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Am letzten Tage der Weihnachtsferien kneteten Dieter und Gundula auf dem Burghof einen Schneemann. Justus pappte für ihn einen Ritterhelm, gab ihm ein Holzschwert in den Arm und so stand dieser Wächter viele Wochen lang am Schloßtor und wenn die Kinder an ihm vorbeigingen, sagten sie immer: »Wie geht's, Junker Peter, hast du gut Wache gehalten?«
Junker Peter konnte nicht nicken, aber mit seinem dicken Gesicht grinste er unentwegt freundlich jeden an, bis er einmal im Februar klein und schief wurde. Er erholte sich dann aber wieder, neuer Schnee fiel und die Kinder wälzten Junker Peter so lange darin herum, bis er wieder dick, rund und schneeweiß geworden war. Justus lackierte seinen Helm auf und als Purzel am nächsten Tage zur Heimbegleitung mit bis an das Burgtor kam, sagte er: »Potzwetter, Junker Peter ist fein.«
Am Nachmittag kamen dann noch etliche Untersberger Buben und Mädels angelaufen, um Junker Peter anzustaunen, er war der stattlichste Schneemann, den sie je gesehen. Doch ein langes Leben war ihm nicht beschieden, an einem Tage war er noch dick und rund und in der Nacht blies der Sturm heftig um die Burg, es war, als wollte er sie einstürzen, und am Morgen stand dann Junker Peter schief, mager und trübselig am Tor.
»Nun ist's mit dem aus, jetzt kommt der Frühling,« sagte Justus.
Der Wind sauste und brauste, die Raben schrien und der Wald begann zu atmen. Tief, lang und auf einmal war aller Schnee fort, nur da und dort in Gräben und Schattenwinkeln lagen weiße Fetzchen, so, als hätte der Wind Wäsche von der Waschleine heruntergefegt, und hierhin und dorthin ein Stück geworfen.
Junker Peter war jetzt nur noch ein kleiner, grauer, schwärzlicher Haufen, darauf saß der Helm, zerweicht, farblos und das Holzschwert lag daneben. Die Kinder sahen gar nicht mehr nach ihm hin, Junker Peter war vergessen, sie dachten nur an den Frühling, der kommen sollte. Der trieb in den Bäumen schon den Saft hoch, da wurden die Äste dick und schimmerten rötlich, und unten auf dem Boden begann es zu grünen und eines Tages fand Gundula das erste Schneeglöckchen. Sie stimmte einen so hellen Jubelgesang an, als sie mit der kleinen weißen Blume in der Hand den Burghof betrat, daß nicht allein Justus herbeilief, auch Frau Susanne kam und die Köchin steckte den Kopf weit aus dem Küchenfenster heraus. »Was rief das Kind, was war es nur?«
»Ein Schneeglöckchen!« Gundula sang das Wort förmlich und dieser helle Klang tönte hinauf bis zur Tanne, auf der die drei Königinnen saßen und auch vom Frühling redeten. Rikralein beugte sich weit, weit vor. Sie tat das immer, wenn sie unten die Kinder erblickte, die sie liebte, seit die ihr in schwerer Not beigestanden hatten. Als sie Gundula unten jauchzen hörte, atmete die kleine schwarze Königin tief und eine unendliche Sehnsucht erfüllte ihr Herz. Die Sehnsucht, zu sein, wie jenes liebliche Menschenkind.
»Rikralein hüte dich, du fällst aus dem Nest,« mahnten Rara und Kara. Aber Rikralein hörte gar nicht auf der Schwester Mahnen, sie lachte nur hinab und Rara und Kara sahen sich traurig an. Ihr Rikralein, ihr Liebling war verändert, sie war nicht mehr so fröhlich wie einst; wenn die Raben der Sonne entgegenflogen, dann sah Rikralein nicht empor, immer ruhte ihr Blick auf der Erde, ruhte auf der alten Burg. Dorthin sehnte sie sich Tag und Nacht. Sie sprach aber nie von dieser Sehnsucht zu den beiden Schwestern, denn sie wußte, die würden traurig sein, und sie wollte doch, die Schwestern sollten glücklich werden. Wenn Hugi und Hogi kamen und mit den Schwestern auf der Tanne saßen, dann dachte Rikralein manchmal, sie sind schön, wie Rara und Kara, und sie sind edel, sind Könige, das würden zwei stolze Rabenpaare geben. Sie sagte das auch einmal, aber da riefen die Schwestern beide: »Wir drei bleiben zusammen, niemand soll uns trennen!«
»Nur der Tod,« dachte das Rikralein, aber sie schämte sich fast des trüben Gedankens, denn unten jauchzten gerade die Kinder laut, es war an einem Tage, an dem Junker Peter noch dick und stattlich am Burgtor stand. »Wär' ich Junker Peter,« wünschte sich Rikralein, »dann lachte mich Gundula auch so fröhlich an.« Aber Junker Peter zerfloß und nun hörte die kleine schwarze Königin Gundula über das Schneeglöckchen jubeln. Sie sah, wie auch Herr von Tracht auf den Burghof trat und sich lächelnd das weiße Frühlingswunder zeigen ließ. Sie hörte freilich nicht, daß er sagte: »Im stillen Tale wachsen an einer Stelle so viele Schneeglöckchen und Leberblümchen, du kannst auch Himmelströpflein sagen, wie nirgend im Walde. Wir wollen nach Tisch einmal gehen und sehen, wie viele von den kleinen Frühlingsboten ihre Nasen schon herausgestreckt haben.«
Über Frau Susannes Gesicht flog ein Schatten, es war so wie am Himmel, wo auch die dunklen Wolken immer wieder die Sonne verdunkelten. Die Frau dachte daran, einst hatte der Pflegesohn Christian ihr aus dem stillen Tal immer den ersten Frühlingsstrauß geholt. Aber das wußte niemand mehr, selbst Justus dachte nicht daran.
Oben aus der Tanne sagte zur gleichen Zeit Kara zu den Schwestern: »Wir wollen in Bragis Tal fliegen und sehen, ob der Frühling schon dorthin gekommen ist.«
Seit dem ersten Waldgang mit dem Oheim waren die Kinder schon viele, viele Male im Walde gewesen und immer war ihre Freude daran neu. So auch an diesem Tage. Sie gönnten ganz gewiß dem Oheim sein Nachmittagsschläfchen, aber sie meinten, daß es heute recht lang daure, immer wieder fragten sie Justus: »Schläft er noch?« Und Justus machte dann krampfhafte Anstrengungen, um so leise es nur ging, zu flüstern: »Ja, noch fest.«
Wie Gundula so etwa zum fünften Male kam und fragte, wollte Justus wieder flüstern, aber seine Stimme rutschte ihm aus, sie lief ihm einfach davon und wurde laut und so schallte es plötzlich über den Flur und weckte das Echo des alten Baues: »Er schläft immer noch. Aber wartet nur, Geduld überwindet Buttermilch.«
»Alle Wetter!« In seinem Zimmer fuhr Herr von Tracht in die Höhe, der laute Ruf hatte ihn geweckt. »Justus, Justus!« tönte nun seine Stimme und Justus öffnete sehr verlegen, sehr kleinlaut die Türe. »Warum schreist du denn so laut da draußen?«
»'s ist nur, die Kinder haben gefragt!«
»Ach so, die zieht's in den Wald.« Herr von Tracht stand auf. Er liebte es nicht gerade, wenn er im Mittagsschlaf gestört wurde und er wetterte wohl kräftig über eine Störung, aber freilich, wenn man in den Wald gehen wollte! Ein paar Minuten später gingen die Geschwister vergnügt an des Oheims Seite den Weg entlang, der in das stille Tal führte. Und sie sahen dabei, daß der Frühling wirklich im Anzug war. An winzigen, federzarten Blättlein, an dicken Knospen, an dem ganzen zarten, schimmernden Hauch über dem Gebüsch, war des Frühlings Nahen zu spüren. Im Tälchen gluckste und rann der kleine Bach wie ein luftiger Wanderbursch dahin, heisa! juchheissasa! der Frühling kommt.
Am Talrand an der Sonnenseite, geschützt gegen den Wind, hatten wirklich schon lustige kleine Blumenkinder ihre Augen aufgetan. Schneeglöckchen und Leberblümchen, wie es der Oheim gesagt hatte, und Gundula konnte hier den ersten Frühlingsstrauß pflücken. Sie tat es fast andächtig und sie hätte sich in diesem Augenblick nicht besonnen, alle Treibhauswunder eines großstädtischen Blumenladens für dieses Waldwinkelchen dahinzugeben. Während sie pflückte und jede Blüte dabei zart streichelte, jede einzelne Schönheit helltönig pries, schaute sich Dieter Baum um Baum an. Wie alt der wohl sei und wie alt jener? Er tat ein bißchen stolz den Blumen gegenüber und er redete von den Bäumen wie einer, der aufgewachsen ist im Walde. Und wie ein echter Waldbewohner patschte er auch unbekümmert um seine Stiefel in den weichen, nassen Boden hinein, platsch, platsch!
Der Waldbach hatte es Dieter angetan, jedesmal, wenn er ihn glucksen hörte, dachte er: wohin geht er? Bis zum Waldrand sah er ihn, dann verschwand er, eine Felswand stand dort, zwischen den Felsen mußte er hindurch laufen, man hört ihn an dieser Stelle von ferne rauschen.
Der Oheim, der an der anderen Seite des Tälchens ein paar unterm Schnee zusammengebrochene Stämmchen untersuchte, rief auf einmal hinüber: »Sei vorsichtig, dort geht es steil hinab.«
Dieter hörte nun wohl die Warnung, aber er tat damit, wie es viele tun mit warnenden Worten, er achtete nicht darauf. Er ging weiter und an der Felsspalte gedachte er mit einem kühnen Sprung hinüberzusetzen und – – – da rutschte und glitschte er schon bergab, neben ihm rauschte und brauste es, Steine kollerten, aufgeweichtes Erdreich schob sich nach, er wollte sich an einem kahlen Busch halten, aber der schien zu denken: Mitgehen ist lustig. Es war ein langer Schacht, in den Dieter hineingefallen war. Glücklicherweise gelang es ihm aber dann, in der Mitte sich noch an einem Birkenstämmchen festzuhalten. Er schwang sich daran seitwärts auf festeren Grund, rutschte aber auch hier noch ein Stück weiter, bis er endlich am Fuße eines kleinen Abhanges liegenblieb. Ganz wirbelig war es ihm zu Sinn, er richtete sich endlich auf, wie ein Erdklumpen sah er aus. Erde, dürre Blätter, Ästchen, alles hing und klebte an ihm und naß war er durch und durch. »Donnerwetter, das ist ja 'n Junge!« sagt da auf einmal in der tiefsten Waldeinsamkeit eine Stimme und zu seinem Erstaunen sah Dieter Herrn Specht vor sich. »Ich dachte, hier krabbelt 'n Reh rum oder – – – na nun schlägt's dreizehn, Dieter, du?«
»Ja,« murmelte Dieter kläglich, »ich bin nur 'n bißchen ausgerutscht.«
»Oh, 'n bißchen! Hm! mir scheint, du hast einen halben Berg mitgenommen!« Herr Specht sah Dieter kopfschüttelnd an. »Wo kommst du denn her?«
»Aus dem stillen Tal.«
»Da will ich hin, deinen Herrn Onkel suchen.«
»Der ist oben, da!« Dieter zeigte mit der Hand in die steile Höhe.
»Bist du da heruntergekommen?« schrie Herr Specht. »Ja, jetzt wundere ich mich nicht, wie du aussiehst. Himmel, Junge, du hast dich ja ganz und gar in Frühlingsschmutz eingewickelt.«
»Dieter, Dieter!« Aus der Höhe klang des Oheims Rufen und Herr Specht gab rasch Antwort: »Hier ist er, Herr Baron. Er hat 'ne kleine Rutschpartie gemacht, aber die Glieder sind heil.« Leise fragte der dicke Holzhändler: »Sind sie's auch, Arme, Beine, alles?«
»Ja alles!« Dieter reckte und streckte sich und seufzte leise, ihm tat nämlich eigentlich alles weh.
»Ich bring' ihn hinauf, Herr Baron, er ist wirklich noch ganz.«
»Dieter, Dieter!« Oben schluchzte Gundulas Stimmlein, dem Rufe des Oheims nach.
»Es ist gar nichts, nur – – – 'n wenig schmutzig bin ich.« rief Dieter hinauf.
»Na, nur ein wenig, der halbe Wald klebt ihm fast an den Hosen,« erklärte der Holzhändler Dieters Aussehen näher. »Und nun komm!« Er schob Dieter den Berg hinauf. Mühselig ging es, denn das aufgeweichte Erdreich gab immer wieder nach und nach ein paar Schritten schimpfte der dicke Herr Specht. »Das ist der vertrackte Weg, den man nie richtig findet. Wenn man denkt, man geht ihn, dann ist's meist 'n anderer. Und von den zehn Malen, die ich vielleicht in meinem Leben in das stille Tal gehen wollte, bin ich zweimal nur hingekommen und da wollte ich dann eigentlich wo anders hin.«
Es war, als hätte Herr von Tracht diese gründliche Wegkenntnis des freundlichen Mannes geahnt, er kam mit raschen Schritten bergab den beiden entgegen. Als er Dieter sah, schaute er ihn von oben bis unten mit leisem Spott an: »Na, mein Junge, nun glaubst du mir es wohl, daß der Bach ein ganz heimtückischer Geselle ist?«
Dieter wurde glührot. »Oheim,« stammelte er verlegen, »verzeih' – –«
»Laß' nur, laß'!« Der Waldherr wehrte lachend ab, »es gibt Dinge, die muß ein Junge selbst ergründen, die glaubt er den Erwachsenen einfach nicht. Und wenn es dich tröstet, ich habe einmal in deinem Alter die gleiche Rutschpartie gemacht. Nur – – Tauwetter war nicht gerade.«
»Ja, das ist für so was böse,« meinte auch Herr Specht. »Gleich ganz und gar ins Waschfaß, das wäre am besten.«
»Oh, Dieter!« Gundel starrte den Buben fassungslos an. Sie hatte längst andere Ansicht über schmutzige Stiefel und dergleichen wie einst in der Stadt, aber der Bruder übertraf in diesem Augenblick ihre kühnste Phantasie. »Oh, Dieter!«
»Der Schmutz geht ab, das ist schöner, ehrlicher Waldboden, Mamsellchen,« tröstete der Oheim, »wenn sich der Dieter nie anders schmutzig macht im Leben, als so, wenn es immer nur äußerlich ist, soll's ihm verziehen sein. Aber nun trapp! trapp! nach Hause, es ist noch ein bißchen früh im Jahr für solche Bäder.«
Die Kinder rannten davon, die beiden Männer folgten. Der Holzhändler war auf der Burg gewesen, hatte dort von dem Waldgang ins stille Tal gehört und war gefolgt. »Auf verkehrtem Wege natürlich,« sagte er heiter, »es ist wirklich seltsam, wie leicht man sich in diesem Walde verlaufen kann.«
Über den Heimkehrenden flogen Raben, die drei Schwestern waren es, die auch aus dem stillen Tale kamen und denen Hugi und Hogi das Geleite gaben. Bragi hatte heute seinen stillen Tag gehabt, er hatte ihnen nicht die Sprache der Winde gedeutet, aber Rikralein sagte nun doch, als sie sich dem Neste näherten: »Die Winde haben böse Stimmen heute.«
»Das bläst wieder tüchtig, zur Nacht gibt's einen ordentlichen Sturm,« sagte unten Justus, der hörte, wie die Winde wieder zu blasen begannen. Auf halbem Wege packte der Sturm auch die Wanderer und Dieter merkte es nun, daß es für nasse Sachen wirklich noch kein Wetter war. Er kam jämmerlich verfroren auf der Burg an und seine Tante und Justus riefen es fast zu gleicher Zeit: »Ins Bett und – – Fliedertee!«
»Ich heize ein,« rief Justus dann noch, »bei so 'n Wetter gehört zum Tee 'ne warme Stube.«
Die Zimmer, die die Geschwister nebeneinander bewohnten, mußten sich, wie es manchmal in alten Häusern ist, mit einem Ofen begnügen. Ein grüner Kachelofen war in die Wand eingebaut und er war von so behaglicher Breite, daß er auch beide Zimmer gut versorgen konnte. Das Feuerloch war auf Gundulas Seite, aber eine Röhre gab es hüben und drüben und in diese Röhre schob Justus geschwind noch ein paar Äpfel hinein.
»Bratäpfel sind gesund, wenn eins erkältet ist,« brummte er.
»Und schmecken gut.« Dieter dehnte sich schon im Bett, er schluckte Fliedertee und fing schon an, eine wohlige Wärme in allen Glieder zu verspüren. Er fand es sehr behaglich im warmen Bett, im warmen Zimmer, während draußen der Sturm immer wilder die Burg umsauste.
»Das wird eine böse Nacht!« Frau Susanne sagte es, denn sie verschlief nicht den Sturm, in solchen Nächten wachten ihre vergangenen Schmerzen auf und darum sagte auch sie wie die kleine, schwarze Rabenkönigin: »Der Wind ist böse.«
Die anderen Burgbewohner kümmerten sich nicht viel um das Toben der Winde, am allerwenigsten Dieter und Gundula. Der Fliedertee – Gundula hatte ihn zur Gesellschaft mitgetrunken, der warme Ofen, die Bratäpfel, alles hatte sie in eine wohlige Wärme gehüllt und sie träumten beide die angenehmsten Dinge.
Der Sturm sang auch in den Wipfeln der Tanne, dem hohen Wächter am Burgtor. Der stolze Baum trotzte dem wilden, bösen Gesellen, aber immer wieder mußte er sich doch neigen vor ihm und das Nest der Rabenköniginnen schwankte hin und her. Wie ein Schifflein auf dem Meere. Rara und Kara liegen sich einwiegen, sie schliefen fest, nur Rikralein saß auf dem Nestrande und wachte. Zum Himmel sah sie auf, der war voller Wolken, die immer wieder den Mond überschatteten. Ein Kampf war es da oben. Blieb der Mond Sieger, dann floh sein Licht in breiten Wellen über Burg und Wald und die Wolken trugen silberne Kronen. Dann sah die kleine, schwarze Königin hinab und das Herzlein wurde ihr schwer vor Sehnsucht nach dem lieblichen Kind. Nach den Fenstern sah sie, hinter denen die Kinder schliefen, die kannte sie, an vielen Morgen und Abenden hatte sie gesehen, wie durch diese Fenster die Kinder den Tag grüßten oder von ihm Abschied nahmen. Sie dachte, könnte ich singen, warum habe ich nicht eine so holde Stimme wie die Nachtigall und kann nur krächzen. Das Märlein fiel ihr ein, das einst die Königin Rikra erzählt hatte. Ein Rabe wollte singen lernen und flog zu den Menschen, da hörte er wie eine Frau Holz sägte, krach, krach, krach! Das merkte er sich und seitdem können die Raben nichts anderes schreien.
So träumte Rikralein und hörte dabei noch, wie böse der Sturm jetzt wieder brüllte. Sie sah nach den Fenstern der Kinder hin und sah auf einmal es dahinter seltsam rot flackern.
»Feuer!« Rikralein flog mit jähem Schrei empor zu den Fenstern hin, dahinter zuckte und flackerte es. »Feuer!«
Drinnen hörte niemand Rikraleins Ruf. Nur die Schwestern oben im Nest wachten auf und kreischten ängstlich hinab: »Rikralein, Rikralein, was tust du?«
Die kleine Königin gab keine Antwort. »Ich muß sie retten, ich muß sie retten,« dachte sie und ihre Stimme gellte laut vor den Fenstern: »Wacht auf, wacht auf!« Rikralein schrie es so laut sie konnte: »Wacht auf, wacht auf!«
»Ich muß sie retten, ich muß sie retten,« dachte sie nur noch und trotz Karas und Raras flehendem Rufen flog sie mit aller Kraft gegen die Fenster. »Rikralein, Rikralein, was tust du?«
Die kleine Königin nahm ihre letzte Kraft zusammen, nocheinmal stieß sie gegen die Scheiben, ein Krach, ein Klirren und drinnen im Zimmer fuhr Gundula schlaftrunken in die Höhe.
Sie ächzte schwer, irgend etwas Unheimliches bedrohte sie. nahm ihr den Atem und am Ofen flackerte und zuckte es rot. »Dieter, Dieter!«
Keuchend brachte sie es heraus! »Dieter!«
Der war von dem Klirren halb erwacht, nun hörte er den stöhnenden Ruf der Schwester und zugleich spürte er einen seltsam scharfen Geruch. »Feuer, Feuer!« Er sprang schreiend aus dem Bett, rannte hinüber, sah Dunst und Qualm, sah rote, zuckende Flammen und er hatte noch so viel Geistesgegenwart, die Schwester aus dem Bett zu reißen und sie aus dem Zimmer zu zerren. Noch ging es, noch war der Weg frei, in einer Minute wäre es vielleicht zu spät gewesen. An der Türe stolperte Gundula, etwas Dunkles, Weiches lag da, sie bückte sich noch, hob es auf, halb bewußtlos schon, da waren sie draußen und der Ruf: »Feuer, Feuer!« durchgellte die Burg.
Wenige Minuten später waren alle Bewohner wach. Herr von Tracht ging ruhig und besonnen ans Rettungswerk und alle halfen ihm, auch Dieter, nur Justus raste aufgeregt herum, »man muß läuten, läuten!« schrie er und stürzte hinauf. Auf dem Türmchen des Mittelbaus hing eine Glocke und bald klang deren Ruf in die Nacht hinaus. »In Feuersnot die Burg, in Feuersnot, hört es, ihr Leute von Untersberg!«
Doch der Wind wehte den Schall dem Walde zu, kein Mensch in Untersberg hörte des Glöckleins Rufen. Und Justus läutete, immer lauter gellte die Glockenstimme, bis auf einmal jemand unten rief: »Justus hör' auf, es brennt ja nicht mehr.«
Dieter stand unten in einen Regenmantel gewickelt, er lachte über das ganze Gesicht, als der kleine Mann verstört die Treppe herabkam und ängstlich fragte: »Wieso aus?«
»Na eben, es ist aus. Onkel, Hulda, Emma, Franz und ich haben immerzu Wasser hineingegossen, schwipp, schwapp, und da ist's ausgegangen.«
»Ganz ausgegangen?« Justus hatte im Geiste schon die geliebte Burg in Flammen gesehen, durch seine Schuld, meinte er, denn noch dröhnte ihm seines Herren Ruf im Ohr! »Daran ist sicher die Heizerei schuld!«
»Ist's wirklich aus, Dieter?« fragte er nochmals ganz zaghaft.
»Aber Justus!« Der Bube zog den Alten mit fort. »Komm' nur, komm', Gundulas Stube ist ausgebrannt, mehr ist nicht geschehen, aber – – –«
»Es hätte schlimm werden können, Gundel hätte verbrennen können, du hättest verbrennen können, die Burg hätte verbrennen können und ich wäre schuld gewesen.«
»Du Justus? Du doch nicht. Der Wind war's, der Wind allein.«
»Der Wind und eine schadhafte Esse wohl,« sagte dann auch der Burgherr und da atmete Justus wie erlöst auf. »Der Wind,« murmelte er, »der Wind, nicht ich. Gott sei's gedankt, nicht ich.«
»Gott sei gelobt! daß die Kinder rechtzeitig aufwachten,« sagte Frau Susanne. »Der hat mich geweckt!« Gundula, die halb bewußtlos von ihrer Tante in die Wohnstube gebracht worden war, hatte sich schon wieder erholt, sie zeigte jetzt auf die kleine, tote Königin in ihrem Arm.«
»Wo hast du denn den Raben her?« Der Oheim hob erstaunt den toten Vogel auf, »der hat sich ja den Kopf eingerannt.«
»Er hat mich geweckt.« Gundula erzählte eifrig, daß sie von dem Schreien aufgewacht sei, ganz deutlich hatte sie den Ruf vernommen.
»Ja, ich hab's auch gehört, ich bin aber erst richtig munter geworden, als Gundel dann schrie,« versicherte Dieter.
Der Burgherr hatte aufmerksam die Tote betrachtet. Er wußte nichts von der kleinen Königin Sehnsucht und daß sie sich geopfert hatte. Aber wie er das Tierchen so in seiner Hand hielt, rührte es ihn und er strich sanft über das schwarze Gefieder, dabei fühlte er an dem Beinchen etwas Hartes, er strich sacht die Federn zurück und entdeckte einen goldenen Ring. »Seht doch,« rief er überrascht, »der Vogel muß schon einmal in Gefangenschaft gewesen sein, er trägt einen goldenen Ring!« Vorsichtig schob und zog er an dem Reif, der löste sich langsam und rollte in des Burgherrn Hand.
»Ein Ring, ein Ring!« Verwundert schauten alle aus das goldene Ding, ein glatter Reif mit einem Schildchen daran war es und auf einmal hielt Frau Susanne fast ängstlich ihre Hand daneben, »er gleicht dem Meinen.«
»Ja, und das Wappen der Trachts scheint darauf zu sein, unser Wappen!« Der Baron betrachtete angelegentlich den Fund. Innen war etwas eingeritzt, Buchstaben, Zahlen, er entzifferte mühsam: »1738. Und hier das sieht aus wie ein H, weiter nichts mehr zu lesen. Aber unser Wappen ist's ganz gewiß.«
»Mein Ring hat die gleiche Zahl.« Frau Susanne verglich aufmerksam die Ringe miteinander. »Sie sind wirklich gleich,« sagte sie zu ihrem Mann. »Deine Mutter gab mir einst den Ring als Brautgeschenk. Er war mir zu weit und als ich ihn enger machen ließ, schärfte der Goldarbeiter die Schrift neu. Der Spruch der Trachts steht darin: ›Ich harre aus!‹ Die Mutter erzählte dazu, eine Frau Sophie Charlotte von Tracht habe zwei gleiche Ringe machen lassen für ihre Zwillingssöhne.«
»Ja, von denen fiel der eine später bei Kunersdorf, der andere war des wunderlichen Herrn Christian Vater, er starb jung!« Herr von Tracht sah nachdenklich aus den Ring in seiner Hand nieder. »Ob er wirklich dem Hans Dieter gehört hat, der unter König Friedrichs Fahnen so tapfer focht, ein Held war er, in der Chronik steht von ihm, daß er in die Schlacht zog: ›allwie einer zu Tanze geht.‹ Seltsam wie auch die Dinge wandern durch die Welt und heimkehren, als hätten sie Sehnsucht nach dem Ort, von dem sie einst ausgingen. Nun kommt dieser Ring uns zurück durch einen Raben.«
Die kleine tote Königin konnte nicht mehr hören, was die Menschen sprachen. Sie konnte nicht erzählen, daß der Ring einst auf der Erde gefunden worden war, auf einem Schlachtfeld. Die Menschen wieder hörten nicht draußen Kara und Rara um die geliebte Schwester klagen. Sie redeten von den toten Helden und Herr von Tracht nahm die Chronik seines Hauses und las den Seinen daraus vor, was von jenen darin geschrieben stand.
»Anno domini 1754 am 12. August ist Herr Hans Dieter von Tracht, Herrn Albrechten von Tracht Zwillingsbruder einen heldenhaften Tod gestorben. In der schweren Bataille bei dem Orte Kunersdorf, die Friederikus Rex, dem großen Helden, vielen Kummer bereitet hat, geschah das betrübliche Unglück. Ein Reutter, der blessiert nach etlichen Wochen Herrn Albrechten die Kunde überbrachte, hat erzählt: ›Ein Fähndrich sei gefallen und Herr Hans Dieter hat nicht wollen die Fahne dem Feinde lassen. Dabei ist er hart bedrängt worden von einer großen Überzahl, er hat sich aber gewehrt wie ein Löwe, ist zuletzt in die Knie gesunken, war voller Blut und hat noch immer gefochten mit der linken Hand, weil ihm die rechte zerschossen war. Ist zuletzt Hilfe gekommen, die Fahne ist gerettet worden, als man sie hat aufheben wollen war sie voller Blut und Herrn Hans Dieters Hand war so fest hineingekrallt in Todesnot, daß es einen starken Riß gegeben hat. Ist ein gar tapfer, edler Herr gewesen, der Junker von Tracht. Gott schenke ihm fröhliche Urständ. Seine Leiche hat man nicht gefunden, ist ein zu schlimmer Tag gewesen, viele haben müssen ihr Leben lassen. Hat sich aber alles zum besten gewendet für König Friederikus. Gelobt sei Gott!‹«
Draußen zog ein neuer Tag herauf. Der Wind hatte sich gelegt, er rauschte nur noch leise durch den Wald, über dem schon der Morgen glänzte. Raras und Karas bange Schmerzensrufe waren bis in das stille Tal gedrungen und Hugi und Hogi eilten zu den Schwestern. Aber helfen konnten sie ihnen nicht, traurig saßen sie neben den Königinnen und ließen sich erzählen von des Rikraleins Verschwinden, vom Brand in der Burg. Wie sie noch so miteinander redeten, sahen sie unten Dieter und Gundula auf den Hof treten, sie trugen die kleine, tote Königin.
»Rikralein, Rikralein!« Rara und Kara schrien es im wilden Schmerz, unten sahen die Kinder auf und Gundula sagte! »Sieh' doch, vier sitzen auf der Tanne, sonst waren es nur drei. Und ich dachte doch, der Rabe hier wäre einer von den dreien.«
»Hier unter dem Mandelbäumchen müßt ihr den Raben begraben,« rief Justus ihnen zu. Er stand schon dort, hatte schon ein kleines Grab gegraben und die Kinder betteten vorsichtig den toten Vogel hinein, deckten Erde darüber und zuletzt legte Gundula alle Frühlingsblumen darauf, die sie gestern gepflückt hatte. »Der Rabe hat uns gerettet,« sagte sie, und ein paar Tränlein fielen auf das Grab.
»Aber Gundula du mußt nicht weinen,« mahnte Dieter, doch Justus redete dazwischen. »Laß' sie nur. Seltsam war das mit dem Vogel und gerettet hat er euch wirklich. Wir wissen es ja alle nicht, was so ein Tierchen denkt und fühlt, wissen nicht, ob es uns liebhat. Vielleicht ist es so, vielleicht hat es die Tränen verdient.«
»Kraah, kraah, kraah!« schrien oben die schönen Schwestern und Hugi und Hogi; sie kreisten alle über dem Burghof, flogen tief und tiefer, dann stiegen sie wieder in die Höhe, aber sie kehrten nicht mehr zur Tanne zurück. Mit Hugi und Hogi flogen sie in das stille Tal, dort wollten sie mit den beiden jungen Königen ihre Nester bauen.
»Die gehen fort,« klagte Gundula.
»Sie kommen wieder,« tröstete Justus.
Aber Kara und Rara kamen nicht wieder. Nur manchmal noch umkreisten sie die Burg und grüßten das Grab der treuen Schwester, aber dann kehrten sie immer wieder in das stille Tal zurück. Dort horsteten sie nebeneinander mit ihren Männern auf einer alten Eiche und Bragi, der Weise, freute sich darüber, denn auch er fand, wie alle anderen Raben im Walde, zwei schönere Paare konnte es nicht geben. Und auch zwei glücklichere nicht. –