vermögen in den Augen.«
»Ich wüßte nicht wie, Herr Baron?« sagte Hans Haffner. »Aber wenn ich bei einem Dreimonatsfüllen nicht auf den ersten Blick erkennen sollte, wo die Fehler sitzen, die es als ausgewachsenes Pferd einmal haben wird, müßte ich als professioneller Pferdemaler ja Prügel haben. Kommen Sie mit mir nach Trakehnen, Herr Baron, und führen Sie mich einen Tag lang unter den Mutterstuten und Vaterpferden herum. Am andern Tag aber lassen Sie uns auf die Koppeln hinausgehen, und ich will Ihnen alles, was da an Füllen auf dem grünen Rasen tollt, nach der Abstammung sondern. Der Direktor mit dem Gestütsbuch soll hinter uns gehen und nur immer ja sagen... das ist doch weiter kein Kunststück?«
Der Klein-Lipinsker hatte mit leuchtenden Augen zugehört.
»Da haben Sie recht, Herr Professor, wenn Sie nämlich das Jasagen meinen. Das andre hingegen ... aber warten Sie mal erst einen Augenblick!« Er steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus. In einer der Stalltüren auf dem Hofe zeigte sich ein struppiger Kopf. »Fix, Woytek, Beine in die Hand! ... So recht, mein Sohn, du spannst jetzt den Klapperwagen an und holst sofort das Gepäck des Herrn Professors ... entschuldigen Sie, Teuerster, aber wie heißen Sie eigentlich? ... So, Haffner? Also das Gepäck des Herrn Professors Haffner, es liegt beim Bahnhofswirt Pokroppa. Vorher aber spring zur Mamsell in die Küche, sie soll heute mittag was Feines braten und das grüne Zimmer neben dem meinigen richten. Ich hätt' einen lieben Gast bekommen, den ich für die nächsten paar Jahre nicht wieder fortzulassen gedächte!«
Hans Haffner richtete sich auf.
»Herr Baron, wenn Sie vielleicht glauben sollten, ich wär' mit der Absicht ...«
Der andre aber fiel ihm ins Wort: »Na, was denn? Und weshalb so zimperlich, lieber Professor? Vielleicht, weil wir uns bisher einander noch nicht richtig vorgestellt haben? Also schön, das können wir ja jetzt in aller Form nachholen. Ich heiße Adalbert Linde, Sie aber haben mir Ihren Namen ja eben genannt: Haffner! Im übrigen glaube ich, haben wir beide uns in dieser Stunde besser kennen gelernt als manche, die zehn Scheffel Salz miteinander aufgefuttert haben!« Und er streckte dem Maler die Rechte entgegen.
Hans Haffner aber schlug nur ein. Sprechen konnte er nichts, denn die Kehle war ihm plötzlich zugeschnürt. Aber auch dem andern schien es ähnlich zu gehen, seine Stimme klang nicht ganz klar.
»Na ja, ist schon gut, Professor, man trifft so selten Menschen. Und da soll man festhalten, wenn man mal einen glücklich erwischt hat! Außerdem ist es krasser Egoismus. Sie malen Ihr Bild, in den Mußestunden aber fahren wir ins Litauische 'rüber und verlegen uns auf den Fohlenhandel. Brauchen kann ich es, denn dieser verfluchte Prozeß hat eine ganze Stange Gold gekostet!« – – –
Und am selben Tage noch flog ein illustriertes Brieflein auf verschwiegenem Pfad an Tante Lieschen nach Groß-Lipinsken hinüber. Die erste Seite zeigte die »Austreibung aus dem Paradiese«: Tante Amalie mit einem mächtigen Flügelpaar an den Schultern und einem Schwerte in der Hand stand vor der geschlossenen Gitterpforte des Lipinsker Schlosses, indessen der Maler weinend von bannen ging. Und die dürftige Figur in dem wallenden Erzengelgewand war wenig geschmeichelt, sogar die beiden »Einsiedler« in dem höhnisch lächelnden Mund waren nicht vergessen worden, ein jeder von ihnen hatte einen leichten Tupfen gelben Ockers als Tönung erhalten. Die zweite Seite aber zeigte »Das neue Land, in welchem Milch und Honig fließt«: Der Maler saß mit dem Klein-Lipinsker an einer reichbesetzten Tafel, und beide ließen die Gläser aneinanderklingen. Dann erst kam der eigentliche Brief.
»Verehrteste und teuerste Freundin, das Vorstehende bedeutet Morgen und Mittag in eines armen Tiermalers Erdenwallen. Nach Königsberg wollte ich, aber auf der zweiten Seite bin ich schon gestrandet. Oder in den Hafen eingelaufen, wie man's nehmen will!
Man wird mich bei Ihnen verleumden, ich wäre fahnenflüchtig geworden. Das ist eine infame Lüge, nach wie vor: Hie gut Groß-Lipinsken allewege! Nur der Erbfeind meinte, ich hätte Talent zum Pferdehändler. Ich aber glaube, er nährt eine Schlange an seinem Busen, denn meine Begabung gravitiert vielmehr nach der Seite der Heiratsvermittlung. Wovon Sie noch weiteres hören werden, und womit ich verbleibe als Ihr bis in den Tod dankbarer und getreuer