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Rara und Kara saßen auf ihren Nestern und jubelten laut in den Wald hinein. Jede von ihnen hatte drei Kinderlein im Nest. Wunderfeine, kleine Rabenkinder, so meinten die Mütter. Menschen hätten vielleicht die federlosen Unholde mit den großen Schnäbeln sehr häßlich gefunden, die Rabenmütter aber dachten, es könne nichts Lieblicheres und Holderes auf der weiten Welt geben, als ihre Kinder. Und Hugi und Hogi sagten genau so, kein König der Erde kann stolzer auf seine Prinzen und Prinzessinnen sein, als die Rabenväter es auf ihre Söhne und Töchter waren. Sie flogen von Baum zu Baum und verkündeten ihr Glück, sie flogen aber zuerst zu Bragi, dem Weisen, dem Urahnen. Doch Bragi nickte nur, schien die Botschaft kaum zu hören, das kränkte die beiden Rabenväter tief und sie schalten nachher mit Vater Huckebein und etlichen anderen über Bragi. »Er ist zu alt,« sagten sie, »er versteht uns Junge nicht mehr. Als er noch eine Frau hatte, die ihm Junge ausbrütete, hat er wohl anders geredet. Jetzt tut er, als ginge ihn das gar nichts mehr an.«
»Er ist schwach,« krächzte Huckebein, »er sitzt den lieben langen Tag auf der Eiche und schläft und wenn ihm Muna, die Gute, nicht Nahrung zutragen würde, so müßte er verhungern.«
»Ja, er schläft zu viel, er dürfte darum nicht mehr unser Herrscher sein,« grollte einer.
Doch das mochten Hugi und Hogi nicht hören, sie flogen zurück zu ihren Frauen und erzählten denen von Bragi. Da sagte Rara:
»Scheltet ihn nicht, alte Leute denken wohl andere Dinge als wir junge, aber unsere Königin lehrte uns das Alter ehren.«
Bragi, der Weise, dachte auch wirklich andere Dinge in diesen Sommertagen. Er schlief nicht, wie die Jungen, die Unverständigen meinten, er saß immer und lauschte den Liedern der Winde. Seltsam klangen die und unheimlich, es war lange, lange her, seit die Winde solche Lieder gerauscht hatten.
Von Ost und West, von Nord und Süd sangen die Winde nur das eine Lied:
»Wehe ihr Völker, ihr armen,
Wehe, die ihr träumt
Selig im Frieden der Heimat,
Und nicht denkt an Krieg,
An der drei Reiter Ritt,
Wehe ihr Völker, wehe, wacht auf!
Wir sehen, sie reiten die drei.
Sie sprengen das Höllentor,
Krieg schwingt die Fahne,
Hunger folgt seiner Fährte,
Pest schließt die Reih.
Weh euch ihr Völker, wehe!«
Bragi saß geduckt auf seinem Ast. Wie ein Unwetter zog das Lied der Winde über ihn hin, es gellte ihm in den Ohren und er vergaß den Schlaf. Hellwach saß er Tag und Nacht auf seinem Eichenwipfel, bis er endlich in einer linden warmen Nacht laut seine Stimme erschallen ließ. Er schrie so gellend über den Wald hin, daß der aus seinem Schlaf erwachte. In ihren Nestern erzitterten die Raben, sie verließen die Bäume und flogen dem stillen Tale zu.
Bragi hatte seine Fittige ausgebreitet, den Hals weit vorgestreckt, so schrie er lauter und lauter in die Nachtstille hinein. Seine Augen funkelten und wie er so auf seinem Baume saß, dachten alle, die ihn kurz vorher alt und verschlafen gescholten hatten! »Er gleicht einem Adler.« Sie neigten sich vor ihm und riefen: »Bragi, du hast uns gerufen, Bragi, befiehl, wir gehorchen dir!«
»Seid ihr alle gekommen?«
»Kara und Rara fehlen, sie hüten die Kleinen, aber sie hören uns.«
Bragi nickte, er sah wie die Schwestern auf ihren Nestern saßen und zu ihm hinhorchten.
»Rüstet euch, ihr, die ihr vom alten heiligen Geschlecht der Wodansraben abstammet, zum großen Fluge. Das Land ist in Gefahr, wir Raben müssen wachen und fliegen.«
Wild gellten die Schreie der dunklen Vögel über den Wald. »Das Land in Gefahr! Das Land in Gefahr!«
Auf ihren Nestern schlugen Kara und Rara mit den Flügeln; was Bragis Worte zu bedeuten hatten, wußten sie, denn ihre Base, die Königin Rikra, hatte ihnen von dem großen Rabenfluge erzählt. Wir müssen mit, es ist die höchste Ehre, mitzufliegen und wir sind aus königlichem Stamme,« rief Kara.
»Unsere Kinder,« sagte Rara.
Bragis Blick ruhte auf den Schwestern. »Kommt ihr, oder bleibt ihr?« fragte er hinüber.
»Wir müssen bei unseren Kindern wachen,« riefen beide zurück.
Bragi flog auf, flog zu den Nestern der schönen Schwestern hin und die dachten erschrocken: er zürnt uns, Bragi will uns strafen. Doch der alte Rabe strich mit seinem Flügel über die Rabenkinder: »Ihr werdet wachsen und stark werden, denn ihr habt getreue Mütter. Nun auf zum Flug!«
Jäh stieg Bragi in die Höhe und alle staunten über die Kraft seines Flügelschlages. Er flog voran, Hogi und Hugi, Muna, die andern und auch die Huckebeine folgten ihm, denn auch sie waren aus edlem Geschlecht. Sie flogen über den Wald hinweg und über die Burg.
Herr von Tracht, den jetzt schwere Sorge wenig schlafen ließ, war auf den Schloßhof gegangen, er stand an der Mauer und sah in das schweigende, schlafende Land hinein. Das ruhte im Frieden der warmen hellen Nacht und der Himmel überwachte mit seinen Millionen Sternaugen den Schlummer des Landes. Es war so hell, daß sich Wiesen, Wasser und Wald voneinander schieden und es war doch so dunkel, daß jedes Haus im Dorf einem dicken Schattenhaufen glich. Kein Licht brannte mehr im Dorf und so weit der Burgherr sehen konnte, er sah nirgends ein Licht funkeln. Sie schlafen alle, dachte er, und sorgen sich nicht und doch ist unser Land von Feinden umstellt. Sind wir nicht zu sorglos? Er seufzte schwer, denn das, was er jetzt in den Zeitungen las, erfüllte ihn mit Unruhe. Schauten nicht einmal wieder überall an den Grenzen böse, neidische Augen in das deutsche Land hinein, das so sanft im Sommerfrieden ruhte?
Und wie er so stand und sann, an die Kriegsnot vergangener Zeiten dachte, rauschte es plötzlich über ihm. Große dunkle Vögel flogen über die Burg und als sie gerade über ihm waren, stießen sie laute Schreie aus. Raben jetzt unterwegs in dieser Nachtstunde? Er sah ihnen nach, sie flogen sehr rasch und verschwanden bald in der Ferne.
Raben des deutschen Landes, Schicksalsvögel! Flogen sie vielleicht wieder um den Kyffhäuser, den sagenhaften Berg, wollten sie sehen, ob des Reiches Wächter wachten?
Der Burgherr stand noch lange an der Mauer und sah auf das schlafende Land nieder, er wartete, ob die Raben wiederkehren würden. Doch die waren schon weit. In rasendem Fluge sausten sie vorwärts. Wenn die Jungen einmal langsamer fliegen wollten, dann mahnte Bragi: »Eilt, eilt, es ist keine Zeit zur Rast.«
»Wie er fliegen kann, der Alte,« sagten die Jungen ehrfurchtsvoll zueinander. Auch ein bißchen neidisch waren sie und sie schlugen mit den Flügeln, spannten sie weit, setzten ihre ganze Kraft ein und doch war Bragi, der Alte, ihnen immer ein Stück voraus.
Mitternacht war längst vorüber, ein ganz zarter rosiger Schein stand schon am Himmel, da erblickten die Raben einen mäßig hohen Berg, das Land ringsum war flach und so mußte man von jenem Berg einen weiten Blick haben. Zu ihm strebten in dieser Nacht noch viele Raben hin. Aus allen, allen Himmelsrichtungen kamen sie, immer in kleinen Zügen und sie grüßten sich alle mit dem Ruf, den nur die Nachkommen der uralten Rabengeschlechter kennen. Als sie alle über dem Berg schwebten, flog Bragi aus dem Kreise heraus und zwei andere schlossen sich ihm an. Diese drei begannen im Kreise um den Berg zu fliegen und still folgten ihnen die anderen. Dreimal umzog der dunkle Zug den Berg und dreimal stieß Bragi zuerst den hellen, hohen Schrei aus, die anderen fielen ein und dann lauschten sie alle nach dem Berge hin – kam keine Antwort?
Doch es blieb alles still und als die Sonne aufging, flogen die Raben heimwärts. Ihr Flügelschlag war matt, ihr Schreien war verstummt, müde kehrten sie in ihre Nester zurück. Bragi krächzte nicht einmal an diesem Tag, unbeweglich saß er auf der Eiche. Aber als die Nacht kam, gellte sein Schrei wieder über den Wald und noch rascher als vorher flogen die Raben herbei. Sie ordneten sich schnell zum Zuge und überflogen wieder den Wald, die Burg, das schlafende Land und wieder schlossen sie sich über dem Berg zum Kreise und dreimal gellte ihr Schreien in die Stille hinaus.
Beim dritten Schrei war es, als käme ein dumpfes Stöhnen aus der Tiefe, nun hielten die Raben einen Augenblick im Fluge an, drinnen blieb es aber still und wieder flogen die dunklen Vögel heimwärts. Und sie umkreisten am dritten Tage, wie am ersten Tage, den Berg, aber diesmal tönte es schon nach dem ersten Schrei aus der Bergtiefe heraus! »Ich wache und höre!«
Dreimal schrien die Raben, dreimal gab die Stimme Antwort. An diesem Morgen eilten die Raben nicht heimwärts, sie ruhten auf Bäumen in der Nähe des Berges und flogen dann in alle vier Himmelsrichtungen hinaus.
Bragi und die Seinen reisten nordwärts. Sie flogen über ebenes Land, da wogten der Felder goldene Breiten und die Lerchen sangen: »Erntezeit, Erntezeit, jubili, jubili, Erntezeit!«
In der Ferne tauchten die Wände eines dunklen Gebirges auf, hier waren die Berge noch höher als um die Rabenburg herum, die Wälder waren tief und weit. Hugi fragte! »Horsten keine Raben hier?«
»Sahst du sie nicht, sie waren im Zuge und flogen westwärts,« gab Bragi zur Antwort. Als aber die Jungen rasten wollten, mahnte er: »weiter, weiter, Ruhzeit und Rastzeit sind vorbei.«
Über weites, weites Heideland ging der Flug. Auf dunklen Mooren blühten Sumpfblumen, Schafherden zogen über sanft gewelltes Weideland und kleine dunkle Dörfer lagen da, als wären sie aus der Erde herausgewachsen. Eine alte Stadt kam, ein Fluß, wohlhäbige Heimstätten und Felder, Felder.
Das Brot reifte dem Lande zu, reifte in Frieden, würde es auch in Frieden geerntet werden? Nur Bragi dachte es, die anderen Raben hatten zu viel zu schauen, zu neu, zu fremd war ihnen alles, auch begannen sie zu ermatten. Aber wieder mahnte der Alte: »Ruhzeit und Rastzeit sind vorbei,« und er schrie ins Weite, daß sein Ruf wie ein Pfeil dahinschoß.
In der Nacht erreichten die Vögel das Meer. Der Mond stand darüber und schenkte jeder Welle eine silberne Krone. Die Wellen sangen, aber die Vögel, die aus dem Lande kamen, verstanden ihre Lieder nicht, nur Bragi wußte sie zu deuten und er hörte das Meer das Lied der Nordwinde brausen. Nur zorniger klang es und wilder und manchmal kreischten die Wellen wie böse Vögel, ganz hoch sprangen sie dann vor Zorn und Wut.
Zwei Tage umkreisten die Raben das Meer, flogen hierhin und dorthin, schwebten über Helgolands Felsenriffen, sahen die kleine grüne Insel liegen und sahen in den Häfen Schiff neben Schiff. Die Möwen ängstigten sich sehr, sie meinten, die Raben wollten nun Wasservögel werden, wollten sie verdrängen; von der Pflicht der dunklen Vögel wußten sie nichts. Die aber flogen am dritten Tage wieder landeinwärts, sie flogen vom Morgen bis zum Abend und als sie am Berge wieder ankamen, trafen sie dort auch die Gefährten.
Sie umkreisten wieder den Berg, aber kaum hat Bragi den ersten Schrei, als es schon innen rief: »Was saht ihr? Sind es der Feinde viele, die das Reich bedrohen?«
»Viele, viele, wie Sand am Meer. Sie kommen von Ost und West, kommen vom Norden her, Falschheit und Tücke umlauert das Reich!«
»Wehe!« klagte die Stimme. »Sagt, ist das Reich wohlbehütet?«
»Es ist's,« riefen die Raben alle, nur Bragi schwieg.
Da tönte die Stimme aus der Tiefe herauf, grollend klang sie: »Bragi schweigt, fliegt er nicht um den Berg?« Und jäh wichen alle Raben zurück, einzig allein Bragi blieb über dem Berge in der Luft hangen und Bragi erhob gellend seine Stimme. Ein Schrei war es, eine Klage. Des Reiches Wächter klagte Bragi, der Weise, an. »Sie kennen nicht des Feindes Tücke, sie sehen rückwärts und nicht vorwärts!«
Ein Weheruf drang schaurig aus dem Berge heraus, ein Schrei nur war es, dann verstummte die Stimme in der Tiefe. Es wurde ganz stille ringsum, so als wäre jemand gestorben und die Raben umkreisten noch einmal den Berg und kehrten dann in ihre heimischen Wälder zurück.
Die Sonne stand schon hoch, als Bragi und die Seinen wieder über der Rabenburg anlangten. Die Schloßbewohner standen alle im Burggarten, als die Raben über die Burg flogen, die schrien laut und die Menschen schauten auf. »Es braut sich was zusammen, die Raben schreien so viel,« brummte Justus.
Gundula sah zum Himmel auf. Im blauen Luftmeer schwammen unschuldige weiße Wölkchen, keine drohende Wetterwolke war zu sehen. »Es kommt doch kein Gewitter, Justus,« sagte sie ärgerlich, »es ist so schön.«
»Und doch hat der Justus recht, es braut sich was zusammen am Himmel der Welt und dunkle Wolken hängen über unserem Lande,« sagte der Oheim. »Es wird Krieg geben!«
»Krieg!« riefen die Kinder laut, erschrocken, Justus sagte es gedämpft nach. Frau Susanne schwieg, was ihr Mann aussprach, hatte sie geahnt.
Laut schrien die Raben über der Burg, des einen Schrei gellte den anderen voran, dann verschwanden die Vögel im Walde.
»Ich fürchte mich,« rief Gundula bebend und schmiegte sich an die Tante an. Die schüttelte den Kopf und streichelte sie sacht: »Wir wollen uns nicht fürchten vor dem was kommt, wir wollen tapfer sein. Und vielleicht, vielleicht geht der Sturm vorüber, es hat schon manchmal ein Wetter am Himmel gestanden und zog dann vorbei. Vielleicht geschieht das auch diesmal.«