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Dreizehntes Kapitel

An einem Sonntagnachmittag, als die Sonne in dem Sprühregen des Springbrunnens in Kew Gardens einen Regenbogen bildete, erschien Sholto Douglas dort unter den Spaziergängern am Rande des Weihers. Er blieb auf den Stufen stehen, die in das Wasser hinabführten, und starrte müßig auf die Wasservögel, die zu seinen Füßen plätscherten. Eine Dame kam an den Rand der Stufen und sah ihn neugierig an. Als er das bemerkte, wandte er sich gleichgültig zum Gehen und fand, daß die Dame Marian war. Ihre reifere Schönheit, ihre vollkommene Selbstbeherrschung, das elegante graue Kostüm, etwas mehr Kraft und Klugheit wie früher, etwas weniger Zartheit und Furchtsamkeit, alles das verwirrte ihn einen Augenblick – machte sein Blut stocken und gab ihm ein Gefühl, als ob eine gefährliche Leidenschaft in ihm erwache. Seine frühere Liebe zu ihr erschien ihm plötzlich knabenhaft und wesenlos, und dieser Verlust einer einst so gepflegten Illusion schmerzte ihn. Inzwischen stand sie da und streckte ihm lächelnd ihre Hand entgegen mit ruhigem Vertrauen auf den Erfolg ihrer Annäherung, wie es Marian Lind unmöglich gewesen wäre.

»Wie geht es Ihnen?« sagte sie.

»Danke, ziemlich gut. Ihnen geht es hoffentlich sehr gut?«

»Ich bin gesund wie ein Fisch. Zuerst hatte ich Sie kaum erkannt.«

»Bin ich denn so verändert?«

»Sie werden stark.«

»Wirklich? Ja, die Zeit ist nicht so gütig gegen mich gewesen wie gegen Sie.«

»Sie meinen, ich sei kräftiger als Sie?« Sie lachte, und der Klang ihres Lachens erregte ihn. Er machte ihm den seltsamen Eindruck, daß ihre Seele verschwunden sei. Doch er beeilte sich, zu widersprechen.

»Nein, nein. Sie wissen, daß ich das nicht meine. Ich wollte nur sagen, Sie hätten das Unmögliche fertiggebracht, zu Ihrem Vorteil älter zu werden.«

»Es freut mich, daß Sie das glauben. Jetzt, da ich alt werde, gebe ich viel darauf, gut auszusehen. Wie geht es Mistreß Douglas?«

»Sehr gut, danke sehr. Mister Conolly ist hoffentlich –«

»Er leidet augenblicklich an Eukalyptus des Gehirns. Geben Sie sich keine Mühe, diesen wunderbaren Ausdruck meines tiefen Kummers zu behalten. Eukalyptus heißt Gummibaum, und Ned studiert jetzt diese Spezies irgendwo in der Nachbarschaft. Er ist zu dem Zwecke hierhergekommen. Er geht nie irgendwohin, ohne einen besonderen Zweck. Er will rund um seine neuen Werke in der Kohlengegend Eukalyptusse anpflanzen.«

»Oh, Sie glauben, daß er hier in den Anlagen ist.«

»Ja. Ich ließ ihn bei den Bäumen, da ich die Blumen vorziehe. Ich möchte Lilien sehen. Ich glaube, hier in der Nähe waren immer einige in einem Treibhause oder richtiger einem Dampfbad.«

»Das liegt da rechts. Darf ich mit Ihnen gehen?«

»Ja, wenn Sie wollen.«

»Danke. Es ist lange her, seit wir uns zuletzt getroffen haben.«

»Länger als ein Jahr. Fünfzehn Monate. Ich habe Sie seit meiner Heirat nicht mehr gesehen.«

»Ich erinnere mich unseres letzten Zusammenseins wohl, wir waren uns damals sehr böse: ich war wie toll. Wahrhaftig, als ich Sie vor einer Minute erkannte, war ich nicht ganz sicher, ob Sie unsere Bekanntschaft erneuern würden.«

»Ich fürchtete dasselbe von Ihnen.«

»Eine ganz unnötige Furcht. Auch wohl leider keine ganz aufrichtige. Sie wissen ganz gut, daß Ihr leisestes Zunicken mich zu jeder Zeit wieder zu Ihnen bringen würde.«

»Halten Sie es nicht für besser, wenn wir hiervon nicht anfangen? Ich erzähle immer nachher Ned meine Gespräche. Nicht daß er etwas dagegen einwenden würde –«

»Sie brauchen mich nicht zurechtzuweisen. Auf meiner Seite kann keine Selbsttäuschung mehr vorkommen. Sie dürfen mich ohne Furcht umgarnen, und ich kann Sie ohne Hoffnung lieben. Ned steht als unabänderliche Gesetzestafel zwischen uns. Wohlan, Mistreß Conolly, spielen Sie mit mir: es wird Sie amüsieren. Und doch – solch ein armseliger Tropf bin ich – daß mich das gerade am Leben hält, bis Sie mich wieder vernichtet von sich stoßen.«

»Es scheint, daß Sie sich ohne mich sehr wohl gefühlt haben: wenigstens sehen Sie außerordentlich gut aus. Ich vermute, Sie werden etwas träge und gewöhnen sich zu sehr an gutes Essen. Ihr früherer Stolz scheint zu einer reinen Gewohnheit herabgesunken zu sein. Sind Sie sicher, daß Sie sonst niemand am Leben hält, wie Sie das nennen.«

»Ob mich sonst niemand zum Vergessen bringt, meinen Sie. Nein, niemand.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Vollständig. Sie scheinen mir nicht zu glauben.«

»O ja, gewiß. Ich glaube Ihnen. Ich dachte nur an das müßige Gerücht, das eine gute Freundin von mir angeht. Das ist alles. Aha! Werden Sie rot?«

»Das ist wahr. Ich bat Miß McQuench um ihre Hand. Ich war wütend, enttäuscht, fast von Sinnen. Ich fühlte ein wildes Verlangen, mein ganzes Leben durch einen einzigen unabänderlichen Schritt in einen schrecklichen Trümmerhaufen zu verwandeln.«

»Ganz natürlich. Nebenbei schlossen Sie aus einem oder zwei Umständen, daß Sie das Ideal ihrer Mädchenzeit gewesen sind, und hofften, der Gott ihres späteren Lebens zu werden. Auch hatte Elinor sich so wider Erwarten teilnehmend gezeigt, als Sie fast von Sinnen waren. Und Sie wollten mich ärgern. Was für törichte Ideen hat man doch von der Welt, wenn man jung ist.«

»Sie mißverstehen mich, genau wie sie mich mißverstand. Ich sehe, Sie haben den Bericht direkt von ihr. Frauen haben kein Mitgefühl. Glücklicherweise hat mich ihre Stumpfheit vor dem Schicksal bewahrt, ihr Mann zu werden.«

»Woraus ich schließe, daß Sie sich von Ihrer Verzweiflung erholt haben.«

»Die Zeit hat mich gelehrt, dahinzuvegetieren, und so brauche ich nicht länger zu leben. Wie Sie schon bemerkten, ich habe Gewohnheiten, keine treibenden Kräfte. Doch eine zum mindesten von diesen Kräften wächst wieder auf, während ich mit Ihnen spreche. Wenn ich doch leben könnte, wie diese Lilie jetzt lebt!«

»In einem warmen Bad?«

»Nein, dahintreibend auf der Oberfläche eines stillen Wassers und emporblickend in Ihre Augen, ohne Erinnerung an die Vergangenheit, ohne Sehnsucht nach der Zukunft.«

»Entzückend! Besonders für mich. Ich denke, wir wollen jetzt nach Ned ausschauen.«

»Wäre ich an seiner Stelle, ich würde jetzt bei Ihnen sein, jetzt – und immer.«

»Das heißt, wenn Sie an seiner Stelle wären, würden Sie nicht an seiner Stelle sein – unter den Gummibäumen. Vielleicht hätten Sie recht.«

»Er ist der einzige Mann, den zu beneiden ich mich jemals herabgelassen habe.«

»Sie haben Grund dazu, ich beneide ihn oftmals selbst. Was würden Sie darum geben, wenn Sie nie ohne ein Vorhaben wären, nie ein Bedauern fühlten, wenn Sie das Leben als eine Folge von Ereignissen betrachteten, die Ihnen soundso viele Arbeit geben? Wenn es Ihnen Vergnügen machte, leicht zu tändeln, ohne daß Sie dabei das Selbstbewußtsein eines scharfen Verstandes verlören? Wenn Sie Liebe, Familienneigung und Freundschaft studierten, wie der Doktor Atmung oder Verdauung studiert? Wenn Sie Selbstlosigkeit entweder als Schwäche oder als Heuchelei ansähen und den Tod als einen einfachen Übergang Ihrer sozialen Tätigkeit auf ein Glied der nächsten Generation?«

»Ich könnte das alles, wenn ich wollte, auf Kosten meiner Seele. Für die ganze Welt möchte ich nicht so ein Mann sein, ausgenommen unter einer Bedingung.«

»Welcher?«

»Wenn ich nur als solcher die Frau gewinnen könnte, die ich liebe.«

»Oh, Sie würden sich nicht soviel aus einer so unwichtigen Sache wie die Liebe machen, wenn Sie Ned wären.«

»Darf ich mir die Frage erlauben, halten Sie auch die Liebe für eine unwichtige Sache?«

»Ich? Oh, ich bin kein Soziologe. Übrigens bin ich nie verliebt gewesen.«

»Was! Sie sind nie verliebt gewesen?«

»Nicht in der richtigen, romantischen, brennenden, selbstmörderischen Weise, wie sie gewöhnlich aus Ihren Sonetten atmet.«

»Dann wissen Sie nicht, was Liebe ist.«

»Sie denn?«

»Sie sollten wissen, ob ich das tue oder nicht.«

»Ich sollte es wissen? Dann schließe ich, daß Sie es nicht tun. Sie werden dick. Ihre Kleidung ist nicht im geringsten vernachlässigt. Ich bin sicher, daß Sie das Leben durchaus genießen. Nein, Sie haben niemals die Liebe in ihrer poetisch-romanhaften Übertreibung kennengelernt. Diese ehrwürdige alte Leidenschaft ist eine Mythe.«

»Sie sehen nach Kennzeichen aus, die nur Kinder zeigen. Wenn eine Eiche stirbt, so wankt sie nicht und fällt auf einmal um wie ein junger Baum. Vielleicht werden auch Sie eines Tages wissen, was Liebe ist.«

»Vielleicht.«

»Jedenfalls können Sie sich damit brüsten, mir diese Leidenschaft eingeflößt zu haben.«

»Ich hoffe so – übrigens glaube ich, das ist alles Unsinn. Sehen Sie diesen Pflanzenkrebs an, diesen Kaktus.«

»Um seine Häßlichkeit richtig zu zeigen, sollten Sie sich selbst gegen den Hintergrund der Palmen stellen mit diesem fächerartigen Zweig als Heiligenschein, und –«

»Danke sehr. Ich sehe es alles vor meinem inneren Auge infolge Ihrer beredten Beschreibung. Sie haben ganz recht, wenn Sie annehmen, daß ich Komplimente liebe. Aber ich lege besonderen Wert auf ihre Qualität, und Sie brauchen mir nicht zu erzählen, daß ich hübsch bin im Vergleich mit einem abscheulichen Kaktus. Früher hätten Sie nicht so gesprochen. Sie haben sich verändert.«

»Nicht Ihnen gegenüber, auf meine Ehre.«

»Das meinte ich nicht: ich meinte gegen sich selbst.«

»Ich bin glücklich, daß Sie selbst diese geringfügige Beobachtung an mir gemacht haben. Auch Sie finde ich etwas verändert.«

»Ich wußte nicht, daß man das sehen konnte, aber es ist wahr. Mir kommt es so vor, als ob Marian Lind eine Person wäre, die ich einmal gekannt habe, die ich aber schwerlich wiedererkennen würde.«

»In mir hat die Veränderung nicht diese Folge gehabt. Mir ist, als sei Marian Lind die Geschichte meines Lebens.«

»Die Kunst, hübsche Dinge zu sagen, haben Sie meisterhaft erlernt. Sie sprechen fast so glatt wie Ned.«

»Wir haben den gleichen Ansporn zur Bewunderung.«

»Denselben! Sie denken doch nicht, daß Ned mir Komplimente macht. Das hat er in seinem Leben nicht getan. Nein: ich entdeckte sein Talent in dieser Hinsicht zum erstenmal in Palermo, wo ich ihn bei einer animierten Unterhaltung mit der schwarzäugigen Tochter eines Gastwirts überraschte. Das war das erste Gespräch in Italienisch, dem ich folgen konnte. Eine Woche später verstand ich die Sprache fast so gut wie er.«

»Vielleicht dachte er bei den italienischen Frauen nur an Sie. Das war der einzige Eindruck, den sie auf mich machten.«

»Nein. Ich glaube, daß er bei ihnen meiner ganz vergaß. Das erinnert mich, daß ich selbst etwas ganz vergessen habe. Es handelt sich um Ihre Mutter. Ich möchte sie sehr gern einmal besuchen, aber sie hat mich seit meiner Verheiratung nicht mehr beachtet. Und Mistreß Leith Fairfax erzählt mir, daß sie nie erlaubt, daß mein Name in ihrer Gegenwart genannt wird. Ich dachte, sie hätte mich gern gehabt.«

»Das tat sie auch. Aber sie hat es Ihnen nie vergeben, daß Sie mir solchen Kummer bereitet haben. Sie sehen, sie hat mehr Charakter als ich. Sie würde böse sein, wenn sie sähe, wie zahm ich dem Triumphwagen meiner schönen Herrin folge.«

»Ernsthaft, glauben Sie, wenn ich eines Morgens in Manchester Square einen Überfall machte, ich könnte mich in ihre alte Liebe zu mir wieder einschmeicheln?«

»Ich glaube, Sie können in jedem Falle ruhig vorsprechen. Sagen Sie mir, wann Sie es versuchen wollen. Meine Mutter wird Sie freundlich empfangen, wenn sie weiß, daß das mein Wunsch ist.«

»Sehr selbstlos von Ihnen. Danke schön. Ich will durch meine eigenen Verdienste Erfolg haben, nicht durch Ihre Empfehlungen. Sie dürfen ihr kein Wort über meine Absicht sagen.«

»Wenn Sie mir befehlen, es nicht –«

»Ich befehle es Ihnen.«

»Dann muß ich gehorchen. Doch ich fürchte, je mehr ich mich unterwerfe, desto herrischer werden Sie werden.«

»Ganz natürlich. Und nun sehen Sie hier auf die Allee zur Linken. Sehen Sie einen Mann in braunem Anzug mit dazu passendem Strohhut, der in regelmäßigem Schritt auf uns zukommt und in schnurgerader Richtung geht? Er sieht alle, die an ihm vorbeigehen, an, als wollte er sie zählen.«

»Jetzt sieht er sich nach jemand um, als hätte er die Nummer vergessen.«

»Genau so. Aber dieser Jemand ist eine Frau, zweifellos eine hübsche und vermutlich eine dunkelhaarige. Ich sehe, Sie erkennen ihn. Sie machen so ein frostiges Gesicht, als wollten Sie ihn in Ihrer alten, unfreundlichen Weise empfangen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, ich bin es gewohnt, daß die Leute Ned sehr hochschätzen. Er hat uns gesehen.«

»Und im gleichen Augenblick bemerkt, daß da ein Mann mit seiner Frau redet.«

»Ganz recht. Sehen Sie sein forschendes Gesicht. Jetzt achtet er nicht mehr auf uns. Er blickt wie vorher auf die Vorübergehenden. Das bedeutet, er hat Sie erkannt und hat die Beobachtung in seinem Kopf ganz zur Seite gelegt, um sie hervorzuholen, wenn er uns erreicht hat.«

»Bei einer solchen Methode kann er viel Verstand sparen. – Wie geht es Ihnen, Mister Conolly? Es ist einige Zeit her, seit wir nicht mehr das Vergnügen hatten, uns zu treffen.«

»Es freut mich, Sie zu sehen, Mister Douglas. Wir waren den ganzen Winter fort. Wohnen Sie jetzt in London?«

»Ja.«

»Hoffentlich besuchen Sie uns einmal, wenn es Ihnen paßt, im Holland Park.«

»Sie sind sehr gütig. Danke Ihnen. Gerne, wenn Mistreß Conolly es gestattet.«

»Ich möchte Sie am liebsten jetzt mit nach Hause nehmen,« sagte Marian, »aber dieser Sonntag ist ein Ausnahmefall. Nelly McQuench ist den Abend über bei uns, und da ich sie seit unserer Rückkehr noch nicht gesehen habe, muß ich sie ganz allein haben. Kommen Sie nächsten Sonntag, wenn Sie Lust haben.«

»Ja«, sagte Conolly. »Halb vier ist Sonntags unsere Empfangsstunde. Wenn es Ihnen dann nicht möglich ist, wir sind gewöhnlich nachher den ganzen Abend zu Hause. Marian, wir haben genau fünfzehn Minuten, um den Zug zu erreichen.«

»Dann müssen wir gehen. Wenn wir ihn versäumen, muß Nelly eine halbe Stunde warten.«

Sie nahmen Abschied von Douglas, der versprach, in acht Tagen auf Besuch zu kommen, und Marian nachsah, bis sie mit ihrem Mann zwischen den Bäumen verschwunden war.

»Glaubst du nicht, daß er sehr dick wird?« fragte sie, als sie fortgingen.

»Ja, er fängt an, die Welt von der leichten Seite zu nehmen. Er sieht nicht aus, als ob er etwas Tüchtiges aus seinem Leben machen werde.«

»Was schadet es, wenn es ihm nur Vergnügen macht.«

»Gewiß nichts, aber ich zweifle, ob es ihm wirklich Vergnügen macht.«

Sie sagten nichts mehr, bis sie im Zug saßen, wo Marian gleichgültig durch das Fenster blickte, während Conolly ihr gegenüber sich in die Polster zurücklehnte und sie gedankenvoll ansah.

»Ned«, sagte sie plötzlich.

»Meine Liebe.«

»Weißt du, daß Sholto noch mehr vernarrt in mich ist als früher?«

»Natürlich. Du bist schöner wie damals, als er dich zuletzt sah.«

»Du bist fast gerade so liebenswürdig wie er«, sagte Marian und errötete vor Befriedigung, obgleich sie dieses Gefühl durchaus verbergen wollte. »Er hat es eher bemerkt als du. Und ich entdeckte es noch früher im Spiegel.«

»Ohne Zweifel tatest du das. Welche Station ist das?«

»Ich weiß es nicht.« Dann hob sie ihre Stimme, damit sie gehört werden sollte, und rief: »Da kommt ein dummer Mensch in unsere Abteilung.«

Ein junger Mann trat herein, und nachdem er einen Blick auf Marian geworfen, die ihm ungeduldig den Rücken kehrte, verbrachte er den Rest der Reise damit, nach einem nochmaligen Anblick ihres Gesichts zu spähen. Conolly blickte nun einen Grad ernster drein wegen dieses Mangels an vollkommener Selbstbeherrschung bei seiner Frau. Doch konnte er dabei nicht ganz eine gewisse Befriedigung über die Zudringlichkeit des jungen Menschen unterdrücken. Marian und er waren in verschiedener Laune, da wollte er nicht gern mit ihr allein sein.

Als sie von der Eisenbahnstation Addison Road nach Hause gingen, brütete Conolly schweigend vor sich hin, die Augen auf die Vorgärten gerichtet, die am Wege lagen. Marian, die zu reden wünschte, folgte ungeduldig seinen abgemessenen Schritten.

»Laß mich deinen Arm nehmen, Ned, ich kann nicht mit dir überhalten.«

»Gewiß.«

»Ich hoffe, ich bin dir nicht lästig«, sagte sie nach einer weiteren Pause des Schweigens.

»Hm – nein.«

»Ich fürchte wohl. Aber es macht nichts, ich kann auch allein gehen.«

»Arm in Arm gehen ist eine solche lächerliche und unbequeme Art, sich fortzubewegen – du brauchst dich nicht auf offner Straße zu sträuben, ich habe jetzt deinen Arm und will ihn behalten – ich sage, ist eine so unbequeme und lächerliche Art, sich fortzubewegen, daß, wenn du jemand anders wärst, ich es vorzöge, dich in einem Schubkarren nach Hause zu fahren. Diese Fortbewegungsart würde unverzeihbar sein, wäre ich eine Lokomotive und du mein Tenderwagen.«

»Dann laß mich gehen. Was sollen die Leute denken, wenn sie sehen, wie ein großer Ingenieur die Gesetze der Mechanik verletzt, indem er sein Weib am Arme schleppt.«

»Sie werden meine Gründe zu schätzen wissen. Und wirklich, wenn du sie beobachtest, kannst du einen kaum verschleierten Neid in ihren Gesichtern lesen. Ich verletze die Gesetze der Mechanik – um deinen eigenen spöttischen Ausdruck zu gebrauchen – aus vielerlei Gründen. Ich liebe es, beneidet zu werden, wenn wirkliche Gründe dafür da sind. Es befriedigt meine Eitelkeit, wenn man mich in diesem Künstlerviertel mit einer hübschen Frau am Arm sieht. Dann ist das Gefühl, dich zu besitzen, kein einfach abstraktes mehr, wenn ich dich körperlich festhalte, und wenn ich die Unmöglichkeit einsehe, mit dir Schritt zu halten. Übrigens hat ein Mann, der gestern noch ein Wilder war, seine Schwächen und findet ein poetisches Vergnügen daran, die Frau, die er liebt, zu berühren. Und schließlich bist du heute den ganzen Nachmittag in einer so schlechten Laune gewesen, daß du, wie ich fürchte, plötzlich Lust bekommst, mich zu ohrfeigen, und da fühle ich mich doch sicherer, wenn ich deinen Arm festhalte.«

»Oh, ich bin wirklich nicht in schlechter Laune gewesen. Ich war nur bestrebt, einen glücklichen Tag zu verleben.«

»Und ich habe die Zeit in ruhigem Nachdenken verbracht und nach gar nichts gestrebt. Was hat dich aufgebracht?«

»Mich hat gar nichts aufgebracht. Aber du kannst mir erzählen, worüber du nachdachtest.«

»Meine Gedanken würden Bände füllen, wenn ich sie sammeln könnte.«

»Du mußt dich an einige erinnern. Von der Zeit, da wir die Station verließen, bis zum Beginn unseres Gespräches, hast du mit tiefstem Ernst über etwas nachgedacht. Was war das?«

»Ich habe es vergessen.«

»Natürlich hast du es vergessen – gerade, weil ich es wissen will. Welch eine überfüllte Straße das ist!« Sie machte sich aus seinem Arm los, und diesmal leistete er keinen Widerstand.

»Das bringt mich darauf. Die Menge besteht zum Teil aus Leuten, die in die Kirche gehen. In der Kirche ist ein Altar. Bei dem Wort Altar denkt man an ein Knien auf einem harten Stein, und das erinnert mich an ein Knieleiden, das man öfters bei Hausmädchen findet. Dieses Leiden war der Gegenstand meines Nachdenkens.«

»Ein hübscher Gegenstand für einen schönen Sonntag! Danke, ich will nichts mehr hören.«

»Aber du wirst mehr davon hören. Ich will die Stufen vor unserm Hause wegnehmen und durch Marmor, Schiefer oder sonst etwas ersetzen lassen, so daß man sie mit einem Scheuerlappen und einem Eimer Wasser in fünf Minuten reinigen kann.«

»Warum? Deine Gedankenkette scheint eine wunderbar sprunghafte gewesen zu sein.«

»Meine Gedankenkette begann an den Türstufen, an denen wir vorüberkamen. Sie waren alle wundervoll geweißt, so daß man jeden Fußtritt sah, und sie stellten alle eine unnütze, schändliche Vergeudung von Arbeit dar, die ein intelligentes Hausmädchen verrückt machen müßte. Ich glaube nicht, daß unsere Armanda besonders intelligent ist, aber ich bin entschlossen, ihre Knie und ihre Laune in Zukunft zu schonen, indem ich das Stufenweißen aus unserm Hause verbanne. Ich denke mit Schaudern daran, daß ich jeden Tag über unsern weißen Fliesenbelag und die Stufen gegangen bin, ohne daß in mir ein Gefühl dafür erwachte, wie unmoralisch das sei.«

»Ich verstehe nicht, was du immer an Armanda auszusetzen hast. Und ich hasse eine schlecht aussehende Hausfront. Nie hat ein Hausmädchen etwas gegen das Fliesenputzen gesagt oder einen Schaden dadurch gehabt.«

»Natürlich; durch ihren Einspruch würden sie nichts gewonnen und nur ihre Stellung verloren haben. Du brauchst keine Angst wegen der Hausfront zu haben. Ich will einen Vorhof mit Porphyrstufen und Alabastersäulen als Ersatz für deine geliebten Fliesen anlegen lassen.«

»Ja, das wird vernünftig sein. Weißt du, wie leicht Marmor Flecke bekommt? Armanda wird alle Tage auf den Knien liegen mit einer Flasche Terpentin und einem Flanellappen.«

»Du denkst an Tintenflecke, Marian. Du vergißt, daß es keine Tinte regnet, und daß Nelly kaum die Vorhalle auswählen wird, um ihre Romane darin zu schreiben.«

»Viele Leute bringen Tinte mit auf die Türstufen. Steuereinnehmer und Gasbeamte tragen Flaschen in ihren Taschen.«

»Laß sie ins Gesellschaftszimmer kommen, meine Liebe, oder noch besser, bezahle ihnen nichts, dann brauchen sie auch keine Quittung zu schreiben. Außerdem sind Tintenflecke ebensowohl auf weißen Fliesen als auf Marmor sichtbar. Und schließlich kommt es nicht sehr häufig vor, daß Steuereinnehmer bei ihren Besuchen die Stufen verunreinigen.«

»Jetzt weißt du ganz gut, Ned, daß du lauter Unsinn sprichst.«

»Ja, meine Liebe. Ich glaube, ich sehe Nelly am Fenster, wie sie nach uns ausschaut. Da kommt sie schon an die Tür.«

Marian eilte vorwärts und umarmte ihre Kusine. Miß McQuench sah etwas gealtert aus, und ihre Statur war vertrockneter als früher. Aber sie hatte offenbar gelernt, auf ihr Äußeres zu achten, denn ihr Hut und ihre Schuhe waren sauber und selbst elegant, was Marian in früheren Zeiten nie an ihr bemerkt hatte.

» Sie haben sich nicht im geringsten geändert«, sagte sie, als sie Conolly die Hand gab. »Ich wundere mich gerade über die Veränderung bei Marian. Sie ist schöner geworden.«

»Das hab' ich ihr den ganzen Tag gesagt, in der vergeblichen Hoffnung, sie in eine bessere Laune zu bringen. Kommen Sie in das Gesellschaftszimmer – haben Sie lange auf uns gewartet?«

»Ungefähr eine Viertelstunde. Ich habe Ihre Orgel bewundert. Ich hätte gerne versucht zu spielen, aber ich wußte nicht, ob das am Sonntag gestattet war.«

»Oh, warum hast du nicht nach Herzenslust darauf losgeschlagen? Ned erregt jeden Sonntag in der Nachbarschaft durch fortwährendes Spielen Anstoß. Armanda, bitte, das Essen so schnell wie möglich.«

»Ich liebe dieses Haus. Genau so stelle ich mir eine bequeme, moderne Wohnung vor.«

»Sie müssen lange hierbleiben, ehe Sie seine Fehler herausfinden«, sagte Conolly. »In Verona haben wir Ihren Roman gelesen. Er interessierte mich mehr als das Grab der Capuletti. Aber Marian und ich konnten uns nicht darüber einigen, welche Charaktere nach Ihrer Meinung die guten sein sollten.«

»Das war nur Neds Unsinn«, sagte Marian. »Die meisten Romane sind solch ein Schund! Ich glaube, du kannst geradesogut vom Schreiben leben, wie es Mistreß Fairfax kann.« Conolly zeigte Miß McQuench, daß er den nicht schmeichelhaften Sinn dieser Bemerkung erfaßt hatte, indem er ihr einen verschmitzten Blick zuwarf. Aber sie wandte sich als Antwort scharf von ihm ab und sprach mit Marian so herzlich, wie sie konnte.

Nach dem Essen gingen sie wieder in das Gesellschaftszimmer, das von der vordern bis zur Rückseite des Hauses lief. Marian öffnete eine große Glastür, durch die man in den Garten konnte, und setzte sich mit Elinor draußen auf eine kleine Terrasse. Conolly ging an die Orgel.

»Darf ich eine Fantasie spielen, während Sie plaudern?« fragte er. »Ich werde bei niemand Anstoß erregen: die Nachbarn halten alle Musik für geheiligt, sobald sie auf einer Orgel gespielt wird.«

»Wir haben von hier einen hübschen Blick auf die untergehende Sonne«, sagte Marian mit leiser Stimme und wandte ihre Stirne nach der kühlen Abendluft.

»Unsinn!« sagte Elinor, »wir sitzen hier nicht, um über den Sonnenuntergang zu reden oder über euer schönes Haus und dergleichen. Ich möchte wissen – Gott im Himmel! Was für ein donnerndes Geräusch diese Orgel macht!«

»Bitte, sage ihm das nicht, er liebt sie«, sagte Marian. »Wenn er sich erheben will, setzt er sich davor und macht einen Aufruhr, daß das ganze Haus zittert. Wenn ihn irgend etwas erregt hat, macht er sich auf der Orgel, auf dem Klavier oder durch Singen Luft. Wenn er dann aufhört, ist er zufrieden. Sein Geist ist geklärt, und er ist in gutgelaunter, aufgelegter Verfassung, wie ich sie mir nur wünschen kann.«

»Aber du hast doch stets die Musik geliebt. Spielt ihr nie zusammen, wie wir das taten, oder singt nicht einer bei des andern Begleitung?«

»Ich kann es nicht. Kaum, daß ich das Klavier einmal berühre, wenn er zu Hause ist.«

»Warum? Fürchtest du, du hinderst ihn an seinem Spielen?«

»Nein, es ist nicht sosehr das. Aber – es klingt sehr töricht – wenn ich versuche, in seiner Gegenwart zu spielen oder zu singen, so werde ich so schrecklich nervös, daß ich kaum weiß, was ich tue. Ich weiß, er liebt mein Singen nicht. Er glaubt, keine Engländerin könnte mit Ausdruck singen.«

»Bist du sicher, daß es nicht einfach eine Einbildung von dir ist, es klingt fast geradeso.«

»Nein, anfangs pflegte ich ihm oft etwas vorzuspielen. Ich wußte, daß er Musik liebte, und glaubte – ich arme Närrin, die ich war!« – (hier sprach Marian in einem so bitteren Tone, daß Nelly sich aufrichtete und sie scharf ansah), »es gehöre zu meinen Hausfrauenpflichten, nach dem Diner etwas Klavier zu spielen. Damals hatte er schwere Arbeit in seinem Beruf und verbrachte so viele Zeit in der City, daß er es fast aufgab, selbst zu spielen. Übrigens flogen wir damals durch ganz England, indem wir überall diese Zweiggeschäfte und dergleichen eröffneten. Er nahm mich immer mit, und es machte mir wirklich Vergnügen, so daß ich Interesse an der Gesellschaft gewann. In London war ich den Tag über viel allein, aber ich fühlte mich glücklich in der Vorfreude auf unsere hinausgeschobene Hochzeitsreise. Dann kam endlich diese paradiesische Zeit. Ned erklärte, die Gesellschaft könne jetzt, nachdem er sie großgezogen, auf eigenen Füßen stehen, und er wolle einen langen Urlaub nehmen. Wir gingen zuerst nach Paris, wo wir alle klassischen Konzerte hörten, die während unseres Aufenthalts dort gegeben wurden. Ich fand, daß er nie müde wurde, der Orchestermusik zu lauschen, und doch brummte er immer darüber. Er hielt nichts von den großen Künstlern in Paris. Dann machten wir eine Reise durch Großbritannien, und dort pflegte er, trotz seines Geschmacks für das Klassische, den Bauernliedern zu lauschen und sie aufzuschreiben. Er schien Volkslieder aller Art zu lieben, irische, schottische, russische, deutsche, italienische, gleichgültig, woher sie kamen. Da spielte ich ihm nun eines Abends in einem Gasthaus, in dem ein Klavier war, diese alte Zusammenstellung irischer Melodien vor – du weißt – ›Irische Diamanten‹ ist sie genannt.«

»O Gott! Ja, ich erinnere mich. ›Glaub' mir, mein Schatz‹, mit Variationen.«

»Ja. Er dachte, ich meinte es im Spaß: er lachte darüber und spielte eine Menge komischer Varianten, um es zu parodieren. Ich sagte ihm nicht, daß es mir Ernst gewesen, aber du kannst dir vorstellen, was ich empfand. Dann erhielt er später in Italien die Erlaubnis – oder vielmehr, er kaufte sie sich –, in einer Kirche auf der Orgel zu spielen. Es war in der Dämmerung, und ich war ermüdet vom Wandern. Und so in dem Gefühle des Ausruhens und in dem geheimnisvollen Zwielicht der alten Kirche wurde ich durch sein Spielen stark ergriffen. Ich dachte, es müßte ein Teil aus einer großen Messe oder aus einer Sinfonie sein. Ich fühlte, wie wenig ich von der Musik verstand und wie unbedeutend ihm meine schwachen Versuche erscheinen mußten, wenn er solche großen Harmonien in den Fingerspitzen hatte. Er hörte bald auf, und als ich ihm gerade erzählen wollte, wie vollendet sein Spiel gewesen wäre, sagte er: ›Welch ein abscheuliches Instrument ist doch eine schlechte Orgel!‹ Ich hatte sie natürlich für gut gehalten. Ich fragte ihn, was er gespielt habe. Als ich ihn fragte, ob es nicht Mozart gewesen sei, sperrte er die Augen auf, so daß ich, um mich zu sichern, hinzufügte, vielleicht sei es eine eigene Komposition gewesen. ›Mein liebes Kind,‹ sagte er, ›es war nur ein Zwischenspiel aus einer Oper Donizettis.‹ Er trug gerade meinen Schal und legte ihn mir, als er das sagte, in der zärtlichsten Weise um die Schulter und war den ganzen Abend so lieb zu mir, wie er konnte, um mich zu trösten. Nach seiner Meinung ist das größte Unglück, das jemand betreffen kann, wenn er sich selbst zum Narren hält. Und jedesmal, wenn ich es tue, liebkost er mich in der zärtlichsten Weise, als sei ich ein Kind, das gestolpert ist. Als wir dieses Haus bezogen und die Orgel bekamen, begann er fortwährend zu spielen, und ich übte am Tage auf dem Klavier, um mit ihm Duetts zu spielen. Aber obgleich er stets bereit war, wenn ich es vorschlug, war er dann doch ganz anders, als wenn er für sich allein spielte. Er war ganz Auge und Ohr, und im Augenblick, wenn ich eine falsche Note spielte, nannte er die richtige. Dann spielte ich gewöhnlich noch schlechter und konnte nicht mehr weiter. Nie, daß er seine Geduld verlor oder sich beklagte; aber ich fühlte, daß er mich vorwärtsdrängte und zurückhielt, oder daß er mich etwas lehren wollte, was ich nicht begriff. Schließlich gab er es verzweifelt auf und spielte mechanisch nach den Noten, die vor ihm lagen, indem er die ganze Zeit an etwas anderes dachte. Ich übte fleißiger und versuchte es von neuem. Ich dachte zuerst, es sei mir gelungen, denn unsere Duetts gingen ruhig fort, und wir blieben immer zusammen. Aber ich entdeckte – ich glaube instinktiv –, daß er, anstatt einen musikalischen Genuß zu haben, mir nur einen Gefallen erwies. Er glaubte, ich spielte gerne Duetts mit ihm, darum setzte er sich neben mich und begleitete mich, gleichgültig, was es war.«

»Mein Gott! Warum läßt er dich nicht Rubinstein spielen, wenn er so außerordentlich wählerisch ist?«

»Mir fehlt nicht sosehr die technische Fertigkeit, es ist etwas anderes – ich kann nicht sagen, was. Ich fand es eines Abends, als wir bei Mistreß Saunders auf Besuch waren. Sie ist unheilbar kokett und war ganz sicher, sie hätte Ned erobert, der stets mit jeder tändelt, die ihn nur anhören will.«

»Ein hübscher Ehemann!«

»Er tut es nur, um sich lustig zu machen, in Wirklichkeit macht er sich nichts aus ihnen. Manchmal wollte ich, er täte es, obgleich es schon so aufreizend genug sein kann. Viel schlimmer ist es, daß ich ihn durch keine Art von Flirten ärgerlich machen könnte. Also um auf Mistreß Saunders zurückzukommen: die Scotts von Putney waren da, und Neds erste Bemerkung mir gegenüber war: ›Wer ist die Frau mit dem schönen Gang?‹ Es war Mistreß Scott; du weißt, du sagtest immer, sie ginge wie ein Panther. Eine Stunde später – ich sprach gerade mit Mister Scott – kam dieser ekelhafte Ernest Porter heran und sagte, Mistreß Scott wolle etwas singen. Mister Scott blickte erstaunt auf, und da ich sah, daß er gerne in das andere Zimmer gegangen wäre, bat ich ihn, mich dorthin zu begleiten. Als wir hineintraten, sang Mistreß Scott ›Caller Herrin‹ in jenem gewöhnlichen schottischen Akzent, der manchmal in ihrer Unterhaltung zum Vorschein kommt. Ned begleitete sie auf dem Klavier. Alles strömte herbei, um zu lauschen, und es war ein großer Beifall. Der junge Porter, der stets über sie gelacht hatte, war genötigt, um seinen Ruf als Kenner zu bewahren, sie nach Beendigung des Vortrages in den unsinnigsten Ausbrüchen zu loben. Ich war nicht sehr höflich gegen ihn, denn Mistreß Scotts Singen war nicht in dem Maße außerordentlich, und er verstand jedenfalls nichts davon, ob es gut oder schlecht gewesen. Sie ist so gewöhnlich und alltäglich, wie eine Frau nur sein kann. Ich glaube nicht, daß der Ausdruck ihres Gesangs aus einem echten Gefühl kommt. Ich hörte, wie Ned zu ihr sagte – er konnte mich nicht sehen –: ›Ich danke Ihnen, Mistreß Scott, keine Engländerin kennt das Geheimnis, eine Ballade zu singen, so wie Sie es tun.‹ Ich verstand sehr gut den Sinn dieser Worte. Ich kenne das Geheimnis nicht. Dann kam Mistreß Scott zu mir und sagte: ›Mister Conolly ist ein sehr hartnäckiger Mann. Er überredete mich, ihm zu zeigen, wie man ein kleines Lied in Schottland singt, und ich stand auf, ohne mir dabei etwas zu denken. Und sehen Sie, jetzt habe ich zum erstenmal in meinem Leben in einer Gesellschaft ein reguläres Volkslied gesungen.‹ Mister Scott, der nach Beendigung des Vortrages sehr erstaunt war, sagte mir: ›Ihr Gatte muß ein tüchtiger Mann sein, da er Harriet überredet hat, etwas zu tun, was sie gar nicht beabsichtigte.‹ Und ich sah, wie er Ned mit einer Art von eifersüchtigem Grauen ansah. Auf dem ganzen Wege nach Hause redete Ned über Mistreß Scott, und ›Caller Herrin‹ spielte er viermal den nächsten Tag. Das war das Ende meiner häuslichen Musikkarriere. Ich habe seitdem nie wieder für ihn gesungen, ein oder zweimal ausgenommen, als er mich bat, den Eindruck einer Stelle in einem seiner Notenbücher zu probieren.«

»Und du singst auch nicht mehr, wenn du ausgehst, wie du das früher tatest.«

»Nur, wenn er nicht dabei ist, oder wenn mich die Leute zwingen. Wenn er im Zimmer ist, werde ich so nervös, daß ich kaum das leichteste Lied singen kann. Er bietet es mir jetzt niemals an, mich zu begleiten, und geht im allgemeinen hinaus, wenn man mich bittet, zu singen.«

»Vielleicht bemerkt er den Eindruck, den seine Anwesenheit auf dich hat.«

»Und wenn schon, er müßte dableiben. Er hatte es anfangs gern, wenn ich ihm lauschte.«

»Weißt du, Marian, das klingt alles nicht sehr ermutigend. Ich fürchte mich fast, die Frage, die ich an dich stellen wollte, auszusprechen. Erinnerst du dich, wie wir uns stritten, ob die Ehe etwas Verkehrtes sei oder nicht? Hast du es herausgefunden?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das klingt gerade, als ob du es wohl wüßtest. Bist du ganz sicher, daß du heute abend nicht schlecht gelaunt bist? Er zog dich mit deiner schlechten Stimmung auf, als ihr hereinkamt. Vielleicht habt ihr euch in Kew gezankt?«

»Zanken! Er zanken! Ich kann dir unser Verhältnis nicht erklären, Nelly. Du würdest mich nicht verstehen.«

»Vielleicht versuchst du es doch. Hat er dich zum Beispiel noch so gern wie vor der Hochzeit?«

»Ich weiß es nicht.«

Miß McQuench fuhr ungeduldig auf.

»Wirklich, ich weiß es nicht, Nelly. Er hat sich irgendwie verändert – ich weiß nicht ganz, worin. Anfangs war er gar nicht zurückhaltend. Er machte Bemerkungen über die Leute und sprach mit mir offen über alles, was ihm in den Sinn kam. Er war immer freundlich, murrte nie über das Essen und verlor nie seine Selbstbeherrschung. Aber – nicht daß er gerade gewöhnlich gewesen wäre, das war er nicht im geringsten – aber er war sehr offen und ungeniert und rücksichtslos in seiner Sprache – irgend etwas, was mir nicht gefiel. Das muß er herausgefunden haben – er sieht und fühlt alles instinktiv – denn er wich wieder in seine alte Art zurück und wurde rücksichtsvoller und aufmerksamer, als er es jemals gewesen war. Dieser Wechsel hat mich zuerst sehr glücklich gemacht, aber ich glaube nicht, daß er ganz verstand, was ich wollte. Ich habe nie etwas dagegen gehabt, daß er mich mit auf seine Geschäftsreisen nahm, aber er geht jetzt immer allein und erwähnt nie vor mir seine Arbeit. Er überlegt sorgfältig, was er zu mir spricht. Natürlich hat er recht, wenn er über andere nichts Böses sagt, aber ein Mann sollte doch nicht gegen seine Frau so zurückhaltend sein wie gegen fremde Leute. Er hat es überhaupt aufgegeben, mit mir zu reden, das ist die volle Wahrheit, was er auch dagegen sagen mag. Wenn wir uns unterhalten, ist es fast in derselben Art, als säßen wir noch im Laboratorium in Sunbury. Natürlich wird er manchmal vertrauter. Aber dann scheint es nie im Ernst zu sein. Wenn er mir den Hof macht, scheint er mich aufzuziehen mit seiner halb spielerischen und halb spottenden Art.«

»Du bist vielleicht schwer zufriedenzustellen. Ich erinnere mich, wie du immer sagtest, ein Ehemann müßte ebenso zärtlich und respektvoll nach der Hochzeit wie vorher sein. Du hast den armen Ned soweit gebracht, und jetzt bist du nicht zufrieden.«

»Nelly, wenn es einen Gegenstand gibt, über den die Mädchen in törichter Unwissenheit leben, dann ist es das eheliche Glück. Ein Verliebter, ein Bräutigam, ein Mann, dem die Maienluft zu rauh für dein Antlitz ist, ist zweifellos sehr angenehm, aber er ist kein Ehemann. Ich will eine Frau sein und kein zerbrechlicher Schmuck, den man in einem Glaskasten aufbewahrt. Er würde irgendeinen seiner Pläne eher dem Urteil einer Puppe als meinem Urteil unterwerfen. Wenn er mir eine ernsthafte Geschäftsangelegenheit mitteilen muß, tut er das mit solchen Entschuldigungen, als setzte er mich einer rohen Behandlung aus.«

»Ja, liebe Marian, du siehst, wenn er es anders versucht, hast du es auch nicht gern. Was soll der unglückliche Mensch tun?«

»Ich weiß es nicht. Es war wohl unrecht von mir, daß ich vor seinem Vertrauen zurückwich. Ich tue immer unrecht. Es scheint mir, je mehr ich versuche, etwas richtig zu machen, desto mehr Unheil richte ich schließlich an.«

»Das ist alles sehr traurig, Marian. Wie müßte er denn sein, um dich glücklich zu machen?«

»Oh, da gibt es so viele kleine Dinge. Er macht mich eifersüchtig auf alles und jeden. Ich bin eifersüchtig auf die Männer in der City – ich war es dieser Tage auf den Sanitätsinspektor – weil ihn deren Unterhaltung interessiert. Ich weiß, er bleibt länger in der Stadt, als es nötig wäre. Es ist eine Erleichterung für mich, wenn ich abends ausgehe oder wenn ich zweimal in der Woche ein paar Besuche habe. Aber ich bin ärgerlich, weil ich weiß, daß es auch für ihn eine Erleichterung ist. Ich bin eifersüchtig selbst auf diese Orgel. Oh, wie ich diese Bachfugen hasse! Hörst du die Klänge, die mich rasend machen, dieses Sichwinden, Rollen und Kämpfen, bis sich alles in ein gewaltiges Dröhnen vermischt. Er kann mit Bach auskommen, ich kann es nicht. Ich habe mich sogar soweit erniedrigt, auf andere Frauen eifersüchtig zu sein – auf solche Frauen wie Mistreß Saunders. Er verachtet sie, er spielt mit ihr ebenso gewandt, wie sie glaubt mit ihm zu spielen. Aber er plaudert gerne mit ihr, und so schwatzen sie den ganzen Abend zusammen, ohne sich den geringsten Zwang aufzuerlegen. Sie hat keine Vernunft, sie redet absoluten Unsinn über Kunst und Literatur, sie flirtet sogar noch geschmackloser als damals, als sie Belle Woodward war. Aber sie ist schlagfertig wie die meisten Irländer, und sie erlaubt sich eine rohe Art, zu scherzen, gegen die Ned viel zu tolerant ist, obgleich er eher sterben würde, als sie sich mir gegenüber zu erlauben. Dann ist da Mistreß Scott, die geradeso schlimm wie Belle ist und viel geistvoller. Ich hörte es, wie er sie um ihre Meinung über eine Geschäftsangelegenheit fragte – von der ich natürlich nie etwas gehört hatte. Mistreß Saunders haßt Mistreß Scott und erzählt Ned, sie sei die Tochter einer alten Köchin von Mister Grosvenor aus Richmond. Ich wollte, ich wäre halb so hart und stark und selbständig, wie sie ist. Ihr Mann würde ohne sie nichts sein.«

»Ich fürchte, ich habe recht gehabt in dieser ganzen Sache, Marian. Heiraten ist ein Fehler. Etwas an dieser Einrichtung ist durchaus verkehrt. Wenn ihr zwei, du und Ned, nicht glücklich sein könnt, kann es kein Paar auf der Welt.«

»Wir wären vielleicht ganz glücklich, wenn –« Marian schwieg, um ein Schluchzen zu unterdrücken.

»Jeder wäre glücklich, wenn –. In einem Wenn liegt wenig Trost. Du könntest es nicht besser haben, wie du es hast, außer du müßtest wieder Marian Lind sein. Denk' an all die Frauen, die ihre Seele hingäben für einen Mann, der nicht trinkt, der sie nicht beschimpft, der sie nicht schlägt, der nicht verdrossen ist, wenn er eine halbe Minute auf etwas warten muß. Du hast keine solche Quälgeister von Kindern –«

»Ich wollte, ich hätte Kinder. Das würde uns ein gemeinsames Interesse geben. Wir haben oft Lucy, Marmadukes kleine Tochter, hier, und Ned scheint sie gern zu haben. Sie ist ein sehr mutiges, kleines Ding.«

»Ich habe Marmaduke vorige Woche gesehen. Er war nicht halb so fröhlich als sonst.«

»Er hat jetzt ein möbliertes Zimmer in Westminster und kommt nur gelegentlich hierher, um Lucy zu sehen. Ich fürchte, sie hat sich das Trinken angewöhnt. Ich glaube, sie geht nach Amerika. Ich hoffe es, denn es quält mich, wenn ich an sie denke.«

»Spricht dein – dein Ned jemals von ihr?«

»Nein. Früher ja – ehe er sich so verändert hat. Jetzt erwähnt er sie niemals. Still! Da kommt er!«

Das Orgelspiel hatte aufgehört, und Conolly kam heraus und stand zwischen ihnen.

»Wie gefällt Ihnen mein Tröster, wie ihn Marian nennt?«

»Meinen Sie die Orgel?«

»Ja.«

»Ich habe Ihnen nicht zugehört.«

»Sie hätten es tun sollen. Ich habe die große Fuge in A-Moll ausdrücklich zu Ihrer Unterhaltung gespielt. Sie haben doch die Übersetzung von Liszt eingeübt. Die Orgel ist nur gelegentlich mein Tröster. Meistens treibt mich die Gewohnheit und ein gewisses Zucken in den Fingerspitzen zu ihr hin. Marian ist mein wirklicher Tröster.«

»So hat sie mir gerade erzählt«, sagte Elinor. Conolly starrte Marian an. Sie errötete und blickte vorwurfsvoll auf ihre Kusine, die hinzufügte: »Sie müssen aber sicher eine Last für die Nachbarn sein.«

»Wahrscheinlich«, sagte Conolly.

»Ich glaube, du solltest nicht soviel des Sonntags spielen«, sagte Marian.

»Du hast recht.« Marian fuhr zurück. »Wenn die Nachbarn ihre Kirchenglocken schweigen lassen und Vergnügungslokale öffnen, dann will ich vielleicht meine Orgel zuschließen. Bis dahin aber nehme ich mir die Freiheit, den Ruhetag mit allen Mitteln zu feiern, die mir die religiösen Leute nicht verbieten können.«

»Bitte, Ned, fang nicht an, über Religion zu reden.«,

»Meine Art, zu denken, ist zu derb für Marian, Miß McQuench. Ich gebe zu, daß es auf den ersten Blick nicht hübsch oder gefühlvoll erscheint, aber ich kann nicht verstehen, wie selbst Marian ihre verehrten liberalen Geistlichen erträgt, Ungläubige, die weder zu leugnen noch zu glauben wagen, weil sie sich gleichzeitig sowohl die Volksgunst als auch die Einnahmen durch die Kirche erhalten wollen.«

»Was meinen Sie damit: selbst Marian?« fragte Elinor scharf.

»Ich hätte sagen sollen, ›Marian, die tolerant und gütig gegen jeden und alle ist‹. Hoffentlich haben Sie mir vergeben, daß ich sie aus Ihrer Gesellschaft herausgerissen habe, Miß McQuench. Sie beginnen einen scharfen Ton gegen mich anzuschlagen. Ich fürchte, sie hat Ihnen von unserm Zanken und von meinen vielen häuslichen Mängeln erzählt.«

»Nein«, sagte Elinor. »Soweit ich nach ihrem Bericht urteilen kann, sind Sie ein unveränderlich liebenswürdiger Ehemann.«

»Wirklich! Hm! Wollen Sie nicht etwas Tee trinken?«

»Ja.«

»Bleib ruhig sitzen, Marian, ich werde ihn bestellen gehen.«

Als er fort war, sagte Marian: »Nelly, um Himmels willen, sage nichts, was die kleinste Entfremdung zwischen uns herbeiführen könnte. Ich hänge an ihm mit Herz und Seele, und du mußt mir helfen. Solche scharfen Worte, wie du sie ihm sagtest, verletzen mich grausam, und er ist scharfsinnig genug, um jedes Wort zu erraten, das ich dir über ihn gesagt habe.«

»Wenn ich mich nicht enthalten kann, Unheil anzurichten, muß ich fortgehen«, sagte Elinor. »Glaube nicht, ich sei aufgebracht. Ich spreche ganz ernsthaft. Ich habe eine unglückliche Zunge, und meine Art ist eine solche, wenn ich sehe, daß ein Krug gesprungen ist, dann bin ich eher geneigt, ihn ganz zu zerbrechen, als ihn zu verkitten und nachher sorgfältiger zu behandeln. Aber ich hoffe, eure Ehe ist noch kein gesprungener Krug. Dein Ned erregt in mir das Gefühl, als sei ich ein Kind, mit dem er spielen will. Das macht mich aufsässig. Er hält mich zweifellos für ein zänkisches Weib.«

»Hier kommt der Tee«, sagte Conolly zurückkehrend. » Ecco la tazza! Ihre Ankunft hat mich in gute Laune versetzt, Miß McQuench, und darum will ich Ihr Gepäck hinauftragen. Ich lasse mein häusliches Glück in Ihrer Hut.«


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