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Alton College, Lyvern.
Geehrter Herr!
In Beantwortung Ihres geschätzten Schreibens vom 12. d. M. bin ich von Miß Wilson beauftragt, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß Mr. Jack zehn Monate lang als Lehrer der Musik und Vortragskunst hier angestellt gewesen ist. Nach Ablauf dieser Frist weigerte er sich, drei jungen Damen, die eine Anzahl abschließender Unterrichtsstunden wünschten, irgendwelche weiteren musikalischen Lektionen zu erteilen. Er hielt sich infolgedessen für verpflichtet, seinen Posten aufzugeben, wozu Miß Wilson ausdrücklich zu betonen wünscht, daß sie keineswegs auf der Ausführung dieses seines Entschlusses bestanden hat. Mit besonderer Genugtuung bestätigt sie, daß Mr. Jack in sehr anerkennenswerter Weise seine Autorität in der Schule aufrechtzuerhalten verstanden hat. Er ist ein sehr anspruchsvoller, aber gleichzeitig auch geduldiger und in hohem Maße fähiger Lehrer.
Während seines Aufenthalts am Alton College war seine allgemeine Führung untadelhaft; sein markanter persönlicher Einfluß hat ihm bei allen seinen Schülern die größte Hochachtung und die besten Wünsche für sein ferneres Wohlergehen eingetragen.
Ich empfehle mich Ihnen
Gehorsamst
Phillis Ward
Fellow of the College of Preceptors.
*
14 West Precinet, Lipport Cathedral, South Wales.
Sehr geehrter Herr!
Mr. Owen Jack ist hier gebürtig und war in seiner Jugend ein Mitglied des Kirchenchors. Er stammt aus angesehener Familie und ist persönlich als ein streng ehrenhafter Mann bekannt. Er verfügt über ein gewisses musikalisches Talent und besitzt zweifellos die Fähigkeit, Unterricht in den Anfangsgründen der Musik zu erteilen, wenngleich er, solange er unserer künstlerischen Führung anvertraut war, den höheren Formen der Komposition keine sonderliche Beachtung geschenkt hat – wie ich gleich hinzufügen will, mehr aus angeborener Unfähigkeit als aus Mangel an Energie und Ausdauer. Es soll mich freuen, wenn er eine gute Anstellung finden kann.
Ihr ergebener
John Burton,
Mus. Doc., Oxford.
Solchermaßen lauteten die Auskünfte über Mr. Jack.
An einem Donnerstagnachmittag stand Herbert vor seiner Staffelei und beobachtete auf seiner Malerei den wechselnden Lichteffekt, der, je nachdem die Wolken vom Winde vorbeigetrieben wurden, sich stetig veränderte. Zuzeiten, wenn die Farbentönung ihm besonders gefiel, wünschte er sich, daß Mary eintreten und das Bild auf den ersten Blick so sehen möchte. Je mehr der Nachmittag sich aber hinzog, desto dunkler wurde es; und als sie schließlich kam, tat es ihm leid, daß sie sich nicht lieber auf ein Uhr statt auf drei Uhr verabredet hatten.
In ihrer Begleitung befand sich ein aufgeschossener junger Mensch von sechzehn Jahren mit wasserblauen Augen, blondem Haar und einem Gesichtsausdruck gutmütiger Dummdreistigkeit.
»Wie geht es, Charlie?« fragte Herbert. »Sei vorsichtig mit den Skizzen da, alter Junge! Sie sind noch feucht.«
»Papa war sehr müde. Er hat es vorgezogen, sich ein wenig hinzulegen,« bemerkte Mary, indem sie ihren Mantel abwarf und in einem hübschen kirschroten Seidenkleide zum Vorschein kam. »Er überläßt Ihnen alle weiteren Abmachungen mit Mr. Jack. Ich hege einen gelinden Verdacht, als ob die Furcht, dem geheimnisvollen Fremden wieder Auge in Auge gegenüberzutreten, etwas mit seiner Müdigkeit zu tun gehabt hat. Ist die Lady von Shalott sichtbar?«
»Das Licht ist leider recht ungünstig,« entgegnete Herbert, der, während Mary sich langsam der Staffelei näherte, merklich zögerte.
»Du darfst nicht so ohne weiteres in dies Zimmer hineinschneien, Mary,« ermahnte Charlie. »Künstler haben immer Modelle in ihren Ateliers. Laß der jungen Dame wenigstens Zeit zum Ankleiden.«
»Jetzt bricht gerade ein Sonnenstrahl durch,« unterbrach Herbert, indem er die Worte des jungen Bengels mit absichtlichem Ernst zu übergehen schien. »Nehmen Sie lieber den ersten Eindruck in sich auf, solange die Helligkeit anhält.«
Mary stellte sich vor die Staffelei und betrachtete sie mit tiefernster Miene; dieser Gesichtsausdruck erschien ihr als bequemste Maske für das Empfinden peinlichster Enttäuschung, die ihrem ersten Blick auf die Leinwand folgte.
Eine Weile unterbrach Herbert sie nicht.
»Sie verstehen ihre Gebärde, nicht wahr?« fragte er dann mit leiser Stimme.
»Ja – sie hat gerade das Bild Lancelots im Spiegel gesehen und wendet sich jetzt um, um die Wirklichkeit zu erschauen.«
»Sie hat ein unangenehm spitzes Schlüsselbein,« bemerkte Charlie.
»Oh, nicht doch, Charlie!« rief Mary in der Befürchtung, ihr Bruder könnte ihre eigene Meinung in etwas grober Form zum Ausdruck bringen. »Mir scheint es so ganz gut.«
»Die Bewegung des Kopfes über die Schulter bringt das Claviculum nach vorn,« erklärte Herbert lächelnd. »Auf dem Bilde ist es noch weit weniger deutlich, als es in Wirklichkeit sein würde – ich habe es etwas abschwächen müssen.«
»Warum haben Sie sie denn nicht in irgendeiner anderen Stellung gemalt?« meinte Charlie.
»Weil mir daran lag, einen poetischen Moment zu erfassen – nicht an der Darstellung einer schönen Büste, mein kritischer junger Freund,« entgegnete Herbert mit ruhiger Würde. »Ich glaube, Sie stehen etwas zu nahe an der Leinwand, Miß Sutherland. Bedenken Sie auch – das Bild ist noch nicht ganz fertig.«
»Sie kann ja nichts sehen, wenn sie nicht nahe davor steht,« rief Charlie. »Sie kann überhaupt niemals nahe genug an etwas herankommen, weil ihre Nase weiter reicht als ihre Sehkraft. Ich begreife nicht, was das Fenster dort über dem Kopf des Frauenzimmers zu tun hat. In Wirklichkeit könnte man durch das Fenster doch nichts anderes sehen als den Himmel. Bei Ihnen aber kommt ein Fluß zum Vorschein und Blumen und ein Kerl aus einer Schaubude. Sind sie denn oben auf einem Berg?«
»Ich bitte dich, Charlie, sei still. Wie kannst du nur so unhöflich sein!«
»Oh, ich bin an Kritiken gewöhnt,« meinte Herbert. »Sie sind der geborene Kritiker, Charlie, da Sie ja nicht einmal einen Spiegel von einem Fenster unterscheiden können. Haben Sie niemals Ihren Tennyson gelesen?«
»Tennyson gelesen? Ich darf wohl sagen nein. Welcher vernünftige Mensch kann sich durch die Abenteuer König Artus' und seiner Ritter durcharbeiten? Man sollte doch meinen, daß Don Quixote dieser Art von Unsinn ein Ende gemacht hat. Wer ist denn diese Lady von Shalott? Eine von Ritter Lancelots oder Ritter Galahads oder Ritter Gottweißwers Freundin – denke ich.«
»Nehmen Sie's ihm nicht übel, Mr. Herbert. Er tut nur so. Im Grunde genommen weiß er es ganz gut.«
»Ich weiß es nicht!« entgegnete Charlie. »Und was noch mehr ist – ich glaube, du weißt es ebenso wenig.«
»Die Lady von Shalott,« erklärte Herbert, »hatte ein Werk zu vollenden, und während sie bei der Arbeit war, durfte sie die Außenwelt bei Strafe des Fluchs nur so sehen, wie sie sich in einem Spiegel, der über ihrem Kopf hing, darstellte. Eines Tages aber ritt Lancelot vorüber. Als sie sein Spiegelbild sah, vergaß sie den Fluch und wandte sich nach ihm um.«
»Sehr interessant und lehrreich,« meinte Charlie. »Warum sollte sie denn die Welt nicht gradeaus durch ihr Fenster angesehen haben statt links herum durch einen Spiegel? Die Tatsache, daß eine Frau ihr Leben damit zubringt, einen türkischen Teppich anzufertigen, gilt also offenbar für poetisch? Was geschah nun, wie sie sich umwandte?«
»Aha, Sie interessieren sich also doch dafür! Nichts geschah – nur der Spiegel brach entzwei und die Lady starb.«
»Jawohl – und dann bestieg sie ein Boot, ruderte mitten in einen Wasserpicknick nach Hampton Court 'runter und arrangierte ihren Leichnam in eine besondere Lage, damit Ritter Lancelot auch etwas davon abkriegen sollte. Ich habe schon einmal irgendwo ein Bild davon gesehen.«
»Sie haben also scheinbar doch eine Ahnung von Tennyson. Und nun, Miß Sutherland – was ist Ihre ehrliche Meinung?«
»Ich finde es sehr schön. Das Kolorit schien mir anfangs etwas stumpf. Ich hatte an die Böschung des Flußufers gedacht, an goldige Ährenfelder, an die flimmernde Sonne, an Ritter Lancelots Rüstung, an Waffen und Wehr und nicht an die Lady selbst. Jetzt aber, wo ich Ihren Gedankengang erfaßt habe – jetzt erkenne ich eine gewisse Trübnis und Schwäche an ihr, die ergreifend wirkt.«
»Meinen Sie, daß Schwäche in der Gestalt zum Ausdruck kommt?« fragte Herbert zweifelnd.
»Nicht gerade Schwäche,« entgegnete Mary hastig. »Ich meine – die Schwäche, die mit dem Märchen im Einklang steht – die ist in recht rührender Form versinnbildlicht worden.«
»Sie will damit sagen, daß es zu nüchtern und respektabel für sie ist,« erklärte Charlie. »Sie hat eine Vorliebe für schreiende Farben. Hätten Sie die Dame in Rot und Gold gekleidet – den türkischen Teppich in seiner ganzen Farbenpracht und Ritter Lancelot wie eine bunte Zuckerstange dargestellt – dann hätte es ihr besser gefallen. Die Rüstung würde übrigens einen viel besseren Eindruck machen, wenn sie einmal tüchtig mit Schmirgelpapier abgerieben würde.«
»Mit Rüstungen ist schlecht umzugehen, besonders in der Entfernung,« meinte Herbert. »Hier mußte ich mich sogar noch mit der Schwierigkeit abfinden, den Reflex im Spiegel nicht gar zu deutlich erscheinen zu lassen.«
»Das scheint Ihnen sehr gut gelungen zu sein,« meinte Charlie.
»Jawohl,« ergänzte Mary. »Es liegt etwas Unbestimmtes, Unwirkliches über der Landschaft und der Waffengestalt, das ich anfänglich nicht so recht verstanden habe. Je mehr ich mich bemühe, meine Urteilsfähigkeit in Kunstsachen zu üben, desto deutlicher erkenne ich meine Unwissenheit. Ich wollte, Sie würden es mir immer sagen, wenn ich törichte Bemerkungen mache. Ich glaube, es klopft jemand.«
»Es ist nur die Haushälterin,« sagte Herbert, indem er die Tür öffnete.
»Mr. Jack wünscht Sie zu sprechen,« meldete die Haushälterin.
»Großer Gott, wir müssen uns aber lang aufgehalten haben! Es ist schon vier Uhr. Jetzt bitte ich dich, Charlie, benimm dich anständig.«
»Ich glaube, wir lassen ihn ebensogut hier eintreten,« meinte Herbert. »Oder möchten Sie lieber nicht mit ihm zusammentreffen?«
»Oh, ich muß mit ihm zusammentreffen! Papa hat es mir ausdrücklich aufgetragen, persönlich mit ihm zu sprechen.«
Demgemäß wurde Mr. Jack in das Atelier eingelassen.
Diesmal trug er schon weiße Wäsche zur Schau – einen reinen Kragen; außerdem hatte er einen neuen Hut. Er machte eine formelle Verbeugung und richtete seine Blicke auf den Künstler und seine Gäste, die etwas unruhig und nervös wurden.
»Guten Abend, Mr. Jack,« sagte Herbert. »Sie haben, wie ich sehe, meinen Brief erhalten.«
»Sie sind Mr. Herbert?« fragte Jack mit seiner volltönenden Stimme, die in dem hohen Atelier einen hellen, knappen Ton annahm, wie die Mittelnoten einer Trompete.
Herbert nickte zustimmend.
»Sie sind nicht der Herr, mit dem ich am letzten Sonntage gesprochen habe?«
»Nein, Mr. Sutherland fühlte sich nicht ganz wohl. Ich handle in seinem Auftrag. Dies ist der junge Mann, von dem ich Ihnen Erwähnung getan habe.«
Charlie errötete und grinste. Und da er jetzt in den Zügen des Fremden das Zucken einiger gutmütig freundlicher Fältchen bemerkte, so ging er auf ihn zu und hielt ihm seine Hand hin.
Jack schüttelte sie herzlich.
»Ich denke, ich werde mit Ihnen sehr gut auskommen,« sagte er, »wenn Sie meinen, daß ich Ihnen als Lehrer gefalle.«
»Charlie arbeitet nie,« sagte Mary. »Das ist sein größter Fehler, Mr. Jack.«
»Du hast kein Recht, so etwas zu sagen,« entgegnete Charlie über und über errötend. »Woher weißt du denn, ob ich arbeite oder nicht? Ich kann mit Mr. Jack an den Start gehen, ohne erst durch deine liebenswürdige Empfehlung gehandikapt zu werden.«
»Dies ist Miß Sutherland,« unterbrach Herbert schnell. »Sie steht Mr. Sutherlands Hausstand vor und wird Sie über Ihre Stellung zur Familie aufklären.«
Jack verbeugte sich noch einmal.
»Zunächst möchte ich gern wissen, bei welcher Art von Studien der junge Herr meine Hilfe in Anspruch nehmen will.«
»Ich möchte gern etwas über Musik lernen – wissen Sie, über die Theorie der Musik,« erklärte Charlie. »Und dann kann ich ja sonst noch irgend etwas ochsen, was Ihnen paßt.«
»Seine Allgemeinbildung darf vor der Musik nicht zurücktreten,« warf Mary eifrig ein.
»Oh, du brauchst keine Angst zu haben, daß ich zu leicht wegkomme,« rief Charlie. »Ich denke, Mr. Jack weiß, was er zu tun hat, ohne daß du's ihm erst zu sagen brauchst.«
»Ich bitte dich, Charlie, unterbrich mich nicht. Es ist mir lieber, du gehst ins Nebenzimmer und besiehst dir die Skizzen. Ich habe allerlei Dinge mit Mr. Jack zu erledigen, die dich nichts angehen.«
»Meinetwegen,« sagte Charlie etwas verstimmt. »Ich will mich in deine Angelegenheiten nicht mischen – dann mische du dich aber gefälligst auch nicht in die meinigen. Laß du Mr. Jack sich seine eigene Meinung über mich bilden – und behalte die deine für dich!« Mit diesen Worten verließ er das Atelier.
»Wenn es sich um ein ernstes Studium der Musik handelt – ich glaube, Mr. Herbert verstanden zu haben, daß Ihr Bruder die Musik zu seinem Beruf machen will – so müssen andere Lehrfächer natürlich zurücktreten,« brachte Jack dann unvermittelt heraus. »Ein wenig Erfahrung wird uns am besten den Weg weisen, den wir mit ihm einzuschlagen haben.«
»Gewiß,« entgegnete Mary. Sie zögerte einen Augenblick und fügte dann etwas schüchtern hinzu: »Sie sind also bereit, den Unterricht zu übernehmen?«
»Ich bin soweit gern bereit,« erwiderte Jack.
Mary sah etwas unruhig zu Herbert hinüber.
»Da wir uns nun über diesen Punkt geeinigt haben,« meinte dieser lächelnd, »so bleibt, wie ich annehme, nur noch eine Frage – die Frage der Bedingungen.«
»Verzeihen Sie, mein Herr,« unterbrach Jack etwas brüsk, »ich hasse alles, was geschäftlich ist – und ich verstehe auch nichts davon. Gestatten Sie mir daher, daß ich meine Bedingungen auf meine eigene Art stelle. Wenn ich bei Mr. Sutherland in Windsor leben soll, so wünsche ich außer Beköstigung und Wohnung täglich eine angemessene Zeit für mich selbst – und zwar mit der Erlaubnis, Miß Sutherlands Klavier zu benutzen, falls ich dies, ohne irgend jemand zu stören, tun kann – ferner genug Geld, um mich anständig zu kleiden und nicht völlig mittellos dazustehen – sagen wir also fünfunddreißig Pfund jährlich.«
»Fünfunddreißig Pfund jährlich?« wiederholte Herbert. »Um die Wahrheit zu sagen – ich bin selbst kein Geschäftsmann – aber das scheint mir doch recht annehmbar.«
»Gewiß – sehr,« bestätigte Mary. »Ich glaube, Papa hätte nichts dagegen, sogar etwas mehr zu geben.«
»Das genügt mir vollkommen,« meinte Jack mit einer Art innerlichen Lächelns über Marys Offenherzigkeit. »Ich bin auch statt meines Gehaltes mit der Benutzung einer Kirchenorgel in der Umgegend zufrieden, falls Sie mir dazu behilflich sein könnten.«
»Ich glaube, wir halten lieber unsere ursprüngliche Abmachung fest,« meinte Herbert.
Jack nickte zustimmend und sagte:
»Weitere Bedingungen habe ich nicht zu stellen.«
»Haben Sie sonst noch etwas zu sagen?« wandte sich Herbert mit einem fragenden Blick an Mary.
»Nein, ich – ich glaube nicht. Ich dachte nur, Mr. Jack würde vielleicht gern etwas über unsere häusliche Einteilung hören.«
»Oh nein, ich danke sehr,« wandte Jack etwas barsch ein. »Sie brauchen sich um mich nicht zu kümmern. Wenn mir der Aufenthalt in Ihrem Hause nicht gefällt, so kann ich mich ja beklagen oder auch weggehen.«
Er hielt einen Augenblick inne und setzte dann in höflicherem Tone hinzu:
»Sie sollen sich wegen meines persönlichen Wohlbefindens kein Kopfzerbrechen machen, Miß Sutherland! Ich bin an viel größere Entbehrungen, als ich sie wohl bei Ihnen werde zu ertragen haben, leider zur Genüge gewöhnt.«
Mary hatte nichts weiter zu sagen.
Herbert räusperte sich verlegen und drehte seinen Ring mehreremal um seinen Finger. Jack stand regungslos da und sah in diesem Augenblick recht häßlich aus.
»Wenn Mr. Sutherland die ganze Angelegenheit auch in meine Hände gelegt hat,« sagte Herbert schließlich, »so möchte ich sie doch nicht selbst zum Abschluß bringen. Er wohnt ganz in der Nähe, in Onslow Gardens. Paßt es Ihnen vielleicht, ihn jetzt gleich aufzusuchen? Wenn es Ihnen recht ist, gebe ich Ihnen ein paar Zeilen mit, daß unsere Besprechung zu einem befriedigenden Resultat geführt hat.«
Jack verbeugte sich zustimmend.
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick,« sagte Herbert. »Meine Schreibutensilien sind im Nebenzimmer. Ich werde Charlie verständigen und ihn herschicken.«
Im Atelier hing ein Spiegel, den Herbert als Modell benutzt hatte. Er hing so, daß Mary die Züge des Lehrers im Abbild sehen konnte, während er, sobald er sich allein mit ihr befand, zum ersten Male auf das Bild hinübersah. Ein plötzliches Zusammenziehen der Lippen und ein etwas spöttisches Augenzwinkern deutete darauf hin, daß er etwas halb Lächerliches, halb Minderwertiges an dem Bilde gefunden haben mußte. Es berührte sie unangenehm, und sie begann es bereits zu bereuen, ihn engagiert zu haben. Dann milderte sich der Gesichtsausdruck Jacks zu einer Art von Mitleid; er seufzte, als er sich von der Staffelei abwandte. Ehe sie etwas sagen konnte, trat Charlie ein.
»Ich gehe mit Ihnen nach Onslow Gardens, Mr. Jack – wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Oh nein, Charlie!« unterbrach Mary. »Du mußt bei mir bleiben.«
»Hab' nur keine Angst. Adrian geht gleich mit dir ins Museum – und für den Anstand ist ja die Haushälterin da. Mir steht der Sinn nicht sonderlich danach, mit dir zusammen in dem alten Kramladen in South Kensington herumzuliegen. Und außerdem kennt Mr. Jack ja den Weg nicht. Da kommt Adrian!«
Herbert trat ein und überreichte dem Lehrer ein Schreiben. Dieser nahm es, nickte den Umstehenden kurz zu und entfernte sich mit Charlie.
»Das ist sicherlich der häßlichste Mann, den ich je gesehen habe,« meinte Herbert. »Und hereingelegt hat er uns, glaube ich, auch. Wir sind das rechte Paar, um geschäftliche Angelegenheiten zu ordnen.«
»Ja, ja,« stimmte Mary lachend bei. »Dabei sagte er noch, er verstünde nichts von Geschäften – mich soll's nur wundern, was er von uns denkt.«
»Zweifellos hält er uns für zwei kindliche Menschen, die das Schicksal ihm ausgeliefert hat. Wollen wir uns jetzt nach South Kensington auf den Weg machen?«
»Oh ja. Aber ich möchte meine bei der Betrachtung der Lady von Shalott gewonnenen Eindrücke heute nicht durch mehr Kunst zerstören. Das Wetter ist heute nachmittag so schön, daß ich es fast für vernünftiger halte, einen Spaziergang im Park zu machen, statt uns im Museum zu vergraben.«
Da Herbert hiermit einverstanden war, so schritten sie bald darauf dem Hyde Park zu.
»So weit wären wir also,« sagte er. »Wo wollen wir hin? Über den Row?«
»Auf keinen Fall! Da ist die ordinärste Stelle in ganz London. Wenn wir eine hübsche Bank finden könnten – ich möchte mich gern etwas ausruhen.«
»Dann gehen wir besser in die Kensington Gardens.«
»Nein!« rief Mary, indem sie sich plötzlich an Mr. Jack erinnerte. »Kensington Gardens mag ich nicht.«
»Ich habe gerade an dasselbe gedacht,« meinte Herbert. »Wir wollen uns ein Boot nehmen. Die Serpentine ist nicht so schön wie die Themse bei Windsor. Für Sie aber hat sie wenigstens den Reiz der Neuheit. Ist es Ihnen so recht?«
»Ja, das wäre mir das liebste. Aber ich verlasse mich ganz auf Sie – wegen der Schicklichkeit – wenn ich mit Ihnen rudere.«
Herbert zögerte. »Ich glaube nicht, daß irgend etwas dabei ist – –«
»Ach, Unsinn – ich habe ja nur gescherzt! Glauben Sie wirklich, ich ließe mich durch solche Dummheiten beeinflussen? Kommen Sie jetzt!«
Sie gingen zum Bootshaus und bestiegen ein Fahrzeug.
Sie erfreuten sich an der Frühlingssonne, und Herbert ruderte ziellos umher, bis sie in einen wenig belebten Winkel der Serpentine gelangten. Dann ließ er die Ruder halb streichen und sagte:
»Jetzt wollen wir uns ein wenig unterhalten. Ich glaube, ich habe jetzt genug gearbeitet.«
»Gewiß, gewiß,« entgegnete Mary. »Soll ich den Anfang machen?«
Herbert warf ihr einen raschen Blick zu; er schien etwas außer Fassung zu geraten.
»Natürlich,« erwiderte er.
»Ich will ein Geständnis ablegen,« sagte sie. »Es handelt sich um die Lady von Shalott. Seit wir uns auf den Weg gemacht haben, habe ich eifrig nachgedacht.«
»Haben Sie sich Ihre gute Meinung noch einmal überlegt?«
»Nein. Die Sache steht viel besser – und eigentlich doch schlechter. Ich habe mir meine schlechte Meinung noch einmal überlegt – das heißt, das meine ich eigentlich gar nicht – das Bild hat überhaupt keinen schlechten Eindruck auf mich gemacht – nur – mein erster Gedanke war so sinnlos, so dumm, so leer. Mein Geständnis besteht darin, daß ich beim ersten Anblick wirklich sehr enttäuscht war. Warten Sie – lassen Sie mich erst ausreden. Es war alles ganz anders, als ich es mir gedacht hatte – als es hätte sein müssen. Ich bin eben kein Künstler, und so stelle ich mir denn die Dinge auch nicht richtig vor. Inzwischen habe ich mich immer mehr hineingedacht – und jetzt gefällt es mir besser, als wenn es meine unwissenden Augen vom ersten Moment an gefesselt hätte. Wenn es die prunkenden, ausfälligen Eigenschaften gehabt hätte, die mir anfangs daran fehlten – dachte ich mir – dann hätte ich Sie nicht so hoch geschätzt, weil Sie's gemacht haben, noch hätte ich mich unbewußt gezwungen gefühlt, so lange bei der Poesie der Konzeption zu verweilen, wie ich es doch jetzt getan habe. Ich erinnere mich noch ganz genau, innerlich sehr enttäuscht gewesen zu sein, als wir zum erstenmal in die National Gallery gingen. Und bei meiner ersten Oper – da habe ich Agonien der Ernüchterung durchgemacht! Für mich ist es eine Art Beruhigung – eine ziemlich billige, fürchte ich – daß Sir Joshua Reynolds bei dem ersten Anblick der Raffaelischen Fresken im Vatikan sehr enttäuscht war, und daß einige große Komponisten Beethovens Musik für abscheulich gehalten haben, ehe sie sich darin eingelebt hatten.«
»Sie finden, daß mein Bild, bei näherer Bekanntschaft gewinnt?«
»Gewiß, sehr – oder besser gesagt, – ich gewinne.«
»Sind Sie auch sicher, daß Sie sich nicht in eine Art fälschlicher Bewunderung hineinreden um meinet – – – um mir nicht wehe zu tun?«
»Nein, sicherlich nicht,« entgegnete Mary eifrig, indem sie sich bemühte, durch die Eindringlichkeit der Versicherung diesen Zweifel zum Schweigen zu bringen, der ihr, noch ehe Herbert ihn ausgesprochen hatte, selbst in den Sinn gekommen war.
»Und Sie fühlen sich nach wie vor imstande, meinen Bestrebungen Sympathie und Teilnahme entgegenzubringen – Sie sind noch immer bereit, mich zu ermutigen und mir die Erhabenheit künstlerischer Ziele vor Augen zu halten, wie Sie es bisher getan haben?«
»Der Wille ist wohl da, aber ich fühle nicht die Fähigkeit dazu. Wie oft muß ich Sie daran erinnern, daß ich mein ganzes künstlerisches Empfinden nur Ihnen verdanke, und daß ich in allen Dingen, die Sie berühren, eigentlich nur ein schwacher Abglanz Ihrer Persönlichkeit bin?«
»Und doch – ohne Ihre Hilfe wäre ich längst verzweifelt! Sind Sie ganz sicher – ich bitte, antworten Sie mir aufrichtig – daß Sie mich nicht abfällig beurteilen?«
»Mr. Herbert! Wie können Sie nur dergleichen von mir denken? Wie können Sie das von sich selbst denken?«
»Ich fürchte, mein immerwährendes Selbstmißtrauen ist ein gar zu überzeugender Beweis meiner eigenen Unfähigkeit und Schwäche. Manchmal bewerte ich mich selbst sehr niedrig.«
»Das ist ein Beweis Ihres künstlerischen Feingefühls. Sie brauchen es nicht erst von mir zu lernen, daß alle großen Künstler Spuren zurückgelassen haben, aus denen hervorgeht, daß sie alle zuzeiten so gefühlt haben, wie Sie es jetzt tun. Nehmen Sie die Ruder wieder zur Hand und lassen Sie uns langsam zur Brücke fahren. Körperliche Bewegung wird Sie auf andere Gedanken bringen.«
»Noch nicht! Ich habe noch etwas anderes zu sagen. Haben Sie schon einmal daran gedacht, daß ich, wenn Ihre Sympathie sich durch einen Zufall von mir abwenden sollte – sagen wir, beispielsweise, durch die Anknüpfung irgendeines neuen Bandes – daß ich dann der einzigen Persönlichkeit verlustig gehen müßte, deren Glauben an mich mir dazu verholfen hat, selbst an mich zu glauben? Wissen Sie, wie unermeßlich trostlos dann alles für mich sein müßte?«
»Trostlos? Unsinn! Eines schönen Tages werden Sie alle Variationen der Sympathie, die Sie mir so hoch anrechnen, erschöpft haben – Sie werden dahinter kommen, daß sie allmählich monoton und öde wird – und dann wird es Ihnen nicht leid tun mich los zu werden.«
»Ich spreche in vollem Ernst. Mary – schon seit einiger Zeit fühle ich es, daß ich weder ehrlich noch klug handele, meine einzige Glücksmöglichkeit noch länger so leicht zu nehmen. Wollen Sie sich mit mir verloben? Sie werden gewiß manchen besseren, energischeren Mann finden – keinen aber, der Sie höher schätzt – vielleicht keinen, dem Sie für sein Leben gleich unentbehrlich sind.«
Es trat eine kurze Pause ein. Mary empfand die Verantwortung, die ihr zugeschoben wurde, zu deutlich, als daß sie gleich hätte etwas erwidern können. Von der landläufigen mädchenhaften Verlegenheit aber zeigte sie keine Spur.
»Warum kann es nicht so bleiben, wie es bisher war – wir waren doch beide so glücklich dabei?« fragte sie dann nachdenklich.
»Gewiß, wenn Sie es wünschen, kann es auch so bleiben – das heißt, wenn Sie sich in diesem Punkt noch nicht schlüssig geworden sind. Das gewisse Glücksgefühl aber, wie es sich allenfalls aus unserer vagen, unbestimmten Stellung zueinander ergibt – das bleibt dann in seinem vollen Umfange nur auf Ihrer Seite.«
»Mein Zögern scheint so undankbar. Es sind Zweifel an mir selbst, die mich dazu bestimmen. Sie haben mich von jeher gar zu sehr überschätzt, und ich möchte nicht, daß Sie eines Tages zu der Erkenntnis gelangen sollten, einen Mißgriff getan zu haben. Wenn Sie einmal berühmt sind, steht es Ihnen frei, zu wählen, wen Sie wollen und wo Sie wollen.«
»Falls dies das einzige Bedenken ist, das Sie noch zurückhält – dann fordere ich Ihre Zustimmung. Meinen Sie denn, ich fühlte nicht auch, wie wenig mein Anerbieten Ihrer Annahme wert ist? Wenn wir aber imstande sind, einander zu lieben – was kann da all das andere noch bedeuten? Die Verhältnisse liegen doch nicht so, als ob wir uns völlig fremd gegenüberstünden: wir haben uns doch schon gegenseitig erprobt! Es scheint mir auch ganz absurd, wenn wir uns immer Mr. Herbert und Miß Sutherland nennen, als ob unsere Freundschaft auf einer zeremoniellen Bekanntschaft beruhte.«
»Ich habe mir oft gewünscht, Sie sollten mich Mary nennen. Bei uns zu Hause heißen Sie immer nur Adrian. Ich aber hätte Sie darum nicht gut bitten können, nicht wahr?«
»Schade, daß Sie es nicht getan haben! Und jetzt – wollen Sie mir jetzt eine endgültige Antwort geben? Übrigens – ich habe Ihnen vielleicht noch keinen endgültigen Antrag gemacht – aber Sie kennen ja meine Lage. Mit meinen jämmerlichen jährlichen dreihundert Pfund bin ich zu arm, um Ihnen einstweilen ein angemessenes Heim bieten zu können. Was das betrifft, so muß ich mich völlig auf meinen Pinsel verlassen. Sie können sich aber wohl denken, wie angestrengt ich arbeiten werde, wenn jede neue Bemühung mich meinem Hochzeitstag näher bringt. Und dennoch muß ich Sie wohl oder übel trotz der optimistischsten Abschätzung auf eine recht lange Verlobungszeit vorbereiten. Fürchten Sie sich, das Wagnis zu unternehmen?«
»Ja – ich fürchte mich – aber nur insofern, als Sie meinen wahren Wert herausfinden könnten. Wenn Sie dies Risiko laufen wollen – so erkläre ich mich bereit.«