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An einem Maimorgen saß Sulla auf dem Birnbaum und las in einem französischen Buch. Da oben war zwischen zwei Zweigen ein ganz bequemer Platz, den Sulla schon als Kind sehr lieb gehabt hatte und von wo man einen hübschen Ausguck auf den Garten gewann.
Jeden Augenblick wirbelte ein leichtes weißes Blatt auf die schwarzen Buchstaben ihres Buches herunter – fast wie eine feine eingestreute Bemerkung – denn der Birnbaum stand in voller Blüte. Er trug seinen weißen Schleier, der gleichsam auf dem Grase schleppte, wo schon eine Menge abgefallener Blütenblätter lag – gerade wie damals, wo sich Ludwig Anker und Fräulein Ursula zum ersten Male geküßt hatten.
Der Mai war in diesem Jahre nicht allein ganz frei von Schnee, sondern auch ungewöhnlich warm, und alles war viel weiter voran als sonst. In Großmutters Garten begann es schon zu duften und zu summen; jetzt kam die allerschönste Zeit. Der Flieder hatte strotzende lila Knospen, und zwischen dem zarten Laub des Goldregens leuchtete es wie kleine gelbe Lichter auf. Sulla wollte auch jetzt lieber nicht verreisen, obgleich Marie Luise sie sobald wie möglich bei sich haben wollte, damit die Schwester sehen könne, wie süß und groß und reizend das Kleinste, das im Winter zur Welt gekommen war, sei.
Sulla saß da im glänzenden Sonnenschein und freute sich an dieser schönen Frühlingswelt, die ihr so ungestört gehörte – und zu der sie überdies den Schlüssel in ihrer Tasche trug. Sie pflegte ihn abzuziehen, solange sie im Garten war. Wenn dann jemand kam, mußte er eben klopfen. Aber um diese Zeit kam fast nie jemand.
Zwei weiße Blütenblättchen flatterten zugleich auf ihr Buch …
Und in demselben Augenblick wurde ein Schlüssel in die Gartentür gesteckt und – Sulla wollte ihren eigenen Augen nicht trauen – die Pforte ging auf – eine hohe männliche Gestalt trat ein, schloß die Tür wieder hinter sich zu und schritt den Weg entlang – auf die heilige Pagode zu – er stieg die Stufen hinauf und blieb dann stehen, wie um sich umzuschauen.
Dann setzte er sich ruhig an den Tisch. Eine Aktenmappe, die er unter dem Arm trug, wurde geöffnet, ein kleines Taschentintenzeug und ein Federhalter aus der Tasche gezogen – und dann vermischte sich das Kratzen der Feder auf dem Papier mit den weichen Frühlingslauten in Großmutters Garten.
Dies alles war gewissermaßen so rasch vor sich gegangen, daß Sulla, die wie gelähmt auf ihrem Birnbaum saß, sich kaum darüber klar geworden war, was eigentlich hier vorging, als der Mann schon ganz vertieft auf der Bank saß.
Im ersten Augenblick war ihr der Gedanke an einen Überfall und Einbruch durch den Kopf gefahren, dem sofort das peinliche Bewußtsein folgte, daß sie, wenn sie versuchen wollte, die Türe zu erreichen und den Schlüssel ins Schloß zu stecken, lange vorher eingeholt sein würde.
Aber das alles sah ja gar nicht nach Gewalttat aus – und der nächste Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, war eine dunkle Erinnerung an eine Gespenstergeschichte, die in einem Garten vor sich gegangen sein sollte … gerade bei so einer stillen, ruhigen Mittagswärme …
Wie merkwürdig, bis jetzt hatte sie noch nie daran gedacht, daß es hier spuken könnte! Und dies sah doch wirklich danach aus. Bisweilen hatten die beiden Mädchen ja auch gemeint, der Garten müsse so eine Art gespenstischer Wiederholung von dem des Urgroßvaters sein – aber daran hatten sie doch eigentlich nie gedacht, daß auch die Geister von damals hier umgehen könnten. Jetzt kam es Sulla indes ganz glaubhaft vor; ja die Form der Pagode hatte immer etwas Mystisches gehabt … Vielleicht war dies der Geist eines Beamten oder eines Schriftstellers der alten Tage, der auf eine geheimnisvolle Weise mit dem Gartenhaus verknüpft war … und der nun hier sitzen und schreiben mußte … vielleicht Seiten ausfüllen, die leer geblieben waren – oder sie neu schreiben mußte; es gab ja doch vieles im Leben eines Menschen, das das Umarbeiten recht nötig hätte.
Doch jetzt zwitscherte ein Vögelein gerade über Sulla auf dem Birnbaum, wie um sie mit fröhlichen Tönen zu beruhigen. Da schaute der Mann auf – und war offenbar höchlich verwundert; er stand auf und trat näher.
Sulla sprang mit einem Satz herunter – obgleich es ziemlich hoch war – und stand nun, voller Bestürzung und von dem Sprung ganz rot geworden, vor dem Fremden.
Er verbeugte sich und stellte sich vor: »Professor Erhart.«
Jetzt fiel es Sulla plötzlich ein, daß sie diesen Namen von Großmutter gehört hatte. So hieß ja die Familie, die jetzt im April in den vierten Stock gezogen war. Aber was in aller Welt wollte der Mann hier?
»Fräulein Anker, vermute ich?« fuhr der Professor fort. Ein stummes Kopfnicken war Sullas Antwort. »Sie haben vielleicht gehört, daß Ihre Frau Großmutter mir in liebenswürdigster Weise die Erlaubnis gegeben hat, hier täglich ein paar Stunden zu arbeiten?«
Nein, davon hat Sulla nichts gehört.
»Aber wenn ich Sie störe, da Sie doch ältere Rechte haben,« – er machte wieder eine leichte Verbeugung – »dann verziehe ich mich.«
»Nein, nein,« erwiderte sie rasch. »Ich bin doch fast nie in der Pa– im Pavillon, sondern sitze immer unter dem Flieder.«
»Nicht immer,« sagte er mit einem Blick auf den Birnbaum. Doch da runzelte Fräulein Sulla die Stirne ein wenig, und er fuhr rasch fort: »Also, bitte, entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe.« Damit verbeugte er sich und ging an seine Arbeit zurück.
Sulla hatte die größte Lust, gleich nach Hause zu gehen; aber das hätte ja wie eine Flucht ausgesehen. So setzte sie sich in die Fliederlaube; aber sie war empört. Ach, der Frieden war nun dahin! Der Garten – ihr Garten hatte sich ohne ihr Wissen und ohne ihren Willen einem Fremden aufgetan! Was half es, wenn er auch noch so ruhig dort drüben saß, und wenn auch das Kratzen seiner Feder nicht bis hierher drang?
Wenn Sulla vormittags im Garten war, pflegte sie mit der Großmutter zu frühstücken und ihr dann ein paar Stunden vorzulesen; darin wechselten Sulla und ihre Mutter miteinander ab. Sie waren überhaupt täglich bei der Großmutter, die nun bald neunzig Jahre alt wurde, aber keine Gesellschafterin haben wollte – »außer wenn ich sie für ihr Wegbleiben bezahlen darf.«
»Großmutter Ursula,« sagte Sulla etwas kurz, während sie ihr weichgekochtes Ei aufschlug, »warum hast du denn dem Professor erlaubt, in deinen Garten zu sitzen?«
Die Großmutter setzte ihre Tasse nieder. Dann fragte sie mit der ihr eigenen Schrecken einjagenden Ruhe: »Soll ich dir jetzt Rechenschaft über mein Tun ablegen? Oder hätte ich dich vielleicht vorher um Erlaubnis fragen sollen?«
Sulla wurde dunkelrot. »Nein, natürlich nicht. So habe ich es nicht gemeint, ich wollte nur fragen, wie es kam.«
»Es kam so – seine Frau, die eine sehr nette und wohlerzogene Person ist, hat mich vor ein paar Tagen darum gebeten, und zwar ohne Wissen ihres Mannes. Ich glaube, er schreibt etwas über die alten Mystiker, und an dem arbeitet er morgens, ehe er in sein Kolleg geht. Um diese Zeit aber scheint die Sonne gerade in sein Zimmer, und sie sagte, wenn er die Fenster aufmachen wolle, habe er den ganzen Straßenlärm auf dem Halse. Ich antwortete: ›Mit dem größten Vergnügen – morgens, mittags und abends, wann er nur will;‹ denn es fiel mir gar nicht ein,« – hier wurde Großmutter überwältigend majestätisch – »daß ich zuerst bei dir anfragen müßte, ob du etwas dagegen hättest.«
Wieder sagte Sulla: »Nein, natürlich nicht.«
»Sie wollte nun einen Schlüssel machen lassen, damit er mich nicht immer darum inkommodieren müßte – und das ist gestern geschehen. Heute ist er nun wahrscheinlich dort – und du wirst wohl kaum so vollkommen sein, daß es dir schaden könnte, wenn ein Professor der Ethik da drunten sitzt und ein wenig auf dich aufpaßt.«
Sulla wurde wieder rot, denn es fiel ihr ein, daß er sie auf dem Birnbaum angetroffen hatte.
An diesem Tag las sie ganz mechanisch vor, wie ein Automat, sie konnte ihrer Verstimmung nicht Herr werden. Es war ihr, als sei dies ein Eingriff in ihre Rechte. Fremde Füße auf ihrem Eigentum! Und natürlich ging er auch vor Juli, wo sie mit der Mutter nach Aarhus reiste, nicht fort. Dadurch wurden sechs Wochen von der allerbesten Zeit für sie verdorben.
Mutter gab zu, daß es unangenehm war, meinte aber doch, Großmutter hätte die Bitte nur schwer abschlagen können; sie ging auch selbst einige Male mit in den Garten, wechselte ein paar Worte mit dem Professor und ließ einfließen, daß ihre Tochter jeden Tag eine Stunde in der frischen Luft sein solle, weil ihre Kopfnerven im Frühjahr etwas angegriffen gewesen seien. Damit wollte sie ihm zu verstehen geben, wenn eines hier weichen sollte, müßte er das sein. Sie mußte aber feststellen, daß er gar nicht genierte: er saß unbeweglich in dem Pavillon und Sulla mit ihren Büchern und ihrer Handarbeit in der Fliederlaube. Und da merkte man gar nichts von ihm.
So blieb Sulla nichts anderes übrig, als sich darein zu finden. Er saß nun einmal dort; aber sie nahm sich vor, sich in keiner Weise mit ihm einzulassen, und die verborgene Welt behielt sie ja auch ganz für sich.
Allmählich bestand dann der ganze Verkehr zwischen ihnen darin, daß das von ihnen, welches zuletzt kam oder zuerst ging, das andere grüßte und einen stummen Gegengruß erhielt – das war alles.
Manchmal war Sulla auch beschäftigt und kam dann gar nicht in den Garten; und eines Tages blieb er weg. Aber das brachte ihr doch nicht die alte sichere Ruhe, denn sie wußte ja doch, daß er den Schlüssel und den Zutritt hatte. Da mochte er fast ebenso gut drüben sitzen und an seinen alten Mystikern schreiben.
Unwillkürlich wiederholte sie diese Worte. Die alten Mystiker! Waren das nicht Menschen gewesen, die sich in stillen Klosterhöfen vergraben hatten? Oder vielleicht in einem Garten hinter dem Hause wie Großmutters hier – und da eine verborgene Welt vor sich aufgehen sahen? – Die weit und tief in diese Welt hineingeschaut hatten, bis ihr Herz ihren Augen gefolgt war, so daß sie zuletzt ausschließlich und innig nur darin gelebt hatten.
Oft dachte Sulla an den stillen, in tiefe Gedanken verlorenen Zug von Gestalten, die nun mit frommen Schritten in Großmutters Garten hereinzogen. Ja, sie durften gerne herein, die alten Mystiker! Sie paßten sehr gut hierher; aber daß sie mit einem Menschen daherkamen, der den Platz in der Pagode einnahm, damit konnte sie sich nicht aussöhnen – wenn sie auch wohl verstand, wie sehr diese Arbeit gerade hier gefördert werden könnte.
– Es war an einem regnerischen Vormittag. Im Garten war alles frisch und grün und voller Wohlgeruch. Sulla stickte an einem Geburtstagsgeschenk für die Großmutter, als plötzlich einige Regentropfen auf die Blätter der Fliederbüsche herabfielen. Bekümmert schaute das junge Mädchen aus; die Fliederlaube bot kein undurchdringliches Schutzdach.
Da wurden die Büsche auseinander gebogen, und der Professor stand vor ihr. »Kommen Sie doch ins Gartenhaus!« sagte er. Und als sie zögerte, fügte er rasch hinzu: »Ich gehe hinauf.«
»Nein,« versetzte Sulla, indem sie aufstand und ihren Samt zusammenrollte. »Das dürfen Sie nicht tun, sondern ich gehe.«
»Nein, nein, bei diesem Wetter ist es gerade am schönsten hier. Ich werde mich verziehen, ausgenommen – ausgenommen, es würde Sie nicht stören, wenn ich noch einen Augenblick bei Ihnen mit meiner Schreiberei hier sitzen bliebe.«
Der Regen wurde stärker; Sulla hatte keinen Regenschirm bei sich und war bange für ihre Samtstickerei. Zu Großmutter wollte sie nicht damit hinauf – und Großmutter erwartete sie auch an diesem Tage nicht, weil Sullas Singstunde verändert worden war. Ja, es war sicher am höflichsten, sie ging mit in die Pagode, wenn sie es auch ungern tat. Aber sie wollte sich dicht an die Türe setzen, und lange würde sie nicht bleiben. So rollte sie also ihren Samt wieder auf, damit er sehen könnte, daß sie arbeitete, und er griff nach seiner Feder, aber sie fing nicht an zu kratzen.
Der Regen fiel leise und gleichmäßig herab. Sulla hatte das Gefühl, sie selbst trinke ihn in durstigen Zügen, gerade wie die dürstende Erde draußen; und während sie in den Garten hinausschaute, freute sie sich, wie schön sich dieser bei all dem herabrieselnden Wasser ausnahm. »Einen grünen Meeresgrund,« hatte Ulla ihn genannt. Ach ja – – wie wundersam war es doch hier!
»Dies ist doch ein merkwürdiger Ort,« ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr.
»Ja, nicht wahr?« antwortete sie unwillkürlich.
»So einen Garten mitten in der Stadt habe ich mir als Junge sehnlichst gewünscht. Ich ging auch immer durch die Skindergade, nur um die Mauer mit den grünen überhängenden Bäumen dort zu sehen. Etwas Schöneres, als einmal da hinein zu kommen, konnte ich mir gar nicht denken.«
Der Regen fiel leise und gleichmäßig herab, und die Worte fielen ebenso ruhig von seinen Lippen. Sulla kam es ganz natürlich vor, daß sie hier saß und auf beides lauschte. Obgleich – was ging es sie eigentlich an?
»Sie sind wohl auch als Kind schon hier gewesen?« erklang es wieder hinter ihr.
»Immer,« antwortete sie, fast wie vor sich hin.
»Wir aber wohnten in einer lärmenden Straße. Im Sommer ließen wir uns von der Nordsee durchblasen und nahmen von da fürs ganze Jahr Luft mit heim. Ach wie herrlich wäre es gewesen, wenn einem so ein grünes Asyl gehört hätte, in das man sich hätte verkriechen können! Da wäre man sicher anders geworden.«
Sulla dachte nach. War es am Ende immer so. daß man das, was man sich am meisten wünschte, erst nachher bekam?
»Ist es Ihnen nicht auch schon aufgefallen?« fuhr er fort, »daß einem die heißesten Wünsche erst dann in Erfüllung gehen, wenn sie zu Resignation abgekühlt sind? Mein ältester Bruder wünschte sich seine ganze Kindheit hindurch sehnlichst einen Krokettplatz. Und jetzt, wo sein Junge schon halb erwachsen ist, hat er einen; das ist doch ein bißchen lange nachher; und als ich mich mit meinem Garten in der Stadt abgefunden hatte – da lag der Schlüssel dazu vor kurzem auf meinem Schreibtisch.«
»Aber wenn es sich um Großmutter Ursulas Garten handelt, dann ist es nie nachher,« erwiderte Sulla. »Der ist zu jeder Zeit gleich schön.«
»Vielleicht; denn er ist ja etwas ganz Besonderes. Man fühlt sich hier gleich vertraut, gleich als sei man mit allem verwandt. Die Sonnenuhr dort hätte ebenso gut einem meiner Ahnen gehören können. Und dann ist hier auch viel mehr, als man auf den ersten Blick sieht. – – Erinnern Sie sich an das Märchen von der Frau Holle, wo das Mädchen in den Brunnen springt und auf eine grüne Wiese gelangt – die dann ein großes Land ist? Als ich zum erstenmal hier herein kam, war mir, als versinke ich in den Brunnen mit dem grünen Grund, der dann zu einer ganzen Welt wird.«
Und aus ihren eigenen tiefen Gedanken heraus antwortete Sulla: »Ja – so ist es. Eine ganze Welt ist hier enthalten – und die hatten wir als Kinder ganz für uns allein. Wir nannten sie Lutetia. Denn das herrlichste, was wir kannten, war Paris – und –«
Er sah sie an. »Und dann waren Sie die Königin von Lutetia.«
»Ja,« versetzte sie; aber jäh brach sie ab. »Nein – – ich weiß nicht recht.« Sie wußte tatsächlich nicht mehr genau, ob sie und Marie Luise so gespielt hatten. Nein, so war sie gewiß nie genannt worden. Und doch klang es ihr so bekannt. »Königin von Lutetia!«
Aber in dem Augenblick, wo sie sich bewußt wurde, daß es sich jetzt um ihre Person und nicht nur um den Garten handelte, wurde der Samt wieder zusammengerollt, und sie stand stolz und abweisend auf.
»Ach nein« – er streckte die Hand aus, um sie zurückzuhalten. »Sie dürfen wirklich nicht gehen. Es gießt ja noch.«
»Nicht mehr so stark,« erwiderte sie. »Und ich habe keine Zeit mehr. Ich gehe nur die Hintertreppe hinauf und lasse mir von Line einen Schirm geben. Daran hätte ich gleich denken können.« Sie neigte den Kopf: »Schönen Dank für das Obdach während des Gusses!«
– Den ganzen Tag hindurch klang es ihr in den Ohren: »Königin von Lutetia … Königin von Lutetia …« Es war ihr, als nehme sie ein Reich in Besitz. Und wie merkwürdig, er, der ihr das Reich raubte, gab ihr diesen Namen! Hatte man sie denn nicht wirklich von jeher so genannt?
Es war Familiensonntag bei Großmutter Ursula, und zwar ein erweiterter, wie man es nannte, wenn einige Seitenverwandte des alten Admirals und noch einzelne andere geladen waren.
Diesmal waren auch Professors dabei. Sie hatten wegen des Gartens bei Großmutter Besuch gemacht, und Großmutter sagte, es seien recht wackere Leute. Der Professor führte Großmutter zu Tisch, und Onkel Peter die Professorin. Das war freilich nicht sehr unterhaltend für sie – aber sie gehörte gewiß zu denen, die auch vergnügt sind, wenn sie sich langweilen.
Sulla hatte einen neuverheirateten Rechtsanwalt als Tischherrn, der mit einer zerzausten kleinen Frau, die er ihres Geldes wegen geheiratet hatte, da war. Er machte beständig persönliche Bemerkungen über Sulla; das war auch nicht sehr unterhaltend.
Am Schluß des Winters waren Wencks von Aarhus nach Kopenhagen versetzt worden, und in diesen Tagen hatte Ulla »Ferien von Mann und Kind«, wie sie sagte. Die beiden verbrachten Ninas verlängerte Ostervakanz in Norwegen auf Holmenkollen bei des Obersts Mutter. Ulla wohnte indessen bei ihren Eltern, stand morgens sehr spät auf und sagte, sie könnte meinen, sie sei »unverheiratet, jung und hoffnungsvoll«.
Ihr gertenschlanker, geschmeidiger Körper war in ein stahlgraues, bläulich schillerndes Seidenkleid gehüllt. Sie hatte einen Marineoffizier zu Tisch, und Sullas Tischherr nannte Ulla die Meerfrau, und er meinte, der Marineoffizier werde sich kaum über Wasser halten können, er versinke sicherlich vor dem dritten Gang. Und das war mehr als glaublich. Ulla konnte fast häßlich genannt werden, und doch war sie hinreißend. – »Und Frau Wenck ist doch nicht halb so hübsch, wie Sie, gnädiges Fräulein,« fügte der Rechtsanwalt ungeniert hinzu.
Da richtete sich Ulla wie unter einem scharfen Schlag plötzlich auf. Der Professor saß ihr gegenüber und sah sie eben an. Ob der nicht auch fand, daß dies eine sehr taktlose Bemerkung gewesen war?
Beim Braten brachte der Professor einen kurzen Trinkspruch auf Großmutter aus, indem er ihr als der guten Fee dankte, die eines Tages den magischen Schlüssel zu der Mauer im Hofe auf seinen Schreibtisch gelegt hätte.
Als man sich wieder gesetzt hatte, beugte er sich mit dem Glas in der Hand zu Sulla hinüber. »Vielen Dank – Königin von Lutetia!« Aber die letzten Worte wurden nicht laut gesagt; Sulla sah sie mehr, als sie sie hörte, und sie bedankte sich eigentlich nicht dafür, als sie ihr Glas kaum merklich mit den Lippen berührte.
Nach Tisch ging man zu dem obligaten Kaffee in den Garten hinunter. Sulla goß ihn ein, und Lars, der Diener, reichte die Tassen herum.
Der Professor trat mit seiner Tasse in der Hand zu Sulla und bat noch um einen »Tropfen«.
»Heute ist es hier gar nicht wie sonst,« sagte er mit einem Blick auf die übrige Gesellschaft, die den Garten mit Lärm und Lachen erfüllte.
»Nein,« erwiderte Sulla; und da ihre Mutter eben mit der Professorin bei den andern stand, hätte sie gerne hinzugefügt: »es ist jetzt behaglicher,« brachte es aber doch nicht heraus.
»Diese alle kommen aber trotzdem nicht herein,« fuhr der Professor fort. »Nicht auf den Grund.« Dann trat er zurück, denn eben kam Ulla mit ihrem Marineoffizier dahergewandelt.
»Nein, zu solchen Ausflügen bekommen Sie mich nicht mit,« sagte sie. »Ich schließe mich dem alten Propst an, der mich konfirmiert hat; der pflegte zu sagen: ›Ich begebe mich ungern aufs Wasser. Dort ist man zu ausschließlich auf Gottes Hilfe angewiesen.‹«
Der Hauptmann lächelte; dann redete er wieder leise und eindringlich auf sie ein. Sie aber blinzelte und lachte: »Bilden Sie mir das nicht ein! Die Seeleute kommen überall ungerupft durch. Haben Sie die Geschichte von jenem Seemann nicht gehört, der einmal die ganze Nacht hindurch auf einem weichen Erdhaufen fest geschlafen und wunderschön geträumt hatte, und am nächsten Morgen – lag er auf einer zusammengerollten Schlange? Doch er zündete sich seine Zigarre an und ging seiner Wege – – und jetzt zünden Sie die Ihrige an; ich wage hier nicht zu rauchen – Großmutters wegen.«
Sie machte eine verabschiedende Handbewegung und trat zu ihrer Cousine. »Gibst du hier Audienz? Du siehst wie eine kleine weiße Königin aus. Was du dir für eine majestätische Haltung angeschafft hast! – Wo habt ihr ihn – aufgegabelt – den dort – die wandernde Ethik?«
»Er wohnt oben im Hause, und mit Großmutters Erlaubnis schreibt er hier im Garten.«
»Hier, wo du immer schmachtest? Ist Großmutter verrückt geworden?«
»Ach, er stört mich eigentlich gar nicht. Er ist äußerst rücksichtsvoll und sehr ruhig.«
»Ruhig! Er hat die unruhigsten, heimatlosesten Augen, die ich je gesehen habe.«
»Diese habe ich mir noch gar nicht so angeschaut,« erwiderte Sulla.
Aber sie dachte, das sei kein Wunder, er habe ja auch schon als kleiner Junge immer nur umhergespäht, nach so einem grünen, verschlossenen Garten – in den er sich ganz versenken könnte.
»Hast du nicht bemerkt, welchen entsetzten Ausdruck die Augen der Frau Professorin annahmen, als ich ihr vorgestellt wurde?« fragte Ulla. »Ihr Bruder ist im vorigen Winter Pfarrer in Aarhus geworden. Verstehst du nun?«
Sulla mußte lachen, und Ulla fuhr fort: »Der Mann muß sie aus Versehen geheiratet haben. Sie paßt zu ihm wie ein Körner aufpickendes Perlhuhn zu einem Falken, und sie gehört zu denen, die auf alles schon im voraus eine Antwort bereit haben.«
»Du kennst sie ja gar nicht.«
»Aber ich kenne die Familie, und in diesem Geschlecht ist eins wie das andere. Sie trippeln wie artige Hühner herum, picken die Körner auf, die Eltern und Lehrer für sie ausgestreut haben – und halten sich vor lauter Demut für besser als alle anderen Leute.«
»Du hast ihm wohl nicht gefallen, Ulla – dem Pfarrer in Aarhus?«
»Nicht besonders, und ich habe mich auch töricht benommen. So wird man schließlich auf dem Lande. Und denk dir, ich bin nur ein einziges Mal mit Ferdinand Birk zusammengetroffen; meinetwegen hat er die Stadt gemieden. Seit zehn Jahren ist er nun wütend auf mich, das gefällt mir an ihm; ich habe ihm deshalb auch gesagt, ich bereue jetzt tief, ihn aufgegeben zu haben, und wünschte nur, ich könnte das Rad wieder zurückrollen. Hörst du nicht zu?«
»Nein.«
»Was soll das heißen?«
»Für so etwas habe ich weder Gehirn noch Verständnis übrig.«
»Wieder ganz wie eine Königin! Na, dann also von etwas anderem! Hast du kürzlich von Lullemor gehört – ›von meinem Großen und von meinem Kleinen‹. Sie paßt doch ganz ausgezeichnet zu so einem Mütterchen und ist in den richtigen Rahmen hineingekommen! Ich selbst bekomme ein neues Mädchen, die Theodolinde heißt. Ist das nicht erheiternd? Und Ninette hat wirklich vorgestern ganz allein ein Briefchen fertig gebracht. Hier sieh mal!«
Damit zog Ulla ein zerknittertes Papier zwischen ihrem Stahlperlenbehang heraus. »Als sie abreisten, sagte ich nämlich, sie bekämen keinen Brief von mir, ich möge nicht schreiben, und sie sollten ihr Vergnügen ungestört genießen. Aber ich wolle alle ander Tage Nachricht von ihnen; denn ich muß doch wissen, ob sie da droben nicht alles auf den Kopf stellen. Da bekomme ich gestern diese feierlichen Zeilen in einem Briefe vom Oberst. ›Liebe Mutter! Ich hoffe, Du bist vergnügt. Gestern habe ich mir ein Loch in meinen Strumpf gerissen und von Dorrit ist ein Bein abgegangen. Schreibe nur auf einen kleinen Zettel, daß Du nicht böse darüber bist. Mit vielen Grüßen – Deine Dich liebende Nina.‹«
»Nun schreibst du aber doch den kleinen Zettel, Ulla, du kannst nicht anders, nicht wahr?«
»Ich habe schon geschrieben: je mehr kaput geht, desto lieber hat Dich Mutter, oder etwas ähnliches – Demoralisierendes.«
Damit steckte Ulla den Brief wieder ein.
Sulla schlang ihren Arm um Ullas Hals. »Du bist so lieb, Ulla! Wenn du dich nur immer so zeigtest, wie du wirklich bist!«
»Unsinn! Das tue ich ja nur zu sehr.«
»Nein, nein – keine Spur!«
Aber das war eben das Verdrießliche an Ulla, daß man sie nie recht festhalten konnte, wenn sie so einen ihrer besten Augenblicke hatte. Als die Gesellschaft wieder hinaufgegangen war, warf sie sich sogleich ausschließlich auf den Professor, ja geradezu anstößig ausschließlich. Sulla bekam weiße Wangen – er war doch ein verheirateter Mann! Seine Frau sah auch ein paarmal zu den beiden hinüber, und bald ertönte Großmutter Ursulas Stimme: »Ach, liebe Ulla, spielst du uns nicht etwas vor?«
Der Ton schnitt jede Weigerung ab. Halb unwillig schlängelte sich Ulla zum Klavier hin und nahm alle ihre Armringe ab. Sie spielte wunderschön – hauptsächlich Liszt und Rubinstein – aber es zerriß einem ordentlich das Herz. Das heißt, Onkel Peter und die Tanten fühlten es wohl nicht in der Weise, und die Professorin sah auch ganz und gar nicht zerrissen aus.
Darauf sollte Sulla singen. »Wenn ich dich begleiten soll, will ich auch das Lied wählen,« sagte Ulla, indem sie ein Notenheft aufschlug.
Und Sulla sang:
»Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb,
Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief –«
Dieses Lied hätte Sulla wohl kaum an diesem Abend gewählt. Obgleich – warum nicht?
Nach dem Gesang nahm Ulla das Köpfchen der Cousine zwischen ihre Hände und flüsterte: »Ja, du kannst singen, Sullala!«
Doch nun stand die Professorin auf und erklärte, sie müßten sich jetzt für heute verabschieden und gute Nacht sagen. Sie wünschte wohl keine Wiederholung der Unterhaltung zwischen Ulla und ihrem Mann, oder sie dachte, ihr Mann sehe mit einemmal müde aus – denn das tat er wirklich.
»Denk dir, Sulla,« sagte die Mutter später zu Hause, »Frau Erhart hatte keine Ahnung davon, daß außer Großmutter noch andere in den Garten kommen; und es kommt ja auch tatsächlich so gut wie niemand. Sie sagte, wenn sie gewußt hätte, daß wir uns dort aufhielten, hätte sie wohl kaum um die Erlaubnis für ihren Mann zu bitten gewagt. Es ist recht angenehm, wenn man mit Leuten zusammentrifft, die noch rücksichtsvoll sind.«
»Gegen wen?« hätte Sulla beinahe gefragt; aber sie unterdrückte die Bemerkung.
Hatte es wohl je einen Frühsommer gegeben, der mit diesem hätte verglichen werden können? Hatte es je vorher so gezwitschert, geduftet und gestrahlt? Alle Büsche und alle Bäume blühten in einer Üppigkeit, als wollten sie sich für alle Zeiten ausblühen. Ganz unsinnig! Und doch meinte Sulla die ganze Zeit, es müßte eine besondere Bedeutung darin liegen, und dann wieder – sie sei auf dem Punkt, diese Bedeutung zu fassen.
Sie saß viel in der Fliederlaube, im Schatten der verschwenderisch schweren rotlila Fliedertrauben, und vergaß da zuweilen ganz, daß sie nicht mehr allein im Garten war. Oder sie vergaß es vielleicht nicht, sie wurde nur nicht immer dadurch gestört.
Ihre ganze Kindheit hindurch hatte sie den Garten und alle seine Herrlichkeiten doch noch mit jemand geteilt, und sie wußte wohl, daß das, was man zu zweit entdeckt, viel handgreiflicher wird; es wird ja dann von jedem doppelt gesehen und doppelt gehört. Wenn sie den fremden Menschen, der die Pagode mit Beschlag belegte, nur nicht sehen mußte, und dann ein halbbewußtes Gefühl davon hatte, daß dort drüben einer saß, der den Garten gerade so verstand und empfand wie sie selbst, mit ihr zusammen – dann verstärkte sich gleichsam ihr eigener Eindruck und ihre Zuneigung vertiefte sich. Und nie war die verborgene Welt so erschlossen gewesen, wie in diesem blütenreichen Frühsommer!
Wenn der Professor kein Kolleg zu halten hatte, schrieb er oft bis zu seinem Mittagessen im Garten; wenn Großmutter nicht herunterkam und er einen ganzen Vormittag nicht hatte arbeiten können, kam er bisweilen auch noch am Abend.
Der Gruß, den er und Sulla beim Kommen und Gehen miteinander wechselten, war noch immer wortlos wie von Anfang an.
»Du bist doch wohl höflich, wenn ihr zusammentreffet?« fragte Großmutter eines Tages. »Er sprach neulich davon, wie ungestört er arbeiten könne, und fügte hinzu, du seiest ja eine unnahbare Vestalin. Das ist schon recht, aber es darf auch nicht übertrieben werden.«
Im Lauf des nächsten Monats ersuchte der Professor Sulla zweimal, doch in die Pagode hereinzukommen. Das Wetter war da zwar gut, aber es hatte in der Nacht etwas geregnet, und die Erde war noch recht feucht. Er betonte sehr stark, sie dürfe sich seinetwegen nicht erkälten, und wenn sie nicht mitkomme, werde er sofort gehen; aber ihn gehen lassen, das durfte Sulla der Großmutter wegen nicht wagen; so ging sie eben dann früher weg als sonst.
Bei dem ersten Male hatte sich ein Gespräch zwischen ihnen angebahnt. Er stellte ein paar Fragen über Großmutter, und da erzählte ihm Sulla deren Geschichte. Ganz kurz gefaßt natürlich und nicht so deutlich, wie wünschenswert gewesen wäre; das merkte sie selbst, denn er schien zu glauben, jener Birnbaum, unter dem sich Fräulein Ursula und Ludwig Anker gefunden hatten, sei der Birnbaum hier im Garten. Aber wie der junge Mann auf seinem Wege nach dem Hause durch diesen verschlossenen Garten hätte kommen sollen – das war doch ganz unbegreiflich! Da mußte Sulla erklären, daß der Urgroßvater Stiftsamtmann auf Fünen gewesen war – aber bei der Erklärung huschte ein Lächeln um seinen Mund.
Er sagte, Großmutter könne man wohl anmerken, wie gut es ihr gelungen sei, ihr Leben harmonisch zu gestalten. »Aber sie hat sich auch von Jugend auf in diesem Garten aufhalten dürfen,« fügte er hinzu. Sulla schüttelte den Kopf ein wenig; jetzt verfiel er wieder in denselben Irrtum.
»Aber Ihre Cousine,« – er zögerte. »Sie ist gewiß ein recht heimatloses Menschenkind.«
Ach, Ulla hatte ja fast dasselbe von ihm gesagt! Wie merkwürdig!
»Sie hat eigentlich eine tief eingreifende Wirkung auf mein Leben ausgeübt.«
Sullas Augen veränderten sich und öffneten sich weit. »Ulla?« fragte sie, lauter als sie wollte.
»Ja, aber ich kann das nicht so leicht in aller Kürze erklären. Es hing mit anderem … Vor etwa vierzehn Jahren bin ich schon einmal mit ihr zusammengetroffen. Ich war damals noch nicht zwanzig und sie wohl kaum sechzehn. Es war auf einem Ball, in dem Winter, nachdem ich das Philosophikum gemacht hatte und nicht wußte, was ich werden wollte. Mein Vater war Pfarrer hier, und er hätte am liebsten gesehen, wenn ich Theologie studiert hätte – ich selbst aber hatte am meisten Lust zu allem, was keine bestimmte Entscheidung verlangt, zum Beispiel zum Studium der Ästhetik, oder dem herrlicher toter Sprachen – um alte vergessene Dichterwerke wieder erstehen zu lassen.
Da kam ich auf jenen Ball, wo ich Ihre Cousine sah und den ganzen Abend keinen Blick von ihr verwenden konnte. Ihre Tanzkarte war sofort überfüllt; ein Tanz mit ihr war also nicht zu erlangen. Aber ich stand den größten Teil des Abends in einer Ecke und starrte sie nur immerfort an.«
»Warum?« mußte Sulla fragen, obgleich man so etwas nicht fragt.
»Ja, warum? Weil ich nicht anders konnte. Mir war, als banne jede ihrer Bewegungen meinen Blick so fest, daß ich nie wieder wo anders hinsehen könnte. Aber ich war nicht verliebt in sie, wie ich es doch ab und zu in andere Mädchen gewesen war; es stieg im Gegenteil etwas in mir auf, was ich noch nie empfunden hatte, das ich nie für möglich gehalten hätte – ein Gefühl, das mich wie ein Gewittersturm überfiel … Aber es war unbedingt feindselig, von glühendem Haß erfüllt. Das gerade war das Unheimliche daran. Ich bekam Angst vor mir selber. Mir war, als sei ich auf dem Wege, ein Verbrecher zu werden.«
O wie schlecht war es doch, andere so zu beeinflussen! Das war kein Zufall, dafür ist man verantwortlich! Sulla war aufs tiefste empört. »Die lose Erziehung ist also nicht nur ein Unglück für einen selbst, sondern auch noch für die, mit denen man zusammentrifft,« dachte sie.
»Nachher wanderte ich noch lange in den Straßen umher,« fuhr der Professor fort: »nächtlich stille Straßen haben oft etwas Beruhigendes; aber es half nichts. Alles in mir schien von oberst zu unterst gekehrt – und ich fühlte, es war nur noch ein Chaos. Wenn ich so noch länger wie ein scheu gewordenes Pferd umherrannte, mußte ich schließlich ganz wild werden. Ich erkannte, daß ich etwas in mir trug, was mir jetzt erst klar geworden war – das beschnitten und unterdrückt werden mußte, je früher desto besser.«
»Und dann?« fragte Sulla.
»Ja – dann entschied ich mich für die Theologie. Vielleicht nicht in derselben Nacht noch – aber diese gab doch einigermaßen den Anstoß dazu. Ich warf mich dann mit aller Macht aufs Studieren, um so bald als möglich meine Examen machen zu können, die den Weg festlegten. Um gleich nachher –«
Sulla wußte, was kommen würde – auf diese Art und Weise konnte man sich ja auch befestigen.
»Um – – mein Leben in so feste Rahmen zu legen wie nur immer möglich. Und das gelang mir über Erwarten. – – Aber Sie sehen, Ihre Cousine hat einen indirekten Anteil daran, für den ich ihr dankbar sein muß.«
»Ja, wenn es etwas Dankenswertes ist.«
»Wenn man Ordnung und Klarheit in sein Leben gebracht hat? Denken Sie das nicht auch?«
»Doch, wenn Klarheit und Ordnung durchaus nötig sind.«
Er lachte. »Das ist aber eigentlich doch der Zweck.«
Sulla warf den Kopf ein wenig zurück. So wie ihre Worte herausgekommen waren, klangen sie freilich über die Maßen dumm; aber der Sinn war gar nicht dumm. Sie hatte gemeint, ob man Klarheit und Ordnung von außen her bekommen könnte, und ob es nicht noch einen dritten Weg gebe anstatt der beiden: entweder ohne alle Regel seiner eigenen Natur nach leben wie Ulla, oder sich ein Menschentum und ein Leben schaffen, das gar kein eigenes Leben war. Aber sie wollte sich nicht weiter darauf einlassen, deshalb stand sie auf, um zu gehen.
»Und nun ist es höchst merkwürdig,« sagte der Professor, »als ich neulich wieder mit ihr zusammen war – –«
Sulla blieb unwillkürlich stehen.
»Da übte sie gar keinen Einfluß auf mich aus; aber sie tat mir leid, es fehlt ihr gewiß der feste Rahmen.«
»Allerdings,« versetzte Sulla. »Aber – –«
»Aber?«
»O nichts.« Sulla verabschiedete sich und ging.
– Beim zweiten Male, wo sie aufgefordert worden war, in die Pagode zu kommen, hatte sie ein französisches Buch bei sich, in dem sie eifrig las, während er schrieb.
Es war schönes, stilles, leicht verschleiertes Wetter, von der Art, das Großmutter »Madonna mit dem Schleier« nannte. Nach dem erfrischenden nächtlichen Bad streckte sich die Erde in duftendem Wohlbehagen, und auf der alten Sonnenuhr versank die Zeit in Gedanken, so daß sie die flüchtigen Stunden nicht mit einem schwarzen Schattenstrich messen konnte.
»Können Sie das Gras wachsen hören?«
»Ja, diese fast hörbare Stille in Großmutters Garten würde ich sofort erkennen, auch wenn ich mit verbundenen Augen hereinkäme.«
Und bei dieser fast hörbaren Stille fuhr seine Feder wieder kratzend übers Papier. Wie war es doch – sie hatten doch als Kinder eine Spieldose gehabt, die mit einem kleinen feinen Schlüssel aufgezogen wurde; das hatte gerade so einen knirschenden, kratzenden Ton gegeben.
Sulla mußte unwillkürlich denken, ob hier nicht auch ein rastloser kleiner Schlüssel etwas erschließe? Verborgene, verschlossene Türen, immer von einem Raum in den andern, die in immer tiefere, geheimere Stille hineinführten, bis in die innerste Welt, ganz in die tiefsten Tiefen des Gartens – wo die alten Mystiker umherwandelten mit ihrem versonnenen Lächeln und dem Finger auf den Lippen – – jeder für sich allein, und doch miteinander, so daß sie sehr oft doppelt sahen und hörten und lauschten und empfanden. Immer lauschend auf – ja vielleicht auf den Herzschlag hinter jeder Blüte hinter jedem Blatt? Sulla wußte recht wenig von diesen alten Mystikern – aber jetzt war ihr, als lebte sie sich mit ihnen ein.
Der kleine rastlose Schlüssel hatte zu kratzen aufgehört; die Lautlosigkeit weckte Sulla aus ihrem Sinnen. Der Professor sah vor sich hin und sagte, gleichsam als Abschluß eines Gedankenganges: »In der katholischen Kirche, da können freilich alle Fragen, alle Zweifel, alle Einwendungen mit dem entscheidenden: ›So lehrt die Kirche‹, beantwortet werden. Und sie stärkt und macht sicher, diese absolute Autorität.«
Sulla erwiderte: »Wir aber sagen: ›Die Gemeinde glaubt es.‹ Ist das nicht noch mehr?« Doch während sie dies sagte, verwunderte sie sich selbst über ihren Ausspruch, denn sie hatte ja noch nie darüber nachgedacht, und doch fühlte sie die beruhigende Autorität, die in dem Worte lag.
Sie war heute spät gekommen und sollte bei Großmutter Ursula zu Mittag essen. Der Professor ging deshalb zuerst – die Universität winkte, wie er sagte. Vielleicht sah sie bei diesem Gedanken lebhaft auf, denn er fügte noch hinzu: »Freuen Sie sich, daß Sie nicht zu meinen Studenten gehören, denn ich bin ganz konventionell und wundere mich selbst, daß der Hörsaal bei mir nicht leer ist. Warum sie kommen, weiß ich eigentlich selbst nicht, sie bekommen eine magere Kost.«
Das war sonderbar ausgedrückt; meinte er es wirklich?
»Das überrascht Sie?« fuhr er fort. »Aber vielleicht können Sie es doch verstehen? Die Ethik – die christliche Sittenlehre ist oft verzweifelt schwer zu dozieren, und mir ist es dann, als müsse ich aus lauter praktischen Rücksichten in ganz gewöhnliche, ehrenwerte Plattheiten verfallen.«
»Da würde ich lieber meine Stelle aufgeben,« versetzte sie.
»Aber wenn dann ein anderer käme, der sie noch weniger ausfüllte?«
»Wenn dieser andere aber die Sache anders auffaßte, machte er sie eben doch besser – – und ich hätte auch Angst, ich nähme selbst Schaden, wenn ich bliebe.«
»Na, ich glaube doch, ich will bis morgen warten, ehe ich meinen Abschied einreiche,« sagte er, indem er seine Aktenmappe unter den Arm nahm.
Sulla saß noch lange mit aufgesetzten Armen und das Gesicht in den Händen vergraben am Tisch. Ob nicht doch in seinem Herzen etwas wohnte, das gar nicht zur Ruhe und Klarheit gekommen war? Und ob nicht die festen äußeren Rahmen ein Hindernis sein konnten, ein Hindernis, an dem er sich stieß – – Ob er sein Leben nicht hätte anders einrichten sollen? Ach was, darüber brauchte sie sich doch den Kopf nicht zu zerbrechen!
– Der Flieder und der Goldregen waren verblüht; aber nun kamen die Akazien und der Jasmin mit ihrer unbegreiflich üppigen Blütenfülle an die Reihe, und in den beiden großen Beeten erschlossen sich die weißen und roten Rosen in all ihrer königlichen Pracht. Sulla mußte daran denken, wie es in der Märchenwelt ihrer Kindheit geheißen hatte: »Wenn der Prinz kommt, wird alles blühen wie nie zuvor.« Nein, das traf nicht immer zu.
So war der Juli herbeigekommen, und man sollte seinen Koffer nach Aarhus packen. Das tat einem fast leid – jetzt, wo es so wunderschön im Garten war!
Am letzten Abend waren Sulla und die Mutter bei der Großmutter, um sich zu verabschieden. Sie trafen Ulla bei ihr.
»Du siehst so geheimnisvoll aus,« sagte Ulla zu der Cousine, »und du hast immer eine Haltung, als seiest du Königin geworden.«
»Das hängt beides zusammen,« erwiderte Sulla lachend. »Denn wenn ich Königin geworden bin, dann bin ich es ganz im geheimen.«
Ulla versprach, die Abwesenden bei Großmutter nach Kräften zu ersetzen. Sie und Ninette würden fleißig nach ihr sehen. Alle drei brachen dann zusammen auf; sie wollten noch einen kleinen Gang durch den Garten machen. Der Professor saß im Pavillon bei seiner Arbeit; er und seine Frau reisten erst in ein paar Tagen.
Sobald er die Damen gewahr wurde, stand er auf und unterhielt sich eine Weile mit ihnen; dabei kam er auf seine Reise in den Orient zu sprechen, die er ein Jahr vor seiner Hochzeit gemacht hatte.
»Im Vergleich zu andern Reisebeschreibungen ist die Ihrige gar nicht so totlangweilig,« sagte Ulla.
Wenn Sulla etwas ganz gefangen nahm, stand sie so still und versonnen da, als sei sie in eine andere Welt hineingegangen und habe die Tür hinter sich zugezogen.
Ein leiser verspäteter Abendhauch spielte mit den Rosen, er faßte nach dem langen blauen Schleier, der von Sullas Hut herabhing, und wehte ihn über des Professors Gesicht. Sie aber merkte es gar nicht.
»Nimm deinen Schleier in acht, Sulla,« sagte die Mutter in einem leicht vorwurfsvollen Ton, als es zum zweiten Male geschehen wollte. Da fuhr Sulla ein wenig zusammen und raffte den Schleier rasch zusammen, während Ulla ihren Blick auf sie heftete.
Daheim angelangt war die Mutter nicht wenig erstaunt, als Sulla den Schleier vom Hut abtrennte. »Aber Kind, was soll denn das? Er war doch so hübsch auf die Reise!«
»Er flatterte zu weit umher,« erwiderte Sulla. »Ich setze lieber ein Band darauf.«
Nun wußte die Mutter zwar, daß Sulla in Gegenwart anderer auch nicht den leisesten Tadel vertragen konnte. Aber daß sie sich das so zu Herzen nehmen konnte!
Ehe sie sich schlafen legte, drückte Sulla plötzlich ihr Gesicht in den blauen Schleier und weinte … Denn es war ihr eingefallen, daß das Reich, in dem sie Königin war, gar so tief verborgen lag; niemand konnte es sehen, und viele würden sagen, es existiere überhaupt nicht.
Aber es hatte ja gar keinen Sinn, darüber zu weinen – und hatte überdies mit dem Schleier nicht das geringste zu tun. Deshalb stand Sulla auch auf und verbrannte ihn.