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10. Kapitel. Wie die Rabenburg zu ihrem Namen kam

Die drei Rabenköniginnen und ihr kleines Krähenvolk durften wohl nach Bragis Spruch in den Wäldern der Rabenburg wohnen, aber die anderen Raben und Vögel sagten doch alle von ihnen: »Die Fremden!« Es gab nicht gerade Zank und Streit, es herrschte aber auch keine Freundschaft zwischen Einheimischen und Fremden. Gegenseitig hielten sie sich für hochmütig, die alteingesessenen Waldbewohner dachten: die Fremden müssen um unsere Freundschaft werben, die wieder meinten: man muß sich nicht aufdrängen, die Einheimischen müssen freundlicher zu uns sein.

So war es, als das Rikralein in Not und Gefahr geriet. Die Klage der Schwestern und des ganzen Krähenvolkes drang bis zu Bragis Eiche. Muna selbst erzählte es dem Alten, und wie sie von dem Kummer der schönen Königinnen sprach, vergaßen alle, die es hörten, daß jene fremd waren. Auf einmal war es ihnen, als hätte sie alle ein gemeinsames Leid getroffen. Frau Huckebein erinnerte sich, wie herzlich die drei Schwestern an ihrem Kummer um Krachkrach teilgenommen hatten und sie rief zuerst: »Wir müssen sie trösten.«

»Wir müssen ihnen helfen,« schrien Hugi und Hogi und schlugen wild mit den Flügeln.

»Wir müssen ihnen helfen!« Von überall her tönte der Ruf. Vater Huckebein krächzte es am lautesten, er sträubte zornig die Federn, ganz kriegerisch sah er aus. Aber er wurde gleich still, als Frau Huckebein vorwurfsvoll fragte: »So, helfen willst du, warum hast du unserm Krachkrach nicht geholfen?«

Da duckte sich Herr Huckebein rasch in sein Nest und Hogi, der es sah, spottete: »Er ist immer ein gewaltiger Held mit – – dem Schnabel!«

An diesem Tage gab es aber noch mehr Schnabelhelden unter den schwarzen Gesellen. Sie kreischten alle laut durcheinander, berieten, wie sie helfen sollten, einer sagte so, der andere so, der eine meinte, alle müßten gleich fliegen, der andere sagte, einer solle voranfliegen und erst Botschaft bringen. Nur Bragi sagte nichts zu allem Geschrei und Geschwätz, er hockte still auf seinem Aste und blinzelte nur manchmal ein wenig nach seiner Gewohnheit. Wie sie sich nach vielem Hin und Her endlich alle geeinigt hatten, sie sollten zusammen, gleich auf der Stelle, nach Untersberg ziehen und Rikralein befreien, gurrte über ihnen eine wilde Taube: »Die Königin Rikralein ist gerettet, sie ist auf dem Hof der Rabenburg.«

Wenn einer eine Heldentat verrichten will und kommt nicht dazu, dann ist das verdrießlich und in diesem Augenblick ärgerten sich alle, daß es so flink mit der Rettung gegangen war. Auf einmal schrien Hugi und Hogi: »Aber wenn sie auf dem Burghof ist, dann ist sie doch gefangen. Auf, auf! wir müssen sie befreien!«

Sie breiteten beide ihre Flügel aus und wollten zur Burg fliegen, doch da rief ihnen Bragi zu: »Bleibt hier, fliegt nicht!«

»Warum nicht?« fragten beide und die anderen fragten es ihnen nach.

»Wollt ihr die Burg erstürmen, den Burgherrn töten, wollt ihr Tore und Türen sprengen?«

Bragi lächelte und die Raben erkannten die Vermessenheit ihres Vorsatzes; denn aus der Rabenburg konnten sie Rikralein nicht so leicht befreien, sie sahen es wohl ein und in ihrem Ärger begannen sie gar heftig auf die Burgbewohner zu schelten. Am lautesten aber schalt Frau Huckebein, die tat gar, als wären alle Schloßbewohner die schlimmsten Räuber, sie kreischte, bis Bragi ihr streng zurief: »Schweig! Wer weiß es denn, wie die Königin Rikralein in die Burg gekommen ist, hat Gurra, die Wildtaube, nicht gerufen, sie sei gerettet? Fliegt auf, forscht und bringt Bericht. Euer Geschwätz hilft den Schwestern nicht!«

Da flogen Hugi und Hogi beschämt davon, die anderen folgten schnell und sie kamen gerade zur Tanne, als das Rikralein, matt, von den Schwestern geleitet, im Nest anlangte. Die drei dankten den Raben gar holdselig für ihre Teilnahme, versprachen auch, sobald die Schwester sich erholt habe, in das stille Tal zu kommen, und die Besucher flogen befriedigt davon. Nur Hugi und Hogi waren mißvergnügt, es kränkte sie bitter, daß sie mit keiner Heldentat sich der schönen Schwestern besonderen Dank verdient hatten.

Als die Raben davonflogen, redete das Volk der Krähen von dem Besuch. Sie freuten sich alle darüber und beschlossen, am nächsten Tage schon in das stille Tal zu fliegen. Und so schwebte wirklich am anderen Morgen eine dunkle Wolke über dem Tal, das lag inmitten des schwarzblauen Tannenwaldes wie von einem goldenen Band umgürtet, die Laubbäume an seinem Rande trugen alle ihr Herbstkleid. Bragi saß still auf seiner Eiche, um die noch der Morgennebel braute. Wie ein See war noch das Tal, ein See, aus dem die Bäume herauswuchsen.

Die schönen Schwestern und das Krähenvolk grüßten ehrfürchtig Bragi, den Weisen, der hieß sie willkommen, fragte nach des Rikralein Unglück und Rettung und er war so freundlich und redelustig, daß Frau Huckebein Muna zurief: »Er erzählt uns heute vielleicht etwas.«

Muna nickte. »Er sollte es tun,« gab sie zur Antwort, »er sollte es tun und sollte uns erzählen, wie die Burg da oben nach uns genannt ward. Die jungen Königinnen und ihr Volk müßten es wissen.«

»Denkst du etwa, ich weiß es schon,« fragte die Huckebeinin entrüstet. »Es fällt Bragi nicht ein, uns was zu erzählen, in hundert Jahren tut er wohl einmal seinen Schnabel auf. Was nutzt mir seine Weisheit, wenn ich nichts davon höre.«

»Nicht so laut,« warnten Muna und Vater Huckebein erschrocken, »Bragi hört dich.«

Aber wenn Frau Huckebein einmal ihren Schnabel auftat, dann schloß sie ihn nicht so bald, und ärgerlich rief sie: »Ach, was, der Alte hört mich nicht, er hört schon schwer.«

Doch Bragi hörte gar nicht schwer, er hörte der Huckebeinin Schelten wohl, aber er wurde nicht böse, sondern blinzelte lächelnd die Raben an. »Also von der Burg und uns soll ich euch erzählen?« fragte er.

Husch! saß Frau Huckebein ganz tief in ihrem Neste drin, so sehr erschrocken war sie, daß sie kein Wörtlein mehr zu sagen wagte, aber die anderen baten laut an ihrer Stelle: »Ja erzähle, bitte, Bragi, erzähle!«

Der richtete sich auf, flog auf den höchsten Wipfel des alten Baumes und von dort her tönte seine Stimme laut über das stille Tal:

»Kriegsnot hat auch diese stillen Täler hier heimgesucht und gar manches Mal färbte sich der Himmel rot von dem Feuer, das Heimstätten verzehrte. In einer der vielen Fehden, die nach dem Untergang der edlen Hohenstaufen die deutschen Lande verwüsteten, verlor auch ein Mann, genannt Reinmar am Bühl, Haus und Hof. Er war ein freigeborener Mann, der dort, wo jetzt das Dorf Untersberg liegt, einen Hof besaß. Von dieses Hofes rauchenden Trümmern schritt Reinmar eines Tages bergaufwärts. Sein Weib und seine Kinder hatten um Christi willen in einem nahen Frauenkloster ein Unterkommen gefunden, seine Dienstleute waren erschlagen, geflohen, und er selbst war nur durch einen Zufall der Gefangenschaft entgangen. Er dachte erbittert, daß es wohl am besten sei, er zöge als Kriegsmann in die Fremde, vielleicht auch nach dem Lande Italia, von dem er schon so viel gehört hatte. Im Tale blühte der Frühling und als der einsame Mann so still hinabschaute, wurde ihm das Herz immer schwerer. Noch vor kurzer Zeit hatten er und seine Hausgenossen mit Tanz und Gesang unter der Linde fröhlich des Lenzes Kommen gefeiert, nun war sein Glück zerstört. Wie er so stand und sann, hörte er über sich laut ein paar Raben schreien und er sagte, schlimm gesinnt gegen uns, wie es die Menschen oft sind, weil ihnen unsere Farbe, unsere Stimmen nicht immer gefallen: ›Recht so, schreit nur ihr Galgenvögel, ihr Unglücksraben, freut euch an meiner Not!‹

»Doch die Raben, die da schrien, dachten gar nicht an Herrn Reinmars Unglück, ihnen war nämlich das gleiche widerfahren, auch ihr Nest war zerstört worden, am Boden lag es, die jungen Rabenkinder tot daneben. Nun klagten die Raben den anderen Vögeln, den Winden, dem Walde ihr Leid und endlich erblickte auch Herr Reinmar das zerstörte Nest. Auf einem moosbewachsenen Stein sitzend, schaute er zu, wie die schwarzen Vögel hin- und herflogen. ›Ja, fliegt nur!‹ sagte er bitter, ›fliegt in die Weite, fliegt in die Fremde, obdachlos wie ich.‹

»Aber die Raben dachten nicht daran, ihre Heimat zu verlassen. Auf einmal sah Herr Reinmar, wie sie Äste und Federn des zerstörten Nestes in die Schnäbel nahmen und damit zu einer Tanne emporflogen. Er sah, wie sie wiederkehrten, sah sie auf- und abfliegen unablässig, sie bauten sich ihr zerstörtes Nest wieder auf.

»Bis der Abend kam und die emsigen Vögel sich zur Ruhe auf einen Ast niedersetzten, sah ihnen Herr Reinmar zu. Es wurde stiller und stiller im Walde, lau und lind senkte sich die Nacht herab aus Täler und Höhen, und Stern um Stern erglänzte am Himmel. Zum erstenmal, seit ihn das Unglück getroffen hatte, sah Herr Reinmar fromm zum Himmel auf. Müde streckte er sich endlich auf weichem Moose nieder.

»Herr Reinmar schlief ein und Herr Reinmar wachte wieder auf. Da glänzte alles im Sonnenlicht, die Vögel sangen und mit lautem Rufen flogen die Raben schon wieder emsig auf und ab und bauten ihr Nest.

»Sollte denn ein Mensch nicht können was Vögel können, dachte der Mann, sollte es mir nicht gelingen, mein Haus wieder aufzubauen? Aber nicht unten im Tale, hier auf freier Höhe, fest und gut bewehrt. Er reckte und dehnte sich und er fühlte auf einmal, wie neue Kraft ihn durchströmte, neuer Mut sein Herz erfüllte und froh rief er in die Morgenstille hinein: ›Habt Dank, ihr dunkeln Vögel, ihr habt mir gezeigt, was ich tun soll, eurem Beispiele will ich folgen und nimmermehr will ich euch Galgenvögel noch Unglücksraben nennen, Glücksvögel sollt ihr meinem Hause sein!‹

»So zog Herr Reinmar wieder ins Tal und der Ruf der Raben folgte ihm. Und es wurde, wie er es sich gelobt hatte, er mußte freilich erst mancherlei Bittgänge tun, mußte noch manchen Frühling kommen sehen, ehe ihm das Werk gelang und ehe auf dem Berg eine feste Burg stand. Manchmal wollte er verzagen, wenn wieder der Winter kam und er immer noch nicht die Seinen heimholen konnte. Aber immer wieder gab ihm der Rabenruf neuen Mut und als endlich die Burg fertigstand und ein Rabenpaar sie in raschem Fluge umkreiste, da nannte er sein neues Haus nach uns dunklen Vögeln. Die Burg gelangte dann im Laufe der Zeit in verschiedenen Besitz, bis sie endlich an die Trachts kam, die von den Bühls abstammen sollen. Von Geschlecht zu Geschlecht aber hat sich das Wort vererbt, daß wir Raben der Burg rechte Schirmvögel sind, die da oben und wir gehören zusammen.«

»Wir gehören zusammen!« Feierlich wiederholten alle Raben das Wort und dann flogen sie eilig auf, flogen über den Wald, um die Burg liegen zu sehen. Die Nebel hatten sich gelöst und das Land lag nun im Sonnenglanz. Ein goldener Laubkranz umgab die Burg; dunkel und ernst ragte hoch die einsame Tanne neben ihr auf. »Unsere Heimat!« riefen die drei schönen Schwestern und jauchzend flogen sie nach ihrem Königsbaum zurück. In langem Zuge folgten ihnen die Raben und Krähen und jubelfroh grüßten sie alle hinab, denn unten im Burghof standen Frau Susanna und die Kinder und erstaunt über die vielen Vögel sahen sie in die Höhe.

Neben den drei Schwestern flogen Hugi und Hogi, auch Muna und Vater Huckebein hielten sich zu ihnen und sie alle sieben ließen sich auf der Tanne nieder, während die anderen noch immer in seligem Fluge die Burg umkreisten.

»Sieben sitzen da,« rief Gundula, die die Raben gezählt hatte, »wie im Märchen von den sieben Raben.«

»Wenn ich verzaubert wäre, würdest du mich dann auch erlösen?« fragte Dieter neckend sein Schwesterchen.

»Zu Sonne, Mond und Sternen gehen, bis ans Ende der Welt, und auf den Glasberg steigen, das wäre wohl schwer,« sagte Frau Susanna lächelnd, »aber eine Schwester bringt wohl viel fertig für ihre Brüder.«

»So etwas doch nicht,« erwiderte Dieter ein wenig weise und altklug.

»Nein, auf den Glasberg kann sie nicht steigen, doch eine kleine starke Schwester kann auch sieben Brüder erlösen. Ich kenne eine, die es getan hat.«

»Erzähle von ihr,« bat Gundula, aber Frau Susanna schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht, später, erst sollt ihr sie sehen und damit hat es noch ein paar Tage Zeit, dann führe ich euch zu ihr.«

»Wohnt sie in einem Schloß?« fragte Gundula. Doch die Tante lächelte nur und gab ihr keine Antwort. Da träumte sich die Kleine eine wundersame Geschichte zurecht von einer Schwester ungeheuren Heldentaten.

An diesem Abend geschah etwas, was sehr, sehr selten vorkam, Gundula zankte sich mit ihrem Bruder. Der lachte sie aus, als sie wieder von Märchen und der Tante geheimnisvoller Geschichte begann und darüber wurde die Kleine böse. Es gab einen heftigen Streit zwischen beiden und als das Gutenachtsagen kam, gingen zwei Trotzköpfe stumm aneinander vorüber, jedes in sein Zimmer hinein, jedes schlug die Türe zu, jedes dachte bitterböse: er – sie – – konnte zuerst »gute Nacht« sagen.

Trotz Zorn und Ärger schliefen beide ein, aber mitten in der Nacht wachte Gundula auf. Draußen schien der Mond und auf dem Turmdach, das sie von ihrem Bette aus sehen konnte, lag es wie Schnee. Der Wald rauschte zu ihr hinein und nichts unterbrach die Stille der Nacht und doch meinte Gundula noch im Wachen lautes Rabengeschrei zu hören. Da fielen ihr die sieben Raben ein und die Treue der Schwester und der Streit mit dem Bruder kam ihr in den Sinn. War sie nicht eine unfreundliche, übelnehmerische Schwester gewesen? Sie, die im Herzen gemeint hatte, sie könne auch für den Bruder Heldentaten vollbringen?

Ganz schwer fiel der Gedanke ihr auf das Herz. Auch daran mußte sie denken, daß die Mutter einst gesagt hatte: »Laßt es nicht Nacht werden über einem Streit.« Gundula schluchzte jäh auf und schrie bang! »Dieter, Dieter!« Nebenan erwachte der Bube. Er hörte das ängstliche Rufen und gleich dachte er: Gundula ist in Gefahr! Da war er schon an der Tür und im Mondschein, der das ganze Zimmer erhellte, sah er die Schwester bitterlich weinend auf dem Bettrand sitzend.

»Gundel, aber Gundel, was fehlt dir?«

»Sei mir nicht mehr böse,« schluchzte diese.

»Böse? Oh, so dumm!« Dieter lachte auf: »Dummes, kleines Gundelein, schlafe du, es ist ja alles wieder gut.«

»Ganz gut?«

»Ja, ganz gut,« klang's von der Türe herüber. »Ich weiß ja doch, du liefst für mich auf den Glasberg und zum brummigen Mond.«

»Oh, Dieter, lach mich nicht aus!«

»Tu' ich ja nicht. Schlaf wohl!«

»Schlaf wohl und wirklich, du bist mir nicht mehr böse?«

»Ih wo, ganz und gar nicht. Uahh, ich bin aber müde!« Die Türe klappte und in seinem Zimmer fiel Dieter mit lautem Krach in sein Bett, eine Viertelminute später schlief er schon.

Gundula aber saß noch auf dem Bettrand. An das Märlein von der treuen Schwester dachte sie und an der Mutter Wort und in den Mondschein sah sie hinaus. Und sie meinte die ganze Nacht zu wachen und schlief doch schneller ein. als einer ein Märchen erzählt. –


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