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3

Mit kaltem Nordwind und Hagelschauern pochte der neue Morgen gegen die Fensterscheiben. Der Wettersturz, den die in lichten Regenbogenfarben schimmernden Wölkchen prophezeit hatten, war eingetroffen. Der Vellahner See warf schwere Wellen gegen das Parkufer, das gelbe Schilf bog sich tief zum Wasser hinab unter dem Drucke des Windes, und alle Kreatur, die liebetrunken den einziehenden Frühling gefeiert hatte, barg sich in heimlichen Winkeln. Nur ein Krähenpaar stelzte auf dem schmalen Sandstreifen am Ufer entlang, spähte mit hungrigen Augen nach irgendeiner Beute, die auf den schmutziggrauen Wellen schwamm.

Malte saß übernächtig an dem runden Tische in der Halle, er hatte erst gegen Morgen ein wenig Schlaf gefunden. Das Frühstück stand unberührt auf dem blütenweißen Linnen, nur einen hastigen Schluck Tee hatte er genommen und auf Mikens bescheidenes Zureden mit einem abwehrenden Kopfschütteln geantwortet. Da ging sie bekümmert in ihre Küche hinunter, faßte den Vorsatz, ein ganz besonders schmackhaftes Mittagessen zu bereiten. Essen mußte doch der Mensch auch bei allen Sorgen, um nicht von Kräften zu kommen. Und mit leerem Magen sah man alles viel schwerer an ...

Lentz störte mit trübseligem Gesicht das Feuer im Kamine auf, legte einen halben Arm voll trockener Buchenscheite nach. In der weiten Halle wehte es kalt aus den im langen Winter ausgekühlten Mauern ...

Malte hatte das Kinn in die Hand gestützt und starrte in die weißen Hagelschwaden hinaus, die der Wind vor den hohen Fenstern vorüberwirbelte. Der Kopf tat ihm weh von all dem Grübeln und Denken. Aber damit kam er nicht um einen Schritt vorwärts, irgendein Entschluß mußte gefaßt werden, der wenigstens wie nach einer Tat aussah ... Er wandte das Gesicht nach dem Kamin: »Lentz!«

»Herr Graf?«

»Der Verwalter Bergemann soll kommen, mit den Abrechnungen von den letzten zwei Jahren!«

»Zu Befehl!«

Mit einem leisen Seufzer richtete der Alte sich vor dem Kamine auf und ging zur Tür hinaus. Was die Abrechnung mit dem Verwalter bringen würde, wußte er wohl. Eine neue Enttäuschung und ein gar kümmerliches Ergebnis. Vor jenen langen Jahren hatte er sich ja manchmal eine mahnende Frage erlaubt, ob der junge Graf nicht Lust verspürte, ein ebenso tüchtiger Landwirt zu werden wie sein verstorbener Vater, der die scharfen Augen überall hatte und nichts von seinem Eigentum verkommen ließ. Als sein Herr aber mündig geworden war, verbot solche Mahnungen der Respekt, wenn man auch unter der Hand erfuhr, daß der Verwalter Geld auf Zinsen lieh und in Rostock ein Haus gekauft haben sollte, wie es hieß, um sich einmal in der Großstadt zur Ruhe zu setzen. Die Redereien der Leute waren keine Beweise, und zum Denunzianten hatte er kein Zeug. Es war ja auch ziemlich gleichgültig, wie hier in Vellahn gewirtschaftet wurde, solange drüben die Hohenrömnitz als sicheres Erbe stand. Jetzt aber war es um jeden Pfennig leid, der in fremde und unrechte Taschen gewandert war ...

Malte sah eines der Küchenmädchen über den verschneiten Vorgarten rennen, sein Befehl war ausgeführt. So eilig lief die Dirn, daß ihr der buntbedruckte Kattunrock um die nackten Kniee flog; nach ein paar Augenblicken war sie in dem weißlichen Gestöber zwischen den Erlen der Dammallee verschwunden. Noch ungefähr eine halbe Stunde, und er erfuhr von dem Verwalter, wie groß das Vermögen war, mit dem er ein neues Leben anfangen mußte, wenn hier die Herrlichkeit zu Ende war. Und dann konnte er noch ein paar Wochen so sitzen und durch die Fensterscheiben starren, bis auf der langen Allee die Nachricht geflogen kam, in der Hohenrömnitz ist der zur Welt gekommen, der ihn von seinem Platze verdrängte. Alles, was von außen kam auf die Vellahner Schloßinsel, mußte diesen Weg passieren. Und er entsann sich, wie er als Knabe zuweilen hinter den hohen Fenstern gestanden hatte, das Gesicht gegen die Scheiben gedrückt. Weit in der Ferne schlossen sich die beiden Baumreihen zu einem engen Tor zusammen vor dem spähenden Blick, und durch dieses Tor, hatte er immer gedacht, müßte eines Tages ein Wunder kommen ...

Mechanisch griff er nach einem Stapel von Briefen und Kreuzbandsendungen, der vor ihm auf dem Tische lag. Und es fiel ihm ein, auch deswegen den Verwalter zur Rede zu stellen. Er hatte ihm von Berlin aus doch die Adresse geschrieben in Dar es Salam, von der aus ihn Briefe erreichen würden. Jetzt lagen sie hier in Haufen, und da draußen war er manchmal vor Sehnsucht nach einem Gruße aus der Heimat fast verhungert ... Wer schließlich war ja auch das egal. Den Gruß, den sie ihm jetzt geboten, hatte er ja noch zeitig genug bekommen ...

Er drehte den Stapel um und fing von rückwärts zu lesen an. Rechnungen kamen, Anpreisungen von Geschäften, ein Schreiben vom Bezirkskommando zu Moltzahn: der Abschied aus dem Offizierkorps des Beurlaubtenstandes war ihm in Gnaden bewilligt. Na schön, das hatte er sich denken können ... Eine besondere Zierde dieses Beurlaubtenstandes hatte er nie gebildet, der Abschied war den Herrschaften wohl ebenso leicht gefallen wie ihm ... Wieder ein paar belanglose Briefe, ein neues Schreiben des Bezirkskommandos. Eine Anfrage, ob er im Mobilmachungsfalle bereit wäre, bei den Etappenkommandos im Rücken der operierenden Armee ein seinen Fähigkeiten entsprechendes Kommando zu übernehmen. Natürlich! Die Fähigkeit, dreißig stumpfsinnigen Dragonern mit Hurra voranzureiten, wenn's zur Attacke ging, hatte er nicht mehr. Die besaßen nur jene aufrechten Herren, die nicht nachdachten, wenn sie einen Schlag ins Gesicht bekamen, die zurückschlugen, ob ihnen nun ein Gleichaltriger gegenüberstand oder ein vor Zorn sinnlos gewordener Greis, der Vater des jungen Mädchens, um dessen Hand man warb. Der mochte dann zusehen, wie er sich seine Genugtuung holte, denn in den ungeschriebenen Gesetzen, die den sogenannten Ehrenkodex bildeten, hieß es, eine Beleidigung, die augenblicks erwidert wurde, war kompensiert. Der letzte Schlag zählte dann allein. Verrückt war das, und nutzlos, auch den übrigen Krempel noch zu lesen. Den sauber geschichteten Stapel von Jagdzeitschriften konnte man allenfalls aufheben für die langen einsamen Abende ...

Unter den Kreuzbandsendungen war eine, die dieselbe Handschrift trug wie die Postkarte, die er in Dar es Salam vorgefunden hatte. Er riß den Umschlag auf, er enthielt eine Nummer des »Moltzahner Anzeigers«, eines Blättchens, das zweimal in der Woche erschien, die Bekanntmachungen der Amtshauptmannschaft brachte, einige Nachrichten aus dem Kreise und dem Städtchen und etliche Anzeigen der Geschäftsleute Daß der Kaufmann Jürgensen am Markt eine neu eingetroffene Sendung von Matjesheringen annoncierte und das Manufakturwarengeschäft von David Lilienthal in der Friedeberger Straße die letzten Novitäten der Saison, stets räumungshalber, weit unter dem Selbstkostenpreis. Unter den »Nachrichten aus Stadt und Umgebung« stand eine Notiz, die mit einem dicken Blaustiftstriche umrandet war.

»Aus zuverlässiger Quelle erfahren wir, daß in dem Hause Hohenrömnitz ein freudiges Familienereignis bevorsteht. Seine Exzellenz der Herr Erblandmarschall hat aus diesem Anlasse geruht, dem hiesigen Armenamte die Summe von tausend Mark zu überweisen. Hoffen wir mit dem großherzigen Spender, daß sich ihm alle Hoffnungen erfüllen, die er an das Eintreten dieses Ereignisses knüpft. Seit zweihundert Jahren hat sich das Hohenrömnitzer Majorat immer vom Vater auf den Sohn vererbt. Weite Kreise der Bevölkerung wünschen von Herzen, daß unsrem verehrten Herrn Erblandmarschall am Abend seines segensreichen Wirkens beschieden sein möge, diese Freude zu erleben. Der bisherige Anwärter des Majorats, Graf Malte Römnitz, dessen Name vor zwei Jahren viel genannt wurde, ist von seiner afrikanischen Expedition noch immer nicht zurückgekehrt. Nach Erkundigungen, die wir an maßgebender Stelle eingezogen haben, darf er für verschollen gelten.«

Malte knitterte das Blatt in der Hand zusammen und hieb es ingrimmig auf den Tisch. Fehlte nur noch, daß ihm das Blättchen einen gefühlvollen Nachruf gewidmet hätte mit sanftem Tadel seiner Verfehlungen gegen die Standessitte! Gott sei Dank, er lebte noch, war wieder zurückgekommen. Aber wie hatte gestern abend eine zu ihm gesagt? »Du hast doch Freunde, die zu dir stehen« ... War das vielleicht auch ein Freund, der in hämischem Bemühen dafür sorgte, daß dieser Zeitungsartikel ihm ja nicht verloren ging? Zum Teufel mit der ganzen Gesellschaft! ... Er griff mit beiden Händen zu in jählings aussteigendem Zorn, schleuderte Briefe und Zeitungen in den offenen Bogen des Kamins. Was brauchte er das übrige Zeug noch zu lesen? ...

Ein schmales hellblaues Kuvert war zu Boden gefallen. Er hob es auf, um es den andern in die gierig auflodernden Flammen nachzuwerfen, doch mitten in der Bewegung hielt er inne. Der Umschlag trug eine Handschrift, die er nur zu gut kannte: »Seiner Hochgeboren Herrn Grafen Malte Römnitz, Schloß Vellahn bei Hohenrömnitz. Bitte nachsenden!« Nach dem Poststempel zu schließen, hatte der Brief ungefähr anderthalb Jahre auf ihn gewartet ... Es waren nur ein paar Zellen ...

»Lieber Malte, ich habe lange gezaudert, ob ich Dir schreiben soll. Aber ich bin ganz frei, habe nach niemandem zu fragen. Ein ganz ungewohntes Gefühl ist das. Und da soll es doch mein erstes sein, Dir in die Ferne einen Gruß zu senden. Gott behüte und schütze Dich in allen Gefahren, darum bete ich jeden Morgen und Abend. Vergiß mich nicht, wie Dich nicht vergessen wird

Deine Gertrud« ...

Er ließ sich mit einem Aufstöhnen in den Stuhl zurückfallen und deckte die Hand über die Augen. Wenn er diesen Brief bekommen hätte zur Zeit, als er geschrieben war! ... Da wäre vieles zu ändern gewesen – – ? Ganz ohne Sinn und Verstand war er mit einer Gesellschaft, die ihn nichts anging, in der Wildnis umhergezogen. Zu Hause wartete indessen eine auf ihn, die er längst verloren glaubte ... Die ganze Expedition war nichts weiter als ein groß angelegter Schwindel gewesen. Dreißig Tagereisen hinter der Küste ungefähr wurde der kaufmännische Leiter plötzlich schwer krank, ließ sich zurücktransportieren. Die vier Herrenjäger mit dem verdrehten kleinen Maler, der sich der Expedition angeschlossen hatte, zogen nach langer Beratung weiter. Die Route war ja vorgezeichnet, und sie mochten ihr Geld nicht unnütz verlieren. Unermeßliche Reichtümer warteten in der Ferne, wenn man nur die Urwälder am Mittellaufe des Kongo erreichte. Da hing der Kautschuk, der in Europa fast mit Gold aufgewogen wurde, in dicken Klumpen an den Bäumen, man ließ ihn durch die zahlreichen Eingeborenen sammeln, nach dem Fluß schaffen und das Geschäft war fertig. Außer ihm und dem kleinen Maler waren noch drei Narren vorhanden, die ihr letztes Geld an dieses Märchen gesetzt hatten. Wie sich in den Gesprächen am Lagerfeuer in den langen Nächten allmählich herausstellte, auch Leute, die in der Heimat nichts mehr zu suchen hatten. Verlorene Söhne, denen das Elternhaus keine Wiederkehr wünschte ... Drei davon waren unterwegs geblieben, an dem Sumpffieber, das den Menschen bis auf die Knochen ausmergelte ... bei ihm und dem kleinen Maler hatten die Kräfte noch gereicht bis Tabora. Und dort hatte er eine unvermutete Hilfe gefunden ... Aber besser wäre es ihm gewesen, unterwegs zusammenzubrechen wie die andern drei. Ein paar Tage wurde dann immer gerastet, aber wer dran war am Sterben, beeilte sich. Er sah ja, daß die andern mit Ungeduld darauf warteten, sich weiterzuschleppen der rettenden Küste zu ...

Es pochte an der Glastür, die auf den Vorgarten führte. Malte hob den Kopf: »Herein« ...

Ein vierschrötiger Mann mit blondem Vollbart trat über die Schwelle, einige Kladden und Rechnungsbücher unter dem Arm. Er schüttelte die Hagelkörner von der Mütze, klappte die Hacken zusammen: »Willkommen in der Heimat, Herr Graf« ...

Malte ging ihm ein paar Schritte entgegen. In der Rechten ballte er den Brief, und der Zorn packte ihn, daß er fast die Selbstbeherrschung verlor.

»Herr,« schrie er den Eintretenden an, »den Willkommen hatten Sie mir gestern abend zu entbieten! Wo waren Sie da, wenn ich fragen darf?«

Der Verwalter Bergemann blickte verwundert auf.

»Entschuldigung, Herr Graf! Vormittags hatte ich in dringenden Geschäften zu tun in Moltzahn. Als ich heimkam, fand ich eine eilige Botschaft vor, die mich nach Hohenrömnitz rief. Seine Exzellenz hielten mich so lange auf, daß ich zu meinem Bedauern nicht mehr in der Lage war« ...

Malte schnitt ihm mit einer kurzen Bewegung das Wort ab.

»Bin ich hier noch der Herr oder mein Onkel?«

»Sehr wohl, Herr Graf, aber es sind während Ihrer Abwesenheit doch Verhältnisse eingetreten« ...

Malte hob die Hand.

»Darüber werden wir uns später unterhalten. Jetzt erst mal frage ich Sie, weshalb haben Sie mir nichts nachgeschickt in den zwei Jahren? Wie ein Strolch zog ich in der Fremde herum, der keine Heimat hat, und ich hatte Ihnen doch befohlen, mir alles nachzuschicken, was irgend von Belang wäre?« ...

Der vierschrötige Kerl mit dem blonden Vollbart hob die breiten Schultern. Um seine treuherzig blickenden Augen zwinkerte ein verstohlenes Lächeln.

»Gott, Herr Graf, wie soll unsereins wohl entscheiden, was wichtig ist und was nicht? Da hab' ich mir eben gesagt, in der letzten Tasche findet sich alles. Wenn der Herr Graf nach Hause kommen, erfahren Sie ja doch alle Neuigkeiten« ...

Malte fühlte es dunkel werden in den Augen vor Zorn, aber er riß sich gewaltsam zusammen. Hinter dem Frechen da drüben, der früher mit krummem Rücken nur zu ihm gesprochen hatte, stand sein Herr Oheim ...

»Es ist gut, Herr Bergemann,« sagte er langsam, »Sie sind auf der Stelle wegen Ungehorsams entlassen.«

»Was?« schrie der andre auf. »Fast vierzehn Jahre habe ich Ihnen in Treuen gedient, und das soll mein Lohn sein?«

Malte steckte sich, während der vierschrötige Kerl in drohender Haltung ein paar Schritte näher trat, eine Zigarette an.

»Sie irren sich, Herr Bergemann. Meinem Onkel haben Sie gedient, nicht mir. Und da ich noch für eine Weile hier der Herr bin, werden Sie bis zwölf Uhr mittags mit Sack und Pack und Kind und Kegel jenseits der Vellahner Grenzen sein. Ich dulde keinen ungetreuen Diener auf meinem Hofe.«

Der Verwalter machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Gestatten, Herr Graf, daß ich gehorsamst darüber lache! Über meine Entlassung haben doch noch andre Instanzen ...« Weiter kam er nicht. Der Hühnerhund Hektor, der unter dem runden Tische lag, hatte schon von Anfang an die Unterredung mit leisem Knurren begleitet. Jetzt hatte er wohl die ausholende Armbewegung mißverstanden ... wie eine losgeschossene Kanonenkugel flog er dem blondbärtigen Kerl gegen die Brust, daß er hintenüberschlug. Das Tischtuch mit dem Teegeschirr riß er bei dem jähen Ansprung herunter, aber es kümmerte ihn nicht. Mit blitzendem Fang suchte er neben dem schützend vorgehaltenen Arm die Kehle des Feindes, wie ihn der Alte mit dem grauen Schnurrbart gelehrt hatte, als er ihn an einem ordentlich in dicke Säcke eingepackten Scharwerksjungen auf den Mann dressierte. Es gab ein fürchterliches Durcheinander, die Teller und Schüsseln kollerten über den Boden, und der Verwalter schrie hinter dem vorgehaltenen Arm: »Um Gottes willen, Herr Graf, rufen Sie den Hund zurück« ...

Malte sprang zu, riß den Anstürmenden am Halsband in die Höhe: »Pfui, Hektor, kusch dich und down« ...

Der Hund gehorchte, legte sich zur linken Seite seines Herrn nieder, den Kopf auf die Vorderläufe geschmiegt. Nur seine gelben Lichter blitzten, und über den weißschimmernden Fängen hoben sich drohend die roten Lefzen ...

Der Verwalter erhob sich mühsam, suchte seine zu Boden gefallenen Bücher zusammen.

»Ein Beest ist das! Im vorigen Sommer hab' ich gesehen, wie er dem Förster Schwarz einen Rehbock fast dreißig Schritte weit apportierte, wie einen Hase frei im Fang. Nur das Hinterteil schleppte über die Wiese« ...

Malte lachte kurz auf.

»Brav, Hektor, brav! ... Und Sie sehen, Herr Bergemann, es gibt hier noch einige, die zu mir halten. Aber beruhigen Sie sich, auch ohne den tüchtigen Hektor wäre ich mit Ihnen fertig geworden!« Er reckte die stählernen Arme ... »Na, wie ist's nun, wollen wir abrechnen?«

»Befehl, Herr Graf« ...

Der Verwalter entnahm einer Kladde einen langen Zettel.

»Hier, Herr Graf, ist die Zusammenstellung. Ob sie stimmt, können Sie ja in den Büchern nachprüfen lassen. Achttausend Mark rund hat die Vellahner Gutsverwaltung als Guthaben stehen bei der Landwirtschaftlichen Bank in Waren. Sechzehn Wispel Roggen liegen noch auf dem Speicher, nicht ganz so viel Weizen, und Futter nebst Kartoffeln natürlich genug bis zur neuen Ernte. Das sind die Aktiva. Die Passiva hingegen« ...

Malte hob die Hand. Unter der braunen Tropenhaut war er blaß geworden bis in die Lippen. Achttausend Mark! Das war zum Verhungern zu viel, zum Leben zu wenig. Er mußte erst einmal heftig unterschlucken, ehe er seiner Stimme die nötige Festigkeit zutraute.

»Erlauben Sie mal, Herr Bergemann! Unter meinem Vater hat Vellahn durchschnittlich vierzigtausend Mark im Jahr gebracht. Nachher hat mein Onkel in Hohenrömnitz die Kontrolle gehabt, aber es wird wohl nicht viel weniger geworden sein. Das muß doch irgendwo geblieben sein, nicht wahr? Und in diesen letzten zwei Jahren habe ich doch keinen Pfennig verbraucht außer den viertausend Mark, die Sie mir auf telegraphische Order nach Genua schickten?«

Der Verwalter sah von dem Zettel auf und legte die rotgebrannte Hand auf die Brust.

»Wollen mich der Herr Graf vielleicht der Unterschlagung beschuldigen? Erst wird man hier von einem wütenden Hund gewürgt, und jetzt soll man womöglich als ein Betrüger und Schuft dastehen? Ah nein, Herr Graf, das werd' ich mir nicht gefallen lassen.«

Malte zuckte die Achseln.

»Ganz nach Belieben, Herr Bergemann. Inzwischen aber haben Sie wohl die Freundlichkeit, mir zu erklären, wo all mein Geld geblieben ist?«

»Sehr wohl, Herr Graf! Aber da ist nicht viel zu erklären, steht alles in den Büchern. Bis zu Ihrer Mündigkeit habe ich mit Seiner Exzellenz dem Herrn Erblandmarschall abgerechnet. Die Unterschriften stehen zu Ihrer Verfügung. Nachher, als Sie zu befehlen hatten, habe ich Ihnen Rechnung gelegt. Hier in den Büchern sind Ihre eigenhändigen Unterschriften, daß Sie alles für gut und richtig befunden haben. Für diese letzten zwei Jahre aber müssen Sie sich an Ihren Herrn Oheim wenden. Achtundzwanzigtausend Mark haben Exzellenz befohlen, für Meliorationen und Drainage zu verwenden und sechstausend für Erneuerung des toten Inventars. Ob die Ausgaben notwendig waren, hatte ich nicht zu entscheiden. Ich hatte nur zu gehorchen.«

Malte schloß einen Moment lang die Augen. Überall, wo er hingriff, traf er auf die Hand seines Onkels, die sich würgend um seine Existenz legte. Aber niemals bisher hatte es einen so offenen Angriff gegeben wie heute, daß er zurückschlagen konnte. Und das wollte er weidlich besorgen. Er atmete tief auf.

»Herr Bergemann, habe ich Ihnen vor meiner Abreise den Auftrag gegeben, über die Verwaltung meines Lehngutes Vellahn vom Herrn Erblandmarschall irgendwelche Anordnungen entgegenzunehmen?«

»Nein, Herr Graf.«

»Habe ich Ihnen insbesondere befohlen, die mir gehörigen Einnahmen aus meinem Gute zu seiner Verfügung zu stellen?«

»Nein, Herr Graf. Seine Exzellenz kamen kurz nach Ihrer Abreise zu mir herübergeritten. Vellahn wäre wieder unter Hohenrömnitzer Verwaltung. Da habe ich natürlich geglaubt, Sie hätten bei Ihrem Abschiedsbesuche drüben entsprechende Weisungen hinterlassen.«

Malte lachte ingrimmig auf.

»Bei dem Besuche damals war von andern Gütern die Rede. Mehr um gewisse Ideale ging es, aber sie hatten einen verdammt praktischen Hintergrund. Na denn ... ich danke Ihnen! Und es bleibt dabei. Bis zwölf Uhr mittags haben Sie den Hof verlassen.«

Der Verwalter hob seine Mütze auf.

»Ich bitte doch den Herrn Grafen, zu berücksichtigen ...« Sein junger Herr aber schnitt ihm mit einer kurzen Handbewegung die Rede ab.

»Nein, Herr Bergemann, es bleibt dabei. Während der paar Wochen, die mir hier vielleicht noch vergönnt sind, will ich Reinlichkeit um mich haben. Und Leute, die zu mir halten. Wenn Sie Glück haben, sind Sie in kurzer Zeit wieder hier und lachen mich aus. Nur fürchte ich, der Herr Erblandmarschall kennt Sie zu gut. Wenn Vellahn erst seinem eigenen Sohne als Lehen gehört, wird er's Ihnen vielleicht nicht mehr anvertrauen.«

Der Verwalter murmelte irgend etwas zwischen den Zähnen, was ungefähr so klang, »wir sprechen uns noch«, und verließ ohne Gruß die Halle. Malte aber suchte auf dem Tische nach der Glocke, bis er mit einem Male entdeckte, daß sie zwischen zerbrochenen Tellern und Tassen samt Gänsebrust und Leberwurst in einer breiten Lache Tee schwamm. Da klatschte er in die Hände: »Lentz« ...

Der Alte trat über die Schwelle: »Um Gottes willen, was hat es denn hier gegeben?«

Sein junger Herr lachte fröhlich auf. So leicht war ihm schon lange nicht mehr zumute gewesen. An Geld war er ein Bettler, aber er hatte doch ein Ziel vor Augen. Und eine Handhabe, dem Herrn Oheim ans Leder zu gehen ...

»Scherben hat es gegeben, mein guter Alter. Ruf eins von den Küchenmädeln, sie soll den Kram zusammenfegen. Ich reit' indessen nach Hohenrömnitz mit 'nem dicken Knüppel in der Faust. Da steht auch so 'n wackeliger aller Topp ... vielleicht daß ich ihm eine gehörige Beule hauen kann« – – – –

 

Draußen auf der Freitreppe fuhr ein schnittiges Juckergespann vor mit einem geschlossenen Coupé dahinter. Ein Diener in hechtgrauer Livree, ungefähr wie ein Leibjäger gekleidet, sprang vom Bocke, fragte, ob der Herr Graf Römnitz für den Herrn Bankdirektor Steinfeld zu sprechen wäre. Malte sagte höflich: »Ich lasse bitten«, innerlich aber wünschte er den unerwarteten Besuch zu allen Teufeln. Mit dem Abenteuer von gestern abend hatte er sich abgefunden in einer langen schlaflosen Nacht ... Das mußte ein Ende haben, es hatte ihn genug gekostet ... Ohne all diese Ereignisse, die ihm die Nerven aufgepeitscht hatten, wäre manches vielleicht anders gekommen ... Wer mochte wissen, ob er an anderm Orte und unter andern Umständen der blonden Gertrud Köhnemann so schroff geantwortet hätte? ... In nachträglichem Erwägen hatte es ihn doch seltsam am Herzen gerührt, daß sie ihm während der Zeit der Trennung die Treue gewahrt hatte. Alles, was ledig war an ritterbürtigen Herren im Kreise, warb um sie, für ihn aber hatte sie ihr Magdtum aufgespart. Und da hatte er ihr in frevelhafter Verblendung eine Demütigung zugefügt, die sie nie vergessen konnte ... Einer flüchtigen Sinnesregung wegen, die kalt geworden war über Nacht ...

Herr Direktor Steinfeld hatte sich umständlich aus seinem kostbaren Zobelpelze gewickelt, jetzt kam er mit ausgestreckten Händen auf Malte zu.

»Mein verehrtester Herr Graf, wie soll ich Ihnen nur danken? Erst jetzt eben habe ich von der braven Förstersfrau erfahren, wie aufopfernd Sie an meiner Gattin gehandelt haben. Eine halbe Meile haben Sie die schwere Last auf den Armen getragen ... reden Sie mir nicht dazwischen, ich weiß, was sie wiegt! Ich hab' sie auch mal im Arm getragen, inzwischen hat sie noch zugenommen. Und der Doktor hat mir gesagt, ohne Ihr energisches Eingreifen hätte es sicher eine Lungenentzündung gegeben, als Komplikation zu der Gehirnerschütterung. Na und dann« ... Die Stimme ging ihm in eine höhere Tonlage über, er wischte sich mit der ringgeschmückten Hand über die Augenwinkel.

Malte hob die Schultern, halb ärgerlich, halb belustigt.

»Sie machen zu viel Aufhebens von einer Selbstverständlichkeit, Herr Direktor. Wenn ich auf meinem Weg einer hilflosen Scharwerksdirn begegnet wäre, ich hätte sie ebenso nach Hause getragen, zum Dorf zurück.«

Herr Steinfeld legte den kahlen Kopf auf die linke Schulter und schmunzelte. Es bot sich die Gelegenheit, einen Witz zu machen, der seiner Ansicht nach gut war.

»Sie sagen, Herr Graf, ich mach' Aufhebens? Sie haben aufgehoben! Und ich schätze, Sie haben schon gewußt, wen Sie da aufgehoben haben. Die einzige Tochter von Karl Sartorius, dem ersten Direktor der Bank für Handel und Industrie. Wenn sie schon geerbt hätte, hätten Sie ungefähr dreizehn Millionen zu tragen gehabt.«

Malte verneigte sich spöttisch.

»Herr Direktor, es interessiert mich natürlich ungemein, daß Ihre Frau Gemahlin eine so stattliche Mitgift zu erwarten hat, aber ich gebe Ihnen noch einmal die Versicherung, der Reichtum Ihres Herrn Schwiegervaters hatte auf meine Entschließungen nicht den geringsten Einfluß. Um so weniger, als ich erst in meinem Försterhause erfuhr, wem ich eigentlich den geringfügigen Dienst erwiesen hatte ... Na und wie ist's nun? Darf ich Ihnen zum Schluß noch mit 'nem Kognak und einer Zigarre aufwarten?«

Herr Steinfeld klappte die Hacken zusammen: »Angenehm?« Und als die Zigarre brannte, fügte er mit einem halb wehmütigen Lächeln hinzu: »Ich habe Sie schon verstanden, Herr Graf. Gestern abend schon. Entschuldigen Sie, wenn ich ein bißchen aus mir herausgehe, trotzdem. Ich bin nicht der Protz, für den Sie mich halten. Das ist bloß eine schlechte Angewohnheit von Berlin her. Da imponiert nur das Geld. Es ist der Wertmesser für alles, alles können Sie damit kaufen. Auch den adeligen Verkehr. Aber glauben Sie nur nicht, daß wir uns darüber täuschen, was das für 'ne Sorte ist, die sich zu unsern Abfütterungen drängt und den Hausherrn hinterher anpumpt. Alles wurmstichig« ...

Malte verneigte sich höflich.

»Ich weiß wirklich nicht, Herr Direktor, weshalb Sie mir das alles erzählen?«

Herr Steinfeld trank seinen Kognak aus.

»Am Schluß werden wir schon zusammenkommen. Aber eine Frage inzwischen: kennen Sie Berlin?«

»So ungefähr wie wir alle hier. Was um die Friedrichstraße herumliegt, außerdem den Unionklub und das Kasino am Pariser Platz. Zu weiteren Entdeckungsfahrten haben wir meistens keine Zeit.«

»Na sehen Sie?« Herr Steinfeld steckte sich die ausgegangene Zigarre wieder an. »Da haben Sie von dem wirklichen Berlin keine Ahnung. Das bedeckt ungefähr zwei Quadratmeilen mit seinen Ausläufern, sein Herz aber sitzt in einem verräucherten Haus, von der einen Seite die Burgstraße, von der andern die Spree. Da wird das Schicksal gemacht für alle. Nicht nur für die paar hundert Jobber, die da um die Schranken drängen und schreien, um einen kärglichen Gewinn für den Tag herauszuschlagen. Das sind nur unumgängliche Begleiterscheinungen. In Wirklichkeit prallen da ganze Ströme aufeinander, die zusammenstoßen und einen Ausgleich suchen, man steht mittendrin an sogenannter leitender Stelle und muß scharf aufpassen, daß man in dem Strudel nicht weggespült wird. Das reißt an den Nerven, und man muß eine Ablenkung haben, um frisch zu bleiben und widerstandsfähig. Man baut sich eine Villa im Grunewald, freut sich ein Jahr lang daran, im nächsten Jahr spektakelt die Elektrische einem am Vorgarten vorüber. Man pachtet ein Schloß mit einer Jagd, aber die Jagd steht nur auf dem Papier, und das Schloß bietet die einzige Zerstreuung, daß man durch viele Zimmer wandern kann, bei gutem Wetter auch durch den Park. Sie werden mir zugeben, Herr Graf, das ist nur ein sehr mäßiges Vergnügen, nicht wahr?«

Malte nickte bestätigend. Er hatte achtungsvoll den volkswirtschaftlichen Auseinandersetzungen zugehört, ohne groß verstanden zu haben. Immerhin war ihm soviel klar geworden, daß Herr Steinfeld mit seiner Pachtung nicht recht zufrieden war. Darüber hatte er sich ja schon gestern abend verbreitet. Da sagte er also: »Herr Direktor, nach allem, was ich von Ihnen höre, scheinen Sie ein wohlhabender Mann zu sein. Lassen Sie hier die Alten-Krakower Jagd laufen und pachten Sie sich eine neue. Aus langjähriger Erfahrung kann ich Ihnen die Versicherung geben, sie taugt nichts. Mein Gatter schneidet ihr den Wildwechsel ab.«

Herr Steinfeld kniff die Augen ein.

»Sind Sie verheiratet, Herr Graf?« ... Und als Malte, ein wenig verwundert, verneinte, fuhr er fort: »Na sehen Sie, das hab' ich mir gleich gedacht, sonst würden Sie nicht so reden. Wenn Ihre Frau, und sie wäre nämlich die einzige Tochter von Karl Sartorius – also, wenn die behaupten würde, nur die Mecklenburger Luft hier täte ihren Nerven wohl, würden Sie da vielleicht wo anders pachten?« ...

Malte schüttelte den Kopf. Zum Widerspruch fehlte ihm jeder Grund. Nur eine häßliche Äußerung fiel ihm wieder ein, die er am vergangenen Abend zornig zurückgewiesen hatte. Diese Vorliebe für den Aufenthalt in Mecklenburg erklärte sich anders. Weil in Friedeberg die Dragoner standen und unter ihnen der Panschenhagener Nachgeborene, der Kurt Bredow ... aber auch egal. Was gingen ihn hier all die Menschen an – in ein paar Wochen war er ein Landfremder, der mit schmalem Beutel in die weite Welt zog ...

Herr Steinfeld hatte die Kopfbewegung seines Gegenüber als eine Zustimmung aufgefaßt.

»Sehen Sie, Herr Graf, Sie würden auch versuchen, von so einer Pachtung loszukommen. Die Frau Baronin Perkwald hat mir ebenfalls vor ihrer Abreise heute früh versichert, sie will auf ihren Vormund in diesem Sinne einwirken ... Nämlich, sie fand bei unsrer Rückkehr eine Depesche vor, die sie plötzlich nach Wiesbaden zurückrief« ...

Malte nickte bloß. Die Depesche glaubte er zu kennen, sie war natürlich nur ein Vorwand. Es gab ihm einen Stich im Herzen. Aber das war nun vorbei ... Sie ging ihm aus dem Wege. Daß sie sich noch einmal wiedersahen nach der Auseinandersetzung von gestern abend, war ausgeschlossen. Und recht so. Einmal mußte doch Schluß gemacht werden mit der Vergangenheit.

Herr Steinfeld fuhr fort zu sprechen.

»Ich habe meiner Frau natürlich sofort mitgeteilt, daß die Frau Baronin Perkwald uns in dieser Hinsicht entgegenkommen will, aber – was glauben Sie wohl, Herr Graf – sie will nicht fort. Jetzt noch weniger als früher. Ein ›Vergnügen‹ ist das, unter uns gesagt! Aber ich als geduldiger Ehemann muß gehorchen. Mein Schwiegervater nämlich, der Geheime Kommerzienrat Sartorius, ist auch sozusagen mein Vorgesetzter, und er liebt sein einziges Kind wie seinen Augapfel. Also, wie gesagt, da ist nichts zu machen! ... Aber da ich als alter schlesischer Oberförsterssohn von dieser mecklenburgischen Villeggiatur wenigstens mein bißchen Jagdvergnügen haben möchte ...«

Malte blickte ein wenig verwundert auf.

»Entschuldigen Sie: ›Schlesischer Oberförsterssohn‹? ... Ich hatte geglaubt« ...

Herr Steinfeld lachte vergnügt.

»Kann's mir ungefähr denken, was, aber das war ein Irrtum. Ich bin nach dem Abiturientenexamen mit siebzehn Jahren in Berlin Banklehrling geworden ... da nimmt man sich das an im Lauf der Zeit. Mit meinen Berufsgenossen an der Börse rede ich – na sagen wir mal – noch prägnanter! ... Aber wie ist's nun mit uns beiden, Herr Graf? Sie sprachen da vorhin von Ihrem Gatter. Ich habe mich erkundigt ... wenn Sie es abreißen, kann ich in Alten-Krakow eine ganz gute Jagd haben. Ich würde sie natürlich absolut weidmännisch und pfleglich behandeln – auf mein Wort! Und für das Umlegen des Gatters will ich zehntausend Mark bezahlen. Ich denke, das ist ein Angebot, dem Sie näher treten könnten?!«

Malte stand auf.

»Ich bedaure, Ihnen nicht dienen zu können, Herr Direktor.«

»Na, na,« meinte Herr Steinfeld begütigend, »ich lasse doch mit mir reden! Die zehntausend Mark waren natürlich nicht mein letztes Wort. Namentlich, wo wir uns gestern doch auch persönlich näher getreten sind« ...

Malte verneigte sich ein wenig spöttisch.

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, mir auf diese Weise Ihre Dankbarkeit auszudrücken, Herr Direktor, aber wir haben uns in dieser Angelegenheit nicht ganz verstanden. Es würde Ihnen wenig helfen, wenn ich die zehntausend Mark einstecke und das Gatter umlege. In vier Wochen vielleicht habe ich hier nichts mehr zu sagen, und das Gatter wird wieder aufgerichtet.«

»Erlauben Sie mal«, gab der andre ganz verwundert zurück, »und das müssen Sie mir ein bißchen näher erklären!« ... Malte aber schüttelte zornig den Kopf. Es wuchs ihm nachgerade schon zum Halse heraus. Seit er in der Heimat war, erinnerte ihn jeder Augenblick, jedes Wort, das gesprochen wurde, daran, daß er hier nur wie ein Vogel auf dem Dache saß ... Schließlich brauchte er sich doch nicht vor jedem hergelaufenen Kerl bis aufs Hemd auszuziehen mit all seinen Sorgen und Nöten ... Und seine Antwort fiel schroffer aus, als es sonst seine Art war ...

»Das werde ich mir lieber schenken! Ich müßte Ihnen sonst so einen ähnlichen Sermon halten, wie Sie mir über Ihre Börsengeschichten. Das ist nun mal so bei uns in Mecklenburg. Wer näher dran ist an dem bißchen Erde, hat recht. Der andre mag zusehen, wo er bleibt ... Deswegen aber kann ich mit Ihnen jetzt nicht verhandeln. Sollte Ihre Frau Gemahlin auch später noch für den hiesigen Landaufenthalt schwärmen, stehe ich vielleicht zu Ihrer Verfügung. Im andern Falle müßten Sie sich nach Hohenrömnitz wenden! ... Na, wie ist's nun? Darf ich Ihnen noch mit einem Kognak aufwarten?« ...

Herr Steinfeld nickte lächelnd.

»Ich bin fast schon draußen, Herr Graf! ... Und von diesen Verhältnissen habe ich gehört. Sie passen wirklich nicht mehr in unsre Zeit ... ich möchte sagen, wie hier Ihr ganzes Land. Sie sind auch so ein altmodischer Mensch. Mit dem Geschäft um das Gatter hätten Sie mich ganz glatt hereinlegen können ... ich hatte ja keine Ahnung, daß von Ihnen getroffene Abschlüsse für Ihre Nachfolger nicht rechtsverbindlich sein könnten« ...

»Herr Steinfeld?!« ... Malte brauste auf und hob unwillkürlich die Hand. Der andre aber zog gleichmütig seinen kostbaren Zobelpelz an, den er vorhin über eine Stuhllehne geworfen hatte.

»Na was denn, Herr Graf? Wollte ich Sie vielleicht beleidigen? ... Im Gegenteil, Ihnen ein Kompliment machen! So eine übertriebene Ehrlichkeit findet man auch nur noch in Mecklenburg. Bis fünfzehntausend Mark wäre ich gegangen, hatte ich mir vorgenommen. Tadellos ist das, wie Sie an mir gehandelt haben ... ich danke Ihnen herzlich!«

Er machte eine korrekte Verbeugung und ging zur Tür. Mit der Klinke in der Hand aber wandte er sich noch einmal um: »Würden Sie mir jetzt noch einen sehr großen Gefallen tun, Herr Graf?«

»Wenn ich kann – mit Vergnügen!«

»Nun denn« ... Herr Steinfeld stockte erst ein wenig ... »meiner Frau einen Besuch machen. Sie brennt darauf, ihren Lebensretter kennen zu lernen ...«

Malte war ihm ein paar Schritte zur Tür gefolgt.

»Geht's Ihrer Frau Gemahlin denn schon ein wenig besser?«

»Bloß besser? ... Wer sie gestern abend gesehen hat, würde es kaum glauben: als ich heute morgen ankam, wollte sie mit Gewalt schon aufstehen! ... ›Liselotte, sagte ich zu ihr, du bist wie 'ne Katze. Du kannst vom Dach fallen, und es schadet dir nichts!‹« ... Herr Steinfeld nahm den blanken Zylinderhut in die Linke, strich sich mit der Rechten über den kahlen Kopf ... »Der Doktor hat ihr natürlich diesen Übermut gelegt. Wer ich muß nun in dringenden Geschäften nach Berlin zurück – unter uns gesagt ... es handelt sich um einen Millionenabschluß! Und ich hab' die ganzen einleitenden Verhandlungen geführt. Es ruft die eiserne Pflicht, alle andern Rücksichten müssen schweigen! ... Ja, und da wäre es mir doch eine rechte Beruhigung, meine Frau hier unter guten und zuverlässigen Menschen zu wissen« ... Er streckte die Hand aus, eine kurze Hand mit rötlichen Haaren auf den Fingerrücken ...

Malte sah ihn an, in den wasserblauen Augen da drüben stand ein seltsamer Ausdruck. Fast wie in den Augen eines verprügelten Hundes, der scheu emporblickte: du bist ein anständiger Kerl, nicht wahr, du wirst nichts Unrechtes tun? ... Ekelhaft war das ... Und unwillkürlich mußte er an den Friedeberger Dragoner denken, von dem ihm gestern eine andre erzählt hatte ... Er verneigte sich mit zusammengeklappten Hacken, die ausgestreckte Hand übersah er geflissentlich.

»Ich werde mir natürlich gestatten, Ihrer Frau Gemahlin meine untertänigste Aufwartung zu machen. Im übrigen dürfen Sie ganz beruhigt sein. Die Frau meines Försters ist recht zuverlässig. Ich darf mich wohl dafür verbürgen, daß es der Patientin an sorgfältiger Pflege nicht fehlen wird.« ...

Herr Steinfeld zögerte immer noch mit dem Abschied.

»Das ist es nicht allein, Herr Graf. Der Doktor hat mir vorhin erklärt, vor acht Tagen wäre nicht daran zu denken, meine Frau nach Alten-Krakow zu transportieren. Und ich weiß nicht, wann mich die Berliner Geschäfte loslassen ... Wäre es da sehr unbescheiden, wenn ich Sie bitten würde, meiner Frau ab und zu ein bißchen Gesellschaft zu leisten? Sie kommt mir sonst um vor Langewelle bei ihrem nervösen Temperament« ... Er fuhr sich wieder mit der Hand über den Kopf, in seinen Augen stand derselbe halb scheue, halb bittende Ausdruck geschrieben ...

Malte zuckte die Achseln.

»Das kann ich leider nicht versprechen. Ich weiß selbst noch nicht, ob ich in den nächsten Tagen nicht wieder verreisen muß« ...

»Nun ... jedenfalls ... herzlichsten Dank, Herr Graf« ...

»Keine Ursache, Herr Direktor« ...

Das schnittige Juckergespann mit dem geschlossenen Coupé fuhr davon, die Dammallee entlang, die von der Schloßinsel zum festen Lande führte. Draußen war aus den rieselnden Hagelschauern ein dickes Schneegestöber geworden, wie mitten im Winter. Die dichten Flocken tanzten im Winde, daß man keine drei Schritte weit sehen konnte; über den grünenden Rasen des Vorplatzes, die Krokusse auf den runden Beeten, legte sich eine weiße Decke. Malte trat in die Halle zurück, griff sich mit zwei Fingern zwischen Hals und Kragen. Ekelhaft war das alles ... Dieser Mann, der aller Würde bar schien, wenn es um die Millionen seiner Gattin ging ... wie ein plumper Tanzbär, der widerwillig die Füße zum Tanzen hob ... Wenn er gekonnt hätte, hätte er vielleicht dreingeschlagen! Aber da war der Ring durch die Nase mit einer schweren Kette daran ... eine leichte Frauenhand brauchte nur daran zu zupfen, und er mußte sich fügen – – –

Natürlich dachte er nicht daran, der kleinen blonden Frau in seinem Försterhause einen Besuch zu machen. Die Nacht, in der er grübelnd dagelegen hatte, von den heißen Gedanken von einer Seite auf die andre geschmissen, war zu lang gewesen. Das mußte ein Ende haben! In diesen letzten Stunden hatte er mehr gedacht als andre in einem ganzen Leben. Es ging in seinen Kopf nicht mehr hinein. Und noch ein andres war dabei ... etwas von den Gewissensbissen, die er damals auf dem Schiffe empfunden hatte, als ihn die törichte Leidenschaft für die brünette Engländerin erfaßte. Das war natürlich Unsinn ... nach dem Abschied gestern abend war er ja noch freier als damals. Angst war es, sich in ein neues Abenteuer zu stürzen, denn aus dem langen Gang, bei dem er geglaubt hatte, er trüge ein kleines Heiligenbild, und aus den eifersüchtigen Worten der andern war ihm ein seltsam aufreizendes Gefühl zurückgeblieben. Mal nachzusehen, was sich hinter den geschlossenen Augenlidern mit den langen dunkeln Wimpern wohl bergen mochte ... eine Madonna oder ein kleines Laster ...

Er schlug mit der flachen Hand auf die wieder mitten auf dem Tische stehende Glocke: »Lentz?!«

Der Alte kam aus dem Nebenzimmer.

»Herr Graf?«

»Schick nach dem Hof hinüber, der Fuhbel soll mir den Wotan satteln. Ich will nach Hohenrömnitz reiten!«

»Zu Befehl, Herr Graf« ...

Malte stieg die Treppe empor, die zu seinem Ankleidezimmer führte. Es gehörte sich wohl, daß man zu der entscheidenden Unterredung einen anständigen Rock anzog. Und er legte sich zurecht, wie er die Feindseligkeiten mit dem Herrn Erblandmarschall am besten wohl eröffnete. Ob er ihm gleich an den Hals fuhr, oder ob es geratener wäre, sich zunächst einmal aufzubauen als wieder auf dem Platze befindlich und dem andern das erste Wort zu überlassen ... Mitten darin aber fiel ihm ein, weshalb wohl die Gertrud Köhnemann – sie »Frau Baronin Perkwald« zu titulieren, brachte er nicht fertig – diesem Berliner Bankdirektor ein so plötzliches Entgegenkommen gezeigt haben mochte? Sie wollte ihren ganzen Einfluß aufbieten, daß ihr Vormund in eine Lösung des lästigen Pachtvertrages willigte? ... Dafür gab es eigentlich doch nur eine Erklärung: sie wollte die andre mit möglichster Beschleunigung aus seiner Nähe entfernen! ... Aber wiederum, wenn man sich's recht überlegte, war auch das Unsinn, sonst hätte sie selbst doch nicht so plötzlich das Feld geräumt?! ... Aber, Schluß, aus: sie sollten ihn doch in Frieden lassen, die kleinen Frauenzimmer – er hatte jetzt andres zu denken! Und plötzlich lachte er fröhlich auf: das war in aller Wirrsal der einzige vernünftige Ausweg ... Man raffte hier alle erreichbaren Gelder zusammen und fuhr nach Berlin! Vorhin hatte er's ganz gedankenlos und als einen leeren Vorwand ausgesprochen, jetzt aber war es die einzige vernünftige Lösung. Da schlug man alles tot, was man noch an Geld besaß, jagte von einem Vergnügen ins andre, brauchte nicht zu denken, und eines Tages, mitten in Rausch und Dusel und Stumpfsinn kam die Entscheidung, so oder so ... nach oben oder nach unten ... Ein Nichts war man, das still im Dunkeln verschwand, oder ein hochgeehrter Ehrenmops ... Erblandmarschall des Großherzogtums Mecklenburg, Herr auf Hohenrömnitz, vor dem die Ritterbürtigen im Kreise den Rücken bogen, trotzdem sie ihn noch kurz zuvor wie einen Aussätzigen behandelt hatten – – –

 

Das Wetter war plötzlich wieder umgeschlagen, nur ein ohnmächtiges Rückzugsgefecht war es gewesen, das der abziehende Winter dem siegreichen Frühling lieferte, über der verschneiten Flur lachte die strahlende Sonne, der grimmige Nordwind hatte eins über den Kopf gekriegt, das ihm das Blasen verleidete, und von allen Ästen tropfte es. Aprilschnee hat keinen langen Bestand ...

Malte ritt in einer Art fröhlicher Entschlossenheit die Dammallee entlang. Überall unter der weißen Decke sah schon wieder der feuchtglänzende Boden hervor ... Vom See her riefen die Taucher »ork ... ork ...« eine schwarzgraue Nebelkrähe, die sich in den letzten Wipfel einer Erle geschwungen hatte, lockte mit dem mißtönenden Balzlaut ihrer Sippe den Gefährten: »kam ut – kam ut« ... Komisch war es eigentlich, daß diese struppigen Buschklepper auch einen Liebesruf hatten ... Alles regte sich von neuem Leben ringsum, kaum daß das Unwetter vorüber war, und da sollte er allein den Kopf hängen lassen in Trübsal und Hoffnungslosigkeit? Noch war es ja nicht so weit, daß er hier den Platz räumen mußte, und wenn er sich's recht besah, hatte er sich doch gar zu sehr niederdrücken lassen, seit er wieder auf heimatlichem Boden stand ... Mußte das Glück denn immer auf die andre Seite schlagen in dem großen Würfelspiel? Einmal konnte es doch auch ihn treffen ... Und er entsann sich eines Morgens aus seiner Afrikanerzeit, wo es auch paar oder unpaar geheißen hatte, um Leben oder Sterben ... Noch fünf oder sechs reichlich gemessene Tagesmärsche war es bis Tabora, beide hatten sie sich nur mühsam erhoben, er und Peter Nägelein, der kleine Maler. Das Fieber leuchtete in ihren hohlglänzenden Augen, schüttelte sie, daß ihnen die Zähne aufeinanderschlugen vor Frost. Aber für einen reichte es nur noch in dem blechgefütterten Medizinkasten, den einer der drei letzten treugebliebenen Nigger zwischen anderm Unentbehrlichen auf dem Rücken trug. Sie hatten zu leichtsinnig gewirtschaftet mit den kostbaren weißlichen Pulvern ... Da sagte der kleine Maler: »Ehrliches Spiel, Gräflein. Paar oder unpaar ... Wer richtig rät, kommt vielleicht nach Hause. Der andre ...« Er schluckte auf und zog eine Münze aus der Tasche, eines jener kleinen englischen Dreipencestücke, das er vielleicht als eine Art von Glücksbringer im Geldbeutel trug ... »Unpaar,« sagte Malte und starrte aus fieberglänzenden Augen auf den flachen Handteller des andern, in dem die Entscheidung lag ... »1875,« sagte der kleine Maler, »Sie haben gewonnen,« und ließ sich kraftlos zur Erde gleiten. Die dünne Münze rollte irgendwohin auf den ausgedörrten Boden ... Ganz selbstverständlich war es, daß er hier liegen blieb. Sein Genosse zog weiter. Das Schicksal hatte ja für ihn entschieden, und es ging ums Leben. Da gab es kein Überlegen, jeder war sich selbst der Nächste. Es nützte ja auch nichts, wenn der andre noch eine Weile bei ihm blieb, er vertrödelte nur die kostbare Zeit ... Und er wehrte ab, als der sich über ihn beugte. »Nur keinen langen Abschied, Gräflein. Freuen Sie sich lieber ... Und wenn Sie mal durch das kleine Nest im Thüringischen kommen sollten ... Sie besinnen sich vielleicht, wir haben ja oft genug davon gesprochen ... Da in der Apotheke am Markt wohnt ein braunes Mädel. Ihre Eltern wollten es nicht leiden, aber vielleicht interessiert sie's, daß ich bis zuletzt an sie gedacht hab'« ... Und er drehte sich auf die Seite ... Malte aber stand mit zusammengebissenen Zähnen da. Bei den andern war es ihm nicht so nahegegangen, hier aber wäre er sich wie ein Hundsfott vorgekommen, wenn er sich allein weiterschleppte ... Und er sah sich das Malerchen an, eigentlich war es nur noch ein kleines Bündel Knochen mit 'nem bißchen Haut darüber ... wenn er sich mit den drei Niggern vor eine Trage spannte, schaffte er's vielleicht ... wenigstens, bis sie endlich auf die Karawanenstraße stießen, die von Tabora ins Innere führte ... Da sagte er nichts, traf die nötigen Vorbereitungen, und der keine Maler wurde aufgeladen. Er widersprach nicht, ließ es sich ruhig gefallen. Nur die Tränen stürzten ihm aus den Augen ... Und am nächsten Tage kam Hilfe. Ein englischer Gentleman überholte sie, der mit seinen zahlreichen Trägern von einer Jagdexpedition zurückkehrte. Es bedurfte keiner großen Bitten, damit er statt der beiden Weißen ein halb Dutzend Ballen von Trophäen am Wege zurückließ ... So war es gegangen damals, das Glück hatte zu ihm gestanden. Vielleicht ließ es ihn auch jetzt nicht im Stich, wo er's ebenso nötig gebrauchte ...

 

Auf dem Verwalterhofe ging alles seinen gewohnten Gang, nichts deutete darauf hin, daß Herr Bergemann sich zum Abzuge rüstete. Er griff kaum nach der Mütze, als sein junger Herr hoch zu Roß vorm Tor hielt. Und er mußte erst angerufen werden, ehe er sich zu einem kurzen Bericht bequemte. Er hätte auf telephonische Anfrage in Hohenrömnitz den Bescheid erhalten, er brauchte sich um die plötzliche Kündigung nicht zu kümmern. Seine Exzellenz der Herr Erblandmarschall würden in den nächsten Tagen persönlich herüberkommen, um den Fall zu untersuchen.

Malte richtete sich im Sattel auf.

»Dazu gehört noch ein andrer. Ehe der auf der Welt ist, hat mein Herr Onkel hier nichts zu untersuchen. Also ist's vielleicht schon so weit?« ... Und als der Verwalter, ein wenig erstaunt über die seltsame Frage, den Kopf schüttelte, lachte er kurz auf: »Na schön, Herr Bergemann, dann bin ich hier für ein Weilchen noch der Alleröberschte. Und es bleibt dabei. Bis zwölf Uhr mittags. Sie haben noch anderthalb Stunden Zeit, Ihren Kram zusammenzupacken« ...

Der Verwalter trat einen Schritt näher. Unter seinen buschigen Augenbrauen blitzte es heimtückisch auf: »Und wenn ich nicht gehorche, Herr Graf?« ...

»Dann, Herr« ...

Malte setzte dem Gaul die Sporen ein, daß er in jähem Ansprunge vorwärts schoß. Der andre wollte zur Seite ausweichen, er aber griff zu mit seiner stählernen Faust. Einen kurzen Ruck nur, und er hatte den widerspenstigen Kerl mit dem roten Gesicht am Sattelknopf. Der brave Wotan verhielt auf einen Schenkeldruck auf dem Flecke. Und er beugte sich mit zornsprühenden Augen hinab: »Dann, Herr, jage ich Sie wie einen räudigen Hund von meinem Hofe! Ich rate Ihnen, warten Sie's nicht ab. Solange ich noch in Vellahn der Herr bin, geht's hier nach meinem Belieben! ... Vorwärts, Wotan« ...

Der Gaul bekam die Hilfe zum Galoppansprung links, wie eine Strohpuppe schleuderte Malte den vierschrötigen Gesellen zur Seite. Im Davonreiten aber biß er sich auf die Lippen vor Ärger, daß er sich vom raschen Zorn hatte hinreißen lassen. Nun, er konnte sich nicht helfen. Im Augenblick, da der ungetreue Diener ihm widersprach, hatte er hinter dessen Gesicht ein andres gesehen. Ein glattrasiertes Predigerantlitz, in dem sich die schmalen Lippen zu höhnischem Lächeln verzogen. Da erst hatte er zugepackt in maßlosem, alle Schranken umreißendem Haß und Zorn ...

Er jagte mit verhängten Zügeln die Dorfstraße entlang, am Försterhause erst merkte er, daß er einen verkehrten Weg eingeschlagen hatte, nach Alten-Krakow, statt nach Hohenrömnitz. Aber es war gut so. Da konnte er seinen treuen Weidgesellen, den Förster Schwarz, als grimmigen Wächter aufbauen im Verwalterhofe, daß sein Befehl auch ausgeführt wurde ...

Die rundliche kleine Frau stand in der Haustür unter dem breit ausladenden Hirschgeweih, spähte mit vorgehaltener Hand nach der Sonne, ob das gute Wetter wohl Bestand haben würde. Er rief sie an: »Mutter Schwarzin, ist Ihr Mann zu Hause?«

Sie spie erst kurz dreimal aus, ehe sie antwortete. Bei der unerwarteten Anrede hatte sie sich heftig erschrocken.

»Ach du mein lieber Gott, der Herr Graf!« ... Und »nein, Herr Graf«, fügte sie hinzu, »aber er muß jeden Augenblick wieder zurückkommen. Er ist nur auf 'nen Sprung in den Holzschlag, weil was in seiner Kladde nicht stimmte bei der Abrechnung.«

Malte ordnete etwas am Zaumzeug, beugte sich nach vorn.

»Na ist gut. Wenn er wieder da ist, richten Sie ihm aus ...«

Weiter kam er nicht, am Hause klang ein Fensterflügel. Ein sauberes Mädel mit der Zofenkrause über dem schwarzen Haar steckte den Kopf heraus.

»Ha 'ck de Ehre mit 'n Herrn Jrafen Römnitz?« fragte sie in unverfälschtem Berliner Dialekt.

»Zu dienen,« gab er zurück, und die Schwarzhaarige rief eifrig: »Det haben sich de gnä'ge Frau jleich jedacht! Se freut sich sehr, aber Herr Jraf möchten de Jüte haben, noch 'nen Momang draußen zu bleiben. Wir sind hier 'n bißken beschränkt in der kleenen juten Stube, und so früh hatten wir auf den jeehrten Besuch nich jerechnet« ...

Er wollte erwidern, es hätte durchaus nicht in seiner Absicht gelegen, der Frau Direktor eine Staatsvisite zu schneiden, aber der Fensterflügel war schon wieder geschlossen. Da stieg er aus dem Sattel und band den braven Wotan mit dem Zügel an den Gartenzaun. Es ging schon in einem hin. Besser war es auch, den Auftrag dem Förster persönlich zu erteilen. Bis der zurückkam, erledigte er hier den Besuch. Schließlich war es doch 'ne Art von Pflicht, vor der man sich nicht gut drücken konnte ...

Hinter dem Hause auf dem Hofraume gab es lautes Gebell. Die Hunde hatten seine Stimme erkannt, aber bei Tage lagen sie an der Kette, und die Teckelmeute war in einen engen Zwinger gesperrt. Malte trat auf den sauber geharkten Gang, der zur Haustür führte.

»Na, Mutter Schwarzin – Ihrer Einquartierung scheint es ja schon ein gut Teil besser zu gehen?«

Die rundliche Förstersfrau machte ein finsteres Gesicht, das zu ihrem sonst so freundlichen Wesen schlecht passen wollte. Und in ihrem Ingrimm sprach sie unwillkürlich Plattdeutsch ...

»Bloß bäter? ... De lütt Fru is so gesund, as Sei un ick! Un de Düwel hett uns dat nah Vellahn dragen. Dat zwirbelt de Mannslüd man bloß so dörchennanner ... De Herr Doktor ut Moltzahn is all ganz verdreht, un mien Ohlen balzt ook schon as 'n Birkhahn! ... Tschuit ...« Zu komisch sah es aus, wie sie die drallen Arme gleich Flügeln von sich spreizte und den Ruf nachahmte. Malte aber mußte unwillkürlich auflachen.

»Sind Sie eifersüchtig, Mutter Schwarzin?« ... Und ernster fügte er hinzu: »Ich versteh' Sie schon ganz gut, außer den beiden Birkhähnen meinen Sie noch einen dritten. Aber der hat leider schwere Sorgen im Kopf, der denkt nicht an so törichten Zeitvertreib« ...

Die kleine Frau sah ihn von unten her an, seufzte auf und zuckte mit den Achseln. Eine ganze Geschichte lag in der kurzen Pantomime. Aber die Vordersätze schenkte sie sich, brachte nur den betrüblichen Schluß: ... »Die Frau Baronin Perkwald – vorhin hat's der Herr Direktor erzählt, wie er seiner Frau Gemahlin die Zofe brachte und die Koffer aus Alten-Krakow – ja also die Frau Baronin fährt noch heute mittag nach Wiesbaden zurück. Gestern abend, ehe der Doktor kam, sagte sie zu mir, sie würde vielleicht noch drei Wochen dableiben ... Es scheint, von gestern zu heute hat sie sich anders besonnen« ...

Malte blickte zu Boden ...

»Ich weiß, Sie meinen es gut mit mir, Mutter Schwarzin! Und was soll ich Ihnen darauf sagen? ... Einen zerbrochenen Topf soll man nicht kitten ... wenn er aufs Feuer kommt, geht er wieder aus dem Leim. Man muß auch ehrlich sein gegeneinander ... und Totes wird nicht wieder lebendig« ...

Die rundliche Förstersfrau machte eine wegwerfende Handbewegung. Der Ärger siegte über den anerzogenen Respekt ...

»Ah was, Herr Graf! Weshalb schlug dem Deuwel seine Großmutter ihren Enkelsohn? Weil er – entschuldigen Sie vielmals, Herr Graf – eine Dummheit begangen hatte! ... Und das mit der Ehrlichkeit, ach du mein lieber Gott? ... Eigentlich stak mir auch ein andrer im Kopf, als ich meinen Alten heiratete. Das legt sich! Jetzt heben mich schon immer die Ängste, wenn er abends mal 'ne Stunde länger als sonst im Wald bleibt« ... Sie brach ab, eine flüchtige Röte huschte über ihre Wangen, als hätte sie schon zu viel von ihrem Allereigensten hergegeben ... Wenn es wenigstens noch was geholfen hätte! Aber der junge Herr stand schweigsam, nagte mit den weißen Zähnen an der Unterlippe. Und seine Augen hingen an der Haustür, als könnte er's gar nicht mehr erwarten, daß sie sich endlich auftun würde – – –

 

Die schwarzhaarige Zofe trat auf die Schwelle: »Die jnäd'ge Frau lassen bitten« ...

Malte klappte die sporenbewehrten Hacken zusammen und zog die Weste zurecht, als wäre es ihm eine besondere Ehre. Die Frau Försterin ballte hinter ihm die Faust: o über dieses wetterwend'sche Mannsvolk! Wenn irgendwo ein paar blanke Augen lockten, da liefen sie hin, alles andre war vergessen. Aber daß es da drinnen nach dem ersten Anfang keine Fortsetzung gab, dafür wollte sie sorgen. Acht Tage, hatte der Herr Doktor gesagt, zum mindesten! Das war Unsinn ... Diese Berliner Dame hatte sich so rasch erholt, daß sie schon morgen wieder im Wagen sitzen konnte zur Rückfahrt nach Alten-Krakow. Und sie ärgerte sich, daß sie dem Herrn Grafen nicht mitgeteilt hatte, was die Apotheker-Dörthe erzählte, die alte Dorfhexe, die im Mondschein heilkräftige Kräuter suchte. Zwei hatte die gestern abend reiten sehen auf dem Krakower Weg, eine Dame in langem Kleid und einen Herrn in Uniform ... Sie sprachen laut miteinander, als stritten sie sich, aber sie hatte nicht sonderlich darauf geachtet, und die beiden ritten weiter ...

Malte stand in der niedrigen Wohnstube seines Försterhauses. Die Zofe schloß hinter ihm die Tür, ein schwerer Duft wie von fremdartigen Blumen schlug ihm entgegen. Hinter dem runden Tische auf dem braunen Ripssofa saß ein blondes Persönchen in einem kleidsamen Morgengewand aus lichter Seide und Spitzen. In einem blassen Gesicht leuchteten ein paar ganz unwahrscheinlich große blaue Augen, eine schmale, von funkelnden Ringen bedeckte Hand streckte sich ihm entgegen.

»Haben Sie Dank, Herr Graf! Innigsten Dank! ... Ich weiß alles, was Sie für mich getan haben. Der liebe Doktor hat's mir erklärt ... wenn ich noch eine halbe Stunde länger auf dem kühlen Erdboden gelegen hätte ... Lungenentzündung, aus ... erledigt, Liselottchen!«

Malte führte die kleine Hand an die Lippen.

»Das ist wohl eine Übertreibung, gnädige Frau. Die Herren Ärzte übertreiben immer ein bißchen. Damit es hinterher größer aussieht, was sie geleistet haben ... Ich bin bescheidener. Es war keine große Heldentat, Sie das kurze Endchen nach Hause zu tragen ...«

Über das schmale Gesicht huschte ein Lächeln, unter roten Lippen blitzten zwei Reihen weißer Zähne.

»Soll das heißen: den Dank, Dame, begehre ich nicht?« ...

Malte sah in einiger Verwirrung auf, das Blut schoß ihm unter die gebräunten Wangen. In dem leichten Flirt der Großstädter war er nicht genug bewandert, um eine gleich kecke Antwort zu finden. Und er erwiderte, ein wenig schwerfällig: »Sie haben sich doch schon bedankt, gnädige Frau! Viel zu überschwenglich. Wenn Sie so wollen, bedanken Sie sich bei dem Zufall, der mich den Weg entlang führte ... Und Sie sind ja, Gott sei Dank, glimpflich davongekommen. Aber der arme Gaul« ...

Sie fragte hastig: »Was ist's mit meinem Ali?« ... Da zögerte er erst ein wenig, aber sie hätte sich doch wohl nicht mit einer leeren Ausflucht begnügt ... »Der ist koppheister gegangen. Der rechte Vorderlauf gesplittert bis zum Knie – es war nichts mehr zu helfen. Wäre doch nur unnütze Quälerei gewesen ... ich hab' ihn durch meinen Förster erschießen lassen!«

Sie griff mit der Hand nach dem Herzen und lehnte sich zurück mit geschlossenen Augen. Zwei dicke Tränen lösten sich unter den dunkeln Wimpern, rollten ihr langsam über die Wangen. Malte aber empfand eine Art von Freude dabei. Wer so aufrichtig fühlte, konnte doch innerlich nicht schlecht sein ...

Frau Liselotte zog ein spitzenbesetztes Tüchlein, tupfte sich die Augen.

»Verzeihen Sie, Herr Graf, es ist mir sehr nahegegangen. Man hat nicht allzu viel Freunde, und da tut's um jeden leid, der verloren geht« ...

»Ich kann's Ihnen nachfühlen,« erwiderte er ernsthaft. »Man gewöhnt sich an so einen Kameraden!«

Danach schwiegen sie beide, es gab eine lange Pause. Ihm legte sich's unter dem schwülen Dufte in dem niedrigen Zimmer wie ein eiserner Reif um die Stirn, er wußte nicht, wie er die Unterhaltung weiterführen sollte. Die kleine Frau aber hatte in ihrem leichtbeweglichen Spatzenköpfchen ein paar ungewohnte nachdenkliche Augenblicke. Ob es nicht doch besser wäre, nach Berlin zurückzukehren? ... Ein leichtsinniger Flirt war gestern abend zu Ende gegangen ... fast bangte es ihr, einen neuen anzufangen. Der da drüben schien von einem andern Schlag. Einer, dem das Blut dick in den Adern floß, der's womöglich schwer nahm, was nur ein Zeitvertreib sein sollte, um die tödlich langweiligen Stunden zu kürzen ... Aber da war etwas, was sie unwiderstehlich lockte. Der Starke da drüben hing an einer andern. An einer, die mit dem ganzen kühlen Hochmut ihrer Kaste jeden Versuch einer Annäherung zurückgewiesen hatte ... Und die wartete nur auf seine Rückkehr. Teilte einen Korb nach dem andern aus ... Der kleine Friedeberger Dragoner hatte sie ja über den ganzen Klatsch in der Umgegend unterrichtet. Eine Bewegung fiel ihr ein, die die andre an sich hatte, immer wenn sie mit ihr sprach. Immer hob sie ein wenig den Rocksaum an, wenn sie einander im Schlosse oder Parke begegneten ... Eine ganz kurze Bewegung war es nur, aber sie markierte deutlich den Abstand: ich bin eine makellose Frau, der niemand was nachsagen kann ... O wie sie sie haßte! ... Und endlich bot sich ein günstiger Zufall, all die Demütigungen heimzuzahlen. Nur mußte man den jungen Riesen da auf eine besondere Art anfassen. Schon unter dem ersten leichtfertigen Wort war er scheu geworden ...

Frau Liselotte richtete sich aus der schmerzlichen Versunkenheit wieder auf, fuhr leicht mit der Hand über die Stirn.

»Was ist das Leben, mein lieber Herr Graf? Eine einzige Reihe von Verlusten! Schließlich steht man ganz allein ... fragt sich, was hat das alles für einen Zweck?«

Er widersprach. Im Innersten erleichtert, daß das bedrückende Schweigen ein Ende hatte.

»Nun, gnädige Frau, Sie haben doch Ihren Gatten ... Ihre Eltern« ...

Sie schlug die langbewimperten Augen auf, sah ihn voll an.

»Ich meine die innerliche Einsamkeit. Tausend Menschen können um einen sein, man ist doch allein. Und da empfindet man eines Tages einen Ekel vor dem Getriebe ringsum. Man geht fort, sucht etwas andres. Etwas Ursprüngliches, wo nicht geheuchelt wird, nicht gelogen noch betrogen ... Meine Bekannten in Berlin wundern sich, daß ich als geborene Großstädterin mir keine andre Zerstreuung weiß, als hier durch die weiten Wälder zu streifen und mit mir allein zu sein. Auf die Frage weiß ich keine Antwort, zucke mit den Achseln. Was soll ich ihnen erklären? Daß ich hier ganz still und zufrieden bin? ... Durch einen Zufall habe ich diesen gesegneten Fleck Erde hier kennen gelernt. Ich gedenke nicht, mich so bald von ihm zu trennen« ...

Malte wollte irgend etwas antworten, aber alles, was sich ihm in Gedanken formte, war banal. Da schwieg er lieber. Aber ein heiliger Zorn stieg ihm auf gegen alle, die dieser reinen Frau Schlechtes nachsagten. Und weshalb? Nur, weil sie sich absonderte und anders war als die übrigen ... Geradezu frevelhaft jedoch erschien es ihm, sie mit dem Panschenhagener Zweitgeborenen in Verbindung zu bringen. Einem widerwärtigen verlebten Burschen, der wie ein Halbaffe aussah, in eine bunte Jacke gesteckt ... Und der hätte sich weiden dürfen an all den Herrlichkeiten da drüben, an dieser holdseligen Verkörperung aller Keuschheit und Reinheit? Ein Verbrechen war es, so etwas nur zu denken! ...

Frau Liselotte fing wieder an zu sprechen. Fast als hätte sie erraten, was ihn in seinem Innersten bewegte ... in ihrem feinen Stimmchen war ein bitterer Klang.

»Natürlich sucht man hinter dieser Flucht in die Einsamkeit etwas andres. Aber ich lasse mich nicht anfechten. Wenn die Menschen lange genug geredet haben, hören sie von selbst auf. Unsereins hat dafür die Genugtuung, sie so recht von Herzens Grund zu verachten!« ...

Malte verneigte sich zustimmend. Er entsann sich, daß er ähnliches gedacht hatte, vor jenen langen zwei Jahren, ehe ihn das Urteil der andern in die Fremde trieb ... Aber zu dieser Verachtung mußte man stark sein und ohne Makel. Nicht im Innersten immer von dem quälenden Bewußtsein geschlagen, die andern haben ja recht ...

Es klopfte an der Tür, die Frau Förster steckte den Kopf herein.

»Entschuldigung, Herr Graf, wenn ich störe. Mein Mann ist eben zurückgekommen. Und denn – möchte ich gehorsamst bemerken – der Herr Doktor hat mir eingeschärft, die gnädige Frau soll sich ganz ruhig verhalten. Wenn er heute nachmittag wiederkommt und findet sie schlechter ... Wer kriegt die Vorwürfe? ... Ich!«

Malte war aufgestanden. Sein Besuch hatte nicht lange gedauert, aber es war ihm recht so. Seiner Höflichkeitspflicht hatte er genügt, es war Zeit, daß er die Flucht ergriff. Von der zierlichen kleinen Frau ging ein ganz unsagbarer Zauber aus ... er fühlte es deutlich: wenn er noch länger in ihrer Nähe blieb, war er ihr ohne Rettung verfallen ... Und was frommte es, sich das Herz mit einer hoffnungslosen Leidenschaft zu beschweren? ...

Frau Liselotte legte, ein wenig schmollend, den mit dicken blonden Flechten beschwerten Kopf auf die Schulter. Die Bewegung stand ihr reizend.

»Es ist schrecklich, wenn man so tyrannisiert wird! Aber sie hat leider recht, die liebe Frau Försterin ... Nun denn: auf Wiedersehen! Hoffentlich recht bald!« ... Sie streckte ihm über den Tisch hinweg die schmale ringgeschmückte Hand entgegen. Er verneigte sich, unterließ es aber, die Hand an die Lippen zu führen.

»Jedenfalls wünsche ich herzlich auch weiter gute Besserung!« Damit hatte er nichts versprochen ... Und als er wieder auf dem sandbestreuten Gartenwege stand, atmete er auf. Der Besuch da eben mußte sein letzter gewesen sein ...

Der Förster Schwarz nahm die Hacken zusammen: »Herr Graf haben befohlen?«

»Ja richtig! Nehmen Sie sich ein paar handfeste Leute und sorgen Sie dafür, daß der Verwalter Bergemann sofort meinen Hof verläßt. Ich habe ihm wegen Untreue und Gehorsamsverweigerung ohne Frist gekündigt.«

Über das rotgebrannte Gesicht des alten Weidmanns flog ein heller Schein.

»Und das von Rechts wegen, Herr Graf! Bloß diesen Dachs hätt' man schon früher ausräuchern müssen. Ehe er so viel Speck und Feist angesetzt hatte unter seiner dicken Schwarte« ...

Malte schwang sich in den Sattel, um nach Hohenrömnitz zu reiten. Als er den Gaul zur Straße wandte, glaubte er hinter den weißgestärkten Fenstervorhängen ein feines Gesichtchen zu erblicken mit dicken blonden Flechten darüber. Vielleicht war es auch nur eine Täuschung ... er wandte sich nicht um, das hier mußte ein Ende haben! Eigentlich hatte es ja noch gar nicht angefangen, aber welcher Narr rannte wohl mit sehenden Augen in eine Gefahr, nachdem er sie erkannt hatte? ... Und sollte es noch mehr solcher Nächte geben, in denen man sich ruhelos von einer Seite auf die andre warf, von Selbstvorwürfen und begehrlichen Gedanken geplagt? ... Gedanken, die zudem nutzlos waren, denn die kleine Frau in ihrer kühlen Reinheit ging ohne Anfechtungen ihren Weg ... Ein paar blaßblaue Augen sah er vor sich in einem fettigen Gesicht, die ihn, keine Stunde war es her, mit scheuer Bitte angeblickt hatten. Da nickte er nur: kannst ganz ruhig sein, es geschieht dir nichts ...

 

Die weißrote Fahne auf dem Turm der Hohenrömnitz hing schlaff an der Stange herab, kein Lüftchen regte sich, die Frühlingssonne schien warm. Den Schnee hatte sie schon längst aufgezehrt, nur ein feuchter Glanz lag noch über den grünenden Saaten und den bräunlich schimmernden Wiesen. Der Bach, dessen Quelle im Schloßbrunnen entsprang, rann geschwätzig neben dem Wege zu Tal. Gelbe Blumen blühten an seinem Rand, das Volk der Stare stelzte dazwischen, suchte emsig nach dem täglichen Brot. Der Frühling war ein gar freigebiger Herr und reich gedeckt sein Tisch ...

Malte ließ seinen Gaul in Schritt fallen, es ging bergan. Und etwas von der alten Beklommenheit überkam ihn, wie früher immer, wenn ihn eine lästige Pflicht nach dem Hause des Oheims geführt hatte. Wenn er sich's recht überlegte, war die Unterredung nutzlos. Sein Schicksal ging auch ohne sie seinen vorgeschriebenen Gang, heftige Worte konnten daran nichts ändern. Und alles übrige war auch durch einen Anwalt zu besorgen. Dem mußte sich der Herr Erblandmarschall ja ebenso stellen wie ihm auf die Frage, wo die Einkünfte von Vellahn geblieben waren ...

Weit hinten im Park vor der Gartenterrasse waren ein paar bunte Farbenflecke. Er sah schärfer hin ... eine ganze Gesellschaft war es, die sich dort im Sonnenschein erging. Eine Dame mit einem leuchtendroten Schal um die Schultern wurde von einem Diener im Rollstuhl gefahren, ein Herr in hellem Anzüge schritt daneben, hielt mit einem Schirm die allzu grellen Sonnenstrahlen fern. Voran gingen zwei andre Damen in bunten Frühjahrskleidern, die eine davon fett und rund, die andre schlank und hochgewachsen. Ein schwarzbärtiger kleiner Kerl daneben, der einen dicken Mops im Arme trug ... Malte lachte kurz auf: eine Idylle! Der Herr Erblandmarschall im Kreise seiner neugegründeten Familie. Und alles seliger Hoffnungen voll, wie rings die liebe Natur im Frühling ... Als wenn kein böser Frost mehr kommen konnte über Nacht, in dem manch zartes Pflänzlein welkte ...

Da stieg ihm ein grimmiger Zorn empor: die andern da wandelten lachend im Sonnenschein, er aber ritt hier in finstern Sorgen und Gedanken. Mußte als ein Bettler abziehen, verhöhnt und ausgelacht, in der Hohenrömnitzer Wiege lag ein Eindringling. Schlug die Augen auf, und alles rings um ihn war sein ... Der Haß packte ihn an und schüttelte ihn, rote Flammen brannten vor seinem Gesicht ... Wenn er jetzt dem Gaul die Sporen einsetzte und über die Parkmauer flog ... Das Volk da vor der Terrasse stob auseinander, er aber richtete sich im Sattel auf: »Holla, hier bin ich! Und freut euch nur nicht zu früh« ... Aber das war natürlich Unsinn ... die Zeiten, in denen man mit gepanzerter Faust dazwischengriff und das Messer am rechten Ende packte, waren vorüber ...

Der Kerl, der ihm an der säulengetragenen Freitreppe den Gaul abnahm, sah geradezu lächerlich aus in der Hohenrömnitzer Livree. Ein brauner Knirps, der den Arm recken mußte, damit er in den Zügel langte. Früher hatte hier ein blonder Schlagetot gestanden, der schweigend sein Amt übte. Der kleine Affe da aber sprudelte mit raschen Bewegungen kauderwälsche Worte. Wohin er den »Cavallo« führen sollte, war ungefähr der Sinn. Malte nahm ihn ins Genick, pflanzte ihn auf den Boden: »Hier bleibst du stehen mit dem »Cavallo«, mein Sohn, ich gedenke mich nicht lange aufzuhalten!« Das schien er zu begreifen ...

Auf der Vordiele empfing ihn ein ähnlicher kleiner Kerl, nur war die Verständigung leichter. Mit der höheren Verantwortung wuchs anscheinend die Kenntnis des Deutschen. Wen er anzumelden die Ehre hätte, fragte er. Malte griff in die Tasche seines Reitrockes, von früher her steckten noch ein paar Visitenkarten darin. Nur der »Leutnant der Reserve« stimmte nicht mehr, aber das war wohl gleichgültig ...

»Da, mein Sohn, aber ich hab' es ein bißchen eilig!«

Der Kleine verschwand mit einer Verneigung, und wie immer dauerte es eine endlose Weile, bis der Bescheid zurückkam. Diesmal aber lautete er ein wenig unerwartet. Seine Exzellenz bedauerten sehr. Wann sie zu sprechen wären, würden sie dem Herrn schriftlich mitteilen.

Malte lachte ingrimmig auf.

»Ah nee, min Jung, dat göfft' hier nicht! De Moden wölln wi nich inföhren!« Er schob den Kleinen mit einer Handbewegung zur Seite, ging durch die Halbdunkeln Prunkgemächer, den langen Korridor entlang, in dem die eisernen Rüstungen standen unter den zahllosen Hirschgeweihen an der Wand. Mitten auf dem Wege begegnete ihm der alte Kammerdiener Paalzow, das letzte Überbleibsel aus früherer Zeit. Erhob die zittrigen Hände ...

»Um Gottes willen, Herr Graf, da draußen hat es eine Ohnmacht gegeben. Ihre Exzellenz die Frau Erblandmarschall haben sich über die plötzliche Meldung so erschrocken, und da sind Seine Exzellenz natürlich um sie bemüht« ...

Malte legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ach nee, Paalzow, sprechen Sie noch Deutsch? Ich wundere mich zu Tode! Na denn grüßen Sie meinen Onkel recht schön, wenn die Ohnmacht meiner neuen Frau Tante vorüber wäre, möchte er sich in sein Schreibzimmer bemühen. Da warte ich auf ihn. Sonst bin ich gegen Damen rücksichtsvoll, aber diesmal ermangle ich des Zartgefühls. Meine Angelegenheiten sind wichtiger!«

Der Alte knickte zusammen, hob die Augen gen Himmel, als wenn er mancherlei auf dem Herzen hätte. Dann aber nickte er, ging langsam zur Gartenterrasse zurück. Malte trat in das eichengetäfelte Zimmer, in dem die alten Römnitze hingen, die sich im Laufe der Jahrhunderte durch irgendeine Großtat aus der Menge der übrigen gehoben hatten. Und eine seltsame Laune trieb ihn, sich unter das Bildnis seines ersten Vorfahren zu stellen, an den Platz, auf dem sonst immer der andre stand, wenn es sich um wichtige Entscheidungen handelte. Der guten Vorbedeutung halber ...

Wohl eine halbe Stunde war vergangen, bis sich endlich die Tür auftat. Der Erblandmarschall trat über die Schwelle. Und Malte mußte bei allem bangen Ernst fast auflachen, so hatte der alte Herr sich verändert. Die langen grauen Predigerlocken waren gefallen, das Haar starrte in kurzen Borsten um den eckigen Kopf, wie bei einem Kavallerieleutnant, der sich mit dem Handtuch kämmte, und – wahrhaftig – einen kohlrabenschwarzen Schnurrbart hatte sich der Herr Onkel wachsen lassen! Das Lächerlichste aber war der modische helle Anzug mit einer Blume im Knopfloche ... na ja, wenn man mit siebzig Jahren noch eine junge Frau genommen hatte ...

Der Erblandmarschall runzelte die Stirn.

»Mein Anblick scheint deine Lachlust herauszufordern?«

Malte verneigte sich knapp.

»Ich habe keinen Grund, aus Höflichkeit zu lügen. In meinem Gedächtnis stehst du wie ein alter Konsistorialrat, und da fand ich es komisch, daß du dich so verändert hast. Aber wir wollen uns nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten. Ich bin gekommen, um ein paar kurze Fragen an dich zu richten, zu denen ich nach Gesetz und Recht befugt bin.«

Der Erblandmarschall neigte den kurzgeschorenen Kopf.

»Ich bin zu deiner Verfügung. Aber möchtest du nicht lieber?« ... Und er machte eine einladende Handbewegung nach einem der breiten Ledersessel in der Mitte des Zimmers.

»Danke verbindlichst«, sagte Malte mit einem Lächeln, »ich stehe hier recht gut. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal im Leben Gelegenheit haben werde, unter den Augen meines ersten Ahnherrn um mein Recht zu fechten ... Also erstens einmal: du hast nach dem Tode deiner ersten Frau wieder geheiratet, Onkel Christoph. Dazu bedurftest du keines Menschen Zustimmung. Ich aber habe das Recht zu der Frage, ob diese Ehe unserm Hausgesetze entspricht. In Ansehung der Deszendenz nämlich, die du etwa zu erwarten hättest« ...

Der hagere alte Herr richtete sich auf, schob zwei Finger der Rechten in die diskret gemusterte Seidenweste.

»Meine Frau ist eine geborene Komtesse Roccabruna. Ihr Adel ist so alt und rein wie der meinige. Die Dokumente darüber kannst du einsehen, sie liegen im Hausarchiv.«

»Sehr wohl, Onkel Christoph, ich werde sie durch meinen Rechtsbeistand sorgfältig prüfen lassen. Aber da ist noch etwas andres dabei, was mir soeben erst eingefallen ist. Den Wortlaut des alten Pergamentes, das in der Hohenrömnitz die Erbfolge regelt, habe ich nicht genau mehr im Kopfe, ich habe in den Papieren meines Vaters nur mal eine Abschrift gelesen. Aber ich entsinne mich dunkel, da ist des öfteren das Wort »mecklenbörgisch« vorgekommen. Ich vermute, vielleicht nicht mit Unrecht, es bezieht sich darauf, daß auch die Ehefrau des Hohenrömnitzer Herrn aus hiesigem, angesessenem Adel stammen soll.«

Der Erblandmarschall machte eine rasche Bewegung, die mit seinem sonst so gemessenen Wesen in merkwürdigem Widerspruche stand.

»Das ist ein Irrtum. Davon ist in der Urkunde nicht die Rede. Wenn du willst, kannst du dich im Archiv sofort davon überzeugen« ...

Malte schüttelte den Kopf.

»Ich danke. Zu Hause habe ich ja eine Abschrift. Ich werde ihren Wortlaut ebenfalls durch meinen Rechtsbeistand prüfen lassen. Und nun zu einer andern Abrechnung.«

Der ältere Graf Römnitz hob die gepflegte Hand.

»Einen Augenblick noch! Du gebrauchst hier immer das Wort »Rechtsbeistand«. Soll das heißen, daß du mit mir einen Prozeß anzufangen gedenkst?«

Der Jüngere zuckte mit den Achseln.

»Das wird von den Umständen abhängen. Nach allem, was ich gehört habe, wird sich's ja bald entscheiden, ob hier in dem alten Hause der künftige Erbe zur Welt kommt oder ein unbeträchtliches Komteßlein, das mich nichts angeht. In diesem Falle hätte ich natürlich keinen Grund, mich irgendwie zu strapazieren. Dann sitze ich ruhig in Vellahn und warte, bis meine Zeit kommt.«

»Sonst aber würdest du dich nicht scheuen, meinen guten Namen durch die schmutzigen Gossen eines Skandalprozesses zu schleifen?« Der Erblandmarschall richtete sich zornig auf, die Erregung trieb ihm das Blut in die hagern Wangen. Malte aber sah ihm fest in die Augen.

»Der Name ist auch der meinige, Onkel Christoph. Aber du selbst hast es dir zuzuschreiben, wenn ich alles, was du tust, mit Mißtrauen aufnehme. Wäre an deiner Stelle ein andrer, würde ich mich still fügen ... gut ... das Schicksal hätte gegen mich entschieden. Bei dir muß ich immer denken, du wärest imstande, dem Schicksal im entscheidenden Augenblicke nachzuhelfen, wenn es nicht so läuft, wie du willst.«

In den Augen des Älteren sprühte es auf.

»Das ist heller Wahnwitz. Törichte Faseleien eines unreifen, schlecht erzogenen Knaben« ...

Malte trat einen Schritt näher. Je mehr der andre sich erregte, desto kühler wurde er selbst.

»Onkel Christoph, es dürfte sich empfehlen, die Worte ein wenig mehr zu wägen, ehe du sie aussprichst. Einmal habe ich mich schon in schwere Ungelegenheiten gebracht, weil ich vor weißen Haaren zu viel Respekt hatte. Von diesem Fehler bin ich kuriert. Und nun sprich weiter!« ...

Der Erblandmarschall machte eine wegwerfende Handbewegung, ging zum Fenster und sah in den sonnenbeschienenen Park hinaus.

»Es ist genug. Schick deinen Anwalt her, er wird alle dir zustehenden Auskünfte erhalten.«

Malte verneigte sich spöttisch.

»Ich werde mir erlauben, ihn zu begleiten. Auch aus Mißtrauen. Aber du mußt schon entschuldigen, ich habe noch mehr auf dem Herzen ... Du sagtest eben, ich wäre schlecht erzogen. Darf ich dagegen fragen, wer seit meinem zwölften Jahre meine Erziehung geleitet hat?«

Der Erblandmarschall wandte den Kopf über die Schulter.

»Ich habe an dir stets meine Pflicht getan. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!«

»Ah nein, Onkel Christoph!«

Malte ging auf ihn zu, und der Haß übermannte ihn plötzlich, daß er hervorsprudelte, was sich in ihm angesammelt hatte in dieser Zeit. Wahres und vielleicht Falsches, Bewiesenes und etliches, was so ungeheuerlich war, daß man selbst in Gedanken davor zurückschreckte ...

»Du hast mich gehaßt von meinem ersten Atemzuge an. Niemals habe ich von dir auch nur einen Hauch Liebe erfahren, ein Eindringling war ich dir immer, der nach einem Platze langte, den du für einen andern bestimmt hattest. Für einen, der dir näher stand. Aber der kam nicht. Und ich tat dir nicht den Gefallen, das Genick zu brechen. Mich kalt aus dem Weg schaffen zu lassen, fehlte dir wohl der letzte Mut ... Du wolltest mich anders verderben! Entsinnst du dich vielleicht noch eines rothaarigen kleinen Theologiekandidaten, der das linke Bein nachschleppte? ... Der hat mich – es ist noch gar nicht so lange her – darüber aufgeklärt, nach welchen Grundsätzen ich deiner Weisung nach erzogen werden sollte. Ein verbummelter Lump sollte ich werden, der in irgendein Moderloch geriet, um als ein Unwürdiger der Nachfolge verlustig zu gehen! Das heißt, so offen hast du das natürlich nicht ausgesprochen, als heiliger Mann und Vorsitzender des Konsistoriums ... Der Rothaarige aber verstand dich. Nur dauerte ich ihn, und da erzog er mich auf seine Art. Es ist mir zum Guten ausgeschlagen, ohne etliche seiner Lehren hätte ich dir schon längst den Gefallen getan, mich selbst aus dem Wege zu räumen. Jetzt aber lebe ich noch, sogar zwei Jahre Afrika habe ich überstanden und – wenn Gott mir weiter hilft – gedenke ich dir das Leben herzlich sauer zu machen!« Er hielt erschöpft inne, trat wieder auf seinen Platz zurück.

Der Erblandmarschall hatte schweigend dagestanden. Jetzt wandte er sich um, stützte die langen Arme rückwärts auf das Fensterbrett. In seinen hellblauen Augen mit den dicken Wülsten darunter stand ein kalter Schein.

»Bist du fertig, ja? ... Nun denn – es ist wohl das letztemal, daß wir uns sehen, da möchte ich dir auch einiges zum Abschied sagen ... In einem hast du recht, geliebt habe ich dich niemals. Ich hatte keine Veranlassung dazu. Was in mir von Liebe war, hatte eine ertötet. Durch schnöden Treubruch. Vielleicht hat dir dein Vater erzählt, daß deine Mutter meine heimlich Verlobte war. Bis er dazwischentrat ... es ist gut, es hellt sich alles aus. Vielleicht hielt mich eins nur aufrecht damals, ihm auch nicht den andern Platz noch zu räumen. Die Herrschaft hier, die er mir nicht nehmen konnte, solange ich lebte ... Ich führte ein Weib heim, meine Ehe blieb kinderlos, ihm wuchs ein Erbe heran, der meinige zugleich. Ich mußte mich fügen ... Gott hielt schwer seine Hand über mir ... Als du in meine Obhut kamst, tat ich meine Pflicht, du warst immerhin aus dem Blute meines Vaters. Die andern, die da in der Mark warten, sind Fremde, von unserm Geschlecht durch Jahrhunderte geschieden. Und zuweilen« – der alte Herr fuhr sich mit der gepflegten Hand über die Augen – »zuweilen empfand ich etwas Seltsames für dich. Etwas, das sich schwer in Worte fassen läßt ... Du warst von dem Fleisch und Blut der einen, die meine Liebe verraten hatte ... Das war immerhin ein Band ... Aber da kam der Tag, an dem du hier vor mir standst, du vermessener Knabe, und mich als ein Nichts behandeltest. Mein Andenken auslöschen wolltest, wenn du einmal in Hohenrömnitz der Herr wärest! Da habe ich mich hier in diesem Zimmer auf die Knie geworfen und geschrien: Herr, hilf! Herr, hilf, daß dieser Nichtswürdige zuschanden wird! ... Und von da an wandte sich mein Schicksal ... der Schoß meines jungen Weibes ist gesegnet, und ich vertraue dem Höchsten, der mich so weit geführt hat: er wird mir den Erben schenken aus meinem eigenen Blut. Wenn ich dereinst mich zur ewigen Ruhe begebe, nehme ich den Trost mit, hier auf der Hohenrömnitz herrscht mein Sohn!« ...

Malte lachte kurz auf.

»Bist du fertig, Onkel Christoph ... ja? Nun denn, laß dir sagen, was du mir eben erzählt hast, war Historie, wie sie ungefähr in unsern Volksschulen gelehrt wird. Der Erzieher, den du mir aussuchtest, hat mir den Blick dafür geschärft. Und jetzt frage ich dich: wo ist mein Vermögen geblieben unter deiner Verwaltung? Weshalb hast du mir es unterschlagen, frage ich dich? ... Und weshalb hast du dir in diesen letzten zwei Jahren das Recht angemaßt, über mein Hab und Gut zu verfügen? über das letzte bißchen, was ich jetzt brauche wie ein Stück Brot?«

Der Erblandmarschall tat ein paar Schritte vorwärts, drückte auf eine Klingel, die auf dem Schreibtische stand.

»Jetzt ist es genug! Einem Tollhäusler, wie sich's gehört. Ich habe keine Lust, mich in dem Hause hier, solange es noch mir gehört, schmähen und nichtswürdiger Vergehen beschuldigen zu lassen?«

In den Augen des Jüngeren blitzte es unheilkündend auf.

»Lieber Onkel, es könnte umgekehrt kommen. Ich glaube, ich bin stark genug, all dein welsches Gesindel da einen Stock tief durchs Fenster zu befördern. Und dich voran. Ich spüre ein seltsames Gelüsten, dich so zu beschimpfen, daß du dich mir morgen früh stellen müßtest als ein Edelmann dem andern! Der Ausgang dieser betrüblichen Affäre ... nun, ich will nicht prahlen, aber vielleicht liegt's dir daran, dich deiner lieben Familie noch ein Weilchen länger zu erhalten« ...

Der Kammerdiener Paalzow erschien in der Tür: »Exzellenz befehlen?« ...

Der Erblandmarschall stand da, vor Zorn und Ingrimm keines Wortes mächtig. Malte winkte lächelnd mit der Hand. »Es ist gut, Sie können wieder gehen. Mein Onkel hat nur aus Versehen die Glocke berührt!«

Der Alte zog sich wieder zurück mit verwundertem Kopfschütteln, der Erblandmarschall ließ sich in den nächsten Stuhl fallen. Er krampfte die magern Hände ineinander und dämpfte mühsam seinen kochenden Zorn.

»Ich hätte daran denken sollen, daß du der Sohn deines Vaters bist. Sein Blut verleugnet sich nicht, er schreckte auch nicht vor dem Letzten zurück ... Also was willst du nun von mir? Vor Wochen schon, als mir deine bevorstehende Rückkehr angekündigt wurde, machte ich mich auf irgendeine Art von Nötigung gefaßt ...

Malte zuckte mit den Achseln.

»Bei mir ist's verraucht, Onkel Christoph, ich will deine Worte nicht auf die Wage legen. Ich verlange nichts weiter als mein Recht. Nach dem Berichte meines soeben entlassenen Verwalters Bergemann hast du den Überschuß der letzten zwei Jahre dazu verwandt, auf meinem Gute Vellahn unnötige Verbesserungen vorzunehmen. Ich stehe wie ein Bettler da, wenn ich hier den Platz räumen muß« ... Er brach ab und sah mit schwimmenden Augen ins Leere. Der andre aber ersah behend seinen Vorteil ...

»Lieber Malte,« sagte er und bemühte sich, seiner Stimme einen milden Klang zu geben, »es sind böse Worte gefallen zwischen uns ... die Erregung entschuldigt vieles, aber du selbst hast ja eben schon wieder eingelenkt. Und auf deine Fragen will ich dir Antwort geben, ich habe nichts zu verbergen, meine Hände sind rein. In der Zeit, als du noch nicht mündig warst, habe ich die Vellahner Abrechnungen dem Obervormundschaftsgericht vorgelegt, mir für jeden Pfennig die Billigung dieser Behörde eingeholt. Ebenso war es auch jetzt. Du warst fluchtähnlich davongefahren, ich bin dein Lehnsherr immer noch, es war meine Pflicht, auf dem verlassenen Gute nach dem Rechten zu sehen. Und da fand ich arge Mißstände vor. Ehe ich aber an ihre Beseitigung ging, holte ich ebenfalls ein Gutachten der zuständigen Behörde ein ... ich sah gewissermaßen eine Szene wie die hier jetzt eben voraus« ...

»Du warst sehr vorsichtig, lieber Onkel,« warf Malte bitter ein.

»Ah nein,« erwiderte der Erblandmarschall, »in dem Bewußtsein meiner Verantwortlichkeit tat ich nichts als meine strenge Pflicht gegen das mir anvertraute Gut. In einem aber« – er hob unwillkürlich seine Stimme – »befleißigte ich mich der Vorsicht, die du eben an mir rühmtest: beim Abschluß meiner Ehe! Da erwog ich sorgfältig auch das Letzte, weil ich Anfechtungen voraussah. Und nun kann ich dir zum Abschied nur den einen Rat geben: spar Zeit und Mühe und Geld. Meine Verwaltung des Lehnsgutes Vellahn steht ebenso unantastbar da wie die Rechtsgültigkeit meiner Ehe.«

Malte warf den Kopf in den Nacken zurück.

»Ich verstehe, Onkel Christoph! Wie hatte ich auch glauben können, du wärest imstande, irgendeinen unüberlegten Schritt zu tun! Besonders mit meinem Gelde hast du es dir ganz vortrefflich überlegt: wer kein Geld hat, kann keine Prozesse führen, namentlich nicht, wenn es um einen Streitgegenstand geht wie die Hohenrömnitz! Beim ersten Termin schon wären meine paar Groschen zu Ende. Also gehab dich wohl, ich reite nach Vellahn zurück. In ein paar kurzen Wochen wird sich alles entscheiden« ... Er wandte sich zur Tür, doch eine Handbewegung des andern ließ ihn innehalten. Der Erblandmarschall erhob seine hagere Gestalt aus dem breiten Ledersessel, ging ihm ein paar Schritte nach.

»Einen Augenblick noch, lieber Neffe ... vielleicht hatte diese so heftige Auseinandersetzung auch ihr Gutes. Du sagtest eben, in ein paar kurzen Wochen wird sich alles entscheiden. Ich vertraue Gott dem Allmächtigen, der mich bis hierher geführt hat, er wird seine gnadenspendende Hand nicht abziehen von mir bis zuletzt. Wer seine Wege sind unerforschlich, vielleicht hat er seinem demütigen Knechte noch eine neue Prüfung aufgespart – die schwerste von allen – ... Und da möchte ich dir einen billigen Ausgleich vorschlagen.«

Malte wandte sich überrascht zurück.

»Du mir, Onkel Christoph?«

»Jawohl, denn du dauerst mich trotz deiner Verblendung. Und hör mir gut zu, ich werde mich kurz fassen« ... Der Erblandmarschall wog jedes Wort, ehe er's aussprach ... »Die Hohenrömnitz vererbte sich bisher nur im Mannesstamme. Aber solche Bestimmungen können geändert werden mit Einwilligung aller Beteiligten. Die Herren von Römnitz im Märkischen sind mit Geld abzufinden. Dir biete ich einen andern Preis: das Lehnsgut Vellahn für dich und deine Nachkommen für alle Zeiten! Du brauchst nur zuzustimmen, daß die Hohenrömnitz sich fortan auch nach der Kunkel vererbt ... Daß ich meinen Besitz hinterlassen kann, wem ich will, auch wenn mir jetzt eine Tochter geboren wird?« ...

Malte stand eine kurze Weile überlegend. Das war ein Angebot, das er nicht erwartet hatte ... Eine Sicherheit gegen jeden Wechsel des Schicksals ... Wie es auch kam, er war geborgen ... Geborgen vor aller Sorge um das bißchen Notdurft und Nahrung ... Als ein behäbiger Herr konnte er sich aufbauen auf kleinem, aber sicherem Besitz ...

»Überleg nicht lange,« drängte der andre, »sonst könnte mich vielleicht wieder gereuen, was ich dir eben geboten habe, wie ... wie unter dem Drange einer höheren Eingebung, möchte ich sagen! Es ist ehrlich und christlich, gibt jedem sein Teil ... Komm, wir rufen die Zeugen herbei und beschwören es über dem Schwertknauf nach altem Brauch ... Die Urkunde kann später ausgefertigt werden« ...

Malte blickte auf, zu rasch vielleicht, sonst wäre ihm der seltsam gespannte Ausdruck in den Augen des Älteren entgangen. Er trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf.

»Nein, Onkel Christoph, ich lehne ab. Weil du es mir bietest. Bei einem andern hätte ich's mir reiflich überlegt und vielleicht zugestimmt. Bei dir versehe ich mich irgend einer Heimtücke, die dahinter lauert, und lehne ab.«

»Du bist zu Unrecht verbittert,« sagte der Erblandmarschall, »ich will dir die neue Kränkung nicht anrechnen und lege sie zu dem übrigen. Aber bedenke wohl, Gott der Herr sieht auf uns herab! Vielleicht streckt er in diesem Augenblicke die Hand aus nach dem Zünglein der Wage und lenkt es auf die rechte Seite« ...

Malte zuckte mit den Achseln.

»Onkel Christoph, du stehst dich mit ihm besser – vielleicht tut er dir den Gefallen. Vielleicht sagt er sich aber auch, ›dieser Kerl von Erblandmarschall strapaziert mich bei jedem unbeträchtlichen Quark, ich will zur Abwechslung mal dem andern helfen. Der hat mir noch nie mit seinen Sorgen die Ohren vollgequengelt!‹ ... Also unsre Chancen sind so ziemlich gleich. Ich will die meinige ruhig abwarten.«

»Du willst es dir nicht noch einmal überlegen?«

»Nein, lieber Onkel.«

»Das ist dein letztes Wort?«

»Mein letztes. Alles oder gar nichts! Dein Drängen aber bestärkt mich in dem Glauben, daß hier doch wohl alles nicht so in Ordnung ist, wie du sagtest. Nun, das wird sich ja bei näherer Prüfung herausstellen« ...

Der Erblandmarschall straffte seine hagere Gestalt.

»Ich biete dir eine Wohltat, nach der jeder andre in deiner Lage mit beiden Händen greifen würde – du antwortest mir mit einer Beschimpfung. Es ist genug, Gott der Herr wird zwischen uns entscheiden! Eins aber wisse« – er trat einen Schritt näher und hob die Hand wie zum Schwur – »wenn er mir beisteht, werde ich kein Mitleid kennen. Dann kannst du vor meiner Schwelle im Elend verkommen, ich werde nicht den Finger rühren, dir zu helfen!«

Malte lachte kurz auf.

»Gott sei Dank, lieber Onkel, jetzt sind wir uns wenigstens wieder einig! Verlaß dich drauf: wenn ich hier mal was zu sagen habe, werde ich mit der fremden Sippschaft da draußen auch nicht viel Federlesens machen!« Er wandte sich ab, schritt sporenklirrend zur Tür hinaus. Der andre aber sah ihm mit haßerfüllten Augen nach ... es gab Krieg, Geschrei in allen Gassen ... Er mußte vor strengen Richtern Rede und Antwort stehen. Nicht nur hier in der Heimat, wo sein Ansehen übermächtig war, sondern auch in der Fremde, wo er nur einer war unter vielen ... unter vielen, denen da Recht gesprochen wurde, ohne Ansehung der Person ... Und in einem hatte der Verhaßte richtig vermutet: ein einziges kurzes Wort hatte er bei allem kühlen Abwägen übersehen, als er sich entschloß, eine neue Ehe einzugehen! Ein einziges Wort nur, aber es wog so schwer, daß darum diese Ehe nicht mehr galt, als hätte er sie mit irgendeiner Scharwerksdirne geschlossen ... In der Abschrift, die ihm sein Bibliothekar nach Mailand schickte damals, hatte es nicht gestanden, als er aber nach der Heimkehr das Archiv öffnete und die alte Urkunde hervorholte, war es da. Grinste ihn höhnisch an ... Ein paar Buchstaben waren es nur in der verschnörkelten Mönchsschrift des sechzehnten Jahrhunderts auf festem Pergament ... Und da kam ein Tag ... Seine junge Gattin flüsterte ihm in vertrauter Stunde ins Ohr, daß sich unter ihrem Herzen eine frohe Hoffnung regte ... Da wurde ein Aufrechter, der sich bis dahin keines Makels zeihen durste, zum Fälscher ... aus Haß ... In Sampierdarena, einem kleinen oberitalienischen Städtchen, lebte ein gar geschickter Mann, der nicht nur alte Tizians und Tintorettos herstellte, sondern auch die dazu gehörigen Urkunden für die kauflustigen Amerikaner, die solche Schätze in weltentlegenen Dorfkirchen aufstöberten ... Der Conte Roccabruna hatte von ihm gehört und übernahm die Besorgung ... Als er zurückkehrte, stand an der verhängnisvollen Stelle ein ungefährliches Wort, eine Vorschrift, die von jedem Frauenzimmer zu erfüllen war ... Eine »mecklenbörgisch Jungfrouw« nur durfte der Herr der Hohenrömnitz freien, daraus war eine »tugendhafte« geworden ... so geschickt war die Arbeit, daß man selbst mit einem starken Vergrößerungsglase keine verräterische Spur zu bemerken vermochte ... Und ebenso leicht war das übrige auszuführen ... Zwei Abschriften gab es nur von der alten Urkunde, in Vellahn und bei dem Moltzahner Notar ... Der Justizrat Stahmer war gestorben, sein junger Nachfolger gab bereitwillig die Akten heraus, als man ihm den verlockenden Antrag machte, Rechtsvertreter der Herrschaft Hohenrömnitz zu werden. Und nicht schwerer war es mit der andern Abschrift ... Man fuhr nach Vellahn hinüber, der Alte da, der das verlassene Schlößchen hütete, hatte keinen Argwohn ... Man beschäftigte ihn unauffällig unten auf der Diele, indessen oben der andre in sorglos aufbewahrten Papieren suchte – schimpflich war es, sich so zu erniedrigen! ... Und nur eine Entschuldigung gab es: es war niemand mehr da, den man schädigte. Der einzige verschollen in fremder Erde, vielleicht längst schon begraben und vermodert, die andern aber, die in der Mark saßen, hatten die Hoffnung wohl längst aufgegeben. Und Fremde waren es, kaum ein Tropfen mehr von dem Blute des Ahnherrn floß in ihren Adem ... Jetzt aber war der wiedergekehrt, den die Freveltat am nächsten schlug, und neben ihm stand eine starke Helferin ... Keines Menschen Auge konnte die Tat entdecken, nur gab es da etwas Unheimliches ... Die Sonne mit ihrem Licht ... Wenn man es in einem geschliffenen Glase fing, war es wie das Auge Gottes, das im Dunkeln sah ... alle Heimlichkeiten wurden vor ihm offenbar. So scharf sah es, daß es zu unterscheiden vermochte, ob eine Schrift vierhundert Jahre alt war und die andre dazwischen nur ein paar Monate ...

Der Erblandmarschall ließ sich in einen der breiten Ledersessel fallen, kalter Schweiß perlte ihm auf der Stirn ... und vor seinen Augen verwandelte sich das Schreibzimmer in einen weiten Saal ... Eine Wimmelnde Menge füllte die eine Hälfte, reckte die neugierigen Hälse, auf der andern Seite saßen die Richter im schwarzen Talar. Aber sie trugen die Züge der Römnitze, die da an den eichengetäfelten Wänden hingen ... Und der älteste von ihnen sprach: Christoph Winifred Siebold Römnitz, dein Schild wird zerbrochen, dein Andenken in unserm Geschlechte ausgelöscht! ... Er aber schlug die Hände vor das Gesicht: ja, ihr Herren, mir geschieht, was Rechtens ist, denn ich habe immer nur den Haß gekannt, niemals jedoch seine verzeihende Schwester, die Liebe ... Einmal trat sie mir in den Weg, und ich stieß sie von mir ... Ein schlanker Knabe stand neben dem Sarge seines Vaters, streckte hilfesuchend die Arme nach mir, denn er war ganz allein ... Ich aber wandte mich ab, denn ich sah in dem Knabenantlitz zwei Augen, die mich einst lachend verraten hatten – – –

An der Tür pochte es, er hob den Kopf. Eine jugendschöne schwarzhaarige Frau trat über die Schwelle. Sie ging langsam, denn sie trug ein kostbares Leben. Und in einem fremdländisch klingenden Deutsch fragte sie, wo er so lange bliebe. Der peinliche Besuch wäre ja längst schon wieder fort ... Da erhob er sich rasch, führte sie behutsam zum nächsten Sessel. Und er entschuldigte sich mit einem Lächeln, er hätte ein paar Minuten allerhand Törichtes gedacht – – –

 

In der Nacht, die diesem Tage folgte, brannte es im Hohenrömnitzer Schlosse. Der Herr Erblandmarschall hatte noch spät in seinem Schreibzimmer gearbeitet und war dabei wohl vom Schlafe übermannt worden. Eine unwillkürliche Bewegung warf die Lampe um, das brennende Öl ergoß sich über den Tisch, ein wahres Wunder war es, daß der greise Schloßherr mit dem Leben davonkam. Die Flammen hatten schon seine Kleidung ergriffen, er aber besaß die seltene Geistesgegenwart, sie mit Hilfe eines Sofakissens zu ersticken. Schwere Brandwunden erlitt er dabei an Gesicht und Händen, und jeder andre an seiner Stelle hätte wohl laut um Hilfe gerufen. Der Herr Erblandmarschall aber bezwang die heftigen Schmerzen, um seine der Schonung bedürftige Frau Gemahlin nicht zu erschrecken. Ohne Aufhebens holte er einen Teil der Dienerschaft herbei, ihren Anstrengungen gelang es, das gefahrdrohende Feuer auf seinen Herd zu beschränken ...

So ungefähr lautete der wahrheitsgemäße Bericht, den der neue Bibliothekar zur Widerlegung übertriebener Gerüchte dem »Moltzahner Anzeiger« übersandte. Er schloß damit, daß der Brand leider einen Schaden angerichtet hätte, der durch keine noch so hohe Versicherungssumme gedeckt werden könnte. Einige aus dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert stammende Urkunden sowie die alte Familienchronik des Hauses Römnitz, die der Herr Erblandmarschall zu Studienzwecken dem Archiv entnommen hätte, wären dem gierigen Elemente zum Opfer gefallen. Ein unersetzlicher und namentlich vom Standpunkte des vergleichenden Sprachforschers schwer zu bedauernder Verlust, denn die Chronik nämlich wäre zum großen Teil in mittelalterlichem Platt geschrieben, dem niedersächsischen Idiom, das damals die Umgangssprache selbst der vornehmsten Kreise bildete ... Und es folgte eine kurze, aber von gründlichem Studium zeugende Abhandlung, daß diese Sprache im Laufe der Jahrhunderte verhältnismäßig geringfügige Wandlungen durchgemacht hätte. Die einschneidendste eigentlich nur dadurch, daß sie von stolzer Höhe zum Ausdrucksmittel der niedersten Volksschichten herabgesunken wäre ...


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