Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2

Die erste Begrüßung mit den beiden Getreuen war vorüber, aber die Wiedersehensfreude schwang noch lange in ihren Herzen nach, wie der Ton einer stark angeschlagenen Saite. Immer wieder sahen die beiden Altchen ihren heimgekehrten jungen Herrn an, freuten sich, daß sie ihn wieder hatten, und nickten einander zu, wenn sie bemerkt zu haben glaubten, daß er sich gegen früher zu seinem Vorteil verändert hätte. Fast noch größer schien er ihnen geworden zu sein, aber das war wohl nur Einbildung, weil sie selbst den Rücken gebückter trugen als vor zwei Jahren und langsam schon in die Erde zurückwuchsen. In einem jedoch täuschten sie sich nicht, aus dem Jüngling war ein Mann geworden, der aus klaren Augen in die Welt blickte und fest in seinen Schuhen stand. Der ließ sich von dem Hohenrömnitzer drüben noch lange nicht die Butter vom Brote nehmen! Nur Miken fand, er wäre viel zu hager im Gesichte geworden, aber das wollte sie schon bald wieder herausfüttern. Lentz hingegen meinte, das stände ihm gerade schön, und eine Entdeckung freute ihn ganz besonders. Der junge Herr lachte genau so, wie sein seliger Herr Rittmeister gelacht hatte, dasselbe schütternde Lachen, das so ansteckend wirkte. Das lag wohl daran, daß in den zwei Jahren seine Brust eine richtige breite Mannsbrust geworden war, aber es war doch eine große Freude, daß der Sohn dem Vater auch in solchen Äußerlichkeiten glich. Wenn man die Augen schloß, konnte man glauben, die Zeit wäre stillgestanden ...

Malte Römnitz aber freute sich nicht weniger, daß er die beiden Altchen noch in leidlicher Rüstigkeit wiedergefunden hatte. Gar manchmal hatte er da draußen gebangt, sie könnten nicht mehr da sein, wenn er heimkäme. Und das wäre ihm ein schwererer Verlust gewesen als mancher andre. Mit allem, was ihm seit der frühesten Jugend an Schicksalen widerfahren, waren sie beide doch unlöslich verbunden, und immer hatten sie in blinder Treue zu ihm gestanden ...

Gleich nach seiner Ankunft hatte er einen raschen Gang durch den Park gemacht und alle Räume des Schlößchens, wie um sich zu überzeugen, daß alles noch da wäre, was er vor zwei Jahren verlassen. Jetzt saß er an dem runden Tische auf der Diele, die vom Frühjahr an immer als Wohnzimmer diente, und ließ sich gut schmecken, was Miken an heimatlichen Leckerbissen aufgetragen hatte. Eine milde Gänsebrust gab es als Vorspeise, wie ein Rosenblatt so zart, eine würzige Leberwurst mit Majoran und Speckklümpchen, die vierzehn Tage lang im Rauch von Buchenspänen gehangen hatte, und zum Schlusse einen wohl fünfpfündigen Hecht aus dem Vellahner See. In einer Sauce aus Meerrettich und saurer Sahne schwamm er, mit allerhand Grünzeug und einigen Pfefferkörnlein angerührt. Wie der Kern einer jungen Haselnuß schmeckte sein weißes Fleisch, das Köstlichste aber waren die keinen Klößchen, deren Hauptbestandteil die bräunliche Leber bildete ...

Mit einer wahren Andacht aß Malte, ließ sich zwischen den einzelnen Gerichten die gehörige Zeit und trank einen alten Rauentaler noch vom Vater her, den Lentz zur Feier der Heimkehr aus dem Keller geholt und gehörig am Brunnenwasser gekühlt hatte. Ganz wohlig und glückselig war ihm zumute, und er erzählte, wie manches liebe Mal er sich da draußen nach Mikens Kochkunst gebangt hätte. Wenn der Niggerkoch ein zähes Huhn auf den Tisch setzte mit einem Brei aus Hirsegrütze oder einen Antilopenrücken, den man kaum schneiden konnte, weil er gleich nach dem Erlegen des Wildes aufs Feuer gekommen war, dann hätte er jedesmal den Reisegefährten den Mund wässerig gemacht, ob sie sich wohl vorstellen könnten, wie ein Vellahner Spießerrücken schmeckte, von Fräulein Dannappel mit Liebe und Butter und Sahne nebst einigen Wacholderbeeren gebraten. Immer hätte er ausreißen müssen danach, damit die andern ihn nicht erschlügen ... So erzählte er scherzend, Miken aber stand dabei und errötete vor Freude wie ein junges Mädchen, dem zum ersten Male eine Liebeserklärung gemacht wird. Und plötzlich lachte Graf Malte auf. Fast hätte er vergessen gehabt, ihr den Gruß eines alten Verehrers zu bestellen, der noch heute in ganz besondrer Treue ihrer gedächte. Wer sie müßte raten, wer das wohl gewesen sein könnte.

Miken wurde noch röter und legte ordentlich erschrocken die Hand auf die Brust.

»Gott steh' mich bei, aus Afrika? Ich hab' doch da unten keine Bekanntschaften?« ... Und Lentz fügte mit einem Schmunzeln hinzu, ein Menschenfresser wäre es wohl kaum gewesen, der hätte sich etwas Saftigeres herausgesucht. In so gehobener Stunde durfte er sich wohl ein kleines Scherzlein vor dem jungen Herrn verstatten. Danach lachten sie alle drei, und Graf Malte erzählte, auf der Rückreise hätte er in der großen Negerstadt Tabora zu seiner Überraschung und Freude den ehemaligen Theologiekandidaten Siewers getroffen, aber nicht als Missionar, sondern als wohlhabenden Händler, der auf weiten Fahrten ins Innere Kautschuk und Elfenbein gegen billigen Kattun und Glasperlen von den Eingeborenen tauschte. Die christliche Lehre wäre nicht gut für die Nigger, denn in diese dicken Schädel dürfte es niemals hinein, daß alle Menschen dieser Welt eigentlich Brüder wären, darunter litte nur der Respekt und das Geschäft. Und weiter erzählte er, wie er in dem gastfreien Hause des ehemaligen Lehrers sich acht Wochen lang gesund gepflegt hätte von dem bösen Tropenfieber und einem tiefen Riß am Bein, den er einem angeschossenen Büffel verdankte. Fast immer hätten sie dabei von der Heimat gesprochen, der rothaarige Siewers und seine rundliche Frau mit einem dicken Buben auf dem Arm, der zum Schreien dem Vater glich. Nur daß er nicht das Bein nachzog, weil er noch nicht laufen konnte, und unter dem roten Kraushaar natürlich keine Schmisse hatte ...

»Das war ein Ruhepunkt in all den bunten Abenteuern,« schloß Graf Malte und sah nachdenklich vor sich hin. »Und wir haben auch noch über manches andre gesprochen, was nur mich allein anging. Vieles wurde mir dadurch klar, wo ich im Dunkeln herumgetappt hatte« ...

»Che,« sagte Miken, »dieser Herr Kannedat Siewers is wohl immer schon 'nen possierlichen und nachdenklichen Mensch gewesen. Einmal is er zu mich in die Küche gekommen, wie ich gerade eine Gans zwischen die Kniee geklemmt hatte und mit dem Messer in' Kopf das Blut abzapfte. Da fragte er, ob ich mich wohl bewußt wäre, ein Geschöpf Gottes zu töten, das gleich mir eine unsterbliche Seele hätte. Ich lachte bloß: ›Herr Kannedat, das muß doch sein, wegen dem Wohlgeschmack, und das Blut gibt hinterher Schwarzsauer mit Backpflaumen und Klöße. Eine unsterbliche Seele aber haben wir Menschen bloß allein.‹ Da zuckte er die Achseln: ›Wissen Sie das ganz genau, Fräulein Dannappel?‹ Mir war ganz gruselig zumut, und in einem Sinnieren ging ich 'rum, bis am andern Mittag der Herr Kannedat sich das Schwarzsauer schmecken ließ, daß nur die Knochen übrigblieben. Da merkte ich denn, daß er bloß ein Spaßmacher war und den Leuten allerhand nichtsnutzige Flausen in den Kopf setzte.«

»Ja,« sagte Malte, »ein Spaßmacher, der es verdammt ernsthaft meinte« ...

Danach gab es eine schweigsame Pause, und Miken empfahl sich mit einem Knickse, sie hätte noch in der Küche zu tun. In Wirklichkeit, weil jetzt nach allem Ermessen der unangenehme Teil des Abends begann. Der junge Herr hatte genug erzählt von sich selbst, jetzt kamen die Fragen nach dem, was sich in den zwei Jahren zu Hause zugetragen hätte. Die Antwort darauf überließ sie gerne ihrem alten Dienstgefährten. Und Lentz sah ihr brimmelnd nach. So waren schon die Frauenzimmer: wenn es Ernst wurde, drückten sie sich! Aber auch er gedachte sich nach Möglichkeit »diplomat'sch« zu verhalten, seinem jungen Herrn den ersten Abend in der Heimat nicht zu verderben. Wenn er morgen früh erfuhr, was sich in Hohenrömnitz zugetragen hatte, war noch immer Zeit genug ...

Graf Malte schob den Teller zurück und steckte sich behaglich eine Zigarre an.

»Na, nu los, Alter, und hübsch der Reihe nach! Meinen Leib hat die Miken satt gemacht, für das übrige mußt du sorgen. Und ich muß sagen, ich bin gründlich ausgehungert in den zwei Jahren. Wenn die andern Herren ihre Post bekamen, hab' ich mich immer still beiseite gedrückt und manchmal fast das Heulen gekriegt. Daß mein Herr Onkel mir nicht schrieb, brauchte mich nach dem Abschied ja nicht zu wundern. An den Tüschower Lewenitz aber hatte ich mich zweimal gewandt und herzlich gebeten, er möchte mir doch über einiges, was mich besonders interessierte, Nachricht geben. Er hat's anscheinend nicht fertiggebracht, vor lauter Bedenken; nur bei meiner Rückkehr aus dem Innern fand ich in Dar es Salam eine Postkarte mit einer Ansicht vom Strelitzer Hof in Moltzahn. Und darauf stand mit Bleistift gekritzelt: ›Du wardst di ja bös wunnern, mien Sähn, wenn du wedder to Hus kömmst.‹ Kein Name darunter, aber nach der Handschrift konnte es wohl der Tüschower gewesen sein.«

»Che,« sagte Lentz und kraute sich mit möglichst unschuldiger Miene den Kopf, »da weiß ich nu nichts von. Den Herrn von Lewenitz hab ich in diese ganze Zeit nur einmal gesprochen, auf 'n Pferdemarkt in Moltzahn. Er fragte noch in Vorbeigehen: ›Na, immer noch zu Wege, alter Knackstiebel?‹ aber wegen eine Postkarte oder so hat er sich nicht zu erkennen gegeben. Da denk ich mir so, mit dem Wundern meint er vielleicht die neue Verfassung, wo die Regierung uns nu mit eins geben will. Da wundern wir uns nämlich alle darüber, denn was die alte Verfassung is, die war doch wohl noch ganz gut, nich? ... Oder geht es uns vielleicht schlecht bei unsern gnädigen Herrschaften, haben wir nich unser reichliches Auskommen? Chewoll, sag' ich, es geht uns sogar sehr gut, aber der Hohenrömnitzer Lehrer, wo ich neulich mit ihm drüber diskerierte, meinte mitnichten. Mehr Volksschulen müßten wir haben, damit ein Strahl von die allgemeine Bildung auch in das mecklenburgische Land fallen täte, und dazu müßten wir wohl erst 'ne neue Verfassung kriegen. Da sagt' ich ihn aber, ah nein, Herr Kanter, das wär wohl ganz verkehrt! Bildung für den, wo Bildung gehört. Wenn aber die, wo hinterm Pflug herzugehen haben, um 'ne Portschon klüger werden als die vorm Pflug, dann is zu End mit unserm alten Mecklenburg! Nich?«

Malte hatte unwillkürlich lächeln müssen.

»Hast recht, mit dem alten Mecklenburg wäre es dann wohl zu Ende. Aber fragt sich nur, ob das neue nicht besser wäre!‹

Lentz fuhr ordentlich erschreckt in die Höhe.

›Halten zu Gnaden, Herr Graf, dann wissen Sie wohl nich, wie weit daß es bei uns schon gekommen is? Bei der letzten Reichstagswahl haben wir hier in der Suppenterrine von der Frau Verwalter, wo als Urne gedient hat, bereits einen roten Stimmzettel gefunden! Hier bei uns in Vellahn, wo der Herr Verwalter doch immer persönlich die Wahl geleitet hat, indem daß er den Leuten den zukömmlichen Stimmzettel gab und aufpaßte, daß sie ihn auch richtig in die Terrine legten. Also der Herr Verwalter war starr, der Förster Schwarz war starr, ich aber sagte zu ihnen ›Sehen Sie, meine Herren, das kömmt bloß davon, daß in den Zeitungen immer von diese vertrackte Verfassung die Rede is, und Gedrucktes können die Kerls lesen. Da bildet so 'n entfamtiger Snösel sich denn ein, er dürft sich ungestraft solche Ordnungswidrigkeiten erlauben und so!‹ Weil wir nu aber uns ungefähr denken konnten, wer daß die rote Stimme abgegeben hatte, nämlich der Koppelknecht Bohn, und er hat nämlich früher mal in Rostock gearbeitet, also da lud ihn der Herr Verwalter sich zu eine politische Unterredung in den Schafstall.«

»Nanu,« fragte Malte verwundert, »in den Schafstall? Wenn da ein Fremder 'reinkommt, fängt doch die ganze Gesellschaft zu blöken an, daß man vor lauter Spektakel nicht sein eigenes Wort versteht?«

Der Alte machte ein ganz ernsthaftes Gesicht, nur seine weißen Schnurrbartspitzen zuckten verräterisch.

»Wohl, wohl, Herr Graf. Aber das hat nu wieder auch den Vorteil, daß von außen niemand hören kann, was drinnen verhandelt wird. Zu der Unterredung hatte der Herr Verwalter sich nämlich einen handlichen Haselstock geschnitten, und wie er mit dem Koppelknecht Bohn wieder aus dem Schafstall 'rauskam, waren sie sich einig. Da hatte der nu wohl die richtige politische Meinung gekriegt.«

In Maltes Stirn hatte sich eine unmutige Falte gegraben.

»Na, lassen wir das jetzt, darüber werde ich mit dem Verwalter Bergemann mich mal gehörig aussprechen. Die Wirtschaft mit dem Stock in der Hand wollen wir doch gefälligst bleiben lassen! ... Aber sag mal, schon die ganze Zeit über ist's mir aufgefallen: was sind denn das für helle Flecke in der Tapete zwischen den Hirschgeweihen? Da hingen doch früher immer die alten Delfter Teller, die mein seliger Großvater mitgebracht hat, als er noch am Hof von Holland Gesandter war?«

Lentz griff sich in den Halskragen, die Frage war ihm sehr unbequem.

»Die alten Teller? Che, da hat die Miken wohl vergessen, sie nach dem Großreinemachen wieder hinzuhängen. Auf ihre letzten Jahre ist sie nämlich sehr schwach von Gedächtnis geworden. Und Miken, sag ich immer zu sie, es is man ein Gottesglück, daß gewisse Körperlichkeiten auch bei Ihnen fest angewachsen sind wie bei andern Menschen. Sonst täten Sie die mal noch irgendwo vergessen und 'rumliegen lassen.«

»Schwindel nicht, Alter, ich seh' dir's ja an der Nase an, da ist etwas nicht in Ordnung. Also 'raus mit der Sprache, wo sind die Teller?«

»Nun denn« ... Lentz druckste noch ein Weilchen herum, aber jetzt gab's kein Ausweichen mehr ... »die sind in Hohenrömnitz drüben. Auf Befehl von Seiner Exzellenz dem Herrn Erblandmarschall.«

Malte stand auf, und seine von der Tropensonne gebräunten Wangen färbten sich um einen Schatten dunkler.

»Ach nee! Und da hast du nicht die Herausgabe verweigert? Weißt du denn nicht, daß Vellahn mir gehört mit allem drum und dran, solange ich der Erbe des Majorates bin?«

»Che, das weiß ich wohl,« sagte Lentz verlegen, »und ich hab's dem Herrn Erblandmarschall auch mit allem schuldigen Respekt vorgestellt. Aber da kam ich bös an. Ich hätte den Schnabel zu halten und zu gehorchen. ›Und die Teller werden sofort heruntergeholt, nach Hohenrömnitz geschafft. Meine Frau Gemahlin wünscht es so, basta!‹ Und das hatte seine Richtigkeit. Die Frau Erblandmarschall waren ja wie närrisch vor Entzücken über das alte Scherbenzeug, und da gab es keinen Widerspruch. Seine Exzellenz tun ja alles, was sie ihr nur an den Augen absehen können.«

»Erlaube mal!«

Graf Malte ließ sich wieder in den Sessel fallen und machte eine Handbewegung, als wäre es in dem Kopfe seines alten Getreuen nicht ganz richtig. »Was hast du eben gesagt? Mein Onkel Christoph täte alles, was er seiner Frau an den Augen absehen könnte? Und meine gute Tante Elfriede soll mit einemmal vor Entzücken über die alten Teller närrisch geworden sein? Die kannte sie seit ungefähr vierzig Jahren und hat niemals den Wunsch geäußert, sie zu besitzen?« ...

Lentz sah geradeaus, schnüffelte nur ein wenig, als müßte er sich aussteigender Tränen erwehren.

»Wohl, wohl, Herr Graf. Wegen der seligen Frau Erblandmarschall möchten die Teller da vielleicht noch vierzig Jahre hängen. Aber sie is gestorben, kaum sechs Wochen nach Ihrer Abreise. Schon im Herbst, das Trauerjahr war noch nich zur Hälfte herum, haben Seine Exzellenz frisch geheiratet und, wie die Leute erzählen, sollen sich seine Hoffnungen ja wohl erfüllen. In Hohenrömnitz drüben wird ein Erbe erwartet!« So, nun war es heraus, alles auf einmal. Gesagt hatte es doch werden müssen, also war es schon besser, man machte ganze Arbeit. Malte aber schleuderte mit einer heftigen Bewegung seine Zigarre in das offene Kaminfeuer. Donnerwetter nochmal, das war ja eine unerwartete Bescherung, die ihm ganz plötzlich über den ahnungslosen Kopf gepladdert war! Wie eine Hagelwolle war es gekommen aus heiterem Himmel, und wo sie lang gezogen war, lagen geknickte und zerschlagene Hoffnungen ... Es dauerte eine ganze Weile, bis er seine Bestürzung soweit gemeistert hatte, daß er wieder ruhig sprechen konnte.

Jetzt fange ich an zu verstehen, was der Tüschower Lewenitz mit seiner Postkarte gemeint hat! Aber wollen uns doch nicht gleich ins Bockshorn jagen lassen. Daß mein Herr Onkel sich auf seine alten Tage lächerlich macht, kann ich ihm nicht verwehren. Aber damit seine Ehe rechtsverbindliche Folgen hat, dafür gibt es beim Hohenrömnitzer Majorat gewisse gesetzliche Vorschriften. Die Frau Erblandmarschall muß von altem Adel sein, sechzehn richtiggehende Ahnen haben von Vater- oder Mutterseite, sonst gilt es nicht! Sonst kann ihr Herr Sohn einen weißgeschälten Weidenstab in die Hand nehmen und sich wo anders einen Platz suchen. Also los, was ist meine neue Frau Tante für eine Geborene?«

Der alte Lentz zuckte bekümmert mit den Achseln.

»Das wissen wir hier alle nich. Seine Exzellenz haben die Frau Gemahlin im Herbst vor 'nem Jahre mitgebracht, wie sie von der italienischen Reise zurückgekommen sind. Die Trauung soll auch da unten gewesen sein, in einer Gegend, die Mailand genannt wird. Wegen dem schönen Wetter, meint der Kammerdiener Paalzow, das dort wohl sein soll das ganze Jahr über, wie bei uns im Frühling. Und ein ganzer Hümpel Menschen is bei dieser Heirat mitgekommen nach Hohenrömnitz. Eine Schwester und ein Bruder von der Frau Gräfin, mit 'nem kohlschwarzen Bart bis unter die Augen, 'ne Frau Schwiegermutter wie eine Zitrone so gelb, und sie schlampt fast immer in' Schlafrock herum. Das schlimmste aber is die Dienerschaft. Alle Mecklenburger sind mit eins entlassen worden, auch die Deerns. Dafür sind denn Kerls gekommen und Mäkens, ebenfalls aus diesem Mailand. Den Kerls möcht' man nich für fünf Minuten sein Portemonnaie zum Verwahren geben, meint der Paalzow, aber die Deerns wären ganz leckrig anzusehen. Wie die Druwäppel so rund allenthalben, und wenn sie sich so durch den Park bewegen tun, könnt man's dem Herrn Erblandmarschall eigentlich nich verdenken, daß er sich auch so eine Mailänderin geheiratet hat.«

Malte war ungeduldig geworden.

»Meint der Paalzow,« wiederholte er ärgerlich.

»Aber diese Mauseratzergesellschaft – zum Beispiel dieser Zitronenvogel von Schwiegermutter – kriegt doch Briefe? Weshalb ist der alte Esel da nicht so gescheit gewesen, sich mal die Adresse zu merken?«

Lentz kraute sich den weißen Kopf.

»Wohl, wohl, Herr Graf, aber das wär ebenso ungefähr, als wenn man einen Kolkraben fragen möcht: ›Wieso kannst du eigentlich nich so schön singen wie ein Karnalienvogel?‹ Weshalb merkt sich der Paalzow so eine Adresse nich? Weil er in seine Jugend nich gelernt hat, Geschriebenes zu lesen! Vogelnester finden, das könnt er. Aber in den Wissenschaftlichkeiten war er immer man ein Schwachmatikus!«

Malte machte eine abwehrende Handbewegung, das letzte hatte er nur mit halbem Ohre angehört.

»Es ist gut. Morgen früh reite ich nach Hohenrömnitz hinüber, da werde ich alles erfahren ... Mein Onkel muß mir ja Rede und Antwort stehen. Und jetzt laß mich 'raus. Ich muß den heißen Kopf noch ein bißchen in die kühle Nachtluft tragen.«

»Wohl, wohl, Herr Graf« ...

Lentz half seinem jungen Herrn in den Überrock, reichte ihm aus dem Ständer auf der Vorderdiele einen derben Krückstock. Und während er ein Gesicht machte, als wäre er an all diesen betrüblichen Nachrichten schuld, sagte er zaghaft: »Es kann doch aber vielleicht drüben in Hohenrömnitz eine kleine Komtesse geben? Die Miken und ich, wir beten drum jeden Morgen und Abend« ...

Malte lachte auf, ein kurzes ingrimmiges Lachen.

»Und die in Hohenrömnitz ums Gegenteil. Der liebe Gott hat dann das Aussuchen, aber weil die drüben in der Mehrzahl sind oder vielleicht lauter schreien, neigt er sich zu ihnen. Na gute Nacht, Alter, und geh in die Baba. Den Weg in mein Schlafzimmer finde ich nachher schon allein« ...

»Gute Nacht, Herr Graf,« sagte Lentz und schloß hinter dem Davongehenden die hohe Glastür. Er löschte das Licht und saß noch lange neben dem verglimmenden Kaminfeuer. Eine Handvoll trockener Buchenspäne warf er darauf, daß die Flamme für ein paar Minuten wieder hoch aufloderte ... alte Leute konnten in diesen kühlen Frühlingstagen Wärme wohl gebrauchen. Und während die gierig fressenden Zungen in die Höhe leckten, um gleich danach wieder zusammenzusinken in ewig wechselndem Spiel, sann er längst vergangenen Zeiten nach, wo hier diese vom Alter braun gebeizte Diele noch eine Stätte des Frohsinns gewesen war. Lange hatte es nicht gedauert, nur fünf, sechs Jahre, aber es war eine Freude gewesen, in dem Vellahner Hause zu dienen ...

Da am runden Tische saß sein Herr Rittmeister, ein Mann von gewaltigen Gliedern, und wenn er abends aus der Wirtschaft kam, die er besser und gewissenhafter führte als irgendein gelernter Inspektor, füllte sein gutmütiges, schüttelndes Lachen die Halle. So gut aufgelegt war er immer in den Zeiten seines Glücks, daß er über jede Kleinigkeit lachen konnte – eine Stubenfliege brauchte nur schief über das Tischtuch zu krabbeln! Und er hatte gut lachen, der Graf Heino Römnitz, denn die schöne Komtesse Melitta von Hollen hatte ihn ausgewählt unter all den zahllosen Herren, die um ihre Hand warben. Einen der mecklenburgischen Herzöge hätte sie haben können, auch den älteren Grafen Römnitz, der ihr mehr bieten konnte, als das bescheidene Vellahn, aber sie war ihrem Herzen gefolgt, hatte den jüngeren Bruder dem älteren vorgezogen, trotz allem Widerstande ihrer Verwandtschaft. So wunderschön war sie noch im Tode, daß der Römnitzer Schloßpfarrer nicht weitersprechen konnte vor Rührung, und gar manches Männerauge in der Trauerversammlung richtete sich mit Leid auf den, der diese Herrlichkeit hatte verlieren müssen nach so kurzer Zeit ... Vielleicht hatte er sie nur durch sein herzliches Lachen gewonnen, denn sie selbst lachte so gerne. Ordentlich hell wurde es auf der alten Diele, wenn die beiden zusammensaßen und sie fiel mit ihrem seinen Stimmchen ein. Nur, es kam eine Zeit, nicht allzulange nach der Geburt des kleinen Grafen Malte, da mußte sie sich öfter in das Nebenzimmer flüchten, weil nach dem Lachen manchmal ein böser Husten kam. Und der frohgelaunte Mann auf der andern Seite des Tisches sollte es nicht merken ...; wenn's wieder auf den Sommer ging, verlor sich dieser Husten immer ganz von selbst. Aber eines Abends war er nicht zu stillen. Die Frau Gräfin kam wieder auf die Diele zurück, und ganz hilflos stand sie da. Sprechen konnte sie nicht, deutete nur auf ihren Mund, von dem sich ein paar feine rote Fäden nach dem Kinn zu hinabzogen. Das Taschentuch aber in ihrer linken Hand war ganz rot von Blut ...

»Um Gottes willen, Litte, was ist dir?« schrie der Herr Rittmeister, fing die Umsinkende auf. »Und rasch, Lentz, den Doktor aus der Stadt! Der Deuwel holt dich, wenn du in 'ner Stunde nicht wieder zurück bist« ... Da war er gefahren, daß unter den Rädern die Funken spritzten und die Gäule keinen Hauch Atem mehr hatten in den ausgepumpten Lungen, aber der Arzt konnte nichts mehr helfen. Weil die Frau Gräfin ihren Mann so sehr liebte, daß sie ihm auch nicht den geringsten Kummer bereiten mochte, hatte sie über ihre böse Krankheit gescherzt und gelacht, mit allerhand Hausmittelchen heimlich an sich herumkuriert, bis es zu spät war. Alte Weiber gingen aus und ein im Schloß, die unter der Schürze ekelhaft schmeckende Tränke brachten, und der Revierjäger Schwarz mußte Füchse schießen, weil deren gedörrte Lunge gegen die Auszehrung ein besonders gutes Heilmittel sein sollte. Alles hatte die Frau Gräfin geduldig geschluckt, aber nichts hatte geholfen ... Sechs Wochen nach jenem Abend war die Diele schwarz ausgeschlagen, und der schwere Eichensarg stand zwischen brennenden Lichtern. Der Herr Graf aber ging wie ein Irrer umher, und wenn man ihn anredete, gab er verkehrte Antworten ...

Nach dem Begräbnis standen die Teilnehmenden noch lange herum, keiner mochte zuerst den Anfang mit der Abfahrt machen. Und der Herr Erbland Marschall trat auf den Bruder zu, um ihm vor den Leuten sein Beileid auszudrücken. Seit der Verlobung hatten sie sich nicht mehr gesehen, außer ganz zufällig einmal, nur in so schwerer Stunde gehörte es sich wohl, daß Brüder sich die Hand schüttelten. Aber der Jüngere wies ihn unwirsch von sich, verbiß sich in seinen Schmerz wie ein weidwund geschossener Keiler, der die Rotte von sich abwehrt und einsam ins Dickicht zieht. Der Herr Erblandmarschall machte ein gekränktes Gesicht und zuckte zu den andern Herrschaften die Achseln, als wenn er hätte sagen wollen, an ihm läge es nicht, wenn das alte unliebsame Verhältnis weiter bestände. Und danach ging er in den Park hinaus, der kleinen Kapelle zu, in der man vor einer Viertelstunde die junge Frau Gräfin zur ewigen Ruhe gebracht hatte. Der Weg zur Kapelle führte um den linken Schloßflügel herum und am Seeufer entlang, und Gott allein mochte wissen, weshalb der Diener Lentz auf den Gedanken kam, dem Herrn Erblandmarschall in angemessener Entfernung zu folgen. Vielleicht weil er den kleinen Grafen Malte vermißte, der bei dem allgemeinen Trubel mit einem Male verschwunden war. Der vierjährige kleine Bursch hatte das Begräbnis ganz artig mitgemacht, weil er's noch nicht verstand, was ihm in dem silberbeschlagenen Eichensarg davongetragen wurde, und weil die Miken ihm eingeredet hatte, das Mütterchen wollte nur mal eine Nacht draußen schlafen, käme morgen wieder. Und als bei dem Bedienen der vielen Gäste niemand seiner achtete, war er in den Park hinausgestapft, um sein Mütterchen selbst zu fragen. Aber er stemmte sich vergebens gegen die schwere Gittertür, und kein Rufen half. Unter den vielen Blumen und Kränzen hervor, die sich zu einem Berge türmten, kam keine Antwort. Da hatte er nach einer Weile wohl vergessen, weshalb er eigentlich ausgezogen war, suchte sich am Seeufer die Taschen voll Kieselsteine und vergnügte sich damit, sie vom Bootsteg aus ins Wasser zu werfen. Bei jedem Plumpser lachte er hell auf, und Lentz wollte schon wieder umkehren. Dem Kleinen konnte nichts passieren, der Herr Erblandmarschall war ja keine dreißig Schritte entfernt. Da aber wandte sich der vor ihm Gehende um, spähte nach allen Seiten, und schier grauenhaft war sein aschfahles Gesicht anzusehen mit der Hakennase über dem seltsam verzerrten Munde ...

»Um Gottes willen, Exzellenz!« schrie er auf, der andre aber blieb stehen, straffte seine hagere Gestalt, und von dem schrecklichen Ausdrucke in seinem Gesichte war nichts mehr zu sehen.

»Du hast recht, Lentz,« sagte er ganz ruhig, »es ist ein Unfug, so ein kleines Kind ohne Aufsicht zu lassen. An dem Bootssteg geht's wie vom Dach in die Tiefe, und wie leicht kann da ein Unglück passieren« ...

Ohne Gruß schritt er den Weg zurück, den er gekommen war, und eine Viertelstunde später rollte sein Wagen die Dammallee entlang, die von der Schloßinsel zum festen Lande führte. Lentz aber sprang hinzu, umfaßte seinen kleinen Herrensohn und trug ihn auf die Dienerkammer. Dort schien er ihm am besten in Sicherheit, und vielleicht stammte aus dieser Stunde seine blinde Liebe? ... Vom Herrn Rittmeister erbat er sich die Erlaubnis, mit dem kleinen Gräflein in einem Zimmer schlafen zu dürfen, aber noch manchmal schreckte er mitten in der Nacht empor, beruhigte sich nicht eher, als bis er nach dem schmalen Bettchen zu seiner Rechten hinübergetastet hatte ...

Vielleicht hatte er sich damals nur getäuscht, weil ihm das Zerwürfnis der beiden Brüder aus dem Hause Hohenrömnitz bekannt war. Oder aber er hatte doch recht gesehen – wer wollte ihm Gewißheit darüber geben? Auch den Rechtlichsten sprang zuweilen wie ein Versucher ein verbrecherischer Gedanke an, und sonderbar war es, einem niedrig Geborenen kaum begreiflich, wie alles Sinnen und Trachten dieser hohen Herren um die Herrschaft ging. Auf dem bißchen Erde, das sie doch nicht mitnehmen konnten ...

Ein unabänderliches Gesetz schrieb ihnen vor, wem sie ihren zeitlichen Besitz zu hinterlassen hätten, und da gab es zuweilen unauslöschlichen Haß zwischen dem in der Macht wohnenden und seinem Erbfolger. Schon zwischen Vater und Sohn gab es manchmal diesen Haß, wenn der eine die Zügel zu lange hielt und der andre konnte seine Zeit nicht erwarten. Um wieviel mehr also, wenn der Besitzer selbst kinderlos war und sein Gut nur für einen verwaltete, dessen Dasein ihm vom ersten Schrei an ein immerwährendes Herzeleid war? Weil seine Mutter ihn einem andern geboren hatte – – –

 

Ein lauer Nachtwind hatte sich aufgemacht, die vom See hergekommenen Nebelschwaden weit hinaus ins Land getrieben. Oben am sternenklaren Himmel schwamm der volle Mond, weißliche Wölkchen zogen an ihm vorüber. Wenn sie ihn verdeckten, leuchteten sie heller auf und zeigten einen Kreis matter Regenbogenfarben. Vorboten von Sturm und schlechtem Wetter; für eine Welle aber noch war es mild und warm, mit schwülem Hauch kam der Frühling in die Lande. Die vom Winde bewegten Zweige der hohen Erlen zu beiden Seiten der Dammallee waren noch kahl, aber überall an der bräunlichen Rinde saßen die klebrigen Knospen, von Saft geschwellt und bereit, unter den nächsten Sonnenstrahlen die Hülle zu sprengen. Die Schilfwand über dem Wasser stand gelb vom vorigen Jahr, zischelte und raschelte im Winde, aber dazwischen hoben schon neue Sprossen die messerscharfen grünen Spitzen, gerollte Mummelblätter schoben sich langsam vom Grunde empor. Und überall an der Oberfläche des mondbeschienenen Wassers ein Schnalzen und Springen, ein Haschen und Jagen silbergeschuppter kleiner Leiber, die dem urewigen Triebe folgten, der die Welt erneuerte von Jahr zu Jahr. Hechte und ungefüge Barsche fuhren dazwischen mit plantschendem Getöse, schluckten und mordeten ohne Unterlaß; unten aber lauerte die gleitende Sippe der Aale, schlürfte den rinnenden Rogen, denn für sie war es Erntezeit. Und ohne ihr sorgliches Bemühen hätte die Schar der Ukeleie sich ins Unermeßliche vermehrt im See, allen andern Bewohnern den Platz genommen und die Nahrung dazu. Nur die Räuber aus der Vogelwelt taten bei diesem löblichen Werke nicht mit, denn sie waren mit eigener Minne beschäftigt. Mitten auf dem See warben die Haubentaucher mit tiefem Balzlaut um die Gunst ihrer Schönen, im Schilf aber jagten sich die schwarzen Wasserhühner mit schrillem Pfiff. Wie das »Picksen« einer streichenden Waldschnepfe klang es, nur bedeutend gröber. Und es war ein gar streitsüchtiges Volk. Allenthalben gab es erbitterte Kämpfe, bis der besiegte Nebenbuhler mit klatschendem Flügelschlage aufs offene Wasser entfloh ...

Malte Römnitz ging hastig die Dammallee entlang, die von der Schloßinsel zum festen Lande führte. Gar nicht erwarten hatte er es können in der Fremde, bis er wieder den deutschen Frühling sah, und jetzt schritt er achtlos an ihm vorüber. Groll und Erbitterung füllten seine Brust, und er haderte mit dem Schicksal, das ihn aus tausend Gefahren errettet und hell ins Elternhaus zurückgeführt hatte, nur um ihm zu zeigen, daß er heimatlos geworden war ... Eine leere Ausrede vor sich selbst war es doch nur gewesen, zu glauben, der sonst so kühl abwägende Onkel Christoph hätte vielleicht eine Ehe geschlossen, die nicht dem strengen Hausgesetze entspräche. Und ebenso töricht die Hoffnung, in der Hohenrömnitz drüben könnte es eine Enttäuschung geben an dem mit Bangen erwarteten Tag, ein unbeträchtliches kleines Frauenzimmer statt des heiß vom Himmel erflehten Knaben. So viel Glück hatte er nicht ... Dann aber hieß es den Platz räumen und das Bündel schnüren, denn es war einer zur Welt gekommen, der der Herrschaft näher stand ... Von Rechts wegen durfte er sich nicht einmal mehr den Wanderstecken schneiden im Vellahner Parke ohne dessen gnädige Erlaubnis, denn von dem Augenblicke an, da dieser den ersten Atemzug getan, war er selbst rechtlos. Nichts durfte er mitnehmen als sein persönliches Eigentum und was er sich an Geldeswert durch sparsame Wirtschaft vielleicht erworben haben mochte. Alles übrige fiel dem Nachfolger anheim, denn das Gut Vellahn mit dem Schlosse und viertausend Morgen Acker und Wald war ein Lehen, das seinem Inhaber nur so lange zustand, als er der nächstberechtigte Anwärter des Hohenrömnitzer Majorates war. Verlor er das Erbrecht, verlor er zur selben Stunde auch das Lehen ...

Zu Ausgang des siebzehnten Jahrhunderts hatte es der damals regierende Graf Römnitz geschaffen, um dem heranwachsenden Sohne ein Feld der Tätigkeit zu geben, und damit er nicht gar zu ungeduldig aus das Ableben des Vaters zu warten brauchte. Wie ein kluger König hatte er gehandelt, der dem Thronfolger eine Provinz verlieh, in der er als Herrscher schalten durfte nach seinem Belieben, und damit seine Machtbegier dem Vater den allzulange schon behaupteten Platz nicht neide. Und das war ein weises Gesetz gewesen, solange die Hohenrömnitz sich in gerader Folge vererbte, solange in dem Vellahner Lehen der eigene Sohn des regierenden Herrn saß mit dem dort geborenen Enkel. Zur Grausamkeit aber wurde es, wenn es einen traf, der als Erbe aufgewachsen war und mit einem Male zur Seite treten mußte, wenn der zur Welt gekommen war, der dem im Besitze Wohnenden näher stand ...

Und dagegen gab es kein Auflehnen, es war eines jener Gesetze, die für einen Abkömmling der alten Adelsgeschlechter so selbstverständlich waren wie die, nach denen sich das Weltall mit seinen Gestirnen bewegte. Von Anbeginn waren diese Gesetze gewesen, und es war nutzlos, sie an dem Maßstabe einer neuen Zeit zu messen. Außer man war ein aus der Art geschlagener Schädling, der mit frevelnder Hand den Grund zu zerstören gedachte, auf dem das eigene Geschlecht im Lauf der Jahrhunderte seine Größe behauptet hatte ...

Altes Königsrecht war es, das Reich nur dem Erstgeborenen zu hinterlassen, und die Vasallen hatten es von ihren Herren gelernt. Als eine kluge Bestimmung, dem Oberhaupte der Familie für alle Zeiten einen gefesteten Besitz zu gewährleisten, statt diesen durch Erbteilung in immer winziger werdende Flicken zu schneiden, bis die letzten Abkömmlinge wieder auf kleinen Bauernhöfen saßen, um das bißchen Notdurft und Nahrung robotten mußten wie vorzeiten die Hörigen ihrer Väter ... »Robot« war ein Slawenwort, hieß Frohnde auf deutsch und stammte aus jener grauen Vergangenheit, da die deutschen Herren ins Land gekommen waren, um den slawischen Eingesessenen das Evangelium zu bringen und sie zu Knechten zu machen. Und aus dieser Zeit mochte wohl auch das Gesetz stammen, die Herrschaft nur dem Erstgeborenen zu hinterlassen; es schützte die Kaste der Eroberer vor raschem Verfall. Der erste der alten Geschlechter blieb immer oben, die Nachgeborenen mochten zusehen, wo sie ihren Unterhalt fanden, im Troß der Fürsten ihre Fortüne suchen oder irgendwo anders in deutschen Landen, wo ein Heerbanner errichtet war und rasche Gesellen gesucht wurden, die alles zu gewinnen hatten und nichts zu verlieren außer ihrem Leben. Wenn ihnen das Glück günstig stand, eroberten sie in der Fremde ein Besitztum und gründeten ein eigenes Herrengeschlecht ... So war vor jenen Hunderten Jahren ein Nachgeborener der Hohenrömnitz als ein Abenteurer in die Weite geritten, hatte dem Burggrafen von Nürnberg geholfen, die märkischen Edelsitze zu brechen und die trotzigen Junker zu Paaren zu treiben. Zur Belohnung war ihm das umfangreiche Lehen eines Herrn von Köckeritz zugefallen, nachdem er am Kremmener Damme mit eigener Hand dafür gesorgt hatte, daß dieses Lehen erledigt und frei wurde. In jenen unruhigen Zeiten war das Erben ein rasches Geschäft, man erschlug den Vorgänger im Besitz und setzte sich an seine Stelle ... Nur die Nachkommen des Streiters vom Kremmener Damme waren untüchtig gewesen, hatten die eroberte Bodensässigkeit nicht zu wahren gewußt in all den Nöten, die über das märkische Land kamen. Und seither zehrten sie nur von einer Hoffnung, die ihnen der reisige Vorfahr hinterlassen hatte ... Ehe er nämlich von der Hohenrömnitz zu der Fahne des Burggrafen von Nürnberg ritt, hatte er sich von dem älteren Bruder sein Anrecht an der Heimat verbriefen lassen und besiegeln in heißem Wachs und unbrechbarem Eide für sich und seine Nachkommen. Wenn der Hauptstamm der Römnitze einstmals einging nach Gottes unerforschlichem Ratschlüsse, hatten seine Sprossen das Recht, und keine spätere Abmachung sollte ihnen im Wege stehen ... Seither saßen die Römnitze des Nebenstammes auf kleinen Gütern in der Mark oder dienten im preußischen Heer und Beamtenstande. Den Grafentitel hatten sie verloren im Laufe der Zeiten, nur das alte Recht war ihnen verblieben, das Recht an dem aus Urzeiten stammenden Besitze der Familie, von den gemeinsamen Ahnen her. Kaum eine am fernen Horizonte sich zeigende Morgendämmerung war es, aber doch ein Recht, das einmal Wirklichkeit werden konnte aus Vergangenheit und in die Zukunft langendem Traum ... Menschengeschicke waren wandelbar, und schon manches blühende Geschlecht war nach einer Zeit der Herrschaft in die Vergessenheit gesunken ... Wie ein überständiger Eichenstamm, der vermorscht zusammenbrach, aus einer seiner weit verästelten Wurzeln aber schoß ein neues Bäumlein in die Höhe, reckte sich und wuchs ... Und niemand vermochte vorher zu sagen, an welcher Stelle sich der Nachfolger erheben würde. Irgendwo in einer Grenzgarnison führte ein Römnitz seine dreißig Männerchen als ein kleiner Leutnant über den sandigen Exerzierplatz. Tat seinen Dienst und zehrte von einer Hoffnung, die wie eine Sage in seinem Geschlechte ging. Da oben im Mecklenburgischen lag ein riesenhafter Besitz, den er nie gesehen hatte, an dem er aber ein Recht besaß. Bei nüchterner Überlegung war es keinen durchlochten Heller wert, aber man konnte von ihm träumen ... Ein großes Sterben kam ins Land, das alle dem Erbe Näherstehenden dahinraffte, man hielt seinen Einzug in der aus grauen Zeiten stammenden Burg und führte ein Leben in Herrlichkeit und Freuden ...

Unwillkürlich mußte Malte denken, wie nahe diese Zukunftsträume der märkischen Römnitze ihrer Verwirklichung gewesen waren. Er selbst hätte nur damals vor zwei Jahren ein rasches Ende zu machen brauchen, und die Ehe seines Oheims Christoph wäre auch fernerhin kinderlos geblieben. Dann saß aus der Hohenrömnitz drüben der Älteste der Nebenlinie, ein preußischer Major außer Diensten, der in Görlitz seine kümmerliche Pension verzehrte, und in dem Lehen Vellahn dessen Sohn, augenblicklich Leutnant in irgendeinem Infanterieregiment oder Referendar an einem Amtsgericht. Und ebenso von Rechts wegen, wie er selbst jetzt aus seinem Besitz gestoßen wurde, wenn in kurzer Frist dem Inhaber des Majorats ein Sohn geboren wurde ... Die Geburt einer Tochter aber hätte an der bestehenden Nachfolge nichts geändert, denn die Fräulein der alten Geschlechter waren rechtlos, wurden mit einer geringfügigen Mitgift abgefunden, wie die nachgeborenen Söhne mit einem kargen Taschengelde ...

Und da zum ersten Male fing der junge Graf Römnitz an zu denken, daß Recht auch Unrecht werden konnte ... Wenn man es nämlich am eigenen Leibe verspürte, und er entsann sich eines, der jedwedes Ding auf Erden von zwei Seiten beleuchtet hatte, je nach der Partei, auf der man stand. Auf seiten der Besitzenden oder der Entrechteten ...

Solange er der nächstberechtigte Erbe der Hohenrömnitz gewesen, hatte er es als ein selbstverständliches Recht empfunden, daß er als Neffe dem Oheim in der Herrschaft folgte. Ein himmelschreiendes Unrecht aber dünkte es ihn, wenn er jetzt besitzlos und heimatlos werden sollte, nur weil der Älteste aus dem Hause Römnitz aus neuer Ehe einen Erben erwartete, der ihm näher stand als der Sohn des Bruders ... Seit er denken konnte, war er, Malte Winfried Heino Römnitz, der vom Schicksal berufene und auserwählte Nachfolger seines ersten Ahnherrn gewesen. Ein Recht war es gewesen, das keine Willkür ihm nehmen konnte, und jetzt war es kaum das Papier wert, auf dem es geschrieben stand, weil einer im Kommen war, der ihn mit dem ersten Lallen seines Mundes von dem so lange besessenen Platze trieb ...

Tausende von Meilen war er gewandert, weil ihn dies Recht in die Heimat rief und eine Pflicht, eine Pflicht, die sich ihm erst in der Not und der Fremde offenbart hatte: seinen dereinstigen Untertanen ein gerechter und milder Herr zu werden. Sein Recht war eine Seifenblase, die der Hauch eines Kindes in die Luft blies, und seine Pflichten ungeborene Geschöpfe, die im Vorsatze stecken blieben gleich treibenden Keimen, denen ein jäher Frost in der Frühlingsnacht das Leben abschnitt ...

Also da war es am besten, wieder umzukehren und den Weg zurückzugehen, den man gekommen war. Nur ein paar Wochen noch abzuwarten, bis man die Gewißheit hatte, in der Zwischenzeit aber sich still zu verkriechen, um nicht das Mitleid der Nachbarn hervorzurufen, oder gar ihren Spott ... Oder, am allerekelhaftesten, ihre nachträglichen guten Ratschläge! Wie man dieses hätte vermeiden können und jenes hätte tun müssen, um als ein Braver und Gerechter den tüchtigen und ungefährlichen Ochsenpfad des Herkommens zu gehen. Nur schade, daß diese Neunmalneunweisen auf zwei Fragen keine Antwort wußten. Weshalb er gerade als ein schuldlos Bemakelter die Heimat hatte verlassen müssen, und weshalb er bei der Rückkehr den ihm von Anbeginn gebührenden Platz durch einen andern besetzt fand ... Persönliches Unglück nannten die einen es vielleicht mit einem Achselzucken, die andern aber hatten eine halb fromme, halb abergläubische Erklärung. Tausend Eichenstämme standen zu einem Walde vereint, vom gleichen Samen gezeugt und vom gleichen Boden ernährt. Dieselbe Sonne schien ihnen, derselbe Regen tränkte ihre Wurzeln, nur wenn ein Unwetter über sie hinzog, gab es eine Auswahl. Schwarz ballten sich die Wollen über dem ganzen Walde, stöhnend und ächzend beugten sich alle Kronen im Sturme, der vernichtende Strahl aber fuhr nur auf ein paar vereinzelte nieder, immer in der gleichen Bahn, ob das Wetter nun von Osten oder Westen, von Süden oder Norden kommen mochte. Immer wieder traf der lohende Strahl ihren Stamm, zerfetzte ihre Kronen und verbrannte ihr Mark, schlug sie immer von neuem, auch wenn sie als verdorrte Strünke standen, die laublosen Äste in die Luft gereckt. »Gezeichnete des Himmels« nannte der Volksmund diese Stämme, auf die sich aller Groll der oben wohnenden Gewalten entlud. Keine einzige Schuld hatten sie aufzuweisen, als daß sie in der ewig gleichbleibenden Bahn des Verhängnisses standen. Ihre Nachbarn blieben unversehrt, richteten sich nach vorübergezogenem Unwetter wieder auf und wuchsen weiter in grünender Pracht ... Warum und weshalb? Müßig war es, auf solche Fragen eine Antwort zu suchen ...

 

Am Ende der erlenbestandenen Dammallee, wo sie ins feste Land führte, lag das zum Vellahner Schlosse gehörige Dorf. Zwei Reihen niedriger Katen mit kleinen Gärtchen davor, die an eine zum Seeufer parallel ziehende Straße stießen. Mitten darin erhob sich der Wirtschaftshof mit seinen langen Ställen aus rotem Ziegelstein, dahinter das Wohnhaus des Verwalters. Ein weißgetünchter Bau mit altväterischem Strohdache, von zwei mächtigen Linden beschirmt.

Kein Licht mehr erhellte die Fenster. Alles war zeitig zur Ruhe gegangen in der schweren Zeit der Aussaat, die allen Schaffenden harte Arbeit brachte. Und Malte schritt mit einem Gefühl der Erleichterung die stille Straße entlang, froh, daß er niemandem Rede und Antwort zu stehen hatte. Bis ihm mit einem Male einfiel, wie unterschiedlich der Abschied vor zwei Jahren von dem heutigen Willkomm gewesen war. Damals hatte das ganze Dorf vor dem Verwalterhause gestanden; ein dreifaches Hurra hatte ihm das Geleit auf die Reise gegeben. Heute aber hatte sich seine Wiederkehr ohne Feierlichkeit abgespielt, und auf seine verwunderte Frage hatte der alte Leibkutscher Fuhbel erwidert, das läge wohl nur daran, daß der Herr Verwalter schon am Vormittage in dringenden Geschäften hätte nach Moltzahn fahren müssen. Damit hatte er sich zufrieden gegeben, jetzt aber stellte sich ihm für die unterbliebene Begrüßung die richtige Deutung ein. Nicht mehr der heimkehrende Herr war er diesen Leuten gewesen, sondern nur noch ein unbeträchtlicher junger Mann, an dessen Wohl- oder Übelwollen nichts gelegen war. In ein paar kurzen Wochen hatten sie hier einen andern zu begrüßen, und für den sparten sie wohl ihre Begeisterung auf. Und mit einem bittern Auflachen mußte er daran denken, wie er für diese Menschen in der Fremde allerhand gute Vorsätze gefaßt hatte. Ihnen ein milder und gerechter Herr zu sein, ihr Wohlergehen stets vor das eigene zu stellen ...

In dem letzten Hause der Dorfstraße, das um ein beträchtliches höher und geräumiger gebaut war, als die übrigen, brannte noch eine helle Lampe hinter den blanken Fensterscheiben. Ihr Schein fiel auf einen gepflegten Garten, in dem die Beete für die kommende Aussaat schon sauber geharkt und gerichtet waren. Der frisch gestrichene Gartenzaun prangte in hellem Grün, und in der jetzt noch kahlen Buchenlaube hatte Malte manches liebe Mal gesessen, wenn er sich nach einem frühen Pirschgange an einem Glase Milch erquickte. »Wohl bekomm's, Herr Graf«, hatte die rundliche Förstersfrau dazu gesagt, ihr Mann aber, wie ein Zaunstecken so dürr, stand dabei und erzählte eine seiner lügenhaften Jagdschnurren, wegen deren er berühmt war in der ganzen Gegend bis weit über Waren hinaus ... Malte konnte ihn deutlich sehen, wie er am Tische saß, die kurze Pfeife zwischen den Zähnen, und über einer ungewohnten Schreibarbeit schwitzte. Da regte sich in ihm einen Augenblick lang der Wunsch, einzutreten und Guten Abend zu sagen, aber das Gefühl der Verbitterung ließ ihn wieder umkehren. Von dem biedern alten Jägersmann hatte er's eigentlich am allerwenigsten erwartet, daß er ebenso wie die andern den Mantel nach dem von der Hohenrömnitz herüberwehenden Winde hängte ...

Vom Hofe her kam eine ganze Meute gejagt, die beiden edeln Schweißhunde Cora und Unkas, die Hühnerhunde Hektor, Tell und Diana und dazwischen die Schar der krummbeinigen Teckel. Heulend und laut bellend stürmten sie gegen das verschlossene Tor, drängten sich an den Latten des Gartenzaunes, treuer als die Menschen ... Kaum hatte ihnen der leise von der Straße her ziehende Lufthauch die vertraute Witterung zugetragen, da stürmten sie heran, den heimgekehrten Herrn zu begrüßen. Und Malte trat an das Tor, schob mit einem Griffe den hölzernen Riegel zurück, ließ seine alten Freunde und Weidgenossen ins Freie heraus. Da erst gab es den rechten Willkomm ... Kein Bellen mehr war es, sondern ein jubelndes Freudengeheul, und Malte hatte Mühe, sich in der ihn ungestüm umdrängenden Schar auf den Füßen zu halten. Hier griff er liebkosend in eine faltige Wampe, dort tätschelte er einen Rücken oder beutelte einen der Teckel am langen Behang. Im Herzen aber wurde es ihm warm, und er fand sein altes Lachen wieder ... Am Hause öffnete sich ein Fensterflügel, der Förster steckte den grauen Kopf heraus.

»Unkas, Tell, was ist das für ein Spektakel? Werdet ihr wohl auf den Hof zurück, ihr Kroopzeug?!«

»Lassen Sie nur, Schwarz,« rief Malte lachend zurück, »sie bringen mir bloß das Hurra aus, das der Verwalter Bergemann und Sie vergessen haben« ...

»Um Gottes willen, der Herr Graf!« Der Förster fuhr ins Zimmer zurück, und ein paar Augenblicke später kam er barhäuptig durch den Garten gelaufen. In seinem von Wind und Wetter rot gebeizten Gesicht, das ein struppiger Schnurrbart in zwei Hälften teilte, stand deutlich die frohe Überraschung geschrieben.

»Nein, Herr Graf, ist das eine unverhoffte Freude! Willkomm zu Hause und Weidmannsheil!«

Malte schüttelte die respektvoll ausgestreckte Hand.

»Weidmannsdank! Aber ich wundere mich doch ein bißchen, lieber Schwarz, daß ich mir bei meinen Leuten den Willkomm erst holen muß, sozusagen. Hat Ihnen denn der Verwalter von meiner Ankunft nichts mitgeteilt?«

»Nicht 'ne Silbe, Herr Graf! Ich Hab' ihn schon seit zwei Tagen nicht gesehen, weil ich mir die Finger krumm schreiben muß an den Holzabrechnungen für die Hohenrömnitzer Verwaltung.«

»Nanu,« fragte Malte verwundert, »was haben Sie denn mit der zu tun?«

Der Förster kratzte sich den grauen Kopf.

»Halten zu Gnaden, Herr Graf, das hab' ich mich manchmal auch gefragt. Aber was soll unsereins da machen? Mit eins kommt ein Ukas von Seiner Exzellenz dem Herrn Erblandmarschall, der Vellahner Förster soll alle Vierteljahr vor der Hohenrömnitzer Verwaltung Rechnung ablegen? Da muß man doch Order parieren, nich? Namentlich wenn einem deutlich dabei gewunken wird, du fliegst auf die Straße, wenn du dich weigerst?«

Malte lachte bitter auf.

»Mein Herr Onkel hat es ein bißchen eilig mit der Erbschaft für seinen kommenden Sprößling. Aber ich lebe ja noch, und der andre ist noch nicht auf der Welt! Na, ist gut, und wird sich alles finden« ...

Er wollte sich mit kurzem Gruße zum Weitergehen wenden, der alte Jägersmann aber sah ihn mit bittendem Blicke an.

»Das werden der Herr Graf mir doch nicht antun, an meinem Haus ohne Einkehr vorbeizugehen? Und wie soll ich wohl vor meiner Frau bestehen, wenn sie Ihnen nicht Guten Tag sagen darf? Unter uns gesagt, Herr Graf, sie ist mir in dieser Zeit ganz wie tiefsinnig geworden und denkt immerfort nur zwei Gedanken: ›Wenn unser junger Herr doch bloß gesund zurückkommen möchte, und, lieber himmlischer Vater, hilf, daß es da drüben in Hohenrömnitz ein rechtes nüdliches lüttes Mädchen gibt!‹ Aber es sind auch noch andre hier, die ebenso denken« ...

Da nickte Malte nur, sprechen konnte er nicht – – –

Wie ein Brummkreisel tummelte sich die rundliche kleine Frau, wußte vor Freude nicht, was sie dem lieben Ehrengaste alles an Gutem antun sollte. Einen wohl zwanzigpfündigen geräucherten Schinken schleppte sie aus der Speisekammer herbei, lockeres Schwarzbrot und goldgelbe Butter, und war untröstlich, daß der junge Herr nach dem reichlichen Mahl bei Miken nur eine kleine Kostprobe zu sich nahm. Erst nach wiederholter Aufforderung setzte sie sich an den Tisch, neben dem ihr Mann in geziemender Haltung stand und wie es sich gehörte, wenn man den gnädigen Herrn Grafen zu Gaste hatte. Malte aber empfand es mit heller Freude, daß er auch hier noch zwei Getreue besaß, die zu ihm hielten, selbst in bedrohlichen Zeiten ... Und er ging mehr aus sich heraus, als es sonst seine Art war, erzählte einige der zahlreichen Abenteuer, die er auf seiner afrikanischen Reise erlebt hatte. Wie er seinen ersten Löwen erlegt hatte beim ungefährlichen Ansitze gleich einem harmlosen Rehbocke, wie ihn aber nur ein Wunder vom sichern Tode errettet hatte, als ihn der weidwund geschossene Büffel in die Luft schleuderte. Nach hinten war er geflogen, das rasende Tier aber stürmte vorwärts, nahm in sinnlosem Zorn seinen schwarzen Büchsenspanner an, stieß und trampelte den armen Kerl in den quebbigen Sumpfboden mit seiner letzten Kraft, bis er über dem formlosen Körper zusammenbrach ...

»Gott steh' mir bei,« sagte die rundliche kleine Frau, »das ist ja noch schlimmer als ein angeschossener Keiler!« Der hagere Förster aber hatte mit leuchtenden Augen zugehört. Unwillkürlich faltete er die Hände und schickte einen Stoßseufzer zum Himmel. Wenn ihm das Schicksal solche Abenteuer beschert hätte, was wollte er da wohl für Stücklein erzählen?! ... So etwas mußte doch ausgeschmückt werden, mit allerhand Zutaten verbrämt, nicht aber in nüchterner Manier erzählt, wie ein trockener Bericht in der Zeitung? Und kaum erwarten konnte er's, bis er seine eigene Schnurre zum besten geben durfte von der Art, wie er sie sich auf den einsamen Gängen im Vellahner Revier ausdachte und zurechtlegte ...

»Das ist ja nun wohl interessant, Herr Graf, aber auch bei uns zu Hause erlebt man allerhand merkwürdige Dinge. Wollen Herr Graf zum Beispiel glauben, daß sich einer von meinen Teckeln, der Murx, zum richtigen Aviatiker ausgebildet hat?«

»Ach nee,« sagte Malte und lehnte sich im Stuhle zurück. »Ein Teckel als Aviatiker? Das ist in der Tat eine merkwürdige Geschichte ... Wenn Sie es nicht sagen würden, lieber Schwarz, würde man eine solche Behauptung wohl in das Reich der erstunkenen Jagdanekdoten verweisen!« Dazu machte er ein scheinbar ernstes Gesicht, denn der Alte konnte verstockt werden, wenn man nicht so tat, als wenn man ihm unbedingt glaubte ...

Der Förster legte mit treuherzigem Gesicht die Hand auf die Brust.

»Wer mich kennt, der weiß, daß ich nur wirkliche Erlebnisse erzähl' ... Nich, Herr Graf? Und ich kann doch nichts dafür, daß sich da manchmal Ereignisse abspielen, die mit den gewöhnlichen Grundsätzen, nach denen sich die Dinge dieser Welt in Erscheinung setzen, nur schwer zu vereinbaren sind. Unsereins kann bloß die Tatsachen berichten, die Gelehrten aber mögen sich hinterher den Kopf zerbrechen, warum das passiert ist und wieso ... Also dieser Murx – Herr Graf haben ihn vor der Abreise vielleicht noch als kleinen Welpen von der Waldine gekannt – war schon von Jugend auf ein merkwürdiger und seltsamer Hund. Stundenlang saß er auf einem Fleck, sah nachdenklich vor sich hin, und ich wollte ihn schon abschaffen, weil er mir nicht munter genug war. Aber da merkte ich eines Tages, daß dieses nachdenkliche Wesen seinen guten Grund hatte. An ihm fraß nämlich der Ehrgeiz, sich über seinen Stand als Teckel hinauszuarbeiten, mehr zu werden als seine Vorfahren! Das kommt ja auch bei den Menschen vor, wieso also nicht bei den Hunden? Wie zum Beispiel der Sohn eines Scharwerkers es mit dem Ehrgeiz kriegt, über den Vater hinauszuwachsen und – sagen wir mal – Tischler zu werden, so hatte der Murx sich in den Kopf gesetzt, Hühnerhund zu werden. Als ich eines Tages mit der Diana ins Feld ging, um ein paar Rebhühner zu schießen, lief er mit, und, was soll ich Ihnen sagen, Herr Graf? Er machte es bedeutend besser als die Alte! Während die planlos in den Kartoffeln herumpreschte, suchte er sich das Volk nach reiflicher Überlegung in einer kleinen Wiese auf, stand fest vor, und als ich eine Doublette schoß, apportierte er mir die beiden Hühner. Zu putzig war es anzusehen, wie der kleine Kerl die Hühner hoch im Fang anschleppte! Da sagte ich mir natürlich, solch ein seltenes Talent muß weiter ausgebildet werden, ernannte den Murx sozusagen zu meinem persönlichen Adjutanten. Auf Fasanen führte ich ihn ab und auf Enten, arbeitete mit ihm auf der kalten und warmen Schweißfährte, und mit jeder neuen Aufgabe wuchs sein Ehrgeiz. Zuletzt wurden die andern Köter ihm aufsässig, denn er besorgte all ihre Geschäfte, sie selbst hatten nichts mehr zu tun. Wo sie ihn erwischten, bissen sie ihn, ich mußte ihn nachts in mein Schlafzimmer nehmen, sonst hätten die andern ihn aus Brotneid umgebracht ...

»Also eines Tages geh' ich mit ihm an den See, Enten schießen. Das war seine ganz besondere Passion, denn da konnte er sich vor seinen Artgenossen so recht hervortun, weil die Teckel doch sonst nicht ums Sterben ins Wasser gehen. Er aber plantschte ordentlich drin vor Vergnügen! Na, ich schoß denn drei oder vier, und mit einemmal rutschte mir eine ein bißchen unversehens heraus, ich schmeiß' noch hin, aber mir war so, als hätt' ich vorbeigefunkt. Nur der Murx hatte, wie immer, besser aufgepaßt. Unverdrossen rudert er ins offene Wasser hinaus, und richtig, die Ente kommt runter, weil sie doch noch ein paar Schrote gekriegt hatte. Drei Schritte vor ihm fällt sie ein, taucht natürlich, er aber ihr nach wie 'ne Otter, hat sie am rechten Schwimmer erwischt, ›Brav, Murx,‹ ruf' ich, ›brav, und hierher apporte‹, und da passiert doch ganz was Dolles: ein Seeadler, der wie ein Punkt oben in der Luft stand, stürzt herab, schlägt den Hund und die Ente und, heidi, wieder nach oben! ... Einen Augenblick stehe ich starr, das Herz stößt es mir fast ab, daß ich meinen geliebten Murx auf eine so niederträchtige Weise verlieren soll. Im nächsten Augenblick aber schon habe ich den Drilling auf Kugelschuß eingestellt, ziehe mit und, bems, der Adler plumpt mit tadellosem Blattschuß ins Wasser. Gott sei Dank, sage ich, das hat noch mal geschlumpt, dann aber stehe ich da und sperr' den Mund wie ein Scheunentor auf: mein Murx kommt nicht herunter, sondern fliegt mit der Ente weiter! ... ›Murx,‹ schrei' ich, ›bist du verrückt geworden?‹, er aber winkt nur mit dem rechten Vorderlauf, und ein paar Minuten danach war er in den Wolken verschwunden. Ich ging traurig nach Hause, meine Frau aber gab mir die Aufklärung. ›Siehst du,‹ sagte sie, ›das kommt davon, daß du mir immer abends die Zeitung laut vorgelesen hast. Von den Fortschritten der Luftschiffahrt und so, und daß die Menschen jetzt fliegen können wie die Vögel. Da hat der Hund es mit dem Ehrgeiz gekriegt, das mal auch zu probieren, und jetzt werden wir den lieben kleinen Kerl natürlich nie mehr wiedersehen‹ ... Das ist denn auch leider eingetroffen. Noch heute soll er zurückkommen, der Racker, und wo er 'rumfliegen mag, weiß allein der Himmel« ...

Malte lachte, daß der Stuhl mit ihm schütterte, die rundliche kleine Frau aber tupfte sich mit den Fingerspitzen die Augenwinkel.

»Geh, geh, Alter! Daß du mit dem armen kleinen Murx deinen Spaß treiben würdest, hab' ich nicht gedacht.« Und zu Malte gewandt, fügte sie hinzu: »Nämlich, Herr Graf, der Hund war mir ans Herz gewachsen wie ein leibliches Kind wegen seiner Anhänglichkeit, und ich hab' wochenlang um ihn getrauert, als der gemeine Mensch drüben in Alten-Krakow ihn totgeschossen hatte. Weil er ein paar Schritte über die Grenze gelaufen war hinter einem Karnickel her. Und ich muß sagen, wär' ich an der Stelle von meinem Mann gewesen, ich hätt' es diesem niederträchtigen Kerl ausgezahlt!« ...

Der Förster Schwarz strich sich heftig den buschigen Schnurrbart, und seine Augen wurden dunkel.

»Schwatz nicht dummes Zeug, Alte! Eine Kugel hatte ich nicht im Lauf, und für einen Schrotschuß stand mir der Schinder zu weit. Er hätte mich bloß ausgelacht!«

»Wer,« fragte Malte. »Der alte Baron Köhnemann?«

»Nein, Herr Graf, der Alten-Krakower Förster Witthaar. Den Herrn Baron hat, Gott sei Dank, vor anderthalb Jahren schon der Deuwel geholt. Leider bloß an einer Lungenentzündung, wie andre ehrliche Menschen auch ... Wenn's nach Verdienst gegangen wir', hätt' ihm wohl ein andres Ende zugestanden. Aber die alte Feindschaft ist natürlich geblieben. Und ich revanchier' mich schon noch einmal bei meinem Herrn Kollegen drüben in Alten-Krakow! Mit Salz schieß' ich dem Kerl auf den Puckel, daß er ein Jahr lang sich die Schwären kratzen muß« ... Er brach ab und ballte zornig die Faust.

Danach aber lenkte das Gespräch ganz von selbst in eine Bahn, die der Heimgekehrte bis dahin vermieden hatte. Innerlich hatte er darauf gebrannt zu erfahren, was in den zwei Jahren seiner Abwesenheit drüben in Alten-Krakow geschehen sein mochte, aber eine direkte Frage hatte er nicht stellen wollen. Die Wunde selbst war wohl schon längst zugeheilt, aber man hütete noch immer die Narbe, als könnte sie unter einer unvermuteten Berührung wieder aufbrechen.

»Nämlich,« begann die rundliche kleine Frau zu sprechen, »der alte Baron Köhnemann hatte sich wieder einmal im Strelitzer Hof einen Tüchtigen eingeschwenkt. Weil seine Tochter nach dem Hinrichshagener Witwe geworden war, kaum sechs Wochen nach der Hochzeit, und er wußte nicht, wie es mit der Erbschaft stand und so. Nachher hat es sich ja herausgestellt, daß sie das ganze Vermögen bekam, aber er wußte es eben noch nicht. Da soll er an vier Flaschen Rotspohn getrunken haben, und der Kutscher ebenso, nur natürlich in Kümmel. Auf dem Heimweg dann hat er seinen Herrn wohl aus der Kalesche verloren, in seinem Dröhn aber sich nicht umgesehen, sondern zu Hause ruhig ausgespannt. Da hat denn der Alten-Krakower Herr die Nacht über in der Kälte gelegen, und wie sie ihn am andern Morgen suchen gingen, kannte er keinen mehr. Die Baroneß aber ist nach seinem Begräbnis lange fort gewesen, und auch jetzt kommt sie immer nur auf ein paar Wochen nach Haus. Das Schloß hat sie verpachtet mit der Jagd, an einen Herrn Bankdirektor aus Berlin, der immer in einem Automobil angefahren kommt, und neulich wurde erzählt, sie würde das ganze Gewese überhaupt verkaufen. Weil ihr's zu beschwerlich wäre, die Wirtschaft zu kontrollieren von Wiesbaden aus. Da soll sie sich nämlich eine große Villa gebaut haben, und ich kann's ihr nicht verdenken. In so einer schönen Gegend, wo man nur eine Viertelstunde zu fahren braucht, und man steht an dem herrlichen Rheinstrom. Des Abends aber kann man wieder Theater haben oder Konzert, statt der Einsamkeit hier in so einem alten mecklenburg'schen Haus. Da besinnt man sich doch nicht, als schöne junge Witwe, wo man wohl lieber wohnt, nich?«

»Täuw, täuw, Ohlsch,« sagte der Förster mit leisem Vorwurf, »und sprich nicht von Dingen, die peinlich sind. Wegen der Vergangenheit und so! Der Herr Graf interessieren sich wohl auch mehr für die Jagd. Und da muß ich berichten, daß dieser Berliner Herr Bankdirektor der Vellahner Gutsverwaltung zehntausend Mark geboten hat, wenn das Gatter abgerissen wird. Weil er sich nämlich mit einem langjährigen Kontrakt bei der Alten-Krakower Pachtung sozusagen in die Nesseln gesetzt hat. Aber ich habe befürwortet, das Gatter bleibt stehen. Was braucht so ein Berliner Herr Bankdirektor Hirsche zu schießen hier bei uns in Mecklenburg? Das ist doch ein Unfug, nich? Und überhaupt, wo mein hochseliger Herr Graf das Gatter errichtet hat, in einer ganz bestimmten Absicht, da hat es auch stehen zu bleiben. Das Geweih hab' ich heute noch nicht von dem Hirsch, der zu all dem Streit den Ursprung gegeben hat« ... Und er strich ingrimmig den buschigen Schnurrbart. Die kleine Frau aber schlug die fleischigen Hände zusammen.

»Nun sehen sich der Herr Graf bloß dieses verdrehte Mannsbild an! Alle Wände im Haus hängen schon voll von Knochen, nirgends ist mehr eine Handbreit Platz, und da jammert er um das eine Geweih, annijiert uns hier mit seinen Jagdgeschichten! Nämlich, wo er mich vorhin unterbrochen hat, wollt' ich nur noch bemerken, daß man sich hier allgemein und sehr verwundert, daß die junge Witwe gar nicht mehr ans Heiraten denkt. Nichts als Körbe teilt sie aus, und man erzählt sich, fast auf jedem Schloß in der Umgegend soll einer davon stehen. Bei dem Panschenhagener Herrn soll einer stehen, bei dem Schwingendorfer einer, und bei dem Tüschower sogar zwei. Der hat wohl das schöne Hinrichshagener Geld am nötigsten gebraucht, und da ist er zweimal fragen gekommen, aber es hat ihm nichts genützt.«

So erzählte die rundliche kleine Förstersfrau voll Eifer, als Malte aber nur schweigend zuhörte und mit keinem Zeichen seine Teilnahme verriet, zuckte ihr Gatte die Achseln, als hätte er sagen wollen: »Da hast du's mit deinen Frauenzimmergeschichten! Ernsthafte Menschen langweilen sich dabei bloß.« Und er fing an zu berichten, daß die Aussichten für die Jagd so gut wären wie schon seit langem nicht mehr. Die Rehböcke versprächen nach dem milden Winter ganz kapitale Gehörne zu schieben, mit den Hirschen aber wäre es geradezu eine Pracht. Zum mindesten zehn jagdbare müßten in diesem Herbst zur Strecke kommen, darunter ein paar gewaltige Recken, die jetzt schon im Baste beinahe armlange Stangen trügen. Und mit listigem Augenzwinkern erzählte er, wie es ihm gelungen wäre, die Angriffe des Herrn Erblandmarschalls auf den Vellahner Wildbestand zu vereiteln.

Da wurde Malte mit einem Male wieder lebhaft, solange die Frau Försterin von den Schicksalen seiner einstigen Jugendliebe sprach, hatte er an sich gehalten. Unziemlich wäre es ihm erschienen, auch nur mit einem Wimperzucken zuzugeben, daß er einmal in dem Leben dieser jungen Witwe eine besondere Rolle gespielt hatte. Es war wohl genug geklatscht und getratscht worden darüber nach seiner plötzlichen Abreise, und von seiner Heimkehr schien man sich vielleicht eine Fortsetzung des interessanten Liebesromanes zu erwarten. Das war natürlich Unsinn und ausgeschlossen. Ein jedes von ihnen hatte sich zurechtgefunden auf seine Art nach der fürchterlichen Wirrsal jener Zeit, und dabei sollte es verbleiben. Für Liebesgeschichten gab es auch keinen Platz, wo es um harte Männersachen ging ... Eine Ungebühr sondergleichen war es, daß der Oheim sich unterfangen hatte, in sein Jagdrecht zu greifen, während er abwesend war, denn dieses war ein Recht ganz besonderer Art. Gewissermaßen das feinste und oberste, das einem Herrn zustand ... Auf Maltes Stirn schwoll die Zornader, und er legte schwer die Hand auf den Tisch.

»Erlauben Sie mal, Schwarz! Mein Onkel hätte hier in Vellahn Treibjagden abgehalten und Herren hergeschickt mit der Erlaubnis, einen guten Hirsch abzuschießen?«

»Wohl, wohl, Herr Graf! Aber ich konnte doch keine Revolution machen und sagen, ich gehorche nicht? Ich hab' mir anders geholfen, denn ein alter Waldläufer kennt doch viele Schliche, nich? Bei den Treiben in freier Wildbahn gingen mir immer die Hirsche durch die Treiberkette zurück. Irgendeiner von den Lümmels war beim Drücken zu laut gewesen oder es lag an einer andern Ursache – das Wild kam nicht vor die Schützenlinie. Daß ich im Morgengrauen quer durch die Schonungen einen dünnen Draht gespannt hatte, brauchten Seine Exzellenz ja nicht zu wissen! Und ähnlich machte ich es mit den Lappjagden. Meine Teckel waren dann durch irgendeinen Zufall des Nachts vorher immer ausgekommen und hatten die Jagen, die am nächsten Morgen einzustellen waren, leer gemacht. Die Herren zogen wieder ab, ohne den Finger krumm gemacht zu haben, und Seine Exzellenz waren höchst ungnädig. Ich wäre ein ganz untüchtiger Beamter, der sich sein Lehrgeld als Hochwildjäger eigentlich zurückzahlen lassen müßte!« ... Der alte Förster lachte still vor sich hin, daß um seine blanken Augen in dem pergamenttrockenen Gesicht sich tausend Fältchen zogen ... »Ich hab' natürlich nicht widersprochen, Herr Graf, aber ich hatte mein Vergnügen dafür, wenn der neue Herr Schwager von Seiner Exzellenz zu mir zum Pürschen kam. Das war jedesmal ein reines Theater, denn er fieberte geradezu vor Jagdpassion und wurde unter seiner braunen Haut ganz blaß, wenn er ein Stück Wild zu sehen kriegte. Aber, weiß der Deuwel, was in die Vellahner Hirsche gefahren sein mochte, näher als auf vier-, fünfhundert Schritt ließen sie ihn nicht heran. Dann sprangen sie immer flüchtig ab, er konnte so vorsichtig pirschen, wie er wollte. Und er hielt mir hinterher lange Vorträge, woran es gelegen hätte, seiner Meinung nach, focht mit den Händen in der Lust, und die Worte überpurzelten sich bloß so. Ich sagte: ›Zu Befehl‹, und ›beim nächsten Mal wird es besser gehen‹, aber daß ich hinter seinem Rücken den Hirschen mit dem Taschentuche gewinkt hatte, während er sich anpirschte, das hab' ich ihm natürlich nicht auf die Nase gehängt. Manchmal tat er mir ja ein bißchen leid, aber ich konnte ihm nicht helfen. Eine Treue hat man doch nur zu seiner eigenen Herrschaft. Und wie sollte ich wohl vor Ihnen bestehen, Herr Graf, wenn Sie bei der Rückkehr fragten: ›Schwarz, was ist aus meinen Hirschen geworden?‹ ... Offen aufsässig werden konnte ich nicht. Da wäre ich geflogen und ein andrer an meine Stelle getreten, der gefügiger war. Also da frage ich den Herrn Grafen jetzt gehorsamst, ob ich wohl recht gehandelt habe?«

Malte stand auf, schüttelte dem Getreuen die Hand.

»Gut war's, Alter, und von jetzt an wollen wir denen da drüben in Hohenrömnitz gründlich die Zähne zeigen. Das heißt, solange wir's noch können. Aber, sagen Sie mal – das interessiert mich im Augenblick ganz besonders – wie haben Sie diesen Italiener eigentlich angeredet? Hatte er vielleicht einen Titel oder so was Ähnliches?«

Der Förster blickte ein wenig verwundert auf.

»Herr ›Conte‹ hab' ich immer zu ihm gesagt. Der Verwalter hat mir erklärt, das wär' in Italien dasselbe wie bei uns ein Graf. Aber, ich kann mir nicht helfen, es will mir nicht in den Kopf, daß solche ausländischen Herrschaften für voll zu estimieren sein sollten. Wenn dieser Herr Conte hier zum Pirschen kam, mußte ich immer hinsehen, ob er nicht einen Leierkasten bei sich hatte und einen kleinen Affen auf der Schulter.«

Die Frau Försterin schalt, er würde sich mit seinem losen Mundwerk noch mal um den Hals reden, Malte aber sah mit trübseligem Lächeln vor sich hin. Es stimmte schon, was er befürchtet hatte. Seine neue Frau Tante in Hohenrömnitz war aus altadeligem Geschlecht! Dazu war sein Herr Oheim ja auch viel zu vorsichtig, um eine junge Dame zu heiraten, die nach dem strengen Hausgesetze nicht als vollkommen ebenbürtig anzusehen wäre. Na und dann noch ein paar kurze Wochen, und es war mit dem Zähnezeigen hier vorbei ...

Er griff nach Stock und Mütze, der Förster wollte ihm das Geleit geben, aber seine rundliche kleine Frau schob sich dazwischen, und vor der Gartentür faßte sie ihren Besucher bei der Hand.

»Würden Sie's 'ner alten Frau sehr übelnehmen, Herr Graf, wenn sie sich erlauben wollte, Ihnen einen guten Rat zu geben?«

»Bewahre, Mutter Schwarzin! Guten Rat kann man immer gebrauchen« ...

»Nun denn« – sie tat erst einen tiefen Atemzug – »Sie brauchten nur nach Alten-Krakow zu reiten, und alles übrige könnt' uns egal sein. Ob in Hohenrömnitz nun ein Jung zur Welt käm oder 'ne lütte Deern, das könnte dann wohl ganz egal sein!«

»Ach nee,« sagte Malte belustigt und stemmte den Arm in die Seite, »das müssen Sie mir schon ein bißchen näher erklären.«

»Gott, Herr Graf« – die kleine Frau rieb sich in einiger Verlegenheit das fleischige Kinn mit der freien Hand – »da ist doch nicht viel dran zu erklären. Sie brauchen wirklich nur nach Alten Krakow zu reiten! Und es trifft sich gut. Die verwitwete Frau Baronin von Perkwald ist vor acht Tagen angekommen, ob sie aber noch lange dableibt, das weiß ich nicht.«

»Ach so,« sagte Malte, »jetzt verstehe ich. Wer das sind Hirngespinste, liebe Mutter Schwarzin. Was da vor jenen zwei Jahren war, das ist eine belanglose Jugendeselei gewesen, wie sie ein jeder wohl mal durchmacht. Und eine längst begrabene Geschichte bei mir und bei ihr. Ich möchte nicht, daß sie nach meiner Rückkehr wieder ausgebuddelt wird. Vor allem aber liegt mir daran, daß der gute Ruf der jungen Dame nicht wieder von allerhand hämischen Mäulern über die Straße geschleppt wird. Und deshalb werde ich nicht nach Alten-Krakow reiten. Gute Nacht, Mutter Schwarzin.«

Er wollte sich zum Gehen wenden, die kleine Frau aber hielt ihn in hellem Eifer am Rockärmel fest.

»Ein kurzes Augenblickchen nur noch, Herr Graf! Ich sprech' doch nicht leichtfertig daher, und wenn ich mir herausnehme, Ihnen einen guten Rat zu geben, will ich Sie nicht in den April schicken. Das würd' mir wohl kaum zukommen, nich? ... Also vor drei Tagen war ich nach Moltzahn gefahren, Sämereien zu kaufen und ein paar Kleinigkeiten für die Wirtschaft zu besorgen. Und wie ich aus dem Laden komme, von dem Kaufmann Jürgensen gleich am Markt, wer begegnet mir da? Die Frau Baronin von Perkwald! Zum Verlieben sah sie aus in dem blauen Cheviotkleid, ganz eng anliegend, wissen Sie, Herr Graf, nach der neuesten Berliner Mode, und nur einen Kragen aus Silberfuchs um die Schultern. Dazu so einen ganz großen Hut mit seidenen Bandschleifen, also ich sag' Ihnen, Herr Graf, wie der leibhaftige Frühling sah das liebe junge Frauchen aus! Ich knicks' natürlich, sie dankt mir ganz leutselig und geht vorbei. Auf einmal aber, nach ein paar Schritten, dreht sie wieder um: ›Ach, meine liebe Frau Förster, entschuldigen Sie gütigst, daß ich Sie aufhalte. Ich möchte nämlich gerne wissen, ob vom Herrn Grafen Römnitz eine Nachricht da ist, wann er wohl wieder nach Hause kommt. Es ist nur wegen des Gatters, und weil der Herr Direktor Steinfeld mit ihm persönlich darüber verhandeln möchte.‹ Da gab ich ihr denn Auskunft, daß wir den Tag der Rückkehr selbst nicht wissen würden, sie nickte mir noch freundlich zu, die Frau Baronin, und wir gingen auseinander.«

Malte hatte geduldig zugehört, jetzt lachte er kurz auf.

»Das ist alles, Mutter Schwarzin?«

»Ja,« sagte sie und sah ihn vergnügt aus ihren kleinen Äuglein an, »bloß noch 'ne ganze Kleinigkeit war dabei. Die Frau Baronin wurde rot wie ein Pfingströschen, wie sie nach Ihnen fragte, Herr Graf, und das mit dem Gatter war doch bloß eine Ausrede.«

»Und darauf bauen Sie gleich ein ganzes Luftschloß auf? Na denn Gott befohlen, Mutter Schwarzin! Junge Damen wechseln gar leicht mal die Farbe, da muß man keine Staatsaktion draus machen« ...

Er ging mit langen Schritten davon, die rundliche kleine Frau aber sah ihm mit einem stillen Schmunzeln nach, bis seine hohe Gestalt an der Wegbiegung zwischen den Bäumen verschwand. Und sie schmunzelte noch, als sie wieder in die Stube zurückkehrte, in der zahllose Hirschgeweihe an den Wänden hingen und die helle Lampe über einem weißen Tischtuche brannte.

Der hagere Förster blickte von der sauern Schreibarbeit auf, schob die Brille, die er vor seinen weitsichtigen Augen tragen mußte, auf die Nasenspitze. »Na, Alte, hast du dir da draußen einen Kuppelpelz verdient?«

»Vielleicht,« sagte sie. »Vorläufig wollte er ja noch nichts davon wissen, aber die süße Medizin, die ich ihm eingegeben hab', wird wohl ihre Schuldigkeit tun. Die Mannsbilder sind ja eins wie das andre. Eingebildet und von sich selbst eingenommen bis übers Dach hinaus. Trotzdem er's nicht wahr haben wollte, hab' ich's ihm doch angesehen, wie sehr es ihm geschmeichelt hat, daß die Frau Baronin ihn noch nicht vergessen hat. Jetzt wird er mit einemmal finden, daß es ihm eigentlich genau ebenso gegangen ist, und wenn das Glück gut ist, können wir in acht Wochen Hochzeit feiern.«

Der Förster Schwarz steckte bedächtig die ausgegangene Pfeife wieder in Brand.

»Täuw, täuw, Ohlsch, und immer langsam fahren mit den jungen Pferden! Da ist manches zwischen, was sich nicht wegblasen läßt wie eine Flaumfeder. Aber es wär' ein Segen. Wenn man sich überlegt, daß man sich womöglich auf seine alten Tage noch 'ne neue Herrschaft suchen soll ...«

»Na und der arme Jung? Hast ja gehört, wie der Bergemann es uns neulich vorgerechnet hat, was ihm bleibt, wenn er von hier 'raus muß. Die Überfahrt nach Amerika und noch ein paar Groschen, um sich's da drüben eine Weile mitanzusehen, ob er Kellner werden will oder Stallknecht. So ziemlich das Edelste an Blut, was wir haben in Mecklenburg, und das soll so hundsföttisch zugrunde gehen?« ... Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, ihr Gatte aber blies eine mächtige Rauchwolke in die Luft.

»Wenn nur die Hälfte von dem in Erfüllung geht, was ich dem Hohenrömnitzer Herrn schon angewünscht hab' in dieser Zeit« ...

»Ja,« sagte die rundliche kleine Frau, »aber auf die anständigen Leute hört der liebe Gott wohl nicht mehr. Und denk an mein Wort: das gibt einen Jungen drüben in Hohenrömnitz! Ich hör' schon die Glocken läuten und den Pfarrer auf der Kanzel: ›Rufe mit mir Hosianna, liebe Gemeinde, Gott der Herr hat uns eine große Freude beschert. Unserm gnädigen Herrn Grafen ist ein Sohn geboren worden, und dankerfüllt heben wir unsre Augen mit dem beglückten Elternpaar zu dem Allgütigen, der heißen Gebeten Erhörung geschenkt hat‹ ... Ah, pfui Deuwel nochmal« ... Sie spie aus und trug den mächtigen Schinken wieder in die Speisekammer zurück. Der alte Jägersmann aber griff mit einem Seufzer nach dem verhaßten Schreibkiel und malte Zahlen in endlosen Tabellen. Die schwere Saufeder, auf die man den wehrhaften Keller rennen ließ, lag ihm besser in der Hand ...

 

Der Hühnerhund Hektor, ein »Brauntiger« mit mächtigen Gliedern, hatte in gewaltigem Satze den hohen Gartenzaun überfallen, jagte mit gesenkter Nase aus der Fährte seines Herrn dahin, der ihn beim Fortgehen anscheinend vergessen hatte. Zwei Jahre lang hatte er sich nach ihm gebangt, heute hatte es endlich ein Wiedersehen gegeben, und nun sollte er bei den andern Hunden bleiben, statt wie früher immer seinen gebührenden Platz einzunehmen? Bei Tag an seiner linken Seite, des Nachts aber auf der abgewetzten Keilerschwarte vor dem Bett, als ein treuer Wächter, der jedem feindseligen Gaste an die Kehle fuhr. Einen kurzen Blaffer stieß er aus, als er seinen Herrn erreicht hatte, und der nahm ihn freundlich auf. Klopfte ihm die starke Brust, »recht so, Hektor, brav so,« und danach gingen sie zu zweien die Straße entlang, die nach Alten-Krakow führte. Jeder in seinen eigenen Gedanken. Der Hühnerhund Hektor in freudigem Träumen von kommenden Jagdtagen, an denen er die Völker der Rebhühner aus den Kartoffelfeldern hochbrachte, sein Herr aber in Erinnerungen verloren, die in längst vergangene Tage zurückführten ...

Wie manches liebe Mal war er diesen selben Weg in fiebernder Erwartung geritten, ob sein blondes Liebchen wohl bei dem verschwiegenen Stelldichein sich einfinden würde! Denn nicht immer war es sicher, daß sie sich von Hause losmachen konnte. Wenn den mürrischen alten Herrn die Gicht plagte, mußte sie ihm vorlesen bis spät in die Nacht hinein, und der Weg auf den Galgenberg war ihr versperrt. Er aber stand unter den drei Eichen, paßte auf jeden Laut, um schließlich, wenn die gewohnte Zeit längst verstrichen war, mit traurigem Herzen den Heimweg anzutreten. Das war dann ein verlorener Abend gewesen, den man ausstreichen mußte im Leben. Ebenso wie man jetzt die ganze Zeit ausstreichen mußte als nutzlos vertan. Der einzige Gewinn war ein verpfuschtes Leben und ein untilgbarer Makel. Die Hand war schon längst vermodert, die ihn geschlagen hatte, aber der Makel blieb bestehen, und als ein eiserner Riegel schob er sich vor alle Wünsche und Hoffnungen, die in eine hellere Zukunft langen wollten ...

In zahllosen Nächten, wenn die Zeltgenossen längst schon im tiefen Schlafe lagen, war er in Bohren und Grübeln sich darüber klar geworden, daß die Vergangenheit abgetan sein mutzte, wenn er wieder den Boden der Heimat betrat. Ein neues Leben mußte anfangen mit ernsthafter Arbeit und vielfältigen Pflichten, und als er nach langen zwei Jahren aus dem Innern des schwarzen Landes wieder nach der Küste zog, hoffte er im innersten Schrein seines Herzens, jetzt eine klare Bahn zu finden. Vollgerüttelte siebzig Jahre hatte der eigensüchtige Greis auf der Hohenrömnitz gesessen, fast fünfzig davon in unumschränkter Herrschaft. Es war Zeit, daß er Platz machte, die Zügel seinem Nachfolger überließ. Und hundert gute Werke hatte er sich ausgedacht in den einsamen Stunden, in denen man das Schicksal durch wohlgefällige Vorsätze zu bestechen hofft, mit ihm handelt wie mit einer Partei, die hinreichenden Gründen zugänglich ist. Ein gerechter Herr hatte er werden wollen, der Gutes tat und jedem das Seine gab mit reichlichem Maß, aber das blinde Wesen, das die Schicksale der Menschen würfelte in blödem Zufallsspiel, war ungerührt geblieben. Statt einer klaren Bahn fand er neue Wirrsal, wie ein im Winde treibendes Blatt war er, dem jeder wechselnde Lufthauch eine neue Richtung wies ... Ein fest in seinem Recht Stehender war er sich vorgekommen, und jetzt war er einem törichten Paar- oder Unpaarspiel ausgeliefert. Ein unbeträchtliches Nichts war er oder ein Herr, je nachdem, ob in dem alten Hause der Hohenrömnitz ein Knabe zur Welt kam oder ein rechtloses Mädchen ...

Da wäre es freilich am gescheitesten gewesen, aus all dieser schwankenden Unsicherheit auf festen Boden zu springen, die Hand zu ergreifen, die sich ihm entgegenstreckte. Und wie hatte die rundliche kleine Förstersfrau gesagt? Er brauchte nur nach Alten-Krakow zu reiten und er war geborgen! Ein Skrupelloser an seiner Stelle hätte es vielleicht getan, ihm aber war von dem raschen Zugreifen seiner Ahnen nichts verblieben. Ein Zauderer und Zweifler war er, und der Teufel mochte den rothaarigen kleinen Gesellen holen, der ihn das Nachdenken und Grübeln gelehrt hatte! ...

Es schmeichelte ihm ja nicht wenig, daß die blonde Gertrud Köhnemann noch immer an ihn dachte, aber er hätte doch als ein Lügner dastehen müssen, wenn er jetzt als einer ihrer zahlreichen Bewerber auf den Plan trat. Der Schlag damals hatte alles übrige ausgelöscht, es war wirklich nichts andres gewesen als eine holde Torheit, die man halb aus Langerweile angefangen hatte, halb im Drange der sich ungestüm regenden Jugend ... Und die für alle Zeiten geschworene Treue hatte nur eine gar kurze Weile vorgehalten. Schon auf dem Schiffe, das nach Afrika ging, hatte er sich ganz sinnlos in eine brünette kleine Engländerin verliebt, die ihrem Gatten in die Kolonieen folgte. Der Sieg war nicht schwer gewesen, aber noch ganz deutlich entsann er sich der heftigen Gewissensbisse, die jedem Beisammensein folgten ... Bis die Gewohnheit die Reue erstickte ...

Und noch ein andres kam hinzu, das ihm verwehrte, das abgerissene Band wieder zu knüpfen. Ein Gefühl fast des Ekels ...

Neben dem blonden Kopfe der Gertrud Köhnemann sah er einen widerlichen Greis, wie einen jener Gnomen, die in der Sage spukten. Der reckte seine dürren Finger aus, sie aber fand keinen Widerstand ... Statt ihr keusches Magdtum mit dem Tode zu verteidigen, unterwarf sie sich. Und wie ein Makel war es an ihr, den keine Wasser abwaschen konnten. Bis ihm mit einem Male einfiel, daß er wie ein Pharisäer sich über die andre erhob. Weil er sein kümmerliches Leben mehr geliebt hatte als seine Ehre, war er vor jenen zwei Jahren in die Fremde gegangen. Draußen lief man ganz leidlich herum, in der Heimat aber galt das alte Recht. Mit dem neuen Leben war es nichts, die Vergangenheit hob ihre starke Hand und forderte den Zins ... Da lehnte er sich mit dem Rücken gegen eine der alten Eichen, die die Straße zu beiden Seiten säumten, und ein Aufschluchzen erschütterte seinen starken Körper. Andern ging das Leben dahin in glatter Bahn, kaum der Schatten einer Sorge trübte ihren Weg. Ihm aber türmten sich Hindernisse und Verhaue überall, und schließlich wurde man müde, dagegen anzurennen ...

Hektor, der Brauntiger, hatte im Grabenrande ein Karnickel aufgestöbert, und da ihn kein mahnender Pfiff zurückhielt, hatte er sich das Vergnügen einer kleinen Privatjagd geleistet und war dem flinken Ausreißer bis zu dem schützenden Erdloche nachgeprescht. Jetzt hielt er ein paar hundert Schritte voraus auf der mondbeschienenen Straße und gab Standlaut. Stürmte mit hellem Hals und rief wie bei einem verendeten Wild, das er tot verbellte. Da wischte sein Herr sich über die Augen und eilte vorwärts ...

Mitten auf dem Wege lag eine Frauengestalt in dunklem Reitkleide, platt auf dem Gesicht und die Arme vor sich gestreckt, wie sie im Sturze hingeschlagen sein mochte. Ein paar Schritte dahinter aber stand ein edler Gaul, wieherte leise auf und hob den rechten Vorderlauf, der unterhalb des Kniegelenkes lose hin und her schlenkerte. Ein zierlicher Schimmel war es mit Araberblut in den Adern, und in seinen klugen Augen war deutlich die Bitte um Hilfe zu lesen ... Ein Jammer war es um das prächtige Tier, und »armer Kerl« mußte Malte denken, während er sich über die bewußtlos am Boden Liegende beugte, »dir kann kein Mensch mehr helfen, du bist erledigt« ...

Ein jäher Schreck flog ihm durch die Brust, denn das Haar, das da vor ihm in lockern Strähnen unter dem runden schwarzen Hute hervorquoll, war blond. Mit zitternden Händen griff er zu und drehte den Frauenkopf vorsichtig zur Seite, aber – Gott sei Dank wollte er fast sagen – das blasse kleine Gesicht war ihm fremd. Wie das Gesicht einer schlafenden Puppe sah es aus mit den geschlossenen Augen, dem runden Oval und dem zierlichen Stumpfnäschen über dem kleinen, sanftgeschwungenen Mund. Die aber, an die er zuerst gedacht hatte in jähem Erschrecken, hatte ein schmales Antlitz mit dunkeln Augenbrauen über einer seinen geraden Nase ...

Eine kleine Weile lang kniete er ratlos in dem noch vom letzten Regen her feuchten Sande. Wie das Unglück gekommen sein mochte, war ziemlich leicht zu erklären. Zu beiden Seiten der Straße im dichten Brombeergestrüpp lagen Hunderte von Karnickelbauen, die unterirdischen Gänge der kleinen Wühler liefen weit ins Feld hinaus und wohl auch unter dem Wege hin. Die fremde Dame da hatte nicht darauf geachtet, war womöglich im Karriere über die gefährliche Stelle gesprengt, und der Sturz war fertig. Der arme Gaul brach sich in einem der heimtückischen Löcher das Vorderbein, seine Reiterin aber flog in weitem Bogen vornüber aus dem Sattel ...

Ob sie sich bei dem Sturze verletzt hatte, war nicht zu erkennen, eine schwere Erschütterung aber hatte es wohl gegeben, sonst wäre diese tiefe, einer Erstarrung gleichende Ohnmacht nicht zu erklären gewesen. Das Zartgefühl eines innerlich anständigen Menschen jedoch hielt ihn davon ab, die fremde junge Dame zu untersuchen. Nur ganz leise legte er sein Ohr an ihre Brust, und als er vernahm, daß das Herz noch mit schwachen Schlägen trieb, atmete er erleichtert auf. Aber was jetzt weiter? Ins Dorf zurücklaufen, um einen Wagen zu holen, ging nicht an. Wer mochte wissen, wie lange sie in dem dünnen Kleide schon auf dem feuchtkalten Erdboden gelegen hatte ... Also da blieb nichts andres übrig als ein rasches Zugreifen. Bis zum Dorfe waren es vielleicht zweitausend Schritte, aber so weit getraute er sich das zierliche Persönchen wohl zu tragen ... Er nahm sie vorsichtig in die Arme, legte ihren Kopf auf seine linke Schulter und ging mit behutsamen Schritten den Weg zurück, den er gekommen war. Bei der Bewegung hatte sich ihr lockeres Haar vollends gelöst, hing ihm wie ein langer blonder Schleier über den Arm, und der Wind wehte es ihm im Vorwärtsschreiten um die Kniee. Hinter ihm aber erklang ein unsicheres Trappen, und er brauchte sich nicht umzuwenden, um zu wissen, woher es kam. Der brave Schimmel schleppte sich mühsam auf drei Beinen hinter seiner Herrin her, aber niemand konnte dem Getreuen mehr helfen. Nur die mitleidige Kugel gab es noch, die ein nutzlos gewordenes Leben auslöschte ...

Von dem weichen Frauenkörper in Maltes starken Armen ging eine wohlige Wärme aus, die ihm das Blut rascher durch die Adern trieb. Und ein seltsames Zärtlichkeitsgefühl regte sich in seinem Herzen für die hilflose Unbekannte, die ihm ein Zufall in den Weg geworfen hatte. Wer war sie und wo kam sie her? Noch vor einer Viertelstunde hatte er nichts von ihr gewußt, jetzt hatte irgendeine launische Welle sie zusammengetragen. Für wie lange? Die nächste führte sie wieder auseinander, nichts blieb zurück als die Erinnerung an ein flüchtiges Abenteuer ...

An seinem Halse spürte er ein merkwürdiges feuchtwarmes Gefühl. Für einen Augenblick lockerte er die rechte Hand und griff hin. Als er sie wieder zurückzog, war sie voll Blut. Und vom Halse rann es ihm weiter am Körper entlang. Da ging er mit langen Schritten dahin, die zu Anfang so leichte Last in seinen Armen wurde schwerer und schwerer. Ein seltsames Bangen schnürte ihm die Brust. Halb um das Leben, das hier vielleicht neben seinem Herzen verrann, halb um sich selbst. Ihm war es, als trüge er sein Schicksal ...

Im Forsthause war noch Licht, Gott sei Dank. Er lehnte sich mit der Schulter an die Planken des Hoftores und wollte rufen, aber nur ein pfeifender Laut kam aus seiner Kehle. Die Hunde schlugen an und stürmten wieder gegen den Gartenzaun, Hektor antwortete von der Straßenseite her, und es gab einen wahren Höllenspektakel, der mißtönend die Stille der Frühlingsnacht zerriß. Am Hause öffnete sich ein Fensterflügel, der Förster steckte den grauen Kopf heraus und fragte ärgerlich, was der Lärm zu bedeuten hätte.

»Ich bin es, Graf Römnitz,« rief Malte zurück, »und rasch. Es hat ein Unglück gegeben!«

»Um Jesu Barmherzigkeit willen,« schrie die Frau Förster auf, die hinter ihrem Manne gestanden hatte, und flink wie eine Kugel schoß sie zur Tür heraus, über den Vorgarten hinweg. Mit zitternder Hand schob sie den Riegel zurück, fragte nicht lange erst, sondern griff zu, half die Verunglückte ins Haus tragen. Ihren Gatten aber blies sie zornig an, er sollte nicht herumstehen wie der dumme August im Zirkus, sondern Riechsalz aus der kleinen Hausapotheke herlangen, Verbandzeug und Karbolwasser. Und als die Bewußtlose auf dem saubern Bette lag im Schlafzimmer, schickte sie die beiden Männer hinaus, machte sich mit flinken linden Händen an ihr Samariterwerk ...

Malte steckte sich eine Zigarette an nach all der Aufregung und gab dem Förster einen kurzen Bericht. Fragte zum Schluß, wer die unbekannte junge Dame wohl sein könnte. Der Alte blickte zuerst verwundert auf, dann aber verbesserte er sich.

»Ja richtig, Herr Graf, Sie können es natürlich nicht wissen. Das ist die Frau Gemahlin von dem Berliner Bankdirektor, wo ich Ihnen vorhin erzählte, daß er die Alten-Krakower Jagd und das Schloß gepachtet hat. Und von uns verlangt, wir sollen das Gatter niederlegen gegen angemessene Entschädigung. Da möchte ich denn doch befürworten, was geht das uns an, ob sich dieser Herr Bankdirektor nun mit der Pachtung 'reingelegt hat? Soll es vielleicht wieder dieselbe Schweinerei geben wie früher? Wo der Herr Baron Köhnemann uns das ganze Kahlwild abgeschlachtet hat im Winter und manchen braven Hirsch? Wenn wir ihn nicht vorher gekriegt hatten. Und überhaupt, erst seit das Gatter steht, kann man doch daran denken, sich einen Hirsch ordentlich heranwachsen zu lassen im Geweih, bis er richtig zum Abschusse reif ist. In Hohenrömnitz wird nicht geludert, in den großherzoglichen Staatsforsten auch nicht, und jetzt soll das womöglich wieder anders werden? Das Gegnietsche wieder anfangen um jeden jagdbaren Hirsch, kaum daß er sich den Bast von den Stangen gefegt hat?«

So sprach der grauköpfige Förster in zornigem Eifer, Malte aber hatte von der langen Rede nur den Anfang vernommen, und der hatte ihm einen fliegenden Stich durchs Herz gegeben. Die Blondhaarige da hinter der braungestrichenen Schlafzimmertür war eine verheiratete Frau, das Eigentum eines andern hatte er in seinen Armen getragen. Der kam her und bedankte sich, das Abenteuer war zu Ende ...

Am Gartenzaun vor dem offenen Fenster erklang ein schmerzliches Wiehern. Malte hob die Hand.

»Da draußen steht einer, den wir vergessen haben. Sehen Sie mal nach, Schwarz, ob noch was zu helfen ist. Der arme Kerl hat in dem verdammten Karnickelloch das rechte Vorderbein gebrochen. Ich hatte keine Zeit, mich um ihn zu kümmern« ...

»Zu Befehl, Herr Graf« ... Der Förster nahm die Hacken zusammen, ging vor die Tür hinaus ...

Und nach wenigen Minuten kam er zurück, zuckte mit den Achseln.

»Der Röhrenknochen gesplittert, ein ganzes Stück herausgesprungen, hängt nur lose an einem Hautfetzen. Alles mit Sand verschmiert, es ist ein Jammer um so ein prachtvolles Tier« ... Und er ging zum Gewehrschranke, holte den Drilling heraus. Malte aber wandte sich ab und preßte die Handflächen vor die Ohren. Den Schuß, der einem edeln Leben das Ziel setzte, mochte er nicht hören ... Mitten aus kraftstrotzendem Sein heraus ... Der muskelgeschwellte Körper war gesund, nur einer der schlanken Vorderläufe hing zerschmettert herab. Mit dem Rennen war es vorbei für alle Zeiten, aber zum Karrengaul hätte es vielleicht noch gereicht nach einem langwierigen Heilungsprozeß. Nur lohnte das nicht die Kosten ... Und was war er selbst denn viel andres als ein so mühsam zurechtgeflickter Karrengaul? Auch bloß eine Kleinigkeit war an ihm damals kaput gewesen, das bißchen Ehre ... Sophisterei war es doch nur, sich das wegzudisputieren, und gerade gut genug für die Fremde, wo niemand fragte: Hast du nicht vielleicht einen bösen Fleck auf der weißen Hemdenbrust? In der Heimat wehte eine schärfere Luft, aber der Teufel sollte das ewige Grübeln und Denken holen! Schließlich trieb es einen doch noch zu einem ruhmlosen Ende ...

Ein dröhnender Schuß zerriß die schweigsame Nacht, vom Seeufer kam hallend das Echo zurück. Der Förster trat wieder ins Zimmer, ging zum Gewehrschranke und reinigte mit einem Wischstocke den abgeschossenen Lauf.

»Ekelhaft,« brummte er in den buschigen Schnurrbart, »und bei 'nem Hirsch fällt einem nichts drüber ein. Aber bei so einem Tier, das mit den Menschen zusammenlebt ... er hat mich verstanden, Herr Graf, als ich ihm den schlanken Hals klopfte: Schimmelchen, es ist Halali! Und wie ich das Gewehr hob, sah er mir fest in die Augen« ...

»Es ging wohl nicht anders,« sagte Malte und steckte sich eine neue Zigarette an. Aber die Hand bebte ihm, als er nach dem Streichholz griff ...

Die Frau Förster kam aus dem Schlafzimmer, zuckte mit sorgenvollein Gesicht die rundlichen Schultern.

»Sie will nicht zu sich kommen. Wie ein Zuckerengelchen liegt sie in den weißen Kissen, ich kann deutlich ihren Atem hören, aber sie will nicht zu sich kommen. Und auch das Blut steht nicht aus der kleinen Wunde hinter dem Ohr ... Also vorwärts, Alter, nach Moltzahn zum Doktor, und Sie, Herr Graf, vielleicht nach Alten-Krakow hinüber. Die Herrschaften da werden doch sicher schon in heller Sorge sein« ...

Malte sprang auf. So war es recht. Nur nicht so untätig dasitzen und grübeln ... Er eilte mit langen Schritten die Dorfstraße entlang, quer über den weiten Wirtschaftshof. Und mit dröhnender Faust schlug er gegen die Tür der Knechtekammer: »Holla, ihr Kerls, rasch auf, und die vier Rappen vor den Kaleschwagen!«

Eine verschlafene Stimme kam zurück: »Was, Herr Graf?« Da wiederholte er zornig den Befehl, fügte hinzu: »Es geht um ein Menschenleben! In einer Stunde muß der Doktor im Försterhause stehen, und der Deuwel holt euch, wenn die Rappen in zehn Minuten nicht angeschirrt sind« ...

»Zu Befehl, Herr Graf« ...

»Na also« ...

In der Knechtekammer flammte Licht auf, begann ein hastiges Rumoren. Malte aber lief zum Stalle hinüber, öffnete das breite Tor. Aus der Geschirrkammer holte er einen Sattel, den Weg kannte er im Dunkeln. Ein warmer Brodem schlug ihm in dem langen Gange entgegen, an dem zu beiden Seiten die Gäule standen. Ein Schütteln erklang bei seinem Eintritte und das Klirren von Halfterketten.

»Wotan,« rief er, und ein Aufwiehern antwortete ihm. Ein paar Minuten später jagte er zum Hoftor hinaus, nachdem er mit einem flüchtigen Blicke gesehen hatte, daß zwei barbeinige Knechte die Kalesche aus dem Wagenschuppen zogen. Gott sei Dank, man gehorchte ihm noch in Vellahn. Nicht mal die Zeit zum Anziehen der Hosen hatten sich die Kerle gelassen ...

Hinter dem Dorfe versammelte er die Zügel in der Hand und lenkte den Gaul auf den hartgetretenen Flußsteg, der neben dem Wege am Feldraine lief. Da war er sicher vor den heimtückischen Karnickellöchern. Und unwillkürlich schoß es ihm durch den Kopf, nun ritt er doch nach Alten-Krakow. Wer seine Gedanken galten einer andern als der, die die Frau Förster bei ihrem Ratschlag gemeint hatte – – ? ?

 

Auf halbem Wege, noch ein ganzes Ende vor dem ragenden Galgenberge, begegnete ihm ein rasch, fahrender Wagen. Ein Herr saß darin in hellgrauem Mantel und eine Dame mit kleinem Lodenhut und Schleier. Er brauchte kaum hinzusehen, um zu wissen, wer es war ... Das schmale Gesicht mit der seinen geraden Nase unter den dunkeln Augenbrauen kannte er gar wohl ...

Er hob die Hand, weil der Kutscher auf dem Bocke parieren wollte.

»Weiterfahren!« Und mit kurzem Bogen schloß er sich an den Wagenschlag. Die junge Dame auf dem Rücksitze machte eine vorstellende Bewegung: »Herr Graf Römnitz – Herr Direktor Steinfeld aus Berlin« ...

»Angenehm« ...

»Angenehm« ...

Malte mußte unwillkürlich auflachen. So ging es schon zu in der lieben Heimat. Erst mußten die Formalitäten erledigt werden, ehe das Wichtigere an die Reihe kam. Und er berichtete kurz, was geschehen war. Seine Mitwirkung beidem Abenteuer verschwieg er. Nur daß die junge Frau in seinem Försterhause läge und mit den gewöhnlichen Hausmitteln nach dem schweren Sturze nicht zum Bewußtsein zu bringen wäre. Eine fettige Stimme im Wageninnern antwortete ihm.

»Das hat sie nun, und so mußte es kommen! Ich hab' ihr so dringend abgeraten, aber sie wollte nicht hören. Durchaus im Mondschein einen romantischen Spazierritt machen! Und wie, sagen Sie, Herr Graf? Das Pferd hat man erschießen müssen? Vielleicht wäre es doch besser gewesen, vorher einen Tierarzt zu fragen! Fünftausend Mark habe ich bezahlt bei Beermann in Berlin, und wer weiß, ob nur die Versicherung einen Pfennig wiedergibt« ...

Malte fühlte einen Knäuel des Ekels im Halse aussteigen, aber er erwiderte nichts. Wortlos ritt er in stuckerndem Trab neben dem Wagenschlag her, und die mit dem kleinen Lodenhut auf dem blonden Haar zog den dicken Mantel fester um ihre schlanken Glieder. Und Malte wunderte sich. Vor dem Wiedersehen hatte er sich zuweilen gefürchtet da drüben, wenn er überdachte, was werden sollte, wenn er wieder heimkehrte. Und jetzt ging es ganz ohne Erschütterung vorüber ...

Der Doktor Harkenschmidt aus Moltzahn war mit den Frauen im Schlafzimmer. Die Untersuchung dauerte lange. Der Förster Schwarz stand drömelnd in einer Ecke der Wohnstube. Seine Schlafenszeit war längst schon gekommen, und im Dunkeln überfiel ihn die Müdigkeit. Da drückte er sich still hinaus. Wenn man ihn brauchen sollte, würde man schon rufen ... Die Lampe wurde drüben gebraucht. Malte saß am Schreibtische, rauchte eine Zigarette nach der andern, der dicke Bankdirektor aber schritt ruhelos auf und ab, strich sich mit einer zur Gewohnheit gewordenen Bewegung von rückwärts über den kahlen Schädel. Und stoßweise entlud er seinen Ärger. Daß er diese mecklenburgische Pachtung bis an den Hals satt hätte ... Daß er den Jagdagenten, der ihn mit falschen Vorspiegelungen getäuscht, verklagen würde, und nicht der kleinste Teil seines Ingrimmes ging gegen die zierliche kleine Frau, um die sich da drüben hinter der braungestrichenen Tür der Doktor mühte. Weil sie aus unerklärlichen Gründen einen plötzlichen Ekel gegen das Getriebe der Großstadt empfunden, hätte er ihr den Gefallen getan. Und jetzt säße er da mit der Bescherung. Die Jagd gleich Null, und von irgendwelchem Verkehr mit der Nachbarschaft keine Rede. Nur mit dem Auto immer hin und her kutschieren zwischen Berlin und Alten-Krakow, denn die Geschäfte könnte man doch nicht vernachlässigen ...

Malte hörte schweigend zu, warf den letzten Zigarettenstummel durch das offene Fenster. Und etwas wie ingrimmige Schadenfreude regte sich in seiner Brust.

»Sie hätten nicht in Mecklenburg pachten sollen, Herr Direktor. Wir sind eine rückständige Nation. Bei uns geht's noch zu wie vor fünfhundert Jahren. Vor dem Geldbeutel keinen Respekt. Zehn Scheffel Salz und ritterbürtige Herkunft sind hier so unsere Bedingungen; bis auf die Knochen muß man sich gegenseitig als richtig befunden haben« ... Er brach ab, denn plötzlich war ihm durch den Sinn geflogen, daß er ja auch draußen stand, weil er in dem letzten, feinsten Sieb als untaugliche Spreu durch die Maschen gefallen war ...

Danach schwiegen sie beide in der dunkeln Stube, die nur von ein paar durch die Fenster kommenden Mondstrahlen erhellt war. Und Malte biß sich auf die Lippen. Hochtrabende Worte hatte er gesprochen, die ihm nicht zukamen. Der andre wollte hinein in den festgeschlossenen Kreis, und er stand draußen. Jede zufällige Begegnung konnte ihn Lügen strafen, wenn er sich so benahm, als wenn er noch ein Zugehöriger wäre ...

Der Doktor kam mit der Lampe aus dem Schlafzimmer, gefolgt von der jungen Baronin Perkwald. »Gott sei Dank,« sagte er, »Herr Direktor, die Gefahr ist vorbei. Eine nicht ganz leichte Gehirnerschütterung, aber unter der Pflege der Frau Försterin wird sich's bald zum Guten wenden. Ich habe sie genügend instruiert. Wenn Sie jetzt Ihre Frau Gemahlin sehen wollen, ich habe nichts dagegen. Nur natürlich keine leidenschaftlichen Schmerzensäußerungen, das könnte ihr schaden. Höchstens eine mäßig temperierte Freude, daß der böse Unfall so glimpflich abgelaufen ist« ...

So sprach der freundliche alte Doktor, rieb sich die Hände. Ein fetter Bissen war es in der sonst kärglichen Praxis, und da gehörte es sich wohl, daß man in Ansehung des Honorars den Fall ein wenig schwerer darstellte, als er in Wirklichkeit war. Der Ehemann aber brummte etwas zwischen den Zähnen, was wie »unnötiges Gerudere« klang, strich sich mit seiner gewohnheitsmäßigen Bewegung über den kahlen Kopf und ging mit dem Arzt ins Nebenzimmer. Malte sah ihm ingrimmig nach. Würgen hätte er den Kerl mögen wegen seiner gefühllosen Gleichgültigkeit ...

Und die junge Baronin Perkwald hatte den Blick aufgefangen. Sie zuckte mit den Achseln.

»Er gibt sich schlimmer, als er eigentlich ist. Er tut alles, was er ihr an den Augen absehen kann. Sie aber ist so ziemlich das launenhafteste Persönchen, das mir je vorgekommen ist. Alle Viertelstunde irgend etwas andres. Diese Pachtung hier hat sie ihm auch eingeredet, und da kann man's ihm eigentlich nicht verdenken, wenn er unmutig wird. Allzu viel Takt freilich scheint ihn nicht zu drücken« ...

»Kannst ihn ja aus dem Pachtvertrage wieder 'rauslassen,« erwiderte er fast feindselig.

Sie aber schüttelte den Kopf: »Kann ich leider nicht. Ich werde erst in anderthalb Jahren mündig, und mein Vormund hat den Vertrag geschlossen. Ein Vetter meines verstorbenen Mannes. Er verwaltet mir mein Vermögen und Hohen-Krakow. Hinrichswalde war ja Majorat, es ist an den Gottfried Perkwald gefallen, der früher bei den Wandsbecker Husaren stand.«

»Ja richtig,« sagte Malte zerstreut, »er war ja der Nächste dran.« Sein Blick hing an der braungestrichenen Tür, die zum Nebenzimmer führte ...

Sie schwieg gekränkt, hatte Mühe, die dummen Tränen zurückzuhalten. Das Wiedersehen nach zwei langen Jahren hatte sie sich anders vorgestellt. Frauen fühlen nicht so wie Männer, und in der Erinnerung kam es ihr nicht mehr so unerträglich schwer vor, was damals geschehen war. Sie hatte es ja auch verwunden und sich danach wieder aufgerichtet. Und ganz selbstverständlich war es ihr immer erschienen, daß er nach der Heimkehr vor sie hintrat: »Da bin ich wieder, Gertrud. Na, und wie ist's nun mit uns beiden?« ... Statt dessen stand er steif wie ein Klotz, und seine Gedanken weilten bei einer andern. Da wurden ihr vor jäh aufschießender Eifersucht die Augen dunkel.

»Du kennst Frau Direktor Steinfeld wohl schon von früher her?«

Malte blickte verwundert auf.

»Wieso? Und was meinst du damit, wenn ich fragen darf?«

Sie tat so, als hätte sie das letzte nicht gehört.

»Ich hatte es geglaubt, entschuldige. Und da möchte ich doch ... möchte ich doch« ... Einen Augenblick kämpfte sie noch mit sich, aber der Haß und die Eifersucht waren stärker ... »Es geht ein häßliches Gerede über sie in der Nachbarschaft. Sie soll anders sein als hier unsere Damen. Daß sie von Berlin fortgegangen ist, hatte seinen besondern Grund. Nicht wegen der Jagdpassion ihres Mannes, sondern wegen eines andern. Ein Friedeberger Dragoner soll es sein, und sie hat ihn kennen gelernt, wie er auf der Kriegsakademie war. Deswegen ist sie hierhergezogen, weil sie ihn leichter treffen kann« ...

»Das ist doch wohl nichts als leeres Gerede,« gab er zornig zurück. Und »ah nein« erwiderte sie, »man hat sie zusammen gesehen, mehr als einmal. Sie und den Oberleutnant Bredow, den jüngsten Bruder vom Panschenhagener!«

Er richtete sich feindselig auf.

»Weshalb erzählst du mir das eigentlich, Gertrud?« ...

»Weil ... weil ...« Sie ballte das Taschentuch in der schmalen Hand und stampfte mit dem Fuße auf. Es war zu töricht. Jetzt kamen ihr doch die dummen Tränen und schnürten ihr die Kehle zu, daß sie nicht weitersprechen konnte. Und da verstand er sie endlich. Aber er konnte ihr nicht helfen, schlaff ließ er die Arme hängen. Behutsam suchte er nach den passenden Worten, um sie nicht gar zu sehr zu kränken ...

»Sieh, Gertrud, und du darfst mir da nicht böse sein ... manchmal hab' ich's ja auch gedacht ... aber dann war da immer etwas ... als wenn der eine Schlag auch alles andre totgeschlagen hätte. Oder – ich will mich nicht besser machen, als ich bin ... damals, vor zwei Jahren, warf ich alles andre hinter mich. Nach Fug und Recht hätte ich mich totschießen müssen, aber ich war zu feige dazu. Es hatte mal einen gegeben, der mich immer lehrte, die Dinge dieser Welt von der andern Seite anzusehen, zu erkennen, daß das meiste, woran die andern glaubten, wertlos war. Wenn man sich nämlich auf einen andern Standpunkt stellte ... Ich kann dir das nicht so richtig klarmachen, vielleicht ... manchmal, wenn ich's fassen will, zerrinnt es mir selbst in den Fingern. Es läuft ungefähr darauf hinaus, alles, was du tust, ist recht. Du mußt dich nur durchsetzen können. Stark genug sein, den andern in die Zähne zu lachen. Und daran fehlt's bei mir, an der innern Festigkeit. Mit einem Fuß stehe ich noch immer in der alten Überlieferung wie in einem zähen Brei, der andre tappt haltlos ins Leere ... Die neuen Lehren mach' ich mir zu eigen, weil sie in meinen Kram passen, weil sie mir das bißchen Leben wenigstens lassen. Vor ein paar Stunden noch sagte ich zu einem, ja, ich bin wieder ganz gesund. Das war ich draußen. Hier zu Hause hat's mich wieder gepackt: das sind doch alles nur leere Ausreden! Rings um mich stehen meine Richter, du hast nichts mehr zu suchen zwischen uns ... Und noch eins kommt hinzu: der Platz, auf dem ich sie vielleicht hätte zwingen können, da steht ein andrer davor. Ein Nichts bin ich, eine Null, von einem lächerlichen Zufall häng' ich ab, ob's drüben in Hohenrömnitz einen Jungen gibt oder ein Mädchen« ... Er schlug die Hände vors Gesicht und ließ sich schwer in den nächsten Stuhl fallen.

Einen Augenblick zauderte sie, dann trat sie zu ihm, strich mit leiser Hand über sein Haar.

»Sei doch nicht so verzweifelt, Malte! Du hast doch Freunde, die zu dir stehen. Und man muß sich nicht niederschlagen lassen. Damals hatte ich auch geglaubt, ich könnte es nicht ertragen. Bis das bittere Muß kam. Es ging nicht anders, ich mußte! ... Später vielleicht werde ich dir's erklären ... es ist das etwas, an das ich nicht rühren kann, das Andenken meines Vaters. Und ich durfte ihn nicht im Stich lassen, sein Name war der meine, ich war doch das Freifräulein Köhnemann – die Letzte ihres Namens, fünfhundert Jahre hatte er ohne Makel bestanden. Also da mußte ich doch, nicht wahr? ... Und es ging« ... Sie schmiegte sich dichter an ihn, in ihre blauen Augen trat ein zärtlicher Schein ... »Du lieber armer Junge du! Wie habe ich auf dich gewartet! ... Und veracht mich nicht, daß ich mich dir so antrage ... ich habe Angst um dich, ich könnte dich wieder verlieren. Hast mich doch immer dein kleines Mütterchen genannt, das dich vor dummen Streichen bewahrt, einen ordentlichen Menschen aus dir macht ... Und darfst mich ruhig ansehen, wie früher ... mein verstorbener Mann hat es mir nicht nachgetragen, daß ich mich ... daß ich ihm eine Pflegerin nur war, aber nie ... Purpurne Nöte stieg ihr bis zu den Haarwurzeln empor, sie schwieg und wartete auf Antwort.

Malte zuckte zurück, als müßte er einem Schlage ausweichen, und es dauerte eine Weile, bis er sprechen konnte. Aber seine Stimme klang heiser.

»Ich bin kein Lump, Gertrud, ich kann nicht lügen ... ich kann nichts annehmen, das ich nicht vergelten kann ... Wenn du dir einen Gefallen tun willst, vergiß mich! Ich bin es nicht wert, daß andre sich um mich mühen« ...

Sie trat ein paar Schritte von ihm fort, strich sich mit der Hand über die Stirn, als müßte sie einen törichten Traum verscheuchen. Sie ging zum Fenster, lehnte die Stirn gegen das harte Holz des Kreuzes und schluchzte leise auf. Aber nur ein kurzes Weilchen dauerte die Schwäche. Sie preßte die Zähne aufeinander, daß es ein leises Knirschen gab, und richtete sich auf ... »Es ist gut« ... Malte aber stand noch ein paar Augenblicke lang, und ihm war zumute, als müßte er sich auf die Knie werfen und um Verzeihung bitten für die rohen Worte. Aber sie waren doch die Wahrheit, und er konnte sich nicht anders machen, als er war ... Er senkte den Kopf und ging still zur Tür hinaus – – ? ?


 << zurück weiter >>