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6. Kapitel

Auf dem Flugplatz in Johannisthal war es in den Vormittagsstunden stets sehr still. Der Lehrbetrieb pflegte, wenn nicht starker Nebel oder heftiger Wind es hinderte, in den frühesten Morgenstunden einzusetzen. Heute war ein schöner, klarer Morgen gewesen. Die Flugschüler, teils allein, teils unter Begleitung ihrer Lehrer, hatten fleißig geübt und erfreuten sich nun, nachdem sie noch eine Stunde theoretischen Unterricht genossen hatten, der wohlverdienten Ruhe. Einige saßen in der »Schwemme« des Flugplatzes, der kleinen Kneipe am alten Startplatz, in fröhlicher Unterhaltung bei einer Flasche Limonade und besprachen die kleinen Vorkommnisse des Tages ... Es war heute ein Glückstag, denn es hatte gar kein »Kleinholz« gegeben.

Nur ein Schaf war umgebracht worden. Die dummen Wollsäcke, die ein findiger Großschlächter ohne Aufsicht auf dem Flugplatz weiden ließ, hatten sich schon so sehr an den Lärm der Maschinen gewöhnt, daß sie gar nicht an Flucht dachten, als ein Flugzeug halb unfreiwillig zwischen ihnen landete und einen Hammel abmurkste ... Jetzt erörterte man die Frage, ob der Fleischer für den Hammel Ersatz fordern könnte.

In den Werkstätten wurde fleißig gearbeitet. Bald hier, bald dort hörte man einen Motor knattern und den Propeller sausen. Da wurden die Maschinen geprüft, die am Morgen benutzt worden waren, ob sie nicht irgendeinen Schaden erlitten hätten.

Im Hangar der Rumpler-Werke lagen zwei junge Offiziere in bequemen Faulenzerstühlen und rauchten schweigend ihre Zigaretten ... Endlich meinte der eine gähnend: »Wollen wir nicht ins Dorf gehen und uns einen dritten Mann zum Skat suchen? Das ist ja zum Auswachsen stumpfsinnig.«

Der andere warf seinen Stummel weg und reckte stöhnend die Arme weit nach hinten. »Sie haben vollkommen recht, Griesheim... wenn ich das vorher gewußt hätte! Wissen Sie, wie ich mir das Leben hier vorgestellt habe? Wie einen frischen, fröhlichen Kampf, der alle Nerven anspannt.«

»Lieber Wundt,« erwiderte der andere, »die Illusion habe ich mir schon vorher abgemacht. Ich war vorher hier auf dem Flugplatz und habe mir den Betrieb angesehen ... Es war aber die einzige Möglichkeit, aus dem masurischen Nest weg und nach Berlin zu kommen. Wo bloß der Daumlehner bleibt? Der könnte ja den dritten Mann machen.«

»Ganz ausgeschlossen, lieber Griesheim! Der sitzt irgendwo in einer Werkstatt und klaubt an einem Motor herum. Er ist ein Streber ...«

»Das dürfen Sie nicht sagen, Wundt! Das ist er nicht ... aber er ist mit Leib und Seele dabei und hat ein merkwürdiges Verständnis für die Konstruktion der Motoren. Ich glaube, er kennt schon alle bis in die kleinsten Einzelheiten.«

»Wenn ich das als den Zweck der Übung betrachten müßte,« erwiderte Wundt aufstehend, »dann hätte ich schon lange auf das Vergnügen verzichtet. Das ist Sache der Monteure. Meine Aufgabe ist das Fliegen ... Ich weiß, was Sie mir erwidern wollen, aber das muß ich bestreiten. Wenn so eine Kanaille von Motor streikt, wenn ich tausend Meter hoch über der Erde schwebe, dann ist es ganz ausgeschlossen, daß ich trotz der schönsten Kenntnisse das Ding in Ordnung bringe. Dann heißt es kalt Blut bewahren und durch einen kühnen Gleitflug die Knochen heil auf die Mutter Erde hinabzubringen.«

»Das ist ein Gesichtspunkt, den ich gelten lassen muß. Aber wenn Sie bei einem Überlandflug eine Panne haben ...«

»Dann telegraphiere ich zum nächsten Flugplatz und lasse mir die Monteure kommen. Nein, lieber Griesheim, ich halte es sogar für sehr nötig, zwischen Handwerk und Kunst eine scharfe Scheidelinie zu ziehen. Sonst hätte ich ja nicht brauchen Offizier zu werden, da hätte ich ja gleich die Schlosserlaufbahn einschlagen können.«

»Hallo, Daumlehner,« rief er einem in den Hangar eintretenden Oberleutnant entgegen, »wie wäre es mit einem Dauerskat?«

»Bedaure sehr ... Ich bin eben beim Major gewesen und habe mir die Erlaubnis geholt, einen längeren Flug machen zu dürfen.«

»Plagt Sie der Teufel? Jetzt gegen Mittag ist doch die gefährlichste Zeit... da gibt es böse Vertikalböen, sobald die Erde sich unter den Sonnenstrahlen erwärmt hat.«

»Die will ich eben kennenlernen, um zu wissen, wie ich mich bei einem Überlandflug zu verhalten habe.«

»Na, damit hat's doch noch lange Zeit.«

»Im Gegenteil, ich beabsichtige sehr schnell mein Pilotenexamen zu machen, vielleicht schon heute gegen Abend.«

Der Leutnant von Griesheim war auf ihn zugeschritten und hatte seine Hand gefaßt, um sie derb zu schütteln. »Meine besten Wünsche begleiten Sie, lieber Kamerad. Ich beneide Sie. Die Natur hat Ihnen große Gaben in die Wiege gelegt... Bärenkraft und kalte Besonnenheit. Schon beim dritten Aufstieg konnte man Ihnen die Maschine allein anvertrauen, vierzehn Tage später haben Sie sich das Flugzeugführerzeugnis erworben, und noch keinen Span Kleinholz haben Sie gemacht...«

Wundt, der dabei stand, spuckte dreimal schnell aus, lief zur Wand des Schuppens und stieß mit dem Daumen dreimal dagegen. Die anderen beiden lächelten. Der Kamerad, der die kühnsten Gleitflüge ausführte, war abergläubisch wie ein altes Weib. Er stieg nie auf, wenn das Publikum ihm beim Start mit den Händen winkte oder Glückwünsche zurief. Und nirgends ist die abergläubische Furcht größer als bei den Fliegern. Die meisten tragen einen Talisman, einen Ring, ein Geldstück oder irgendeinen anderen Gegenstand, an dessen Wirkung sie felsenfest glauben, bis ... ja, bis ein trauriges Ereignis diesen Glauben zerstört.

Inzwischen hatten Monteure und Arbeiter nicht das der Militärverwaltung zur Verfügung gestellte Flugzeug aus dem Hangar gezogen, sondern eine neue, erst wenige Male geprüfte Maschine.

»Was soll das bedeuten?« fragte Wundt erstaunt. »Haben wir noch ein zweites Flugzeug bekommen?«

»Nein, meine Herren. Ich will es Ihnen unter strengster Diskretion verraten. Ich habe die Maschine gekauft. Wenn ich heute abend meinen Piloten mache, fliege ich morgen früh nach Königsberg. Ich bin bereits um Urlaub eingekommen und unternehme morgen die Fahrt auf mein eigenes Risiko.«

Schweigend trat Griesheim zu ihm heran und drückte ihm die Hand. Draußen knatterte bereits der Motor... Daumlehner verschwand in seiner Kabine, um sich für die Fahrt umzukleiden ... Dann kletterte er auf die Maschine. Der Monteur warf den Propeller an ... Staub und Sand flog unter der Maschine weg nach hinten. Jetzt hatte der Motor seine volle Tourenzahl erreicht. Die Arbeiter ließen das Gefährt los... wie ein Auto fuhr es auf der glatten Bahn dahin, jetzt hob es sich vom Boden...

»Der wird noch einmal grobes Geld verdienen, meine Herren«, wandte sich der graubärtige Monteur an die beiden Offiziere. »Sehen Sie mal, wie ihn über dem Wald die Böen schütteln, aber das rührt ihn nicht.«

Daumlehner war nicht, wie es üblich war, nach der ersten Runde niedergegangen, um dann, nachdem sich die Maschine als zuverlässig erwiesen hatte und nochmals untersucht worden war, zum zweiten Male aufzusteigen. Er blieb in der Luft und begann schnell emporzusteigen...

Einige Minuten später war er nach Osten zu verschwunden. Erst nach einer Stunde kehrte er zurück, fuhr noch eine Runde um den Platz und landete fünfzig Schritt vor dem Hangar. Sein Gesicht strahlte, als er aus dem Flugzeug stieg. Ein Gefühl stolzen Selbstbewußtseins war über ihn gekommen. Seiner mittelgroßen, aber breitschultrigen Gestalt war nichts von Anstrengung anzumerken ...

Gegen Abend hatte das schöne Wetter eine große Menschenmenge auf den Flugplatz hinausgelockt. Zehn, zwölf Flugzeuge waren in der Luft. Ganz hoch oben im Äther schwamm eine Rumplertaube. Sie erschien kaum so groß wie ein Schmetterling... Es dunkelte bereits, als sie in steilem Gleitflug niederkam. Ein Rauchstreifen, den sie zurückließ, bezeichnete ihre Bahn. Einige Neulinge im Publikum wurden ängstlich, und einer rief sogar: »Die Taube brennt.«

Lautes Gelächter antwortete ihm... Mitten auf dem Flugplatz war die Taube niedergegangen, jetzt kam sie wie ein auf der Erde laufender großer Vogel angebraust. Von allen Seiten liefen Offiziere, Flieger, Monteure und Arbeiter hinzu. Der kühne Flieger wurde auf die Schultern gehoben und im Triumph vors Restaurant getragen. Es war Daumlehner, der sein Pilotenexamen mit Glanz bestanden hatte. Seinen vergnügt lachenden Augen sah man es nicht an, daß er ebensoviel geleistet hatte wie alte, erprobte Flieger.

Nach einer Stunde stahl er sich unbemerkt aus dem Kreise der wacker zechenden Freunde und ging zu den Monteuren, die noch mit der Prüfung seiner Maschine beschäftigt waren. Sorgfältig untersuchte er selbst noch jede Schraube, jeden Draht. Dann ging er in seine bescheidene Junggesellenbude und setzte sich an den Schreibtisch. Er war durchaus nicht ängstlich, aber für jeden Fall wollte er doch seinen Eltern und nächsten Freunden einige Zeilen schreiben.

Er hatte länger geschrieben, als er beabsichtigt hatte, und dabei stark geraucht. Jetzt stand er auf, öffnete das Fenster und schaute hinaus in die sternklare Nacht ... Ob er nicht doch erst morgen einen kleinen Überlandflug von drei, vier Stunden unternehmen sollte... und einen Begleiter mitnehmen? Griesheim hatte sich abends angeboten, mit ihm zu fliegen. Im Selbstgespräch schüttelte er den Kopf. Wenn die Maschine nicht versagte, konnte er ebensogut sechs wie drei Stunden fliegen. Eine Viertelstunde später war er ruhig eingeschlafen.

Um drei Uhr weckte ihn rasselnd die Uhr, die er auf seinem Schreibtisch stehen hatte. Während er sich anzog, stellte er seine Kaffeemaschine auf. Dann setzte er sich an den Tisch und futterte langsam, aber gründlich... Gegen vier Uhr war er auf dem Flugplatz. Er steckte sich eine Azetylenlaterne an und untersuchte noch einmal seine Maschine bis in die kleinsten Einzelheiten ... Es begann zu dämmern, als die Monteure erschienen und die Maschine aus dem Schuppen zogen. Hier und dort hörte man schon das dumpfe Donnern, mit dem die Vorderwände der Hangars beim Niederklappen auf den Boden aufschlugen...

Langsam schritt Daumlehner zu der Marineluftschiffstation, um sich die Wetteraussichten und Windmeldungen zu holen. Sie lauteten ziemlich günstig.

Es war ein klarer Tag zu erwarten bei mittelstarkem Westwind... Inzwischen hatte sich in den Hangars die Nachricht verbreitet, daß der neugebackene Pilot bereits zu einem weiten Überlandflug aufsteigen wollte. Alles, was schon auf war, hatte sich auf dem Startplatz versammelt. Der graubärtige Monteur saß in der Maschine und ließ den Motor gehen. Als Daumlehner zu ihm hinaufstieg, hielt er den Motor an, um sich ihm verständlich machen zu können.

»Herr Daumlehner,« sagte er ernst... Rangunterschiede pflegen in solchen Momenten spurlos zu verschwinden ... »es ist alles in Ordnung. Ich rate aber, erst einige Runden um den Platz zu machen, ehe Sie abfliegen. Sie müssen erst vollkommen überzeugt sein, daß der Motor tadellos funktioniert.«

Fünf Minuten später schwebte die Taube in der Luft. Bei der dritten Runde hörte Daumlehner deutlich, daß die Tourenzahl des Motors nachließ. Sofort ging er im Gleitflug nieder. Er vermutete sofort, daß die Benzinpumpe nicht genug Benzin in den Motor schaffte, und er hatte richtig vermutet. Die Freunde, die ihn umstanden, rieten ihm, für heute die Fahrt aufzugeben und sich erst zu überzeugen, daß der Fehler auch richtig behoben sei.

Nach einer halben Stunde kam der alte Monteur heruntergestiegen. »Herr Daumlehner, wenn bei der dritten Runde der Motor nicht nachgelassen hat, können Sie ruhig abfliegen.« Noch ein Händeschütteln, dann stieg die Taube auf. Langsam schraubte sie sich über dem Flugplatz in die Höhe bis zu etwa tausend Meter, dann schlug sie den Weg nach Osten ein, geradenwegs der Sonne entgegen, die schon ein Stück am Horizont emporgestiegen war. Griesheim, der mit seinem Pernox sie verfolgte, sah deutlich, daß sie von starken Böen geschüttelt wurde; dann verschwand sie in einer lichten Wolke.

Kaum eine Viertelstunde lang hatte der kühne Flieger den ungehinderten Ausblick auf die Erde unter ihm, dann begann die Dunstschicht sich zu verdichten. Die Richtung, die ihm durch die Sonne gegeben war, konnte er nicht verfehlen, aber trotzdem stieg der Wunsch in ihm auf, die Erde zu sehen. Ganz allmählich ging er hinunter, bis die Wolkenwand über ihm lag. Mit ruhigem Blick maß er die Entfernung von der Erde. Sie betrug höchstens zweihundert Meter. Das war zu wenig, wenn er bei seiner rasend schnellen Fahrt durch ein Versagen der Maschine im Gleitflug niederzugehen gezwungen war.

Ruhig zog er das Höhensteuer und ließ seine Taube wieder emporsteigen... Das Barometer zeigte zweitausend Meter an, als er über der Wolkenschicht angekommen war. Er stieg noch einige hundert Meter höher. Da oben war es fast windstill. Unter ihm brodelte das Nebel- und Wolkenmeer... Ein Gefühl der Einsamkeit überkam ihn, wie den Taucher in der Tiefe des Meeres. Die Worte Schillers flogen ihm durch den Sinn: »Unter Larven die einzig fühlende Brust.« Er mußte dabei lächeln, Larven waren hier keine vorhanden ... Eine Stunde war er wundervoll ruhig geflogen, dann öffnete sich plötzlich der Blick zur Erde. Kleinere und größere Ortschaften flogen unter ihm rückwärts, ohne daß er erkennen konnte, wo er sich befand. Das kümmerte ihn wenig, denn er konnte noch eine lange Zeit der Sonne gerade entgegenfliegen, ohne aus der Richtung zu kommen...

Langsam verging die Zeit ... Endlich sah er ein breites silbernes Band unter sich. Das konnte nur die Weichsel sein. Weiter ging die Fahrt... Da tauchten rechts von ihm große, blinkende Seenflächen auf. Er war zu weit südlich geflogen, denn das konnten nur die großen masurischen Seen sein. Er bog nach Nordosten ab... Da... hatte sein Ohr sich getäuscht oder? Nein... es war schon richtig... die Umdrehung seines Propellers hatte sich verringert. Mit kühlem Blick schaute er in die Tiefe. Unter ihm lag die ostpreußische Kultursteppe, glatt wie ein Tisch. Nirgends ein Graben oder eine Hecke. Nur hier und da ein einzelner Baum, der sich vermeiden ließ. Im Spiralgleitflug ging er zur Erde nieder... Da, dicht vor ihm ein langgestreckter Stangenzaun... Er wollte noch das Höhensteuer anreißen, da stießen auch schon die Räder gegen die oberste Stange... Ein Krachen, ein Splittern... in weitem Bogen flog er von seinem Sitz... über ihm rauschte es, als wenn eine große Woge über ihm zusammenschlüge ... dann ward es still.


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