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Sechzehntes Kapitel

Es war eine mondhelle Nacht. In einer menschenleeren Straße in Paris wurde plötzlich eine Tür geöffnet, und drei Personen wurden gewaltsam herausgedrängt mit Gerauf und Fluchen. Eine von ihnen war eine Frau, elegant gekleidet, aber mit von Trunk und Erregung gerötetem Gesicht. Die beiden andern waren ein gelenkiger, starkknochiger, hübscher junger Engländer, von vielleicht achtzehn oder zwanzig Jahren, und ein schmächtiger Franzose mit aufgewichstem Schnurrbart und lasterhaftem Gesichtsausdruck. Der Engländer und das Frauenzimmer waren erhitzt und berauscht, ihr Begleiter war wütend, hatte aber seine Selbstbeherrschung nicht verloren. Im Moment, als sie die Türschwelle überschritten, wurde die Tür hinter ihnen zugeworfen, und der jüngere Mensch begann, ohne auf den Strom schmutziger Ausdrücke zu achten, deren sich das Frauenzimmer bediente, in wilder Wut gegen den Türrahmen zu treten.

»Pah!« sagte das Frauenzimmer, indem sie sich mit einem schrillen Lachen beruhigte. »Komm, Anatole.« Und sie zog ihren Landsmann fort, der das Treten gegen die Tür höhnisch beobachtete.

»Hallo!« schrie der Engländer, indem er ihnen nachrannte. »Hallo, Sie! Diese Dame geht bitte mit mir. Ich dächte, sie hätte jetzt wohl genug von Ihnen, Sie verdammter Gauner, da sie Ihretwegen aus dem Spielsaal hinausgeworfen wurde. Sie tun am besten und verschwinden schleunigst, wenn Sie nicht wünschen, daß man Ihnen das Genick bricht – und ich würde es Ihnen in einem Augenblick brechen, wenn Sie nur ein halbwegs anständiger Gegner wären.«

»Was sagt er, Nata?« flüsterte der Franzose, indem er den andern anblickte, als ob er seine Meinung erriete.

Das Frauenzimmer schnippste gleichgültig mit den Fingern und gab eine ungefähre Übersetzung, soweit sie die Worte des Engländers verstanden hatte.

»Hör mal, kleiner Mann,« sagte der Franzose, indem er bis auf eine geringe Entfernung an seinen Gegner herantrat, »die Nachtluft bekommt dir nicht. Ich würde dir raten, nach Hause und ins Bett zu gehen, damit ich nicht deine Wärterin zu stören brauche, daß sie dich hineinbringt.«

»Was, du sagst mir, ich sollte ins Bett gehen? Du sollst mich kennen lernen,« entgegnete der junge Mann, indem er schwerfällig die Stellung eines englischen Boxers einnahm und seinem Gegner spöttisch zurief. Anatole aber gab ihm augenblicklich einen Fußtritt gegen die Nase, der ihn taumeln machte. Der Schmerz davon war so unerträglich, daß er seine rechte Hand bis zum Mund erhob. Während er so seinem Körper eine Blöße gab, drehte sich der Franzose flink herum, trat, indem er seinen Gegner über die Schulter ansah, mit der Kraft eines jungen Pferdes aus und traf ihn gegen die Magengrube, so daß er rücklings auf den Fahrdamm flog, atemlos und ohne Besinnung.

»Ha!« sagte Anatole keuchend nach seiner zweifachen Heldentat. »Prrrr'lotte! Dein englischer Boxer hat genug, Nata.«

» 'Cré matin! Du bist der reine Teufel, Anatole. Komm, wir wollen uns davonmachen.«

Eine Minute später war die Straße wieder ebenso ruhig und, abgesehen von dem bewegungslosen Körper auf dem Fahrdamm, ebenso verlassen wie vorher. Kurz darauf kam ein Wagen aus einer Seitenstraße. Es war ein geschlossener Wagen wie ein englischer Brougham, der nur einen Passagier enthielt, eine Dame mit einem weißen wollenen Schal um den Kopf und einem Theatermantel über der reichen Kleidung. Sie lag zurückgelehnt in tiefe Träumerei versunken, als das Pferd so plötzlich anhielt, daß sie vorwärts geschleudert wurde; und der Kutscher stieß einen Warnungsruf aus. Als sie sich erholt hatte, schaute sie durch die Scheibe und sah zu ihrem Entsetzen einen Mann, der sich zwischen den Füßen des Pferdes schwankend auf Hände und Kniee erhob und dann wieder auf seinen Rücken rollte mit einem langen, stöhnenden Seufzer.

»Mein Gott!« schrie die Dame, indem sie schnell die Wagentür öffnete und herausstieg. »Bringen Sie mir eine von den Lampen. Es ist ein junger Mensch. Wenn er nur um Gotteswillen nicht tot ist.«

Der Kutscher kletterte widerwillig vom Bock herunter und näherte sich mit einer Lampe. Die Dame sah ihn ungeduldig an, da sie erwartete, daß er den bewußtlosen Fremden aufheben würde. Aber er schaute nur mißtrauisch auf ihn herab und hielt sich fern.

»Können Sie ihn nicht aufrütteln, oder ihm helfen, sich zu erheben?« sagte sie unwillig.

»Da müßte ich ja ein Narr sein,« sagte der Mann. »Besser sich gar nicht mit ihm einzulassen. Das ist Sache der Polizei.«

Die Dame warf verächtlich ihre Lippen auf und neigte sich zu dem Kranken nieder, der mühsam seine Augen aufmachte. Als er ihr Gesicht sah, öffnete er seine Augen weit und schnell, indem er sie erstaunt ansah und flehend seine Hand erhob. Sie ergriff sie ohne Bedenken und sagte ängstlich:

»Ist es Ihnen jetzt besser, mein Herr? Ich hoffe, Sie sind nicht ernstlich verletzt.«

»Was ist geschehen?« fragte der junge Mann undeutlich.

»Sind Sie verletzt?« wiederholte sie auf Englisch.

»Durchaus nicht,« antwortete er in trunkener Fröhlichkeit. Dann versuchte er zu lachen, zuckte aber sofort zusammen, und kam taumelnd, indem er noch ein paarmal hinfiel, auf seine Füße zu stehen. Der Kutscher trat zurück, aber die Dame rührte sich nicht.

»Wo ist er?« fuhr er fort, indem er um sich blickte. »Pfui, du willst treten? Komm heraus, du Feigling. Komm heraus und zeige dich. Pfui, treten und dann wegrennen und sich verstecken. Du sollst Hiebe für dein Treten haben. Willst du mir entgegentreten mit deinen Fäusten wie ein Mann?« Er stieß die letzten Worte mit einem plötzlichen Wutanfall hervor und bedrohte den Kutscher, der zurückwich. Der Fremde schlug nach ihm, aber der Hieb, der in die Luft ging, schwang den Zuschlagenden selbst herum, so daß er der Dame gegenüberstand, die er erstaunt betrachtete.

»Verzeihung,« sagte er, indem er in Demut versank. »Ich bitte wirklich um Verzeihung. Der Kerl gab mir einen schrecklichen Tritt ins Gesicht, und ich weiß kaum, wo ich jetzt bin. Wahrhaftig,« fügte er mit einer verrückten Heiterkeit hinzu, »es ist wirklich eine außerordentliche Geschichte. Wo ist er nur hingekommen?«

»Von wem sprechen Sie?« sagte die Dame auf französisch.

»Von – von – je parle d'un polisson qui m'a donné un affreux coup de pied unter die Nase. J'ai un grand désir d'enfoncer ce lâche mandot.«

»Unglücklicherweise, Monsieur, hat Sie mein Pferd verletzt. Ich bin ganz verzweifelt –«

»Nein, nein. Ich sage Ihnen, es war ein Bursche mit Namen Annatoal, ein Kartengauner. Wenn ich ihn jemals wieder erwische, will ich ihm die englische Art der savate beibringen. Ich werde ihn von einem Ende von Paris zum andern treten.« Als er sprach, taumelte er gegen den Wagen und, da das Pferd unruhig auffuhr, griff er nach der Tür, um sich vor dem Hinfallen zu bewahren.

»Madame,« sagte der Kutscher, der ängstlich nach der Annäherung eines Polizeibeamten umgeschaut hatte: »sehen Sie denn nicht, daß das ein Betrunkener ist? Sie überlassen ihn am besten sich selbst.«

»Ich bin nicht betrunken,« sagte der junge Mann ernsthaft. »Ich habe getrunken, aber auf mein heiliges Ehrenwort, ich bin nicht betrunken. Man hat mich angegriffen und gegen den Kopf geschlagen, und mir ist sehr schlecht. Ich kann mich nicht genau besinnen, wie Sie hierhergekommen, aber ich erinnere mich, daß Sie mich aufhoben. Ich hoffe, Sie werden mich nicht verlassen.«

Die Dame, die durch sein knabenhaftes Aussehen und durch das kluge Vertrauen, mit dem er seine Bitte vortrug, bewegt war, fühlte sich ganz verwirrt. Sie hatte Mitleid mit ihm, wußte aber nicht, was sie mit ihm anfangen sollte. »Wo wohnen Sie?« fragte sie. »Ich will Sie gerne nach Hause fahren.«

Er wurde ganz rot. »Ich danke Ihnen außerordentlich,« sagte er, »aber tatsächlich habe ich keine besondere Wohnung. Ich muß in ein Hotel gehen. Sie sind sehr gütig, aber ich möchte Sie nicht weiter belästigen. Ich bin jetzt wieder ganz in Ordnung.« Aber er war augenscheinlich durchaus nicht in Ordnung, denn als er eine Weile vom Wagen entfernt gestanden hatte und schamerfüllt auf die Antwort der Dame wartete, setzte er sich schnell auf den Bordstein nieder und fügte, nachdem er eine Weile gestöhnt hatte, hinzu, »Sie müssen mich entschuldigen, Mrs. Herbert. Ich kann noch nicht gut stehen. Sie lassen mich jetzt am besten hier zurück; ich werde mich schon wieder erholen.«

» Tiens, tiens, tiens! Sie scheinen mich zu kennen, Monsieur. Ich erinnere mich auch Ihres Gesichts, aber nicht Ihres Namens.«

»Jeder kennt Sie. Sie werden mich vielleicht bei Mrs. Phipson in London gesehen haben. Ich war dort, als Sie sich auch dort befanden. Aber wirklich, Sie fahren jetzt am besten weiter. Dies Haus ist eine Spielhölle, jede Minute können Leute herauskommen. Lassen Sie Ihren Wagen nicht gesehen werden, indem Sie hier noch verweilen.«

»Aber es gefällt mir gar nicht, daß ich Sie hier allein und verletzt zurücklassen soll.«

»Sorgen Sie sich nicht um mich, es geschieht mir ganz recht. Außerdem hätte ich wirklich lieber, wenn Sie gingen.«

Sie wandte sich widerstrebend nach dem Wagen, setzte ihren Fuß auf den Tritt und schaute zurück. Er starrte verloren nach ihr hin. »Aber es ist hartherzig!« rief sie aus und kehrte zurück. »Kommen Sie, Monsieur, ich darf Sie in solch einer Lage nicht zurücklassen: es ist durch mein Pferd gekommen. Ich will Sie irgend wohin bringen, wo man sich Ihrer annimmt, bis Sie wieder hergestellt sind.«

»Es ist außerordentlich gütig von Ihnen,« murmelte er, indem er sich schwankend erhob und zur Wagentür ging, die er hielt, während sie einstieg. Er folgte und war im Begriff sich schüchtern auf den Vorderplatz zu setzen, als der Kutscher, der übelgelaunt seine Peitsche gebrauchte, das Fahrzeug in Bewegung setzte und ihn auf den leeren Platz neben Aurélie schleuderte. Er stieß eine Verwünschung aus und saß einen Augenblick kerzengerade da. Dann sank er zurück gegen das Kissen, bewegte seine Hand, bis er ihre Kleidung berührte, und sagte schlaftrunken: »Es ist wirklich schrecklich gütig von Ihnen.« Dann schlief er ein.

Er wurde aufgeweckt durch ein Schütteln, das ihm Kopfschmerzen bereitete. Ein altes, häßliches Weib hielt ihn bei einer Schulter, und der Kutscher, der ihn ein besoffenes Schwein schimpfte, war dabei, ihn an der anderen herauszuschleppen. Er fuhr auf und stieg aus dem Wagen, wobei ihm die beiden in rauher Weise halfen, daß er nicht vorwärts taumelte. Trotz seines Protestes, daß er allein gehen könnte, zogen sie ihn zwischen sich zur Tür hinein. Er kämpfte, um sich frei zu machen, aber die Frau war zu stark für ihn. Er wurde verächtlich in ein bescheidenes Zimmer geschleppt, wo man ein Sofa für ihn zurecht gemacht hatte mit ein Paar Decken und einem Frauenkopftuch. Hier wurde er gezwungen, sich hinzulegen, und gebeten, ruhig zu sein, bis der Doktor käme. Der Kutscher zog dann ab mit einem Abschiedsfluch, und man hörte ihn draußen mit ehrerbietiger Stimme der Dame berichten, was er getan hatte. Es sprach auch noch eine andere Person, aber sie sprach im Tone der heftigsten Einwendungen, und in einer seltsamen Sprache.

»Hören Sie mal, Frau,« sagte der junge Mann vom Sofa her. »Sie brauchen sich nicht die Mühe zu machen, nach dem Doktor zu schicken. Mir fehlt nichts.«

»Ruhig, dummer Narr,« schnatterte das alte Weib. »Ich habe andere Sachen zu tun, als auf dein Geschwätz zu hören. Leg dich sofort hin.«

»Zum Teufel werd ich das!« sagte er, indem er die Decken forttrat und sich aufsetzte. »Können Sie irgendwo um diese Zeit Sodawasser kaufen?«

»O, der Undankbare. Gehorchst du so der gütigen Dame, die dir geholfen hat. Pfui!«

»Was gibt es, Madame,« sagte Aurélie, die hereintrat.

»Ich bat sie nur, nicht nach dem Doktor zu schicken. Ich habe keine Knochen gebrochen, und ein Doktor nützt mir nichts. Bitte, holen Sie keinen. Wenn ich ein bißchen klares Wasser – oder vielleicht Sodawasser zum Trinken hätte, würde ich wieder ganz imstande sein.« Während er sprach, erschien eine alte Dame hinter Aurélie. Sie schien an einer starken Erkältung zu leiden, denn sie hatte über ihr Gesicht ein rotes Taschentuch gebunden, was ihr ein grimmiges Aussehen gab, als sie übel gesinnt ihn anschaute.

»Ich werde Ihnen was zu trinken bringen,« sagte Aurélie ruhig. »Mama,« fügte sie hinzu, indem sie sich zu der älteren Dame wandte, »bitte, geh wieder zu Bett. Dein Gesicht wird wieder geschwollen sein, wenn du im Zug stehst. Ich brauche nur noch diesem jungen Herrn das Verlangte zu bringen.«

»Der junge Mann hat hier nichts verloren,« sagte die Dame. »Du bist töricht, Aurélie, und schrecklich eigensinnig.« Dann verschwand sie. Der Fremde errötete und versuchte sich zu erheben, aber Aurélie, die auch rot geworden, beruhigte ihn durch eine Handbewegung, während das alte Weib ihm eine Faust machte. Aurélie ging dann hinaus, indem sie versprach zurückzukommen und ließ ihn allein mit dem Weib, die die Gelegenheit benützte, um wieder mit ihren Schmähworten zu beginnen, die aber zu massiv waren, als daß die englischen Ohren des Patienten sie verstanden hätten.

»Sie können ruhig Ihren Mund halten,« sagte er, als sie zuletzt wegen einer Antwort schwieg, »denn ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen.«

»Dann sprich, du Lump,« wiederholte das Weib, »was machtest du auf der Straße, als du unter die Füße des Pferdes kamst?«

» Je m'étais évanoui.«

»Wie? Ah, ich verstehe. Aber warum? Was brachte dich in eine solche Lage?«

» N'importe. C'est pas convenable pour une jeune femme d'entendre des pareilles choses. Das müßte Sie verletzen, wenn Sie das verstehen.«

»Ah, du machst dich über mich lustig. Weißt du, Ruchloser, daß du in meiner Wohnung bist, und daß ich das Recht habe, dich zur Tür hinaus zu werfen, wenn ich will. Heh?«

» Votre discours se fait très pénible, ma mère. Voulez vous avoir la bonté das Maul zu halten?«

»Was heißt das?« fragte das Weib getroffen durch das unbekannte Wort.

»Oh, Sie reden zu viel,« sagte Aurélie, die mit etwas Sodawasser zurückkam. »Sie dürfen ihn nicht zum Reden verleiten, Madame.«

»Man braucht ihn nicht zu verleiten,« sagte das alte Weib. »Sie sind viel zu gut zu ihm, Mademoiselle.«

»Wie geht es Ihnen jetzt, Monsieur? Hoffentlich besser.«

»Ich danke Ihnen vielmals, ich fühle mich ganz glücklich. Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Warten Sie ei –« hierbei drehte er sich auf seinem Ellbogen herum, und nach einigen Kämpfen mit der Decke und seinen Kleidern, zog er aus seiner Brusttasche einige alte Briefe, die ihm alsbald aus der Hand glitten und auf den Boden flatterten.

»Besoffner Narr,« schrie die Alte, indem sie sich darauf losstürzte und wütend seine Hand zurückstieß, mit der er nach ihnen tastete. »Hier – steck sie wieder fort. Was glaubst du, daß die gnädige Frau mit deinen Briefen zu tun hat?«

»Ereifern Sie sich nicht zu sehr, Mrs. Jones,« antwortete er zuversichtlich und begann unter den Briefen herumzublättern. »Wo, zum – ich will schwören, ich hatte es diesen Mor – oh, hier ist es. Haben Sie den schon mal gesehen?« fragte er triumphierend und gab Aurélie eine Photographie.

» Tiens, das ist Adrian,« rief sie aus. »Mein Mann,« fügte sie hinzu zu der Alten gewandt, die die Erklärung hämisch aufnahm. »Sind Sie denn ein Freund von Monsieur Herbert?«

»Ich habe ihn schon als Knabe gekannt,« sagte der junge Mann. Aurélie lächelte, sie hielt ihn noch immer für einen Knaben. »Aber diese Aufnahme ist aus der letzten Woche,« sagte sie. »Ich habe grade selbst ein Bild erhalten. Hat er es Ihnen geschickt?«

»Meine Schwester hat es mir geschickt. Ich denke, Sie wissen jetzt, wer ich bin.«

»Nein, wirklich nicht, Monsieur. Ich habe Sie bestimmt gesehen, aber ich kann mich nicht Ihres Namens erinnern.«

»Sie haben mich bei Phipsons gesehen, ich sprach mit Mr. Jack. Erraten Sie es jetzt?«

Aurélie schüttelte ihren Kopf. Die Alte, neugierig, aber nicht imstande, einer Unterhaltung zu folgen, die von dem einen Teil auf englisch, von dem andern auf französisch geführt wurde, murmelte ungeduldig: »Welch ein Geschnatter! Es ist schrecklich.«

Der junge Mann blickte scheu auf Aurélie. Dann wie von einem neuen Gedanken ergriffen, sagte er: »Mein Name ist – Beatty.«

Aurélie verneigte sich. »Ja,« sagte sie, »ich habe bestimmt meinen Mann von diesem Namen sprechen hören. Es tut mir sehr leid, wenn ich daran denke, daß Ihr Mißgeschick Sie durch meinen Wagen betroffen hat. Madame: Herr Beatty wird ein Kissen gebrauchen. Wollen Sie mir die Güte erweisen, eins aus meinem Zimmer zu holen?«

Monsieur Beatty begann zu protestieren, er würde es vorziehen, so zu bleiben, wie er war. Aber er wurde durch eine Handbewegung der Alten unterbrochen, die schweigend auf ein Kissen zeigte, das auf einem Stuhle bereit lag.

»Ah, gewiß. Danke sehr,« sagte Aurélie. »Jetzt warten Sie mal. Ja, es ist gut, wenn Sie eine kleine Klingel haben, im Falle es Ihnen während der Nacht schlechter geht und Sie Hilfe nötig haben. Es steht eine auf meinem Toilettetisch, glaube ich.«

Die alte Frau schaute Aurélie einen Augenblick streng an und ging langsam hinaus.

»Jetzt, da diese Dame gegangen ist,« sagte der Patient errötend, »möchte ich Ihnen sagen, wie dankbar ich Ihnen bin für die Art, wie Sie mir geholfen haben. Wenn Sie wüßten, was ich fühlte, als ich meine Augen öffnete, während ich da auf den Steinen lag, und Ihr Gesicht auf mich herabblicken sah, Sie können es mir sicher glauben, auch ohne daß ich es besonders sage, daß ich für Sie alles tun könnte, um Ihnen meine Dankbarkeit zu beweisen. Ich wollte, ich könnte sterben für Sie. Nicht als ob das viel getan wäre, denn mein Leben ist keinen Strohhalm wert weder für mich, noch für jemand anders. Ich bin alt genug, um dessen müde zu sein.«

»Jung genug, um lebensmüde zu sein, wollen Sie sagen,« antwortete Aurélie lachend, aber doch ergriffen von seiner Ernsthaftigkeit. »Nun, ich zweifle nicht daran, daß Sie sehr dankbar sind. Aber wie kamen Sie unter meinen Wagen? Hat Sie wirklich jemand niedergeschlagen, oder haben Sie das nur geträumt?«

»Es hat mich wirklich einer niedergeschlagen. Ich kann Ihnen nicht erzählen, wie die ganze Sache kam. Es geschah mir ganz recht, denn ich befand mich, wo ich keinen Anlaß hatte zu sein – in schlechter Gesellschaft.«

»Oh,« sagte Aurélie ernst und näherte sich ihm mit dem Kissen. »Sie müssen so etwas nie wieder tun, wenn wir Freunde bleiben sollen.«

»Ich will es niemals wieder tun, so wahr mir Gott helfe!« versprach er. »Sie haben mich von aller Vorliebe für solche Dinge geheilt.«

»Richten Sie sich für einen Augenblick auf – so,« sagte Aurélie, indem sie sich über ihn neigte und das Kissen unter seinen Kopf schob. Seine Wangen röteten sich, als er zu ihr aufblickte. Dann, als sie sich wieder zurückziehen wollte, stieß er einen erstickten Ruf aus und schlang seinen Arm um sie. Indem er seine Lippen auf ihren Nacken drückte, war er dabei, sie zu küssen, als er mit einem scharfen Ächzen zurückfiel und in Schweiß gebadet da lag, zuckend vor Schmerz in seinem verwundeten Gesicht. Aurélie, erstaunt und schwer beleidigt, stand aufgerichtet da und betrachtete ihn voll Unwillen.

»Ah,« sagte sie. »Das war eine unwürdige Handlung. Sie, dem ich zu Hilfe gekommen bin, meines Gatten Freund! Mein Gott, ist es möglich, daß ein englischer Gentleman so niedrig sein kann!«

»Verfluchter Bursche!« schrie der junge Mann. Er krümmte sich und weinte vor Schmerzen. »Geben Sie mir etwas, um diesen Schmerz zu betäuben, etwas Chloroform oder dergleichen. Schicken Sie zum Doktor. Ich werde verrückt. Oh Gott!«

»Sie verdienen das wohl,« sagte Aurélie. »Vorwärts, Monsieur, beherrschen Sie sich. Das ist kindisch.« Als er sich etwas beruhigte, außer Atem und nur noch in Zwischenpausen tief aufseufzend, wurde sie mildherziger und rief die alte Frau, die draußen zu warten schien, denn sie kam sofort.

»Er hat sich an seiner Wunde gestoßen,« sagte Aurélie mit gedämpfter Stimme. »Was können wir für ihn tun?«

Die Frau zuckte mit den Achseln und wußte keinen Rat zu geben. »Er soll sich selbst helfen,« sagte sie. »Ich kann nichts für ihn tun.«

Sie standen an dem Sofa und beobachteten ihn eine Zeitlang schweigend. Endlich öffnete er seine Augen, und es schien, als ob es ihm besser wäre.

»Möchten Sie etwas trinken?« sagte Aurélie kühl.

»Ja.«

»Geben Sie ihm etwas Sodawasser,« sagte sie zu der Alten.

»Es ist nicht nötig,« sagte er mit undeutlicher Stimme, indem er sich bemühte, seine Oberlippe nicht zu bewegen. »Ich brauche gar nichts mehr. Der Knorpel meiner Nase ist schrecklich empfindlich, aber der Schmerz läßt nach.«

»Es ist schon sehr spät, und ich muß mich zurückziehen, Monsieur. Können wir sonst noch etwas tun, um Ihnen Linderung zu bereiten.«

»Nichts, ich danke Ihnen.« Aurélie wandte sich zum Gehen. »Mrs. Herbert.« Sie blieb stehen. »Ich gebe zu, niemand könnte sich schlechter benehmen, als ich es getan habe. Haben Sie keine Sorge, weil ich in Gegenwart der alten Dame davon spreche: sie versteht mich nicht. Ich wünschte, Sie würden mir vergeben. Ich bin streng bestraft worden. Sie können sich nicht einmal vorstellen, welche Qual ich in den letzten zehn Minuten ausgestanden habe.«

»Wenn Sie Ihr Benehmen bereuen, wie es sich gehörte,« begann Aurélie streng.

»Ich bin beschämt darüber und über mich selbst und werde mir alle Mühe geben, es zu bereuen. Tatsächlich tut es mir auch sehr leid, daß es mir mißlungen ist. Es würde übermenschlich sein, wenn ich anders fühlte. Aber ich werde nie wieder so etwas tun.«

»Adieu Monsieur,« sagte Aurélie kühl. »Ich werde Sie nicht wiedersehen, da Sie schon fort sein werden, wenn ich aufstehe.« Und sie verließ das Zimmer mit einem Ernst, der ihn niederdrückte.

»Was hast du nun wieder angefangen, du Schurke?« sagte die alte Frau und schickte sich an, Aurélie zu folgen. »Was solltest du bereuen?«

Anstatt einer Antwort blinzelte er sie verliebt an und streckte seine Arme einladend aus.

»Du wirst mein Haus morgen verlassen,« sagte sie drohend und ging hinaus, indem sie die Lampe mitnahm. Er lachte und bereitete sich vor, zu schlafen. Aber er war durstig und ruhelos, und sein Gesicht begann ihn anhaltend zu schmerzen. Der Mond schien noch, und bei seinem Licht erhob er sich und durchstöberte leise in Strümpfen das Zimmer, indem er Kommoden und Kästen untersuchte und tragbare Gegenstände ans Fenster brachte, wo er sie besser sehen konnte. Als er alles untersucht hatte, machte er Fausthiebe nach dem Kamin zu und stellte sich vor, er nähme Rache an Anatole. Zuletzt, als er das Sodawasser ausgetrunken hatte, legte er sich wieder hin und schlief unruhig bis sechs Uhr, wo er aufstand und sich im Spiegel besah. Sein Haar war unordentlich und bestäubt, seine Lippen farblos, seine Augen entzündet. Aber der Gedanke, sein schmutziges Gesicht mit einem Handtuch zu reiben, oder es nur mit Wasser zu berühren, machte ihn vor Schmerz zucken. Sein Gesicht sah sehr schlimm aus, und da er nüchtern genug war, nunmehr sein Benehmen während der Nacht zu beurteilen, so beschloß er, sich davonzumachen, bevor jemand in dem Hause auf war. Deshalb reinigte er sich, so gut er es konnte, ohne sich dabei wehe zu tun. Aus seinen Westentaschen, die vierzehn Franken, eine englische halbe Krone, einen Korridorschlüssel, einen Bleistift und ein Retourbillett nach Charing Croß enthielten, nahm er zehn Franken und ließ sie auf dem Tisch liegen mit einem Zettel, auf den er schrieb: » Pour la belle propriétaire – Hommage du misérable Anglais.« Dann, nach einigem Nachdenken, schrieb er einen anderen Zettel, den er an Aurélie richtete.

 

»Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, weil ich mich in der letzten Nacht wie ein ganz gewöhnlicher Patron benommen habe. Aber, da ich nicht nüchtern war und durch einen hinterlistigen Hieb fast alle Besinnung verloren hatte, war ich kaum verantwortlich für mein Tun. Ich kann Ihnen niemals Ihre Güte vergelten, noch meine Undankbarkeit sühnen; aber bitte sagen Sie nichts zu Mr. Herbert, Sie würden mich sonst in endlose Unannehmlichkeiten stürzen. Ich eile frühzeitig fort, da ich jetzt, wo ich zum Bewußtsein gekommen, mich schäme, Ihnen ins Gesicht zu sehen.

Ihr wirklich dankbarer –«

Mehrere Minuten überlegte er, ob er den Zettel unterschreiben sollte. Schließlich setzte er nur den Anfangsbuchstaben C darunter. Nachdem er aus der Sodawasserflasche noch die letzten schalen und geschmacklosen Tropfen getrunken, die er während der Nacht darin gelassen, verließ er das Zimmer und schlich sich die Treppe hinunter, wobei es ihm gelang, das Haus zu verlassen, ohne daß er jemand aufweckte. Die leere Straße sah weiß und geräumig in der Morgensonne aus, und der junge Mann – nachdem er sich zuerst umgesehen, ob auch niemand da war, der sein Beginnen mißverstehen würde – ergriff die Flucht und rannte davon, bis er um eine Ecke kam und dort einen Polizisten sah, der halb entschlossen schien, ihn als verdächtig festzunehmen. Nachdem er dieser Gefahr entgangen war, ging er weiter, bis er ein kleines Speisehaus fand, in dem einige Arbeiter frühstückten. Hier nahm er ein billiges, aber reichliches Mahl zu sich und ließ sich den Weg zur Bahn zeigen, wohin er schleunigst eilte. Ein Zug war gerade eingelaufen, als er ankam. Als er noch eine Weile da stand und die Passagiere ansah, die herausströmten, legte sich eine Hand sanft auf seinen Arm. Er wandte sich um und stand Adrian Herbert gegenüber, der ihn mit ruhigem Lächeln anblickte.

»Na, Charlie,« sagte er, »das ist also Hounslow hier? Welchen besonderen Zweig der Ingenieurkunst studieren Sie hier?«

»Wer erzählte Ihnen, daß ich in Hounslow war?« sagte Charlie grinsend.

»Ihr Vater, den ich gestern bei Mrs. Hoskyn traf. Er erzählte mir, Sie arbeiteten jetzt außerordentlich hart im Ingenieurwesen mit einem Lehrer. Ich bin betrübt, daß Ihre Anstrengungen Sie so zugerichtet haben.«

»Im Gegenteil, die Anstrengungen eines anderen haben mich so zugerichtet. Nein, ich bin auf ein paar Tage herübergekommen, um ein bißchen Abwechslung zu haben. Natürlich habe ich dem Alten nichts mitgeteilt: er glaubt, Paris ist ein Sündenpfuhl. Sie brauchen ihm ebenfalls nichts davon zu sagen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Ich denke, ich bin zu diskret für so etwas. Wußten Sie, daß Mrs. Herbert in Paris ist?«

»Wirklich? Nein, ich wußte es nicht. Ich dachte, sie wäre mit Ihnen in Kensington. Ich hoffe, es wird Ihnen hier gefallen.«

»Danke, wie lange wollen Sie noch hierbleiben?«

»Oh, ich kehre sofort zurück. Wenn ich nicht bald einen Zug erwische, muß ich verhungern; denn ich habe nur noch zwei oder drei Franken übrig, um mir während der Reise Butterbrote zu kaufen.«

»Ich will Ihnen aushelfen, wenn Sie in Verlegenheit sind.«

»Danke,« sagte Charlie errötend, »aber ich kann schon durchkommen mit dem, was ich habe – übrigens, wenn Sie mir fünf Franken geben könnten – vielen Dank. Ich habe einen dummen Streich gemacht diesmal, denn ich schulde Mary schon fünf Pfund wegen dieser Reise. Es war ein Fehler, daß ich nach Paris ging. Ich wollte, ich wäre zu Hause geblieben.«

»Na, schließlich haben Sie doch einige Erfahrungen gemacht für Ihr Geld. Was ist denn mit Ihrer Lippe passiert? Ist es eine Quetschung?«

»Ja, ich erhielt einen Stoß. Es ist nichts. Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihr –«

»Ganz und gar nicht. Haben Sie schon gefrühstückt? Was, schon! Sie sind ein früher Vogel. Ich dachte gerade daran, Sie aufzufordern, mit mir zu frühstücken. Ich will meine Frau nicht zu so früher Stunde stören und muß deshalb noch für eine Weile die Zeit totschlagen. Übrigens, sind Sie ihr schon einmal vorgestellt worden?«

»Nein,« sagte Charlie hastig, »aber nichts könnte mich bewegen, mich in dieser Verfassung vor ihr sehen zu lassen. Ich weiß, ich sehe ja vollständig wie ein Lump aus. Ich kann mein Gesicht nicht waschen, und ich habe gerade hier einen blond und blauen Fleck bekommen –« er zeigte auf die Magengrube – »der mich würde aufschreien machen, wenn jemand mit einer Bürste darüber riebe. Wirklich, ich würde es als eine ganz besondere Liebenswürdigkeit von Ihnen ansehen, wenn Sie ihr gegenüber nicht erwähnten, daß Sie mich getroffen haben. Natürlich nicht, weil es so wichtig ist, aber doch –«

»Natürlich, ich werde es keinem anderen gegenüber erwähnen. Adieu.«

Charlie schüttelte ihm die Hand, und sie schieden voneinander. »Jetzt,« dachte Charlie, indem er ihm grinsend nachsah und das erborgte Geld in seiner Tasche klimpern ließ, »wenn jetzt nur seine Frau ihren Mund halten wird, werde ich zufrieden sein. Ich wollte, sie wäre meine Frau.« Und mit einem Seufzer ging er langsam weiter, um sich nach den Zügen zu erkundigen.

Herbert frühstückte allein. Als sein Appetit gestillt war, versuchte er zu lesen und schaute wiederholt nach der Uhr. Er hatte beschlossen, seine Frau nicht vor zehn Uhr aufzusuchen. Aber er hatte nicht mit seiner Ungeduld gerechnet und bald überredete er sich selbst, daß halb zehn oder selbst neun passender sein würde. Schließlich kam er um zehn Minuten vor neun an und traf Madame Szczympliça allein am Tisch sitzen in einem alten karmoisinroten Morgenrock, die Haare noch gerade so, wie das Kissen sie gelassen.

»Monsieur Adrian!« rief sie aus, ganz aus der Fassung gebracht. »Ah, Sie überraschen uns. Ich hatte gerade angefangen, Kaffee zu machen für die Kleine. Sie wird entzückt sein, Sie zu sehen, gerade wie ich.«

»Lassen Sie sich durch mich nicht stören, ich habe schon gefrühstückt. Ist Aurélie auf?«

»Sie wird im Augenblick hier sein. Wie sie sich freuen wird! Geht es Ihnen gut?«

»Nicht übel, Madame. Und Ihnen?«

»Ich habe schrecklich mit dem Gesicht gelitten. Letzte Nacht war ich nicht imstande, mit Aurélie zum Konzert zu gehen. Es ist ein großes Unglück für mich, diese Neuralgie.«

»Es tut mir sehr leid. Das ist wirklich ein schreckliches Übel. Sind Sie ganz sicher, daß Aurélie nicht mehr fest schläft?«

»Ich habe ihren Kaffee gemacht, mon cher, und ich kenne sie zu gut, um das zu tun, bevor sie auf ist. Glauben Sie mir, sie wird in einem Augenblick hier sein. Ich hoffe, es war nichts Schlimmes, das Sie nach Paris gebracht hat.«

»Oh nein. Ich brauchte etwas Abwechslung; und da Sie so nahe kamen, beschloß ich, hinüberzufahren und Sie zu treffen. Sie haben ganz Europa durchreist, seit ich Sie zuletzt sah.«

»Oh, welche Erfolge, Monsieur Adrian! Sie können sich nicht vorstellen, wie sie in Budapest empfangen wurde. Und ebenso in Leipzig! Es war – da ist sie!«

Aurélie blieb an der Schwelle stehen und betrachtete Adrian mit wechselnder Miene des Erstaunens, des Widerspruchs und der Resignation. Er näherte sich ihr und küßte ihr sanft die Wangen, voll Verlangen, sie in seine Arme zu schließen, aber zurückgehalten durch die Anwesenheit ihrer Mutter. Aurélie hielt auf dem Wege zum Tische gerade so lange Zeit, um seine Begrüßung zu erdulden, dann setzte sie sich nieder und rief aus:

»Ich wußte es! Ich wußte es von seinem letzten Briefe! Oh, du Verrückter! Konnte dich denn Mrs. Hoskyn nicht noch für eine weitere Woche trösten?«

»Wie gleichgültig sie ist!« sagte Madame Szczympliça. »Und dabei freut sie sich herzlich, Sie zu sehen, Mr. Adrian.« Diese Einmischung seiner Schwiegermutter, obgleich sie in freundlicher Absicht gemacht wurde, war Herbert unangenehm. Er lächelte höflich, aber er wandte sich etwas von ihr ab und Aurélie zu.

»Und so hast du nur Triumphe gehabt, seit wir voneinander schieden,« sagte er und schaute sie innig an.

»Was weißt du von meinen Triumphen!« sagte sie und erhob ihren Kopf. »Du hast nur Verständnis für die Melodien, die man auf den Straßen pfeift! In Prag hab ich die ganze Welt auf den Kopf gestellt mit Monsieur Jacques' ›Fantasie‹. Wie lange willst du dich hier aufhalten?«

»Natürlich, bis ich mit dir zurückkehren kann.«

»Eine ganze Woche. Du wirst dich bald langweilen, wenn du nicht ins Louvre oder etwas ähnliches Dummes gehst und malst.«

»Ich werde zufrieden sein, Aurélie, habe keine Angst. Aber vielleicht wirst du dich meinetwegen etwas langweilen.«

»Oh nein, dafür habe ich zu viel zu tun. Ich muß üben und zu Proben, Konzerten und Privataufführungen gehn. Nein, ich werde keine Zeit haben, an dich zu denken.«

»Privataufführungen. Willst du in Privathäusern spielen?«

»Ja. Heute nachmittag spiele ich auf einem Empfang der Fürstin – wie heißt sie doch, Mama?«

»Es ist gleichgültig wie sie heißt,« sagte Herbert. »Du läßt dich doch gewiß nicht bezahlen bei solchen Gelegenheiten?«

»Was! Glaubst du etwa, ich spiele umsonst vor Leuten, die ich nicht kenne – deren richtige Namen ich vergesse. Nein, ich will gerne für meine Freunde spielen, oder für die Armen, aber wenn die große Gesellschaft mich zu hören wünscht, soll sie auch bezahlen. Was siehst du mich so bestürzt an? Würdest du denn den Salon der Fürstin umsonst mit Gemälden ausstatten, wenn sie dich darum bäte?«

»Es ist nicht ganz dasselbe – zum wenigsten denkt die Welt nicht so darüber, Aurélie. Der Gedanke ist mir nicht angenehm, daß du in eine Gesellschaft gehst, um für Geld die Leute zu unterhalten.«

Aurélie zuckte mit den Achseln. »Aus irgendeinem Grunde muß ich doch hingehen,« sagte sie. »Wenn sie mich nicht bezahlten, würde ich überhaupt wegbleiben. Es ist der Beruf eines Künstlers, so was zu tun.«

»Mein lieber Mr. Adrian,« sagte Madame Szczympliça, »sie ist stets der angesehenste Gast. Die distinguiertesten Personen drängen sich zu ihr hin, und die schönsten Frauen werden ihretwegen im Stiche gelassen. Es ist immer ein wirklicher kleiner Hof, den sie hält.«

»Es ist gerade wie ich dachte,« sagte Aurélie. »Du bist über den Kanal gekommen, nur um mit mir zu zanken.« Herbert versuchte zu widersprechen, aber sie fuhr fort, ohne ihn zu beachten. »Mama, bist du fertig mit Frühstücken?«

»Ja, mein Kind.«

»Dann geh und zieh diese schreckliche Robe aus. Laß uns allein. Wenn wir uns zanken müssen, dann ist doch kein Grund vorhanden, daß du durch unser Streiten betrübt werden sollst.«

»Ich hoffe, Sie laufen nicht gerade meinetwegen fort,« sagte Herbert, indem er Madame Szczympliça höflich zur Tür begleitete, die er ihr öffnete.

»Nein, nein, mon cher,« antwortete sie mit einem Seufzer. »Ich muß tun, was man mir sagt. Ich werde alt, und sie wird täglich tyrannischer gegen ihre Umgebung.«

»Nun, du Unzufriedener,« sagte Aurélie, als die Tür geschlossen war, »fahre fort mit deinen Vorwürfen. Über wieviel tausend Dinge hast du dich zu beklagen? Laß uns hören, wie es dich verdrossen hat, zu hören, daß ich glücklich und erfolgreich gewesen bin, und daß du kein einziges Mal es fertig gebracht, mein Glück zurückzuscheuchen in meine – Himmel! Willst du mich aufessen, Adrian?« Er zog sie an seine Brust und küßte sie heftig.

»Du hast recht,« sagte er außer Atem. »Liebe ist immer selbstsüchtig. Jede neue Nachricht von deinen Triumphen hat in mir nur das Verlangen verdoppelt, dich wieder bei mir zu Hause zu haben. Weißt du denn nicht, was ich gelitten habe während all dieser schweren Wochen. Ich lebte in meinem Atelier und versuchte, dich aus dem Gedächtnis zu malen, aber ich brachte es nicht fertig. Mein Schaffen, das mir einst eine weitere und größere Sache zu sein schien, wie mein Gehirn sie fassen konnte, wurde mir zu einem mühseligen Handwerk. Meine Phantasie malte Einzelheiten aus unserm nächsten Zusammentreffen aus, während das Bild vergessen vor mir hing. Ich machte wohl hundert Skizzen von dir, und in meinem Zorn über ihre Mangelhaftigkeit zerstörte ich sie so schnell, wie ich sie gemacht hatte. Auch in den Abendstunden wanderte ich nur durch die Straßen und dachte an dich –«

»Oder du sehntest dich nach Mrs. Hoskyn.«

»Wer hat dir das gesagt?« fragte Herbert verwirrt.

»Ah!« schrie Aurélie lachend – ganz ausgelassen vor Vergnügen, »ich habe drauf gewettet. O dieser arme Monsieur Hoskyn! Und ich erst recht! Ist das deine Treue – das das Ende deiner Zuneigung?«

»Ich wollte, du wärest wirklich eifersüchtig,« sagte Herbert in einer Art von Verzweiflung. »Ich glaube, es wäre doch gleichgültig, wenn ich zu Mrs. Hoskyn als ihr Anbeter ginge. Warum ich zu ihr hingegangen? Einzig, weil sie der einzige Freund war, der geduldig zuhörte, während ich ohne Ende von dir sprach – sie, deren Achtung ich aufs Spiel setzte, und deren Respekt ich, wie ich fürchte, um deinethalben verloren habe. Aber ich habe jetzt ja aufgehört, vor mir selbst Achtung zu haben. Es ist mein Unglück, dich so sehr zu lieben, daß du mich wegen meines törichten Wesens geringschätzt.«

»Ja,« sagte Aurélie sanft, »du mußt versuchen, mich nicht so sehr zu lieben. Ich will dir soviel wie möglich helfen, indem ich mich ganz widerlich mache. Ich bin viel zu nachsichtig gegen dich, Adrian.«

»Du verletzt mich öfters sehr scharf, Aurélie, obgleich es nicht deine Absicht ist. Aber ich habe dich deshalb niemals weniger geliebt. Ich fürchte, dein Plan würde mich noch kränker machen.«

»Ah, ich sehe, du willst noch mehr verliebt gemacht und auf diese Weise kuriert werden.«

»Ich fürchte, ich würde dann wahnsinnig werden, Aurélie.«

»Ich werde es nicht versuchen. Ich glaube, du bist sehr unverständig, weil du soviel auf die Liebe gibst. Für mich ist sie das dümmste Ding auf der Welt. Ich ziehe die Musik vor. Aber das macht nichts, mein Liebling: ich kann dich sehr gut leiden, trotz deiner Tollheiten. Bist du nicht mein Mann? Jetzt muß ich aber hier ein Ende machen und an das Üben gehen.«

»Du darfst diesen Morgen nicht an Üben denken. Laß uns plaudern.«

»Wieso, haben wir nicht schon geplaudert. Nein, wenn ich meine kleine halbe Stunde, in der ich meinen feinen Anschlag suche, auslasse, spiele ich, wie sie alle spielen. Und das ist weder mir recht noch der Fürstin, die mir mehr bezahlt, als den andern. Man muß anständig sein, Adrian. Da ist nun dein Gesicht gleich wieder düster. Du schämst dich meiner.«

»Gerade weil ich so stolz auf dich bin, entsetze ich mich vor dem Gedanken, daß dein Talent auf den Markt geworfen wird. Aber laß uns von etwas anderem sprechen. Hast du jemand von unsern Freunden in Paris getroffen?«

»Niemand. Seit wir hier sind, habe ich noch keine englische Stimme gehört. Aber ich muß mich nicht mit Schwatzen aufhalten.« Sie nahm seine Hand, preßte sie einen Moment gegen ihren Busen und verließ das Zimmer. Herbert, verwirrt durch das Bestreben, die Freude, in die ihn ihre Liebkosung versetzt hatte, ganz zu genießen, setzte sich einen Augenblick mit klopfendem Herzen hin. Als er ruhiger geworden, nahm er seinen Hut und ging hinab, um im Sonnenschein einen Spaziergang zu machen. Er wurde an der Türe eines der unteren Räume durch die Portierfrau festgehalten, die in ihrer drohenden Faust etwas Geld und einen Papierzettel hielt, dessen Anblick sie in Raserei zu versetzen schien, denn sie schalt gröblich auf irgendeine Person, die Adrian unbekannt war. Er schaute sie mit einiger Neugierde an und war gerade im Begriff, weiterzugehen, als sie vor ihn hintrat.

»Sehen Sie mal, Monsieur,« sagte sie. »Seien Sie so freundlich, Madame zu sagen, daß mein Haus kein Hospital für Trunkenbolde ist. Und teilen Sie Ihrem Freund mit, dessen Nase jemand rechtschaffen zerschlagen hat, daß er sich ja in acht nehmen soll, noch einmal hierher zu kommen. Ich würde ihm eine schlimme Viertelstunde bereiten, wenn er es täte.«

»Mein Freund, Madame!« sagte Herbert, aufgebracht durch ihre Heftigkeit.

»Der Freund Ihrer Frau dann, den sie betrunken in ihrem Wagen um Mitternacht herbringt, der mein Sofa in Stücke tritt, der mir im Hause meines Mannes schamlose Vorschläge macht, der wie ein Dieb in der Nacht sich davonschleicht, indem er mir diese Beschimpfung zurückläßt.« Und sie hielt den Papierzettel Adrian entgegen. »Mit zehn Franken. Was sind mir zehn Franken!« Adrian, verwirrt, starrte verständnislos auf die Botschaft. »Kommen Sie, Monsieur, und sehen Sie selbst, daß ich die Wahrheit spreche,« fuhr sie fort, indem sie ihn mit einer Geste in das Zimmer brachte. »Sehen Sie hier, mein Sofa ist aufgerissen und beschmutzt durch seine Absätze. Sehen Sie, Madames feine Decke ist auf die Erde getreten. Sehen Sie das Kissen, das sie ihm mit ihren eigenen Händen unter seinen verfluchten Kopf schob –«

»Worüber sprechen Sie eigentlich?« sagte Adrian verwirrt. »Für wen halten Sie mich?«

»Sind Sie nicht Monsieur Herbert?«

»Ja.«

»Ja, ich denke auch. Gut denn, Monsieur Herbert, es ist Ihr teurer Freund, der Ihr Bild auf seinem Herzen trägt, der mich so behandelt hat.«

»Wirklich,« sagte Adrian, »ich verstehe Sie nicht. Sie sprechen von mir, – von meiner Frau – von einem Freunde von mir mit meinem Porträt.«

»Ja, dessen Nase zerschlagen ist.«

»– von allem zusammen. Was meinen Sie eigentlich? Wie Sie wissen, bin ich doch erst diesen Morgen angekommen.«

»Sicherlich, Monsieur, Sie sind einen Tag später gekommen als die Damen. Nun kam Madame letzte Nacht mit einem betrunkenen Dieb nach Hause, einem jungen englischen Flegel, der hier schlief. Er ist davongelaufen, und der Himmel weiß, was er mitgenommen hat. Er ließ mir dieses Geld zurück und die Mitteilung, in der er mich verhöhnt, weil ich seine schmählichen Verführungen verachtet habe. Dort ist der Tisch, wo er es zurückgelassen.«

Adrian, der es kaum wagte, die Frau zu verstehen, blickte auf den Tisch und sah einen Brief, der ihrer Aufmerksamkeit entgangen war. Sie folgte seinem Blick und rief:

»Was! Noch einer!«

»Er ist an meine Frau adressiert,« sagte Adrian, indem er ihn aufnahm und dabei erbleichte. »Ohne Zweifel enthält er eine Erklärung seines Benehmens. Ich erkenne die Handschrift als die eines jungen Freundes. Haben Sie seinen Namen gehört?«

»Es war ein englischer Name. Englische Namen klingen für mich alle gleich.«

»Nannte er sich Sutherland?«

»Ja, so ähnlich, ganz Englisch.«

»Dann ist es gut. Er ist noch ein törichter Junge, der Bruder eines alten Freundes.«

»Sicherlich ein starker Junge für seine Jahre. Er ist Ihr alter Freund, selbstverständlich. Es ist immer so. Ah, Monsieur, wenn ich so eine wäre, die klatschte und Unheil anrichtete, ich könnte –«

»Danke sehr,« sagte Adrian und unterbrach sie bestimmt. »Das andere kann ich von Madame Herbert hören, wenn da sonst noch was zu hören ist.« Und er verließ das Zimmer. Als er hinaustrat, sah er Madame Szczympliça, die, ohne ihn zu beachten, sich ärgerlich an die alte Frau wandte.

»Warum wird das Geräusch gemacht?« fragte sie. »Wie kann Mademoiselle üben, wenn ihr der Wirrwarr in die Ohren klingt?«

»Und warum soll ich kein Geräusch machen,« entgegnete die Frau, »wenn ich in meinem eigenen Hause beschimpft werde durch die Freunde von Mademoi–«

»Was ist los?« rief eine Stimme von oben. Die Frau wurde so still, als ob sie die Sprache verloren, und für einen Augenblick hörte man keinen Laut als den leisen Fußtritt der herabkommenden Aurélie. »Was ist geschehen?« wiederholte sie, als sie in ihren Gesichtskreis kam.

»Gar nichts,« murmelte die alte Frau verdrießlich, indem sie Adrian verständnisvoll ansah.

»Wegen gar nichts machen Sie aber wirklich viel Geräusch!« sagte Aurélie kühl und hielt inne, die Hand auf dem Treppengeländer. »Sind Sie ganz fertig, und kann ich jetzt in Frieden üben?«

»Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe,« sagte die Frau sich entschuldigend, aber noch mürrisch. »Ich sprach mit Monsieur.«

»Monsieur muß entweder hinausgehen oder heraufkommen und ruhig die Zeitungen lesen,« sagte Aurélie.

»Ich will heraufkommen,« sagte Adrian in einem Tone, daß sie ihn einen Moment erstaunt ansah. Die alte Frau zog sich unterdessen in ihr Zimmer zurück, und Madame Szczympliça, die unterwürfig ihrer Tochter zugehört hatte, verschwand ebenfalls. Aurélie, die in das Zimmer zurückkehrte, in dem sie übte, fand sich wiederum allein mit Adrian.

»Oh, es ist ein verdrießliches Weib,« sagte sie. »Alle Vermieterinnen sind so. Ich möchte in einem Palast leben, in dem stumme schwarze Sklaven kommen und gehen, wenn ich in die Hände klatsche. Sie hat mir meine Übung verdorben. Und du scheinst auch ganz aus der Fassung zu sein.«

»Ich – Aurélie: Ich traf Mrs. Hoskyns Bruder diesen Morgen auf der Bahnstation.«

»Wirklich! Ich dachte, er wäre in Indien.«

»Ich meine ihren jüngeren Bruder.«

»Ah, ich wußte nicht, daß sie noch einen andern hat.«

Herbert schaute sie entsetzt an. Sie hatte gleichgültig gesprochen und wischte einige Fleckchen Staub von der Klaviatur des Pianos, für dessen Sauberkeit sie stets äußerst empfindlich war.

»Er hat mir nichts erzählt, daß er dich gesehen, Aurélie,« sagte er, indem er sich beherrschte. »Unter diesen Umständen fand ich das sehr seltsam. Er tat sogar etwas erstaunt, als ich erwähnte, daß du in Paris seist.«

Sie vergaß die Klaviatur und blickte ihn erstaunt und etwas belustigt an. »Du hieltst das für sehr seltsam!« sagte sie. »Was träumst du wieder? Was sollte er sonst sagen, da wir uns nie im Leben gesehen haben, ausgenommen in einem Konzert? Habe ich das nicht gesagt, daß ich nicht einmal von seiner Existenz wußte, bis du es mir erzählt hast?«

»Aurélie!« rief er mit einer fremden Stimme und wurde blaß. Auch sie verlor die Farbe. Sie ging schnell zu ihm hin und sagte, indem sie seinen Arm ergriff: »Himmel! Was ist dir denn?«

»Aurélie!« sagte er, indem er seine Selbstbeherrschung wiederfand und sich ruhig aus ihrem Halten loslöste; »bitte sei ernsthaft. Wie konntest du mich, selbst im Spaß, wegen Sutherlands hintergehen? Wenn er etwas Unrechtes getan hat, werde ich dich dafür nicht tadeln.«

Sie trat einen Schritt zurück, erhob langsam ihren Kopf und zeigte eine stolzere Haltung. »Du sprichst von Hintergehen!« sagte sie. Dann, mit den Fingern nach ihm schnipsend, fügte sie unwillig hinzu, »Ah, nimm dich in acht, Adrian, nimm dich in acht.«

»Willst du mir erzählen,« sagte er verächtlich, »daß du hier nicht die Bekanntschaft Sutherlands gemacht hast?«

»Ja, das behaupte ich. Und es scheint mir, daß du es nicht glaubst.«

»Und daß er nicht die letzte Nacht hier zugebracht hat.«

»Oh!« schrie sie und fuhr etwas zurück.

»Aurélie,« sagte er mit einem drohenden Ausdruck, der sein Gesicht so sehr entstellte und böse machte, daß sie unwillkürlich zurückbebte und ihre Augen mit ihren Händen bedeckte: »Ich habe bisher niemals einen Brief geöffnet, der an dich adressiert war, aber jetzt will ich das tun. Unter Umständen ist Vertrauen nur Narrheit, und es ist Zeit, wie ich fürchte, dir einmal zu zeigen, daß meine Narrheit nicht so blind ist, wie du glaubst. Dieser Brief wurde diesen Morgen für dich zurückgelassen unter Umständen, die mir die Frau da unten erklärt hat.« Es folgte ein Stillschweigen, während er den Brief öffnete und ihn las. Dann blickte er auf und sagte traurig, da sie ihn ganz ruhig anschaute: »Es steht nichts darin, dessen du dich zu schämen hättest, Aurélie. Du hättest mir die Wahrheit sagen sollen. Es ist die Handschrift von Charlie Sutherland.«

Das überraschte sie für einen Augenblick. »Ah,« sagte sie, »der Schurke gab mir einen falschen Namen an. Aber was dich angeht, Unglücklicher,« fügte sie hinzu, als ein Hoffnungsstrahl in Herberts Augen erschien, »adieu für immer.« Und sie war fortgegangen, ehe er zur Besinnung kam.

Sein erster Trieb war, ihr zu folgen und sich zu entschuldigen, so einfach und vollständig schien ihre Erklärung, daß Sutherland ihr einen falschen Namen angegeben, ihr Leugnen zu erklären, daß sie ihn getroffen habe. Dann aber fragte er sich, wie sie dazu kam, einen jungen Mann in ihrem Wagen mit nach Hause zu bringen. Und warum hatte sie ein Geheimnis daraus gemacht? Sie hatte gesagt – er erinnerte sich jetzt –, sie hätte noch keine englische Stimme gehört außer seiner eigenen, seit sie in Paris angekommen war. Herbert war durchaus veranlagt, sich andern Männern gegenüber leicht benachteiligt zu fühlen und der leisesten Vermutung, sie würden ihm vorgezogen, zu glauben. Er klagte selbst jetzt nicht einmal sein Weib der Untreue an. Aber er hatte schon lange gefühlt, daß sie ihn nicht verstand, daß sie ihm ihr Vertrauen entzog und ihn fernhielt von denjenigen ihrer Freunde, in deren Gesellschaft sie sich glücklich und unbehindert fühlte. In dem Denken daran lag für ihn mehr Eifersucht und Quälerei, als ein roherer Mann durch eine leichtfertige Frau erlitten hätte.

Während er noch über das alles nachdachte, öffnete sich die Tür und Madame Szczympliça in Tränen trat eiligst herein.

»Mein Gott, Monsieur Adrian, was ist zwischen Ihnen und Aurélie passiert?«

»Gar nichts,« sagte Adrian mit gezwungener Höflichkeit. »Nichts wichtiges.«

»Sagen Sie mir das nicht,« entgegnete sie pathetisch. »Ich kenne sie zu gut, um das zu glauben. Sie geht weg. Sie will mir nicht erzählen, warum. Und jetzt wollen Sie es mir auch nicht sagen. Ich verstehe nichts davon.«

»Sagten Sie, sie will fortgehen?«

»Ja. Was haben Sie ihr getan? – meinem armen Kind!«

Herbert glaubte sich nicht verbunden, mit seiner Schwiegermutter wegen seines Benehmens abzurechnen, aber er fühlte, daß sie doch eine Antwort erwarten konnte. »Madame Szczympliça,« sagte er nach kurzem Nachdenken, »können Sie erzählen, unter welchen Umständen Aurélie den jungen Menschen traf, der letzte Nacht hier war?«

»Das ist es – das? Ich wußte es; ich sagte Aurélie, daß sie töricht handelte. Aber es war nichts dabei, um deswegen Streit anzufangen.«

»Ich habe das auch nicht behauptet. Wie kam es denn nun?«

»Die Sache war ganz einfach. Ich hatte Neuralgie und Aurélie duldete nicht, daß ich sie zum Konzert begleitete. Auf der Rückfahrt warf ihr Wagen diesen elenden Burschen nieder, der betrunken war. Sie wissen, wie ungestüm sie ist. Sie wollte ihn nicht so ohne Besinnung da liegen lassen, sie nahm ihn in den Wagen und brachte ihn mit hierher. Sie sorgte dafür, daß die Frau da unten ihn während der Nacht in ihrem Wohnzimmer beherbergte. Das ist alles.«

»Aber hat er sich nicht schlecht aufgeführt?«

» Mon cher, er war betrunken – betrunken wie ein Tier, und hatte eine eingeschlagene Nase.«

»Es ist seltsam, daß Aurélie mir gar nichts von solch einem merkwürdigen Vorfall erzählt hat.«

»Wieso, Sie sind erst seit einer Stunde angekommen, und das arme Kind war voll von Freude und Überraschung, Sie so unerwartet zu sehen. Es ist notwendig, vernünftig zu sein, Monsieur Adrian.«

»Die Sache liegt so, Madame, daß ich ein Mißverständnis mit Aurélie hatte, wegen dessen keiner von uns zu tadeln ist. Ich hätte vielleicht nicht an ihr zweifeln sollen. Aber unter den Umständen, denke ich, war mein Fehler zu verzeihen. Ich schulde ihr eine Aufklärung und will sie sofort geben.«

»Warten Sie noch etwas,« sagte Madame Szczympliça unruhig, als er auf die Tür zuging. »Es ist besser, wenn Sie mich zuerst gehen lassen. Ich will sie bitten, Sie zu empfangen. Sie ist außerordentlich verdrießlich.«

Herbert war dieser Vorschlag nicht angenehm, aber er stimmte ihm zu und setzte sich ans Klavier, indem er Madame Szczympliças Rückkehr erwartete. Um die Zeit zu vertreiben, und sich zu überreden, daß er für den Erfolg ihrer Sendung nicht fürchtete, spielte er leise so viele von seinen liebsten Mendelssohnmelodien, wie mit drei Akkorden begleitet werden konnte, die seine Kenntnisse von der Harmonielehre erschöpften. Zuletzt, nach langer Abwesenheit, kam seine Schwiegermutter offenbar sehr verdrießlich.

»Ich bin eine sehr unglückliche Mutter,« sagte sie, indem sie sich hinsetzte und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. »Sie will mich nicht anhören. Oh, Monsieur Adrian, was kann zwischen Ihnen vorgekommen sein, daß sie so aufgebracht ist? Sie, der Sie immer so sanft gewesen sind! – sie will mich nicht einmal Ihren Namen erwähnen lassen.«

»Aber haben Sie ihr erklärt – –?«

»Wozu etwas erklären? Sie ist nicht vernünftig.«

»Was sagt sie denn?«

»Sie sagt törichte Dinge. Erinnern Sie sich, daß sie nur ein Kind ist. Sie sagt, Sie hätten jetzt endlich Ihre wirkliche Meinung von ihr verraten. Ich erzählte ihr, nach den Umständen hätte es für eine Zeit so ausgesehen, als ob sie töricht gehandelt. Sie hätten aber jetzt Ihren Irrtum eingesehen.«

»Und dann?«

»Dann sagte sie, ihr Dienstmädchen hätte auch an ihr zweifeln und nachher ihren Irrtum aus denselben Gründen zugeben können. Oh, Aurélie ist ein seltsames Geschöpf! Was soll man anfangen mit so einem schrecklichen Kind? Sie besteht fest darauf, sie will nie wieder mit Ihnen sprechen; und ich fürchte, sie ist im Ernst. Ich kann nichts mehr tun. Ich habe geredet – gefleht – geweint. Aber sie ist eine Undankbare, ihr Herz ist von Marmor.«

Jetzt klopfte es an die Tür und ein Dienstmädchen erschien.

»Madame Herbert wünscht, Sie möchten sie zum Klaviersaal begleiten, Madame. Sie will dort üben.«

Herbert senkte nur den Blick und Madame Szczympliça verließ mit ersticktem Schluchzen das Zimmer. Herbert wußte nicht, was er tun sollte. Einen häuslichen Streit, bei dem es zu einer Einmischung der Schwiegermutter kam, hatte er immer für etwas gehalten, was beim gewöhnlichen Volk gang und gäbe sei, was aber seiner eigenen Lebensführung ganz fern läge. Und jetzt, da bei ihm dasselbe vorgekommen war, fühlte er sich erniedrigt. Er fand einen kleinen Trost in der Überzeugung, daß er selbst und nicht Aurélie Tadel verdiente. Die Überlegung, daß er schwächlich und voreilig gewesen, gab ihm nichts neues. Es würde ihm ein Vergnügen sein, es wieder gut zu machen, sie um Verzeihung zu bitten, ihr zu glauben und sie mehr zu lieben als jemals. Aber das konnte er doch nur unter der Bedingung, daß sie ihm endgültig vergab, und er fühlte sich dessen durchaus nicht sicher, wie er sich überhaupt ihrer in keinem Punkte sicher fühlte, nicht einmal ob sie ihn wirklich liebte.

In dieser seelischen Verfassung sah er ihren Wagen ankommen, hörte sie die Treppe herabkommen und an der Tür vor seinem Zimmer vorbeigehen. Während er noch schwankte, ob er zu ihr hinausgehen sollte, um mit ihr zu sprechen, fuhr sie ab. Und diese Gelegenheit erschien ihm jetzt, da sie verloren war, als eine sehr kostbare. Er ging hinunter und fragte die alte Frau, wann sie Madame Herbert zurückerwartete. Nicht eher als um sechs Uhr, erzählte sie ihm. Er ergab sich in diesen Aufschub von acht Stunden und ging in den Luxembourg, wo er so viel Genuß fand, wie er nur erlangen konnte, wenn er die Werke von Menschen bewunderte, die besser malten als er selbst. Es war ein langer Tag, aber er ging endlich zu Ende.

»Ich will Sie melden, Monsieur,« sagte die alte Frau hastig, als sie ihn um halb sieben hereinließ.

»Nein,« sagte er bestimmt und beschloß, Aurélie keine Gelegenheit zu geben, sich ihm zu entziehen. »Ich will mich selbst anmelden.« Und er ging an der Portierfrau vorüber, die geneigt schien, ihm den Weg zu versperren, aber es nicht wagte. Als er hinaufging, hörte er auf dem Klavier spielen in einer Art, die er kaum wieder erkannte. Der Anschlag war hart und ungeduldig, falsche Noten wurden angeschlagen, denen meist heftige Wiederholungen der ganzen Stelle folgten, in der sie vorgekommen. Er stand einen Augenblick lauschend an der Tür.

»Mein Kind,« sagte Madame Szczympliças Stimme, »das ist kein Üben. Du wirst mit jedem Augenblick schlechter, und du verdirbst das Instrument.«

»Laß mich in Ruh. Es ist ein verwünschtes Piano, und ich hoffe, ich ruiniere es.«

Herberts Mut sank bei dem ärgerlichen Ton in der Stimme seiner Frau.

»Du läßt dich auch durch ein Nichts aus der Fassung bringen. Sagte ich dir nicht, daß alle dachten, du spieltest wie ein Engel.«

»Du sollst das mir nicht wieder sagen. Ich spielte abscheulich. Ich will die Musik aufgeben. Ich hasse sie und werde nie wieder imstande sein, zu spielen. Ich habe es versucht, und es ist mir mißlungen. Es war ein Fehler, daß ich es jemals versucht habe.«

In diesem Augenblick trat Herbert in das Zimmer, da er die Fußtritte der Alten hörte, die heraufkam, um am Schlüsselloch zu horchen. Madame Szczympliça starrte ihn verwirrt an. Er schritt schnell durch das Zimmer und setzte sich dicht neben seine Frau am Klavier hin.

»Aurélie,« sagte er, »du mußt mir vergeben.«

»Niemals, niemals, niemals,« schrie sie, indem sie sich schnell umwandte, um ihm gegenüber zu sitzen. »Ich habe mich heute mit Schande bedeckt, und du bist schuld daran.«

»Ich bin schuld, Aurélie?«

»Nenne mich nicht Aurélie. Jetzt lachst du, weil du deine Rache gehabt hast. Bin ich nicht schon unglücklich genug, ohne dich sehen und sprechen zu müssen, der mich so unglücklich gemacht hat? Geh, erlöse mich, oder ich werde mir eine andere Wohnung suchen. Welcher Wahnsinn von mir, einer Künstlerin, zu heiraten? Wußte ich nicht, daß das immer das Ende der Künstlerlaufbahn ist?«

»Du kannst doch nicht glauben,« sagte er sehr erregt, »daß ich imstande sei, dir auch nur für einen Moment Schmerz zu bereiten. Ich liebe –«

»Ach ja, du liebst mich. Weil du mich liebst, beschimpfst du mich. Weil du mich liebst, schämst du dich meiner und machst mir Vorwürfe, weil ich für Geld spiele. Weil du mich liebst, habe ich jetzt vor der ganzen Welt eine Niederlage erlitten und die Frucht langjähriger Arbeit verloren. Dort in dem Kasten findest du die Schere meiner Mutter. Warum schneidest du mir nicht die Finger ab, da du sie doch gelähmt hast?«

Adrian, der an jedem Nerv zitterte bei diesem Vorschlag, ergriff die hingereichten Finger und drückte sie in seinen Händen. »Mein Lieb,« sagte er, »du tust mir äußerst weh mit deinen Vorwürfen. Willst du mir nicht verzeihen?«

»Du verschwendest deinen Atem,« sagte sie hartnäckig und entzog sich ihm verdrießlich. »Ich höre gar nicht, was du sagst.« Und sie begann wieder zu spielen.

»Aurélie,« sagte er nach einer Weile.

Sie spielte aufmerksam und schien ihn nicht zu hören.

»Aurélie,« wiederholte er dringend. Keine Antwort. »Höre mit dieser schrecklichen Sache auf, mein Lieb, und sieh mich an.«

Bei diesen Worten hörte sie auf. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich um und rief: »Ja, es ist schrecklich. Alles was ich jetzt berühre, ist schrecklich.« Sie schloß das Piano, während sie sprach. »Ich will es nie wieder öffnen, Mama.«

»Mein Engel,« antwortete Madame Szczympliça erschrocken.

»Sag den Leuten, daß sie es morgen abholen. Ich will es nicht einmal sehen, wenn ich in der Frühe herunterkomme.«

»Aber,« sagte Herbert, »du mißverstehst mich vollständig. Kannst du glauben, ich hielte dein Spielen für schrecklich, oder wenn ich wirklich der Ansicht wäre, ich würde so brutal sein, es zu sagen?«

»Du hältst es für schrecklich. Alle Welt findet es schrecklich. Du hast ganz recht.«

»Ich meinte nur das Stück, das du spieltest –«

»Es war eine Studie von Chopin. Sonst liebtest du Chopin. Es ist besser, wenn du schweigst: jedes Wort, das du sagst, verrät deine wirklichen Gedanken.«

Herbert machte leise das Klavier wieder auf. »Wenn es der Gesang eines Engels wäre, Aurélie, würde es für mich schrecklich sein, solange es die Versicherung aufhielte, auf die ich warte – die Versicherung deiner Vergebung.«

»Die sollst du nie haben. Auch glaube ich nicht, daß du viel darum gibst.«

»Niemals ist ein langes Wort. Du hast es diesen Abend schon sehr oft gesagt, Aurélie. Du willst niemals wieder spielen. Du willst niemals wieder mit mir sprechen. Du willst mir niemals vergeben.«

»Streite nicht mit mir. Du machst mich müde.« Sie wandte sich weg und begann zu improvisieren, indem sie empor zum Gesims blickte mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck, der aber nach und nach milder wurde und verschwand. Herbert, entmutigt durch ihre letzte Entgegnung, wagte nicht, sie zu unterbrechen, bis der letzte Zug von Mißvergnügen von ihrem Gesicht verschwunden war. Dann flehte er mit leiser Stimme: »Aurélie.« Der finstere Blick erschien sofort wieder. »Spiele ruhig weiter. Ich möchte dir nur die Versicherung geben, daß ich diesen Morgen nicht eifersüchtig war.«

»O–h« rief sie aus, indem sie ihre Hand von der Klaviatur wegnahm und sie nachlässig in ihren Schoß fallen ließ. Herbert, der durch ihren langgezogenen und betonten Ausruf zurückgehalten wurde, sah sie in stillschweigender Verwirrung an. »Mama, du hörst ihn: Er sagt, er war nicht eifersüchtig. Oh, Adrian, wie bist du gesunken, du, der du die Wahrheit selbst warst! Du lernst es gut, den Ehemann zu spielen.«

»Ich dachte, du hättest mich getäuscht, Teuerste, aber ich war nicht eifersüchtig.«

»Dann liebst du mich nicht.«

»Laß es mich erklären. Ich dachte, du hättest mich getäuscht in deinem Bericht über – über diesen verwünschten Jungen, den wir niemals wieder erwähnen wollen –«

»Ja, ja. Erinnere mich nicht daran. Du warst niedrig, du standest unter dir selbst: keine Erklärung kann das ändern. Aber mein Mißerfolg bei der Fürstin ist ein so viel größeres Unglück, daß es all das aus meinen Gedanken entfernt hat.«

»Aurélie,« entgegnete Herbert unwillkürlich.

»Was, du beginnst schon wieder zu streiten, bevor ich auch nur halb nachgegeben habe.«

»Ich weiß es zu gut,« antwortete er traurig, »daß deine Kunst dir um so viel teurer ist wie ich, als du mir teurer bist als meine eigene Kunst. Nun wohl, ich will wegen allem die Schuld auf mich nehmen, nur nicht wegen meines Verlangens nach deiner Liebe. Wirst du mir jetzt vergeben?«

Anstatt zu antworten, begann sie lustig zu spielen. Kurz darauf blickte sie über ihre Schulter und sagte: »Du willst mir versprechen, niemals wieder solch eine Sünde zu begehen?«

»Ich schwöre es.«

»Und es tut dir sehr leid?«

»Unendlich, Aurélie.«

»Dann verzeih ich dir. Wenn du wirklich bußfertig bist, werde ich dich nach dem Louvre begleiten, und du sollst mir die Bilder zeigen.«

Sie spielte ohne Unterbrechung weiter, während sie sprach, ohne auf die Küsse zu achten, die er trotz der Anwesenheit von Madame Szczympliça sich nicht enthalten konnte, auf ihre Wangen zu drücken.


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