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Am Tage vor dem Begräbnis kam der Hausbesitzer herauf und erbat sich im Eßzimmer eine Unterredung mit Onkel Wilhelm. Es hatte sich nämlich ein Liebhaber für die Wohnung gemeldet, ein Beamter, der in die Hauptstadt versetzt worden war und am liebsten so bald wie möglich einziehen wollte. Dadurch würde den Erben ungefähr die ganze Miete für das Sommerhalbjahr nachgelassen; aber er wisse ja nicht, wie rasch die Zimmer geräumt werden könnten.
Der Onkel fand die Sache ausgezeichnet. Er sagte, je schneller man die »verstorbenen Räume« verlassen könne, wo man sich nur beständig in Gemütsbewegungen hineinsteigere, desto besser sei es. Und das könne ja in kurzer Zeit bewerkstelligt werden.
Großmutter Ursula hatte immer gesagt: »Es darf von meinen Sachen nichts, auch nicht ein Kopfkissen verkauft werden. Solche Auktionen sind eine wahre Entheiligung.« Deshalb hatte sie auch über alle ihre Sachen bis ins kleinste verfügt und überdies schon bei Lebzeiten öfters davon gesprochen.
Sulla wußte, daß sie das schöne runde Pastellbild von Großvater Anker, das mit dem lockigen Haar und den leuchtenden blauen Augen, bekommen sollte – das Bild des Admirals ging an einen Seitenverwandten – sowie den Reliquienschrein mit dem Gedicht über die erste Begegnung. Marie Luise erhielt die alten Damastmöbel für ihren neuen Gartensalon, Mutter den prachtvollen Eckschrank aus dem Eßzimmer, die kleine Nina die Möbel aus dem kleinen Salon, die Tante das Schlafzimmer, überdies Vorhänge und das Weißzeug für ein weiteres Gastzimmer. Außerdem waren auch die Dienstmädchen und mehrere Frauen, die bei Großmutter arbeiteten, bedacht worden. Lars und Line, die Geschwister waren, hatten längst ausgemacht, eine gemeinsame Heimat zu gründen und dann bei allen Gelegenheiten in der Familie auszuhelfen; diese beiden erhielten fast alle Möbel, die sie für eine kleine Wohnung nötig hatten.
Wenn nun jedes dafür sorgte, daß sein Eigentum gepackt und abgeholt werde, dann ging alles sehr schnell, meinte der Onkel; und der Hausbesitzer war sehr erfreut über diesen Bescheid.
Er sagte auch, der Garten gehöre nun nicht mehr zur Wohnung; er habe ihn nur wegen der gnädigen Frau noch behalten. Er bekomme jetzt ohne ihn eine höhere Miete und könne ihn überdies außerordentlich vorteilhaft verkaufen, an den Besitzer des großen grauen Hauses, dessen Mauer an den Garten stoße. Dies sei auch längst ausgemacht; der neue Eigentümer lasse den Garten eingehen und baue Lagerräume auf das Grundstück. Er wolle auch lieber heute als morgen anfangen; aber er, der Hausbesitzer, habe ihm gesagt, die kurze Zeit, die die Herrschaft vom ersten Stock die Räume noch inne hätte, solle sie auch den Garten noch zur Benützung haben.
Sulla fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Der Garten – der Garten war zum Tode verurteilt! Er sollte verschwinden! – – Die Stadt, die so lange boshaft auf der Lauer davor gelegen hatte, sollte jetzt durch die Mauer hereinbrechen und ihn verschlingen dürfen! Es wurde gar nicht mehr Sommer hier! Ach, ihr war, als stürbe die ganze Welt! – –
– Jetzt ist der Begräbnistag angebrochen. Große Glocken läuten mit schweren, dumpfen Schlägen – überwältigend starker Blumenduft erfüllt alle Gemächer, feierlich trauriges Orgelspiel ertönt, und rings umher sind lauter schwarze Gestalten, die ganz sonderbar, wie halb erstorben unter ihren schwarzen Schleiern aussehen. Am größten und schwärzesten unter ihnen ist Ulla – und unter dem dichten Schleier erscheint ihre Gestalt wie erstarrt.
Großmutter hat die Lieder selbst ausgewählt: »Wenn ich einmal soll scheiden …« »O wie unaussprechlich selig werden wir im Himmel sein …« Ach ja, für Großmutter bricht jetzt der schöne Tag der Wirklichkeit an!
Zwischen allen den verschleierten, verschwommenen Gesichtern ist eins klar und lebendig – ein Antlitz, dessen ernste Augen auf Sulla ruhen und ihr wieder ein sicheres Gefühl der Wirklichkeit geben.
Über dem Kirchhof wölbt sich ein blauer Himmel, die Bäume prangen im frischesten Grün, und die Vögel zwitschern hell und fröhlich. Es ist wie lauter Freude an Ludwig Ankers offenem Grab, gerade als gehe hier etwas recht Gutes vor sich. Und so ist es auch: jetzt wird der Staub, der zusammen gehörte, vereinigt, um zusammen zu vermodern. Und weit, weit drinnen, wo das Licht wohnt, treffen sich Augen, die das Leben für einander bargen …
– Noch ein Familienmittag, der letzte in den altgewohnten Räumen – mit demselben Speisezettel und derselben alten Kochfrau, wie immer, wenn Großmutter ein Fest gab. Onkel Peter hält die Rede, und man trinkt ein stilles Glas auf die Tote.
Grams sind gekommen; und der guten Marie Luise, die sehr weichherzig ist, treten in der Erinnerung an Großmutter beständig die Tränen in die Augen. Sie ist auch sehr bekümmert um Sulla. »Man hätte dich nicht wachen lassen sollen,« sagt sie, »man kann ja förmlich durch dich hindurchsehen.« Aber so oft von den gelben Damastmöbeln die Rede ist, zeigt sie sich überaus praktisch, und sie weiß auch schon ganz genau, wie sie gepackt werden sollen.
Nach Tisch sitzt Tante Lene mit Sulla in einer Fensternische; es ist ein klarer, heller Maienabend, und sie sagt in gedämpftem Ton: »Wie gut, wie merkwürdig gut sich doch alles macht!
Zuerst für meine Ulla – –«
»Wie hat sie denn die Trennung von der kleinen Nina ertragen?« unterbricht Sulla die Tante.
»Nun, es ging besser, als ich gefürchtet hatte. Das Kind dagegen, das sonst so still ist und sich innig auf den Vater freute, war plötzlich ganz außer sich; es klammerte sich fest an die Mutter an und klagte: ›Du bleibst doch nicht wieder ganz fort von mir, Mutter?‹ Aber Ulla ging leicht darüber weg; du weißt, das bringt sie fertig. ›Wir heulen doch nicht, Ninette. Wir sind ja tapfere Zinnsoldaten,‹ sagte sie, und das half ein wenig. Und sie selbst ist seither merkwürdig ruhig gewesen.«
Ruhig! Ach Gott, diese erstarrte Ulla in der Kirche heute!
»Und nun ist das Scharlachfieber also glücklich überstanden. Im Herbst zieht Wencks Schwester Mimi, die kürzlich Witwe geworden ist, zu ihm. Sie ist die liebenswürdigste von der ganzen Familie, und die kleine Nina bekommt es also gut. Wenck hat jetzt auch erlaubt, daß das Kind einmal im Monat einen Tag bei uns verbringt. Da kann Ulla sie dann sehen. Den ganzen Sommer hindurch soll Nina bei der Großmutter in Norwegen bleiben, damit sie sich vollständig erholt. Und denk dir, ich reise mit Ulla auch da hinauf in eine Kuranstalt, denn es muß etwas Ernstliches für ihre Gesundheit getan werden. Wir reisen schon übermorgen ab, während die obere Wohnung bei uns gründlich desinfiziert wird. Das Geld, das ich jetzt erbe, kommt mir recht gelegen. Und Großmutter selbst hatte ja nur noch den Wunsch, heimzugehen.«
Tante wischt sich die Augen und nimmt Sullas kalte Hände in die ihrigen. »Aber du, meine Liebe – auch für dich wird nun alles gut. Das ewige Vorlesen und im Garten sitzen, die täglichen langen Besuche hier haben dir zu viel von deiner Jugend geraubt. Und viel zu viel von der Zeit, die du aus deinen Gesang hättest verwenden können. Du hast es dringend nötig, jetzt endlich etwas aufzuatmen und ein wenig für dich selbst leben zu können. Ich weiß wohl, Lullemor möchte dich den Sommer über bei sich in Aarhus haben; aber wozu sollst du denn zu dem langweiligen Pfarrer da hinüber? Er wird sich schon ohne dich verloben. Deine Mutter stimmt ganz mit mir überein, daß ihr ins Ausland reist. Jetzt braucht ihr ja auch nicht mehr an den Kostenpunkt zu denken. Aber ich habe dir ja noch gar nicht gesagt, daß Ulla schon im September heiraten kann.«
»Freut sie sich darüber?«
»Das glaube ich doch, und Ferdinand ist hoch entzückt. Er ist ein sehr lieber Mensch und paßt viel besser für sie als Wenck. Ulla ist nun einmal eine leicht entzündliche Natur und kann mit solchen Eiszapfen nicht zurecht kommen. Ich glaube, sie wird jetzt wirklich glücklich werden. Ja, wie gesagt, nun wird alles gut. Der liebe Gott kann es doch immer wieder hell machen, wenn es auch manchmal noch so dunkel aussieht.«
Jetzt tritt Lars herein und will augenscheinlich Sulla etwas ausrichten. Sie geht zu ihm hin.
»Es möchte jemand das gnädige Fräulein sprechen. Drunten im Garten.«
Sie erblaßt. »Im Garten?«
»Ja, ich habe den Schlüssel mitgegeben.«
Ach so – dann ist es ja nicht jemand, der den Schlüssel selbst hat!
Langsam wandert Sulla über den stillen Hof. In der Gartentür steckt der Schlüssel. Sie schlägt die Tür zurück. Schon senkt sich leise die Dämmerung herab. Die Blumen sind verschleiert – wie die Gesichter in der Kirche heute. Ein matt schimmernder Himmel leuchtet über den hohen Baumwipfeln.
Hoch und schwarz gleitet Ulla auf einem der Wege hin und her. Sulla tritt zu ihr und legt den Arm um sie.
»Da bist du ja. Ich danke dir, daß du gekommen bist, denn ich möchte dir lebewohl sagen; übermorgen reise ich ab. Du darfst nicht mehr hinauskommen, es ist ein gräßliches Durcheinander bei uns draußen. Und dann hätte ich auch gern noch einmal hier hereingeschaut. Denn nun ist ja die Sage des Gartens zu Ende.«
»Ja.«
»Ist die alte Ursula heuer noch einmal hier gewesen?«
»Ja, einmal, und dabei hat sie sich erkältet.«
»Und jetzt nimmt sie ihren Garten mit sich. Das sieht ihr ähnlich. Eigentlich hätte all ihr Hab und Gut hier mit ihr begraben werden müssen.«
»Sie hat dir ihre Granaten vermacht. Weißt du noch, wie sehr wir uns diese als Kinder gewünscht haben? Dieser Schmuck war ihr wohl selbst der liebste.«
»Ach, ich rühre ihn nicht an! Alles, was sie hatte, ist ja zu einem Stück von ihr selbst geworden. Wir können es nicht tragen. Aber daß sie mich wirklich lieb gehabt hat! Trotz allem!«
»Das hab ich wohl gewußt, Ulla.«
»Ja, sie und ich, wir sind gewissermaßen aus demselben Holz geschnitzt worden. Ich habe sie auch sehr lieb gehabt, habe es ihr aber freilich nie so recht gezeigt. – – Na, nun wirst du also auch nicht mehr hier sitzen?«
»Nein. – – Wie geht es dir, Ulla? Du siehst gar nicht wohl aus.«
»Ich bin's auch nicht.«
»Meinst du, Norwegen werde dir gut tun?«
»Ja, vielleicht. Jedenfalls möchte ich den Sommer dort verbringen. Sie soll ja da droben frische Luft einatmen. Aber weißt du, wenn es mit einem zu Ende ist, kann einem schlechterdings nicht mehr geholfen werden. Und wenn ich mich da droben wirklich erhole – wird mir schon irgend ein menschenfreundlicher Radfahrer oder ein Riß im Finger den Garaus machen, oder irgend etwas anderes, wenn ich wieder zurück bin.«
»Du sollst ja im September Hochzeit haben?«
»Ja, ich soll im September heiraten. Doch, nun sag mir – aber wollen wir uns nicht setzen?« Sie steigt die Stufen zu der Pagode hinauf und setzt sich unter die Türe. Sulla läßt sich neben ihr nieder.
Ulla legt ihre kalten Finger an Sullas Wange. »Wie steht's, Sulla? Sag es mir. – – Ach, du tust mir so schrecklich leid!«
»Ich kann es nicht sagen, Ulla.«
»Warum nicht? Du hast dich über nichts zu schämen.«
Ein Lächeln huscht um Sullas Lippen. »Ach nein, dann müßte ja der Garten sich schämen, daß er in voller Blüte steht. Aber es ist zu gut, um besprochen zu werden. Und es ist auch zu schwer. Wie hast du doch einmal geschrieben: Was ich bin, kann ich nicht sein – das Leben, mein eigentliches Leben darf ich nicht leben – wo ich daheim bin, darf ich nicht wohnen.«
»Ja – und dann stirbt man. Aber du nicht, denn du hast es nicht selbst verschuldet. Und es ist auch nicht dasselbe. Siehst du, Mutter sein, das ist etwas ganz Wirkliches. Aber ein Verhältnis zu einem Manne – das nicht einmal Form angenommen hat –«
»Wenn man liebt, so ist das an und für sich schon ein Verhältnis.«
»Für einen Mann nicht: dessen Liebe kann nicht nur so von der Lust leben. Da solltest du lieber – aber das willst du natürlich nicht. Und ein christlicher Professor der Ethik würde es wohl auch in den verkehrten Hals bekommen, wenn er die Schranken durchbräche. Ich wußte ja wohl, daß es so kommen würde. Aber nun darfst du dir um alles in der Welt nichts von einer einzigen, ewigen Liebe einbilden! Das kommt nur von deiner verkehrten Erziehung her. Ich will die meinige freilich nicht loben – denn diese hat mich so weit von mir weggeführt wie nur möglich. Aber die eurige ist darum nicht richtiger gewesen. Du darfst nicht dein ganzes Leben auf etwas setzen – das in Wirklichkeit gar nichts ist. Du darfst nicht – hörst du!«
»Ich habe mein Leben nicht darauf gesetzt, Ulla, ich habe es da gefunden. Dieses Verhältnis bin ich selbst. Du weißt doch wohl, daß man erst in dem Verhältnis zu einem andern eine eigene Persönlichkeit wird.«
»Ja, im Verhältnis zu seinem Kinde, nicht in dem zu einem Manne. Weißt du, was ein Mann mit dem Gefühl tut, das ihm nicht befriedigt wird?«
»Er kann es vielleicht nicht so bewahren wie wir, aber meiner Meinung nach kann er es in Taten umsetzen.«
»Ach, das denkst du!« – Ulla streicht ihr übers Haar, und Sulla fühlt unwillkürlich, wie mütterlich diese Hände sind. – »Nein, das fällt ihm gar nicht ein. Während du dein Herz auf eine einzige Karte setzst, die nie ausgespielt wird, gibt er sein Gefühl aus in kleinen Liebeleien für andere.«
»Niemals!« versetzt Sulla, und sie steht rasch auf. »Wenn man es über sich brächte, das Beste, was man in seinem Herzen birgt, zu erniedrigen, sollte man lieber sterben.«
»Ja, hast du die Macht, dich davor zu bewahren?« »Nein – aber einer kann es; siehst du, Ulla, etwas kannst du eben nicht verstehen, denn du weißt nicht, was es heißt, ihn, an den man glaubt, mit in ein Verhältnis hineinzunehmen – und dieses Verhältnis dann ganz in seine Hände zu legen. Dann kann nur Gutes daraus werden – wenn ich es jetzt auch nicht so fühle.«
Ulla schaut still in die Dämmerung hinein. »Blühen denn die Maiglöckchen schon? Oder riechen die Narzissen so stark – –? Doch, doch, Sulla, vieles kann ich jetzt verstehen. Eine Mutter sein – das ist etwas unergründlich Tiefes. Da hat man Fühlung mit allem, was man früher mit seinem Verstand nicht begreifen konnte. Und man möchte ja auch nicht gern dummer sein, als sein eigenes Kind. Kinder sind klug! Sie hat mich so vieles gelehrt, was ich früher nicht wußte. – – Aber du, Sulla, du sollst dein Leben retten; ich möchte dich davon abbringen, es nur in einem anderen zu haben, das heißt eigentlich immer, es dran geben.«
»Dann mußt du mich ganz umschaffen, Ulla.«
»Ich wollte, ich könnte es. Und doch, selbst wenn ich dich in diesem Stück umschaffen könnte – ich täte es nicht. Weder dich noch mich selbst! … Liebe Sulla – – Aber jetzt mußt du zum Tee hinauf – und ich muß gehen.«
Sulla nimmt das Gesicht der Cousine zwischen ihre beiden Hände. »Bleib noch ein wenig, Ulla! Nun dauert es so lange, bis wir uns wiedersehen – – ich sehe dich doch wieder, Ulla?«
Ulla küßt sie. »Wie komisch ihr alle seid! Ihr meint, man könne seinen eigenen Tod überleben.«
»Ich habe dich gar nicht gefragt, wie es gegangen ist – kann ich doch den Gedanken daran selbst fast nicht ertragen.«
Ulla schüttelt nur den Kopf und streckt abwehrend die Hand aus.
»Tante Mimi wird gewiß recht gut gegen sie sein,« fährt Sulla fort.
»Ja, aber sie ist eben nicht die Mutter – – Ich muß jetzt immer darüber nachdenken, ob man nicht vielleicht nachher einander viel näher ist. Dann wäre es ja nur gut –«
Sie schmiegt ihr blasses Gesicht an das der Cousine. »Leb wohl, Sullala. – Komm, gib mir noch ein paar Blumen vom Garten mit!«
Sulla zuckt zusammen. »Ach nein, Ulla, denn der Garten – der Garten hat jetzt nur noch Blumen für die Toten.«
»Warum denn nicht? So viel könntest du mir schon zuliebe tun – zum letztenmal.«
Sulla fängt an zu pflücken: Narzissen, blaue Vergißmeinnicht, blaßgelbe Tulpen … Und die ganze Zeit sucht sie den Gedanken zu verscheuchen, der sich unwillkürlich eingestellt hat.
Als sie Ulla die Blumen reicht, sagt sie, um den Gedanken zurückzuzwingen: »Auf Wiedersehen, Ulla!«
Ulla zieht ihren langen Schleier übers Gesicht. »Nein, als ich im vorigen Jahre fortging, an dem Tag hab ich mir selbst die Pulsader abgeschnitten. Ich wußte es nicht; aber daran stirbt man.«
Mutter will nicht, daß Sulla beim Räumen und Packen in Großmutters Wohnung mit Hand anlegt. Marie Luise hilft ihr, so lange sie da ist, und außerdem auch die Dienstmädchen und mehrere Tanten.
Sulla soll sich also nicht ermüden; und sie nimmt sich auch in der Tat alles gar zu sehr zu Herzen! Wenn sie nur vor einem helleren Fleck vor der Tapete steht, wo früher eine schöne englische Landschaft mit einem sonnenbeschienenen Kirchlein hing, auf der die Gedanken gleichsam immer sonntäglich gekleidet umhergingen, oder ein wohlwollendes Porträt, mit dem sie als Kind leise Gespräche geführt hatte, wenn einem etwas nicht nach Wunsch gegangen war – dann greift sie das immer sehr an. Und Line hat recht, wenn sie sagt: »Es gibt im Leben so vieles, was schwer ist; aber wenn man auch noch an das alles denken müßte, woran das gnädige Fräulein denkt, dann möchte man wahrlich gar nichts mehr damit zu tun haben.«
Es ist ja immer ein sonderbares Gefühl, wenn sich so eine alte Heimat schließt. Und hier in diesen Räumen wohnte nicht nur Großmutter Ursula, sondern auch ihre ganze Zeit mit ihr. Als die gute alte Zeit heimatlos in der Welt gemordet war, fand sie eine Zuflucht bei Großmutter – und von da hatte sie nie jemand vertreiben dürfen. Jetzt ist sie erst im Ernst aus, ihre Zeit, und gute, alte, getreue Hausgeister, die in keinen anderen Ort mehr hineinpassen, sind heimatlos geworden.
Aber Mutter hat nicht das Herz, sich dieser Wehmut, die sie beim Einpacken beschleicht, lange hinzugeben. Es geht ihr gar zu viel durch den Kopf! Sie ist dem Gedanken an eine Reise ins Ausland, die Großmutter Ursula merkwürdigerweise selbst damals, wo sie krank wurde, noch vorschlug, näher getreten, und Onkels unterstützen den Plan in jeder Weise.
Schon am Begräbnistag hatten ihr beide eifrig zugeredet. »Ja, Wilhelm hat ganz recht, liebe Therese, wenn er sagt: was ist das für eine Jugend, die ihr Sulla geboten habt?« meinte die Tante.
»Gewiß, und es ist tatsächlich schade um das Mädchen,« fiel der Onkel ein. »Sie ist ja ganz bleichschnäblig, weil sie gar nichts erlebt. Jetzt soll sie endlich einmal fühlen, daß sie Blut in den Adern hat. Du, liebe Therese, hast dich ihr ja immer an die Fersen geheftet, ausgenommen in Großmutter Ursulas Garten – wo ihr sie hinter mannshohen Mauern und verschlossener Türe sicher wußtet. Es ist geradezu ein Segen, daß diese Mauer niedergerissen wird. Das Leben konnte ja niemals auch nur in Berührung mit ihr kommen, und es muß doch das Recht haben, die Hand nach ihr auszustrecken.«
»Ganz richtig, aber hier wird es dir vielleicht schwer, irgend eine Veränderung eintreten zu lassen,« unterbrach ihn die Tante, »deshalb sage ich: Gehet auf Reisen! Geh selbst mit, liebe Therese, dagegen habe ich nichts. Sulla ist doch noch zu jung, um allein in der Welt herumzufahren; aber laß sie ungehindert mit anderen jungen Leuten verkehren. Das Reisen gibt zu vielem Anlaß, und jetzt muß das Versäumte nachgeholt werden.«
Mutter, die jetzt Großmutter nicht mehr als Bundesgenossin hatte, war ganz entsetzt bei dem Gedanken, ihr Herzenskind könnte durch ihre allzu zarte Fürsorge zu kurz gekommen sein. Sie ging gleich auf den Plan ein, gegen den Sulla auch nichts einzuwenden hatte, und so kündigte sie ihre Wohnung zum Herbst. Die Möbel sollten auf einen Speicher gestellt werden, damit die beiden Damen in ihren Bewegungen ganz ungehindert wären. Onkel Wilhelm machte ihnen den Reiseplan und bot sich zu jeglicher Hilfe an.
Und nun ist es also bestimmt, daß Mutter und Sulla so bald wie möglich abreisen, und zwar zuerst an den Genfersee, wo Grams im Anfang Juli mit ihnen Zusammentreffen wollen, um die Sommerferien gemeinsam in den Bergen zu verleben. Den Winter soll sie dann in Berlin oder Paris zubringen: Sulla soll frei wählen, wohin sie will, wo es eben für ihre Gesangsstudien am günstigsten ist. Onkel hat auch Italien vorgeschlagen: er denkt, Ferdinand werde sich im nächsten Winter mit Ulla dort niederlassen – das wäre dann für beide sehr nett.
Mutter meint auch, es werde alles gut gehen – Marie Luise zählt schon die Tage bis zu der herrlichen Ferienzeit, wenn nur …, wenn nur das liebe Gesicht, dessen Ausdruck sich ihr schmerzlich ins Herz gegraben hat, wieder lächeln könnte, so daß man fühlte: jetzt ist sie wieder froh! Mutter ist freilich überzeugt, daß nichts Bestimmtes vorliegt; aber sie fühlt an sich selbst, daß ihr Mädchen nicht glücklich ist.
Der letzte Abend in Großmutter Ursulas Wohnung! Die Zimmer sind geräumt, beinahe alle Möbel sind fortgeschickt, morgen kommen schon die Handwerksleute. Mutter und ein paar Tanten packen noch einige Kleinigkeiten zusammen; das letzte Silber aus dem Eßzimmer, dessen großes Büfett zu Onkel Wilhelms wandert. Sulla ist auch da, um Abschied von den Räumen zu nehmen, wo sich die Erinnerungen noch in allen Ecken zusammendrängen; sie hat es selbst gewünscht.
Mutter meinte, bis zum Tee werde alles fertig sein, und sie hat Sulla um diese Zeit bestellt, damit sie zusammen nach Hause gehen könnten. Aber jetzt sieht sie, daß sie mindestens noch eine Stunde zu arbeiten haben.
Line hat einen Tisch und Stühle ins Eßzimmer gestellt. Ihre und Lars Möbel sollen erst morgen weggeschafft werden – aber das geht Mutter glücklicherweise dann nichts mehr an. Line hat auch einen Teil des Küchengeschirrs bekommen und backt nun eben mit glühenden Wangen einen Eierkuchen mit gehacktem Schinken zum Abendbrot; – so etwas Gutes gibt es nun nie wieder!
»Frau Erhart hat uns allerdings zum Tee hinauf eingeladen,« sagt Mutter; »aber wir haben gedankt, weil wir fürchteten, es werde uns zu viel Zeit kosten, denn wir müssen ja heute abend durchaus fertig werden. Sie ist überhaupt in allen diesen geschäftsvollen Tagen außerordentlich liebenswürdig gegen uns gewesen, und ich freue mich, daß ihr Großmutter Ursula das schöne große Bild von Johannes und Maria vermacht hat.«
»Aber was sagst du denn dazu, daß er die alte Sonnenuhr kaufen wollte?« bemerkte Tante Fine, die auch alle Tage dagewesen ist, obgleich sie gar nichts helfen konnte; aber sie meinte eben, sie müsse auch dabei sein. »Vielleicht will er sie wieder herrichten lassen. Wilhelm sagte ja gleich, er dürfe nichts dafür bezahlen. Aber wo will er sie denn aufstellen?«
»Die Mädchen droben sagen, in des Herren eigener Stube,« wirft Line ein, die eben mit dem Eierkuchen eintritt. »Das ist doch wirklich kurios.«
»Allerdings,« bestätigt Fine, die sich sogleich über den Eierkuchen hermacht.
Nach dem Tee, als Mutter und die andern wieder an ihre Arbeit gehen, sagt Sulla, sie wolle jetzt hinunter und von dem Garten Abschied nehmen.
»Tu das, mein Kind, denn morgen muß ja der Schlüssel abgeliefert werden,« erwidert Mutter. »Ich bin heute vormittag auch drin gewesen; es ist jetzt wunderschön drunten – und man wird ganz wehmütig gestimmt. Nimm aber etwas um, Kind.«
»Ach nein, es ist ja so mild heute abend.«
Trotzdem holt Mutter ein großes weißes Umschlagetuch aus luftigem Atlasgarn – Großmutters letzte Arbeit, die sie bekommen hat – und legt es Sulla um Kopf und Schultern. »Wir werden wohl kaum vor elf Uhr fertig sein, und es ist kaum zehn Uhr,« sagt sie. »Aber bleib nicht zu lange drunten sitzen.«
»Nein, denn die Abendluft – –,« sagt Tante Fine. »Und überdies ist sogar Vollmond.«
Es ist von jeher ein wunderbarer Garten gewesen – auch bei Tag. Niemals konnte es ganz ausgelöscht werden, das Gepräge von der heimlichen Welt, die sich in allen den grünen Winkeln barg.
Aber wenn der Garten vom Vollmondschein übergossen daliegt, entschleiert er sich vertrauensvoll und ganz selbstverständlich: und die verborgene Welt tritt in voller Klarheit hervor.
Ende Mai wirft der Mondschein ja keine so scharfe schwarze Schatten, oder einen so blendend hellen Glanz wie in den dunklen Nächten. Und doch gleiten die Büsche und Bäume, die die Gartenwege umsäumen, in eine bläuliche Dunkelheit hinein, die für das Auge kein Ende hat, die weiter und weiter zurückzuwogen scheint – in die nächtliche Tiefe großer, ferner Wälder hinein. Nur von den festlichen Blütenkerzen des Kastanienbaums ragen einige in die Mondhelle heraus, und die Narzissen, deren Stengel unsichtbar sind, heben sich wie eine Milchstraße aus blassen, silberschimmernden Sternen von dem dunklen Hintergrund ab.
Der ganze Rasen dehnt sich in funkelndem Glanz aus. Hat es geregnet? Oder ist es der Tau, dessen glänzende Tropfen die zarten jungen Gräser niederbeugen wie unter flimmerndem Rauhreif? Mitten auf dem Rasen steht der Birnbaum mit dem allerweißesten weißen Blütenschnee bedeckt.
Es ist, als banne das Licht alles in unbewegliche Stille; nicht ein Blatt, nicht ein Grashälmchen bewegt sich. Nicht der leiseste Hauch geht durch den Garten. Aber es ist nicht die Stille des Todes; nicht einmal die des Schlafes – alle Blumen schauen mit offenen Augen in die Klarheit hinein. Es ist nur wie eine lauschende Erwartung, ein lautloses Ahnen …
Noch nie hat sich der Garten so ganz erschlossen, wie an diesem Abend, nie so sein schweigsames Märchen erzählt, wie jetzt!
– Im Garten treffen sich zwei Menschen. Es kann nicht anders sein, in dieser Welt gehören sie zusammen … Sie gehen einander entgegen – und alles ist gut. Im ersten Augenblick ist es ihnen nicht möglich, noch irgend einen Schmerz zu empfinden.
»Kommen Sie vom Birnbaum?« fragt er und berührt dabei leicht das weiße Gewebe, das sie umhüllt. »Es sieht aus, als hätt' es lauter Blüten auf Sie herabgeschneit.«
»Ja,« erwidert sie. »Ich habe ja droben gesessen, als Sie hereinkamen. – – Wissen Sie, daß ich Großvaters Gedicht von dem Birnbaum bekommen habe? Es ist gerade, als sei es zum voraus für hier gedichtet worden.«
»Ja – es ist zum voraus gedichtet worden.«
Sie sprechen leise. Das Licht webt seine Stille auch um sie. Am liebsten möchten sie nur immer mit einander schweigen. Und wenn nach diesem Abend noch eine lange Reihe sonniger Tage folgen würde, so würden sie doch jetzt schweigen. Aber es ist das letztemal.
»Sie müssen hinüber zum Fliedergebüsch,« sagt er, »und fühlen, wie groß die Knospen sind. In ein paar Tagen – –«
Er stockt. In ein paar Tagen ist hier alles der Erde gleich gemacht …
»Ach ja, ich möchte sie anfühlen,« versetzt sie.
Das Leben mitten im ersten Wachstum – ach, daß es zerstört werden soll! Daß es sich nie entfalten darf! Warum ist es dann überhaupt erwacht? Warum hat es alle diese Knospen angesetzt?
Sie biegt die Zweige zu sich nieder; die Knospen sind am Aufspringen.
»Können Sie es verstehen,« sagt er, »daß der Garten verschwinden soll?«
»Ich mache gar keinen Versuch, es zu verstehen,« erwidert sie. »Und ich selbst soll ja auch verschwinden.«
»Ja – Sie sollen verschwinden.«
Sie weint nicht; im Weinen liegt Gefahr. Tränen würden hier gar nicht genügen. So schweigt sie nur.
»Sprechen Sie mit mir!« fleht er. »Lassen Sie mich Ihre Stimme hören!«
»Ja – ich habe Ihnen etwas zu sagen.«
Sie biegt die Zweige auseinander, tritt in die Laube und setzt sich auf das eine Bänkchen. Er läßt sich ihr gerade gegenüber aufs andere nieder. Bläuliche Schatten herrschen hier drinnen, und dazwischen flimmert und webt der Mondschein.
»Hier haben Sie als Kind gesessen …, als ein kleines Mädchen, das immer weit weg war.«
»Ja, in meiner besonderen Welt. Ich glaubte, niemand könne je da hereinkommen. – Wissen Sie, warum mir das Gefühl, von dem alle anderen so erfüllt waren, nicht lieb war? Ach, so oft mich jemand in dieser Weise lieb gewann – dann rückte er plötzlich in weite Ferne für mich. Und ich hätte doch so gerne jemand bei mir drinnen gehabt! Danach habe ich mich mein ganzes Leben lang gesehnt. – – Als Sie dann kamen …«
»Da freuten Sie sich nicht darüber.«
»Nein – denn Sie waren sofort gerade so daheim hier wie ich selbst. Das machte mir Angst; denn ich konnte ja nicht wünschen, daß Sie derjenige wären, der zu mir hereinkäme …, nicht wahr?«
»Nein – nein!«
»Ich kämpfte mit aller Macht dagegen an. Aber als wir mit einander sprachen, war es mir, als habe ich nun zum erstenmal mit jemand gesprochen. Und als Sie mir erzählten, was Ihnen fehlte, fühlte ich, wie arm und leer ich selbst war. Aber es war, als hätten Sie mir mein Herz gebracht. Von diesem Tag an fühlte ich es – obgleich ich noch nicht wußte, was es barg.« Sie hält inne und schaut in die leuchtende Unbeweglichkeit draußen.
»Ist es nicht, als sei man tot und begraben – und säße hier ganz stille – und spräche von allem mit einander?«
Ihre Wangen sind fast so weiß wie das Umschlagtuch, das ihren Kopf und ihre schwarze Gestalt umhüllt. Unwillkürlich steigt das Bild einer toten jungen Nonne, das er einmal gesehen hat, vor seiner Seele auf.
»Nein, ich hatte nicht gewußt, was mein Herz barg, bis zu jenem Tage hier, wo alles aufgeblüht war. Aber jetzt weiß ich es – fürs ganze Leben.«
Er streckt abwehrend die Hand aus. »Ach nein – nichts von dem, was kommen wird!«
»Warum nicht?«
»Das wissen Sie wohl! Und nun hören Sie: Ich muh Sie ziehen lassen, weil ich Ihnen nur Unrecht zu bieten hätte – und das will ich nicht. Ich habe kein Recht auf Sie – und kann das doch nimmermehr zugeben! Ich will Ihr Leben nicht verderben – und kann Sie doch nicht für kürzer als fürs ganze Leben verlangen. – – Deshalb – lassen Sie es ruhen.«
Sie richtet sich auf und steht nun dicht vor ihm. »Nicht Sie verlangen etwas,« sagt sie, »ich selbst tue es – ich will mir selbst treu bleiben. Das ganze Leben. Davon werden Sie mich nie abbringen.«
»Wissen Sie, was das heißt?«
»Ja, und es kann nicht mehr als das Leben kosten.«
Er ergreift ihre Hand und drückt sie einen Augenblick an sein Herz. »Sie wird immer mitten in mein Herz hineingreifen,« sagt er.
Als sie seinen Herzschlag gegen ihre Hand fühlt, ist es ihr, als umschließe sie sein Herz.
»Wir müssen auch zu Ihnen hinüber, nicht wahr?« sagt sie kurz nachher.
Sie treten aus der Fliederlaube heraus und gehen über den Rasen, der taubegossen im Mondschein weißlich flimmert.
»Der Rasen gleicht einem gefrorenen See,« sagt er. »Können Sie sich denn denken, daß der Garten wirklich zerstört werden wird? Glauben Sie nicht, daß er in dieser Nacht verschwindet?«
»Wenn er es doch täte!«
Beide denken: wenn man doch mit dem vom Vollmond übergossenen Garten in die Nacht hinausgleiten könnte! Weit hinaus in die dunklen, meilenweiten Tiefen, die man hinter den hellen Wegen ahnt. Und sich selbst und den Garten retten könnte vor dem bitteren Ernst des Morgens!
»Dann würde er eines Tages an einem anderen Ort wieder auftauchen,« fährt er fort. »Er hat doch eine Seele, dieser Garten, und kann nicht nur so wegsterben.«
»Nein, denn er ist ja auch hier einmal aufgetaucht – und war doch Großmutters Garten auf Fünen.«
Beim Birnbaum bleiben sie einen Augenblick stehen. »Wissen Sie, was mir sofort auffiel, als Sie damals heruntersprangen und vor mir standen?« fragt er. »Die merkwürdige Mischung von Kind und Königin … ich kannte sie so gut.«
Sie streicht mit der Hand über die alte Sonnenuhr. »Die wollten Sie ja gerne haben.«
»Ja, denn für mich hat sie Lebensmomente bezeichnet.«
»Ach, die Rosen!« sagt sie. »Denken Sie, alle die roten und weißen Rosen! Ob sie wohl schon Knospen haben?« Sie steigt die Stufen der Pagode hinauf, bleibt aber in der Mitte stehen. Drinnen ist es ganz dunkel. Auch er bleibt stehen, mitten auf dem Weg, und schaut zu ihr auf.
»Ihre Arbeit?« fragt sie.
»Ach ja, hier hätte sie wieder ausgenommen werden sollen; während jemand dort drüben gesessen hätte und dabei gewesen wäre.«
»Ich wäre ja doch verborgen gewesen,« flüstert sie. »Und dabei bin ich doch immer … Erzählen Sie mir davon – noch einmal.«
»Nun, ich gedenke ja, Gericht über mich zu halten; den Staub von Jahrhunderten von mir abzuschütteln – und meinem Auditorium Leben einzublasen. Und wenn mir das nicht gelingt, dann gehe ich selbst, das wissen Sie.«
»Ja, das weiß ich. Und dann?«
»Jetzt möchte ich fast wünschen, Prediger zu werden. Es ist, als ziehe das Wehen einer neuen Geistesrichtung durch unsere Zeit. Die Menschen erheben ringsum die Köpfe und fangen an zu lauschen. Wir können nun einmal den Ton über uns nicht entbehren, der an Flügelrauschen gemahnt. Und ich meine, jetzt könnte ich das Wort finden –« Er hält inne und schaut sich um. – »Wenn nur der morgige Tag nicht wäre!«
»Der hat damit nichts zu tun,« wirft sie rasch ein. »Im Gegenteil, der Schmerz kann gerade zur Arbeit anspornen.«
»Freilich, aber es gibt etwas, das heißt das Gewohnte, und das möchte uns so gerne überrumpeln. Hier unten könnte ich mich leichter darüber hinwegsetzen. Hier war eine Welt für sich – und hier waren Sie. Aber droben in meinen Zimmern … Ich sage Ihnen, ich habe Angst; denn das Leben im tiefsten Innern ergriffen haben und es nachher in seinem Beruf betätigen, das sind zwei sehr verschiedene Dinge, und ich fürchte, ich könnte in die alten Formen zurückgleiten.«
»Das werden Sie nicht! Denn bei dieser Arbeit im neuen Geist bin ich zugegen, und dann lassen Sie nicht los. Aber Sie müssen dabei nicht immer an mich denken – mich auch nicht zu sehr vermissen und sich nicht zu heiß nach mir sehnen. Sie sollen in Ihrem Beruf aufgehen, so wie Männer das können – mit Leib und Seele. – Und das vollbringen, was Ihre Pflicht ist. Ich glaube, es wird etwas Großes und Gutes werden, wenn Sie es nur von ganzem Herzen tun. – Wenn Sie dann einmal fertig sind und auf diese Arbeit zurückschauen, dann sehen Sie vielleicht daneben ein Antlitz, und dann werden Sie zu sich selbst sagen: ›Ja, sie ist dabei gewesen.‹«
Er bedeckt die Augen mit der Hand. Sie geht langsam die Stufen herunter. Von dem Ton erschreckt schaut er auf. »Sie gehen doch nicht?«
»Doch – ich muß ja.«
»Aber ich muß Ihnen doch vorher noch danken dürfen. Ich kann es freilich nicht … Aber ich möchte es doch so gerne versuchen.«
Sie bleibt ganz still vor ihm stehen und wendet ihm ihr blasses Gesicht zu.
»Ja, danken möchte ich Ihnen, weil Sie hier gewesen sind, weil Sie mir Ihr Antlitz gezeigt haben – weil Sie schön und gut waren, wie in einem Märchen – Kind und Königin zugleich … Ach, wenn wir kindlicher lebten, dann lebten wir auch königlicher! – – Ich danke Ihnen, weil Sie meine ganze Kindersehnsucht in sich bargen und sie stillen wollten – weil Sie alles haben, was mir fehlt und was ich brauche – – ach nein, es ist noch mehr, unendlich mehr! Ich danke Ihnen, weil Sie mich gezwungen haben, in mich zu gehen – nur indem Sie mich ansahen – so daß ich erkannte, daß ich am Absterben war, mit verdorrten Wurzeln, weil ich nicht in dem einen einzigen lebenden Erdreich wuchs. Wenn es jetzt anders ist, dann haben Sie auch daran teil, und das ist das höchste, was ein Mensch zu einem andern sagen kann. – – Ich danke Ihnen, weil Sie die verborgene Welt hier gewesen sind – und mich hineinsehen ließen – Dank, Dank dafür, daß Sie die sind, die Sie sind! Sie haben mich gelehrt, was lieben heißt.«
Er hebt die Hände und umschließt ihr Gesicht.
Sie schaut zu ihm auf. Zwischen seinen Brauen ist eine scharfe, tiefe Falte, die der heftige Schmerz, die quälende Selbstbeherrschung eingegraben haben.
Sie weiß, daß ihre Hand sie glätten kann. Aber sie darf die Hand nicht aufheben, die Falte nicht glatt streichen, nicht sagen: »Du bist ja bei mir.«
Da steigt sie jäh in ihr auf, die große, brausende Empörung … Nicht über das, was sie nicht bekommen kann, sondern über das, was sie nicht geben darf.
Nicht darüber, daß die Erde nun unter ihren Füßen weggezogen ist – sie kann auf dem Wasser, kann durchs Feuer gehen! Nicht darüber, daß alles, was in ihr hervorgelockt worden ist, sich nie im Licht erschließen darf – daß kein Glück, kein Leben für sie zu erreichen ist … Alles das, worüber andere straucheln und was diese andern Lebensrätsel nennen, weil sie es nicht mit Gottes Liebe vereinigen können, darüber ist sie mit einem einzigen Sprung hinweggesetzt, damals als sie sich selbst hingab.
Sondern es ist die Empörung darüber, daß sie die unerschöpfliche Freude für die beiden leeren Hände hat, die gegen sie ausgestreckt sind, und diese Freude doch nicht geben, sie nicht in maßloser Fülle austeilen darf! Daß sie alles hat, was den Hunger und Durst des andern stillen könnte, und ihm das alles doch nicht zu Füßen legen darf! Daß sie alles hat, nicht nur das Glück, sondern noch mehr das Unaussprechliche, die Offenbarung des Lebens für den andern, und ihm doch alles vorenthalten muß!
Und in demselben Augenblick weiß sie, daß man mit dieser Empörung kämpfen muß auf Leben und Tod, Tag und Nacht.
Sie wird nicht darunter erliegen – sie steht nicht allein im Kampf, denn sie hat ihren Willen mit ihrem Herz hingegeben. Aber an dem Tag, wo sie ihre Hände über dem gefallenen Feind falten kann, an dem Tag muß sie sterben. Dieser Sieg wird nicht mit weniger erkauft.
Aber so wunderbar ist dieser jetzige Augenblick, so wunderbar ist dieser Garten, daß es ihr, obgleich der größte Kampf hier zum erstenmal über sie hereinbricht, doch ist, als sei der Sieg, der noch fern ist, plötzlich schon errungen.
Sie faltet ihre Hände – wie über dem Haupt des besiegten Feindes – und streckt sie ihm entgegen. Er umschließt sie mit den seinigen und beugt den Kopf darüber … So stehen sie bei einander … mitten in einem Augenblick der Vollendung, die auftaucht … fern, fern … an einem leuchtenden Horizont …
Sie gehen den Weg entlang der Türe zu. Da bleibt er plötzlich stehen. »Geben Sie mir eine Blume vom Garten mit!« bittet er.
Sie sagt nicht nein – zögert nicht einmal – geht nur zurück zum Birnbaum und bricht ein mit den weißesten weißen Blüten übersätes Zweiglein.
Ehe sie ihm das blühende Zweiglein reicht, hält sie es einen Augenblick an ihre Lippen. Dann reicht sie es ihm – und sie sieht ihn an mit einer eigenen sehnsüchtigen, mütterlichen Zärtlichkeit.
Sie geht zuerst hinaus. Kurz nachher auch er. –
Der Schlüssel wird im Schloß herumgedreht – die Tür zu Großmutters Garten wird zum letztenmal zugeschlossen; die Schritte verhallen auf dem Pflaster des Hofs; dann öde, leere Stille. – –
Ringsum geht die Stadt allmählich zur Ruh. Sie liegt auf der Lauer vor dem Garten, und morgen bricht sie herein, mit harten Händen und voller Gier, alles zu verschlingen.
Aber niemand schaut in den stillen Mondscheinstunden über die Mauer hinein und sieht nach, ob der Garten nicht in die Nacht hinausgleitet, hinweg von dem morgigen Tag.
Hinweg – mitsamt seinem grünlichen Dunkel, mitsamt der heimlichen Welt in allen Winkeln, mitsamt dem weißen Birnbaum und allen seinen Blüten …
Ob er nicht hinausgleitet, in bläuliche, unendliche Tiefen … Und eines Morgens auftaucht, wenn man es am wenigsten erwartet …
Denn es ist vielleicht doch so, daß das Märchen des Gartens nie ein Ende nimmt.