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Zwölftes Kapitel

Um diese Zeit lebte Jack in bisher ungekanntem Wohlstand. Bei allen bedeutenden Konzerten wurden seine Werke aufgeführt. Er gab Stunden zu fünfzehn Pfund das Dutzend und hatte mehr Nachfrage nach Stunden in dieser Preislage als Zeit, sie anzunehmen. Verleger lockten ihn mit Blankoschecks als Entgelt für Salonlieder mit leichter Begleitung. Allabendlich begab er sich aus seiner Wohnung in Church Street zu einer öffentlichen Veranstaltung, bei der er spielte oder dirigierte, oder ins Haus einer Modedame, die ihre Soiree ohne ihn für unvollständig hielt. Die ›gute Gesellschaft‹ fand Anregung und Zerstreuung an der exzentrischen, oft recht ungehobelten Art des aus Wales gebürtigen Musikers und gestand ihm das Recht zu, sich nach seinem Belieben zu benehmen. Bei solchen Empfangsabenden erhielt er dann neue Einladungen, deren er einige kurzerhand abwies. Andere wieder nahm er an und fand sich auch demgemäß ein – falls er's nicht vergaß. Vergaß er es aber und wurde deshalb von der enttäuschten Gastgeberin mit Vorwürfen überschüttet, so leugnete er jegliche Kenntnis ihrer gesellschaftlichen Veranstaltung und behauptete, der Einladung unbedingt Folge geleistet zu haben, falls man mit einer solchen überhaupt an ihn herangetreten wäre – da er nämlich niemals etwas vergäße. Er machte keine Besuche, gab nirgends eine Karte ab und verwendete sehr wenig Sorgfalt auf seine Kleidung.

Eines Nachmittags begab er sich ins Haus des Herrn Phipson, der ihm bei der ›Antient Orpheus Society‹ so dienlich gewesen war. Unter den Gästen befand sich auch Lady Geraldine Porter, die Jack noch nicht kannte. Sie war eine Dame von ausgeprägt gesundem Menschenverstand und von entschlossener Unduldsamkeit gegen alle Neigungen und Exzentrizitäten der Künstler. Ein Mensch mit Samtjacke und langem Haar hatte keine Aussicht auf eine Einführung oder Einladung bei Lady Geraldine. ›Diese Leute können sich anständig betragen, wenn sie wollen,‹ sagte sie. ›Wir müssen auch erst gute Manieren lernen, ehe wir in die Gesellschaft kommen – sie sollen dasselbe tun, da ihnen ja alles so leicht fällt.‹ Was nun Jack betraf, so erfreute er sich ihrer ganz besonderen Abneigung. Ihrer Ansicht nach hatte die Gesellschaft Jack gegenüber eine klar vorgezeichnete Verpflichtung – ihn so lange zu boykottieren, bis er sich den berechtigten Satzungen anpaßte. Und sie stellte ein leuchtendes Beispiel auf, indem sie in den Salons, wo sie sich des öfteren begegneten, jeglichen Verkehr mit ihm von der Hand wies.

Als an jenem Abend Mrs. Phipsons unausbleibliches Ersuchen Jack an den Flügel brachte, saß Lady Geraldine dicht hinter ihm und neben Mrs. Herbert. Man unterhielt sich gerade sehr angelegentlich; er schlug ein paar Töne an, um dem Stimmengewirr ein Ende zu machen. Die Jack-Enthusiasmus heuchelnden Herrschaften bedachten die Sprechenden mit einem Scht! und befleißigten sich eines Ausdrucks begeisterter Erwartungsfreude. Das Gemurmel wurde etwas leiser, aber es hörte nicht ganz auf. Jack trommelte auf der Klaviatur und wartete geduldig. Es wurde noch immer nicht still. Er wandte sich um und erblickte Lady Geraldine, die, ohne sich um die Vorgänge im Zimmer zu kümmern, mit ernster Miene auf Mrs. Herbert einsprach. Er drehte ihr den Oberkörper zu, hielt die rechte Hand auf den Tasten und wartete weiter – bis die unbewußte Rücksichtslosigkeit der Dame allgemein auffiel und eine peinliche Pause hervorrief. Mrs. Herbert ließ ihr eilig durch einen verstohlenen Zupfer ein Warnungszeichen zukommen. Die Lady hielt inne, sah auf, erfaßte die Situation und betrachtete Jacks Haltung mit offenkundiger Mißachtung.

»Sie sollen sich jetzt nicht unterhalten!« sagte er, die Nase rümpfend. »Sie sollen jetzt zuhören!«

Lady Geraldine errötete unmerklich; das war ein Phänomen, das keiner der Anwesenden bisher zu Gesicht bekommen hatte. »Pardon!« meinte sie mit einer Verneigung. Jack nahm ihre Herablassung in Haltung und Tonfall für das, was sie war. Er nickte ihr befriedigt zu – da sie ihn niederzuschmettern gedacht hatte, zu ihrer größten Enttäuschung. Dann wandte er sich dem Instrument zu und begann sein Thema mit einer Anlehnung an die gespreizte Form des Menuetts. Zur großen Freude der wenigen anwesenden Kenner improvisierte er an die fünfundzwanzig Minuten lang. Die übrigen Gäste gaben trotz ihrer Ermüdung der Bewunderung für Jacks Genie in lauten Worten Ausdruck. Viele drängten sich um ihn, da sie ihn auf diese Weise zu einer ähnlichen Darbietung im eigenen Hause zu veranlassen hofften.

»Ach, ich schwärme für Musik!« meinte eine Dame, als er sich bald nachher neben ihr niederließ. »Wenn ich doch auch ein solches Genie wäre wie Sie!« Statt einer Antwort sah er sie empört an. »Ich weiß wirklich nicht, warum man's mir nicht zugesteht, daß ich auch etwas würdigen kann,« setzte sie gleichsam als Protest gegen seinen Gesichtsausdruck hinzu. »Ich habe eine große Vorliebe für Musik.«

»Die spricht Ihnen niemand ab,« entgegnete Jack. »Sie hegen sicherlich Vorliebe für Musik im feinen Salon, wenn sie Ihnen auch anderweitig dienlich ist – geradeso wie Duckmäuser für Religion schwärmen.«

Die Dame war als irische Protestantin geboren, zur römisch-katholischen Kirche übergetreten, aus Gewohnheit eine Art Freidenkerin im Sinne der damals modernen Richtung der Broad Church, aus Überzeugung war sie gar nichts und außerdem von Natur sehr argwöhnisch, da sie in jeder Erwähnung der Religion eine persönliche Anspielung witterte. Sie sah forschend zu ihm auf und fragte schnippisch: »Warum lassen Sie sich überhaupt zu einer Unterhaltung mit mir herbei, wenn Sie eine so geringe Meinung von mir haben?«

»Ich unterhalte mich gern mit Ihnen – ausgenommen, wenn Sie über Musik in Verzückung geraten. Wissen Sie auch warum?«

»Keine Ahnung!« entgegnete sie mit einem Lächeln und einem Augenaufschlag. »Warum denn?«

»Weil Sie ein nettes kleines Plappermäulchen sind,« erwiderte Jack, dem ihr Augenaufschlag gefiel. »Bilden Sie sich aber nur ja nicht ein, gnädige Frau – wegen etwaiger geistiger Verwandtschaft oder weil Sie musikalisch sind. Musikalische Leute kann ich nicht verknusen! Wer ist denn die Dame neben Mrs. Herbert?«

»Was? Die kennen Sie nicht? Das erklärt auch Ihre Kühnheit. Lady Geraldine Porter! Sie sind der erste Sterbliche, der sie jemals zurechtzuweisen gewagt hat. Es war entzückend!«

»Ist das die Dame, die mich nicht in ihrem Hause dulden will?«

»Ja. Und jetzt haben Sie sich gerächt.«

»Das werden viele alberne Leute behaupten. Deshalb tut es mir auch eigentlich leid, daß ich überhaupt das Wort an sie gerichtet habe. Man kann aber wirklich nicht verlangen, daß ich jede Kleinigkeit dieser Art wissen soll – selbst wenn ich mich des Vertrauens der hübschen Mrs. Saunders erfreue. Was haben Sie heute für Skandalgeschichten für mich, Mrs. Saunders?«

»Keine besonderen. Nur was jedermann weiß und was Sie, wie ich glaube, vor allen anderen wissen – die Sache mit Ihrer Freundin Miß Sutherland und Adrian Herbert.«

»Was ist mit ihnen? Erzählen Sie mir nichts von Miß Sutherland, wenn Sie nicht wissen, daß es sich auch tatsächlich so verhält. Ich will von ihr nichts Unliebsames hören!«

»Sie brauchen nicht wütend zu werden,« meinte Mrs. Saunders etwas kühler. »Nach den Einzelheiten können Sie sie ja selbst fragen. Die Hauptsache besteht darin, daß Herbert, der mit ihr verlobt war, die Szczympliça, die Pianistin, heiraten wird.«

»Blech! Das ist schon uralt. Man hat ihn ein paarmal mit ihr reden sehen – und das genügt natürlich – –.«

»Ich sage Ihnen, Mr. Jack, dies ist nicht uralt, nicht der frühere Klatsch! Klatsch wiederhole ich überhaupt nie. Dies ist etwas Neues, etwas Wahres! Die alte Madame Szczympliça hat mir alles brühwarm erzählt: ihre Tochter hat Herberts Antrag wegen seiner Verlobung tatsächlich zurückgewiesen. Und da ist er schnurstracks zu Mary Sutherland gelaufen und hat sie gebeten, von ihren Ansprüchen an ihn zurückzutreten – – und da blieb ihr wohl nichts anderes übrig, dem armen Mädel. Dann hat er sich geradeswegs wieder zur Szczympliça zurückbegeben und sie überrumpelt. Mit allem ihrem Ernst hat Miß Sutherland gezeigt, daß sie ihr Metier genau so gut versteht wie die oberflächlichste von uns – wie ich zum Beispiel. Unverzüglich war sie darauf bedacht, ihre Reue darüber zur Schau zu tragen, daß sie ihm den Laufpaß gegeben habe – nicht er ihr. Wie durchsichtig doch alle unsere kleinen Kunstgriffe sind, nicht wahr, Mr. Jack?«

»Von der ganzen Sache glaube ich kein Wort!«

»Sie werden es schon sehen! Anfänglich habe ich's auch nicht geglaubt. Vorgestern aber hat Miß Sutherland mir's in ebendiesem Zimmer gesagt, die Verlobung mit Herbert sei gelöst und sie lege besonderen Wert darauf, es allgemein bekanntzumachen, daß jedwede Schuld in dieser Angelegenheit ihr selbst und nicht ihm zuzuschreiben sei. Ich habe die Situation natürlich sofort erfaßt. Sie brachte es alles geradezu bewunderungswürdig hervor und deutete dabei beinahe ihren großmütigen Eifer an, den armen Adrian Herbert vor meiner losen Zunge zu schützen. Die arme Mary! Den ist sie ein für allemal los – wenn sie sich das nur merken wollte! Es soll mich wundern, wer der nächste Kandidat für die freigewordene Stelle ist!« Zum Zeichen dieses Wunderns blickte Mrs. Saunders Jack fragend in die Augen.

»Muß sie ihn denn überhaupt wieder ausfüllen? Nicht jedes Frauenzimmer hat nur solches Zeug im Kopf!« Jacks Stimme klang rauh; die Sache schien ihm nahezugehen. Bald darauf, als sie sich lässig in ihren Stuhl zurücklehnte und ihn lächelnd betrachtete, erhob er sich. »Guten Abend!« sagte er. »Heute sind Sie nicht sehr amüsant. Wahrscheinlich erzählen Sie diese Geschichte jedem, der Zeit zum Zuhören hat.«

»Keineswegs, Mr. Jack. Jeder erzählt sie mir! Ich habe sie schon ordentlich satt.«

Jack entfernte sich mit einem Grunzen. Als er Mrs. Herbert begegnete, begrüßte er sie mit einer Verbeugung und fragte nach Miß Sutherland.

»Sie ist im Gewächshaus,« entgegnete Mrs. Herbert zögernd, »und anderweitig in Anspruch genommen.«

Er dankte für ihre Mitteilung und wanderte dann eine Zeitlang planlos in den Zimmern umher. Schließlich war seine Geduld zu Ende. Er begab sich ins Gewächshaus und erblickte Lady Geraldine in einer Erörterung mit Mary, die mit hartnäckig zu Boden gerichteten Augen vor ihr stand.

»Das ist lauter verschrobener Unsinn!« hörte er die Lady sagen. »Er hat sich sehr schlecht benommen. Sie wissen es ganz gut – nur halten Sie sich für verpflichtet, ihn zu verteidigen und sich damit in eine schiefe Stellung zu bringen.«

»Darin gehen unsere Meinungen auseinander, Lady Geraldine. Ich halte meinen Standpunkt für den richtigen – und den, den einzunehmen Sie mich veranlassen wollen, für den falschen.«

»Hören Sie auf meine Worte, liebes Kind! Begreifen Sie denn nicht, daß Ihre Versuche, Adrian rein zu waschen, die Leute nur noch mehr von seiner häßlichen Handlungsweise überzeugen? Je mehr Sie ausposaunen, daß Sie sich von ihm getrennt haben, desto fester glaubt man an die Sachen mit den sauren Trauben und an die landläufige Entschuldigung sitzengelassener Mädchen. Nehmen Sie's mir nicht übel – nur diese etwas brutale, offene Redeweise kann Ihnen die Augen öffnen. Sie haben es Belle Woodward erzählt – Belle Saunders wollte ich sagen – daß die Schuld auf Ihrer Seite wäre. Meinen Sie, sie glaubt es Ihnen?«

»Selbstverständlich,« entgegnete Mary heftig, die diese Auffassung der Angelegenheit unangenehm berührte.

»Dann sind Sie sehr im Irrtum!« unterbrach Jack nähertretend. »Sie hat mir gegenüber soeben dieselbe Lesart durchblicken lassen, die diese Dame Ihnen gerade in so einsichtsvoller Weise zu verstehen gibt.«

Lady Geraldine wandte sich um und maß ihn mit einem Blick, der einen gewöhnlichen Sterblichen wortlos aus dem Raume vertrieben hätte.

Da Mary an sein Wesen gewöhnt war, so nahm sie ihm seine Einmischung nicht übel; einen Augenblick dachte sie in ihrer Niedergeschlagenheit nach. »Meine Schuld ist es doch nicht,« meinte sie dann, »wenn es Mrs. Saunders beliebt, die Unwahrheit zu sagen. Ich kann doch das, was wirklich geschehen ist, nicht nach ihrer oder anderer Leute Auffassung ummodeln.«

»Was wirklich geschehen ist, weiß ich nicht,« sagte Jack. »Sie können aber den Mund halten – das ist für Sie das einzig Richtige. Die Angelegenheit geht andere Leute nichts an. Es ist aber auch nicht Ihre Sache, Herbert rein zu waschen – mag er es nun nötig haben oder nicht. Ich bitte sehr um Entschuldigung,« wandte er sich dann förmlich an Lady Geraldine. »Als ich Miß Sutherland mit Ihnen im Gespräch sah, hätte ich mich zurückziehen sollen – und ich hätte es auch getan, wäre mir nicht der weltkluge Ratschlag, den Sie ihr gerade erteilten, zufällig zu Ohren gekommen.« Er bedachte sie mit der schönsten altmodischen Verbeugung, die ihm zu Gebote stand, und entfernte sich.

»Da hört aber doch alles auf!« rief Lady Geraldine, die ihm nachstarrte. »Ist dies die neueste Abart künstlerischer Affektiertheit, wenn ich fragen darf? Früher war es Aufgeblasenheit oder Dummdreistigkeit oder unvergleichliches Feingefühl. Jetzt aber scheint es sich um ausgesprochenen gesunden Menschenverstand zu handeln. Und statt auf einem belanglosen äußeren Scheingebaren zu beruhen, erweist es sich als die denkbar unleidlichste Form der Affektiertheit. Liebes Kind, ich habe Ihnen doch nicht weh getan?«

»Ach – in dieser Welt ist für eine anständig empfindende Frau kein Platz!« schluchzte Mary voll Empörung. »Für jedes Bemühen, gerecht zu sein und die Wahrheit zu sagen, hat man eine gemeine Auslegung. Hätte ich es mir angelegen sein lassen, mich von Adrian zu trennen und ihn dann anzuschwärzen – mir würde es an Beifall und Sympathie nicht mangeln. Wie die Dinge nun aber einmal liegen, bestrebe ich mich, das rechte zu tun – und mache mich durch meine Bemühungen verächtlich.«

»Die Welt ist nicht allzu ehrlich, das will ich zugeben,« entgegnete Lady Geraldine ruhig. »Aber sie ist doch nicht ganz so schlecht, wie Sie glauben. Junge Leute liegen gern mit ihr in den Haaren, weil sie ihnen zur rechten oder auch zur unrechten Zeit keine Gelegenheit zum Heroismus zugesteht. Sie haben einen Mißgriff getan und wollen jetzt zur unrechten Zeit auf Grund der Schwere Ihres Mißgriffs oder vielmehr wegen dessen Belanglosigkeit heroisch sein. Ich kenne Sie sehr gut und bin nicht – wie Belle Saunders – der Meinung, daß Sie absichtlich aus der Not eine Tugend machen. Ich glaube aber doch, daß in Ihrem Entschluß, sich nur ja nicht auf Vorwürfen gegen Adrian ertappen zu lassen, auch ein ganz klein wenig geistiger Stolz verborgen liegt. Tatsächlich ist jede solche verschrobene Abenteuerlust mit unnützem geistigen Hochmut versetzt, und darin liegt auch der Grund, warum Sie im wirklichen Leben niemand hoch schätzt, ja nicht einmal aufrichtig bewundert. Außerdem, liebes Kind, ist es allen ganz gleichgültig, wie Adrian sich benommen hat oder wie Sie sich benommen haben. Sie kümmern sich nur um die Tatsachen, und diese sind – das muß ich sagen – klar genug. Sie und Adrian, Sie waren beide sehr unklug, sich auf eine so lange Verlobungszeit einzulassen. Sie sind einander müde geworden – lassen Sie mich erst ausreden, dann können Sie meinetwegen Einwände in Hülle und Fülle Vorbringen. Adrian ist hinter Ihrem Rücken hingegangen und hat einer anderen Frau einen Antrag gemacht, die ehrlicher war als er und sich von ihm nicht an Ihren Platz einschmuggeln lassen wollte. Statt dann mit Offenheit seine Freiheit von Ihnen zu erbitten, kam er zu Ihnen und angelte danach – und legte Ihnen eine Schlinge, damit Sie ihm die Freiheit anbieten sollten. Die ehrliche Frage kam von Ihnen und nicht von ihm.«

»Ich habe aber auch geangelt,« erwiderte Mary weinerlich. »Ich war erst dann ehrlich, als er mich dazu trieb.«

»Das ist doch ganz natürlich!« entgegnete Lady Geraldine unwillig. »Sie sind ja auch kein Engel! Und je eher Sie sich mit denjenigen Ihrer Fehler aussöhnen, die Sie mit uns anderen Frauen gemein haben, desto früher werden Sie zur Ruhe kommen. In solchen Dingen sind wir alle erst dann ehrlich, wenn unser Gewissen uns dazu zwingt. Die ehrlichsten Menschen sind eben die, die diesen Zwang am schnellsten und am stärksten empfinden. Hätten Sie es nur ein wenig länger durchgehalten, Adrian wäre Ihnen wahrscheinlich zuvorgekommen. Ich sage, wahrscheinlich. Meiner tatsächlichen Meinung nach hätte er aber voraussichtlich mit Ihnen einen Zank vom Zaun gebrochen – wegen Jack oder sonst jemand – und sich auf diese Weise aus der Verlobung herausgewunden.«

»Oh nein! Er hat von Jack gesprochen und ausdrücklich gesagt, daß er nichts gegen ihn habe, daß ich mich aber an mein Wort nicht für gebunden zu halten brauchte, falls Jacks Einfluß irgendwie verändernd auf meine Gesinnung für ihn gewirkt hätte – – sehen Sie, da haben wir's. In Ihren Augen ist dies ein erneuter Beweis für seine Falschheit.«

»Nur ein Beweis dafür, was für ein ausgemachter Hanswurst ein Mann sein muß, um annehmen zu können. Sie würden auf einen solchen Köder anbeißen. ›Bitte, geben Sie mich frei, Herr Herbert, damit ich meiner Neigung für Mr. Jack nachgehen kann!‹ Dergleichen zu sagen, sähe einer Frau ja recht ähnlich, nicht wahr?«

»Hoffentlich meinen Sie das mit Mr. Jack nicht im Ernst, Lady Geraldine?«

»Die ganze Sache gefällt mir nicht, Mary. Solche Freundschaften sind einem jungen Mädchen nur hinderlich. Ich weiß natürlich, daß Sie ihn nicht lieben – wenigstens könnte ich mir eine solche Geschmacksverwirrung nicht vorstellen, so sehr ich auch sonst an Überspanntheiten von Männlein und Weiblein untereinander gewöhnt bin. Immerhin, Mary, brauchen Sie anderen Leuten Ihre Bewunderung für sein Genie – er soll doch eins sein, nicht wahr? – nicht unter die Nase zu reiben.«

»Ich gehe nach Windsor zurück! Ich will beide los werden – Herbert und Jack. Wenn die Leute sich doch um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern möchten!«

»Das tun sie nun einmal nicht, liebes Kind. Wir wollen aber jetzt bald aufbrechen. War die Dusche sehr stark, die ich Ihnen verabfolgt habe?«

»Durchaus nicht,« entgegnete Mary zerstreut.

»Wenn Sie also wirklich bei vollkommen guter Laune sind, so brauchen Sie sich auch nicht zu weigern, mit mir heute abend noch anderswo hinzugehen.«

»Sie meinen ausgehen? Das kann ich nicht, Lady Geraldine. Ich wäre ja doch nur eine sehr ungemütliche Begleiterin. Heute fühle ich kein Bedürfnis nach Gesellschaft. Aber ich danke Ihnen herzlich für Ihre gute Absicht, mich aus meinen Gedanken herauszureißen.«

»Ach, Unsinn, Mary! Sie müssen mitkommen! Nur ins Theater. Mrs. Herbert und wir beide bilden einen sehr ruhigen kleinen Kreis. Nach dem Vorgefallenen können Sie sich nicht früh genug mit ihr aussprechen. Und ich weiß, wieviel ihr daran liegt, Ihnen zu zeigen, daß sie nicht für Adrian gegen Sie Partei nimmt.«

»Daran zweifle ich keinen Augenblick. Ich bin sogar so weit davon entfernt, daß ich eher fürchte, Adrian wird glauben, ich wollte mich bei ihr über ihn beklagen. Na, meinetwegen,« fügte sie dann hinzu, da sie erkannte, daß dies letzte Bedenken Lady Geraldines Geduld doch auf eine zu harte Probe stellte. »Ich gehe mit. Ich weiß, daß man's mir schwer recht machen kann – aber ich fühlte mich wirklich nicht in Theaterstimmung.«

»Um halb acht sind Sie also fertig, nicht wahr?«

Mary gab ihre Zustimmung, seufzte und verließ in tiefer Niedergeschlagenheit mit Lady Geraldine das Gewächshaus. Nach ihrer Rückkehr in den Salon fand die Lady Gelegenheit zu einer erneuten Unterredung mit Mrs. Herbert.

Jack rüstete mittlerweile, nachdem er noch etwas mit Mrs. Saunders geplaudert, zum Aufbruch. Er hatte seine Obliegenheiten für den Nachmittag verschoben, um sich für Mrs. Phipson frei zu halten. Infolgedessen bemächtigte sich seiner eine gewisse Trägheit und moralische Widerstandslosigkeit, und er blieb auf seinem Wege zur Tür mehrfach stehen, um einige Damen anzureden, die er sonst kaum mit einem Kopfnicken zu bedenken pflegte. Auf der Treppe begegnete er der jüngsten Phipson, die erst fünf Jahre zählte; auch mit ihr ließ er sich auf eine kleine Unterhaltung ein. Dann stieg er in die Eingangshalle hinunter und war bereits im Begriff, das Haus zu verlassen, als er hinter sich mit süßlicher Stimme seinen Namen rufen hörte. Er wandte sich um und erblickte Lady Geraldine, die er mit unverhohlenem Staunen anstarrte.

»Ich habe ganz vergessen, Ihnen für Ihre so rechtzeitige Hilfe zu danken,« meinte sie mit anmutigster Zuvorkommenheit. »Darf ich jetzt fragen, ob ich Sie um einen zweiten, noch größeren Gefallen bitten kann?«

»Was für einen?« erkundigte sich Jack mißtrauisch.

»Mrs. Herbert nimmt heute abend an meiner Theaterloge teil,« entgegnete sie mit höflich geheuchelter Verlegenheit. »Sie hat mich gebeten, Miß Sutherland mitzubringen. Wir würden uns sehr freuen, falls wir auch auf Sie zählen könnten – wenn Sie nichts Wichtigeres vorhaben. Darf ich Sie als nominelle Eigentümerin der Loge um Ihre Begleitung ersuchen?«

Die Sache paßte Jack nicht. Er konnte sich diese Einladung nicht recht erklären, da er Lady Geraldines Ansicht über ihn sehr gut kannte. Statt zu antworten, starrte er sie mit einer Verwirrung an, die unwillkürlich in abstoßenden Grimassen zum Ausdruck gelangte.

»Darf ich Ihnen meinen Wagen schicken?« fragte sie, als die Pause zu peinlich wurde.

»Ja! Nein! Ich treffe Sie im Theater. Ist es Ihnen so recht?«

Lady Geraldine, der sein Benehmen höchlich mißfiel, mußte sehr an sich halten, um ihm mit ausgesuchter Höflichkeit den Namen des Theaters und die Anfangszeit der Vorstellung bekanntzugeben. Er hörte aufmerksam zu, ließ sich aber kein Anzeichen der Zustimmung merken. Als sie zu sprechen aufhörte, sah er zerstreut die Treppe hinauf, fletschte die Zähne und hämmerte mit seinem Hutrand eine Melodie auf sein Kinn. Lady Geraldines Langmut wurde so tatsächlich auf eine sehr harte Probe gestellt.

»Darf ich auf Ihr Kommen zählen?« fragte sie schließlich.

»Warum liegt Ihnen denn soviel daran?« rief er plötzlich. »Sie mögen mich doch nicht!«

Sie wich einen Schritt zurück. »Was soll ich Ihnen darauf antworten, Mr. Jack?« erwiderte sie gereizt, da sie nun wirklich die Geduld verlor.

»Nichts,« entgegnete er mit gekünsteltem Ernst. »Darauf läßt sich nichts antworten.«

Er machte noch eine Verbeugung und verließ kichernd das Haus.

Sobald er verschwunden war, kam Mrs. Herbert die Treppe herunter und schritt auf Lady Geraldine zu.

»Nun, wie steht's?« fragte sie. »Wird es uns gelingen, Mary auf unsere Kosten in bessere Stimmung zu versetzen?«

»Jawohl,« entgegnete Lady Geraldine. »Ich bin dem Ungeheuer hier um den Bart gegangen und habe meinen verdienten Lohn schon weg. Das ist ja ein wildes Tier!«

»Ich habe es Ihnen doch vorher gesagt.«

»Das macht die Sache nicht angenehmer. Sie tun übrigens am besten, bei mir zu essen. Mein Mann ist in Greenwich. Auf diese Weise können wir wenigstens noch bis zum Theater etwas von unserm Leben haben.«

Einige Stunden später begleitete Mary Sutherland Lady Geraldine und Mrs. Herbert allerdings widerwillig ins Theater, um dort der ersten englischen Aufführung eines neuerdings übersetzten französischen Stückes beizuwohnen. Sie hatten ihre Plätze in der Loge noch nicht lange eingenommen, als sie plötzlich durch Jacks Eintreten überrascht wurden. Sein schwarzes Seidentaschentuch, das er hartnäckig statt einer Kravatte trug, war mit einer weißen Stecknadel befestigt, woraus sich die ungewöhnliche auf seine Toilette verwendete Sorgfalt ergab.

»Oh – Mister Jack!« rief Mary.

»Ganz richtig – Mister Jack,« entgegnete er, indem er seinen einzigen Hut, der von nassem Wetter und schlechter Behandlung viel gelitten hatte, an einen Haken an der Tür aufhing. »Haben Sie Mr. Jack nicht erwartet?«

Mary mochte schon mit einem Nein antworten, besann sich aber eines Besseren und blickte zögernd zu Lady Geraldine hinüber.

»Ich sehe es Ihnen ja an!« sagte Jack, während er seinen Stuhl hinter den ihren stellte. »Also eine kleine Überraschung – was?«

»Eine angenehme Überraschung,« fügte Mrs. Herbert freundlich hinzu, indem sie sich den Fächer vor die Lippen hielt.

»Und eine ganz zufällige,« ergänzte Lady Geraldine. »Ich habe es vergessen, Miß Sutherland von Ihrer gütigst versprochenen Begleitung Mitteilung zu machen.«

»Mrs. Herbert macht sich über mich lustig,« entgegnete Jack gutmütig. »Und Sie auch. Sie haben mich gütigst aufgefordert – ich bin nicht gütigst gekommen. Hören Sie doch auf die Musik! Diese achtzehn oder zwanzig schlechten Musiker kosten mehr als sechs gute, und ihr Spiel hört sich nicht halb so angenehm an. Kennen Sie das, was sie spielen? Begreifen Sie, wie man solches Zeug zusammenschreiben kann?«

»Es klingt ohne Zweifel scheußlich. Ich bin aber notorisch unmusikalisch, und mein Urteil hat gar keinen Wert.«

»Aber soweit Sie's beurteilen können, gefällt es Ihnen doch nicht, nicht wahr?«

»Ganz und gar nicht.«

»Mir fängt es schon an, sehr gut zu gefallen,« warf Mrs. Herbert mit sichtlicher Kühle ein. »Ich merke wohl, daß es eine Ihrer eigenen Kompositionen ist – oder eine Variation über eine.«

»Hahaha! Das Ding heißt ›Souvenirs de Jack‹! So etwas muß sich ein Komponist nun gefallen lassen, wenn er in öffentliche Lokalitäten gerät, Lady Geraldine!«

»Und dann rächt er sich dafür, indem er anderen in heimtückischer Weise Fallen stellt.«

»Sie haben recht,« entgegnete Jack mit plötzlicher Verdrießlichkeit. »Es war häßlich von mir, und die kleine Schlappe fällt auf mich zurück. Jetzt machen sie sich sogar an meine Fantasie! Der Satan soll den Kerl holen! Hören Sie doch! Der Hund hat es gewagt, meine Harmonien zu verballhornisieren!« Er stockte, stützte sich auf seine Ellbogen, fletschte die Zähne und murmelte allerhand vor sich hin. Mary, die selbst in übelster Laune war, versuchte ihn zu beruhigen.

»Eine solche Kleinigkeit kann Ihnen doch nichts ausmachen!« begann sie. »Was schadet es – –«

»Das nennen Sie eine Kleinigkeit?« unterbrach er sie drohend.

»Selbstverständlich,« bemerkte Lady Geraldine in gedehntem ironischen Tone. »Ein Komponist wie Sie kann sich's wohl leisten, eine kurzlebige Verunglimpfung zu übersehen, auf die ja doch niemand hört. Ich an Ihrer Stelle würde mir die heitere Spiegelfläche meiner Mißachtung durch keinen einzigen Gedanken des Zornes kräuseln lassen.«

»Ach, was Sie sagen, Lady Geraldine!« meinte er sarkastisch. »Gestatten Sie mir eine Frage? Sie sind sehr reich – ebenso reich an Geld wie ich an Musik. Ist es Ihnen angenehm, wenn man Ihnen ein Pfund stiehlt?«

»Ich lasse mich überhaupt nicht gern bestehlen, Mr. Jack.«

»Aha! Ich ebensowenig. Sie würden das Pfund nicht entbehren – man müßte Sie für knauserig halten, wenn Sie überhaupt daran dächten. Vielleicht kann ich es mir gerade so gut leisten, allabendlich hier von einem Halunken von Geiger verunstaltet zu werden. Aber es macht mir keinen Spaß.«

»Bei Ihnen weiß man nie, was man antworten soll,« erwiderte Lady Geraldine in bester Laune.

Jack erhob sich und blickte sich im Hause um.

»Heute abend sieht man alles, was gut und teuer ist, im Theater,« sagte er. »Der weißhaarige Herr da drüben, der sich hinter der Brüstung verbirgt, ist der Vater einer meiner früheren Schülerinnen – ein Mensch mit einem ganz unzähmbaren Temperament. Er heißt Brailsford. Der Jüngling mit dem Monocle im Parkett ist Kritiker – er hat mich neulich als einen vielversprechenden jungen Komponisten bezeichnet. Wer kommt denn da in die gegenüberliegende Loge? Die Szczympliça, nicht wahr? Ich sehe Madames Haarknoten aus dem Halbdunkel auftauchen. Sie nimmt sich natürlich den besten Sitz – ganz selbstverständlich, wie ein Kind bei seinem ersten Weihnachtsmärchen. Ein schöner Mann mit einem blonden Bart wird im Hintergrunde verschwommen sichtbar. Das muß der Knabe Adrian sein. Er hat sonderbare Lebensanschauungen, dieser Kerl,« fügte er hinzu, und vergaß dabei ganz, daß er neben der Mutter des Kerls saß.

Mrs. Herbert sah sich mit ernster Miene nach ihm um, und Lady Geraldine runzelte die Stirn. Er kümmerte sich nicht um sie. Er beobachtete Mary, die sich einen kurzen Augenblick zurückgelehnt hatte, jetzt aber für Herbert voll sichtbar dasaß und gespannt auf die Bühne blickte, da der Vorhang sich gerade gehoben hatte.

Zunächst verstummte die Unterhaltung in der Loge gänzlich. Erst als einige Worte hinter der Szene gesprochen wurden, gab Jack plötzlich einen unartikulierten Ausruf von sich und sprang in die Höhe. Gleich darauf trat eine Schauspielerin auf die Bühne hinaus – sehr hübsch, sehr elegant gekleidet, ein wenig gar zu selbstbewußt in ihrem Auftreten, ein wenig überschminkt, sehr reizvoll gerade wegen dieser unmerklichen Übertreibungen, durch die sie als fremdartiges Gegenstück zu dem respektablen Milieu, in das sie eingedrungen zu sein schien, gekennzeichnet wurde.

»Unmöglich!« meinte Mary unvermittelt, nachdem sie einen Augenblick lang ungläubig auf die Schauspielerin gestarrt hatte. »Das kann nicht sein! Und ich muß es doch glauben. Lady Geraldine – ist das nicht Madge Brailsford?«

»Ich glaube es fast selbst,« entgegnete die Lady, indem sie sich durchs Opernglas vergewisserte. »Wie unerhört die angestrichen ist! Ich glaube doch, sie ist es nicht. Die Person kann offenbar etwas – und das war, wie mir schien, bei Madge nie der Fall. Das Organ ist auch ganz anders.«

»Oho!« rief Jack. »Ich bin es gewesen, der das Organ bei ihr herausgebracht hat.«

»Dann ist es also doch Madge?« meinte Mary.

»Natürlich ist sie's! Sperren Sie die Augen auf und überzeugen Sie sich selbst.«

Mary blickte immer und immer wieder hin, als vermöchte sie es nicht zu glauben. Beim Aktschluß wurde Madge mit den Hauptdarstellern hervorgerufen; sie erntete aufrichtigen Beifall. Jack, dem derartige öffentliche Kundgebungen sonst sehr zuwider waren, beteiligte sich jetzt am Applaus, verursachte soviel Geräusch wie nur irgend möglich und befahl Mary voll Ungeduld, die Handschuhe auszuziehen, damit sie wirkungsvoller klatschen könne. Gleich darauf wurde hastig an die Logentür gepocht. Mary sah auf die andere Seite des Theaters hinüber, bemerkte, daß Adrians Platz leer war und wurde über und über rot. Jack öffnete die Tür, um – nicht Adrian, sondern Herrn Brailsford einzulassen, der zur Logenbrüstung voreilte, Lady Geraldine halb verstört die Hand schüttelte, Mary und Mrs. Herbert mit einer überstürzten Verbeugung nach links und rechts begrüßte, sich auf Jacks Stuhl niederließ und so tat, als ob er etwas Wichtiges zu sagen hätte, schließlich aber nichts sagte. Er war in einem Zustande hochgradigster Erregung.

»Nun, Mr. Brailsford,« meinte Lady Geraldine lächelnd, »darf man Sie beglückwünschen?«

»Kein Wort, bitte – kein Wort!« rief er, nach Atem ringend. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, wenn ich hier eindringe. Ich bin ein gebrochener Mann – von der leiblichen Tochter der Schande preisgegeben. Meine Lieblingstochter, mein Herr – gnädige Frau – ich bitte nochmals um Entschuldigung. Sie können es dieser jungen Dame sagen, daß Madge meine Lieblingstochter war.«

»So dürfen Sie ihren glänzenden Erfolg nicht auffassen,« meinte Lady Geraldine freundlich, indem sie ihn verwundert und mitleidsvoll ansah. »Sie haben ja auch noch mehr Töchter.«

»Pah! Puh!« stöhnte der alte Herr, warf den Kopf in den Nacken und knippste mit den Fingern. »Sie sind alle geborene Närrinnen wie ihre Mutter! Madge ist mir ähnlich – die einzige, die etwas von mir hat. Ist Ihnen jemals eine solche Unverschämtheit vorgekommen? Ein Mädel mit ihrer Erziehung läuft aus ihrem Hause in Kensington Palace Gardens schnurstracks auf die Bretter und spielt eine Pariser – eine französische – eine – der Teufel soll mich holen – eine Kokotte wie aus dem Leben gegriffen. Das war ja einfach unerreicht! Ich habe sie alle spielen sehen, die je auf den Brettern herumgelaufen sind – jahrelang, ehe Mylady geboren waren. Ich erinnere mich an die O'Neill, an die Jordan, an die Mars, an die Rachel! Sie kann mehr als alle, die O'Neill ausgenommen – damals war ich ein junger Dachs. Madge ist ja nicht zu halten gewesen! Mit Händen und Füßen habe ich mich gesträubt. Ihre Mutter auch – sie verstand ohnedies nicht mehr von ihrem Talent als der Elefant vom Klavierspielen. Wir haben alle unser möglichstes getan. Wir haben sie eingesperrt – ihr alles Geld abgenommen – ich habe ihr mit meinem Fluch gedroht – und ich werde sie auch jetzt noch verfluchen. Aber sie hat doch ihren Kopf durchgesetzt. Genau wie ich – ganz genau wie ich! Als ich in ihrem Alter stand, war mir meine ganze Familie geradeso Wurst wie der Kaiser von China. Das steckt im Blut! Ich hätte selbst zur Bühne gehen sollen – wenn's nur nicht ein so gemeines Gewerbe wäre. Ein Mann, der selbst Stücke schreiben kann, braucht sie nicht zu spielen. Ich werde meine alten Manuskripte durchsehen – und sie soll der Welt zeigen, was ihr alter Vater los hat. Haben Sie ihre Sicherheit bemerkt? Ich konnte die Aufregung, die dahinter steckte, sehr gut merken. Mir hat die Nervosität auch immer einen Streich gespielt. Ich sage Ihnen, gnädige Frau – ich darf mir in diesen Dingen schon ein Urteil erlauben – das ist wahre, echte Kunst, wie Madge auf der Bühne einhergeht und ihre Rolle herausbringt. Sie verstehen von alledem nichts, Miß Mary – Sie sind zu jung – Sie haben die richtige große Kunst nie gesehen. Ich aber kenne sie. Beim großen Young habe ich Unterricht gehabt – Edmund Kean war ein Stümper gegen ihn. Ich bin Charles Mayne Youngs bester Schüler gewesen und auch bei – aber das gehört hier nicht her. Keine wirkliche Dame würde sich das Gesicht anschmieren und sich für Geld öffentlich auf der Bühne zur Schau stellen. Und doch ist es fast unglaublich, daß ein junges Mädchen wie Madge ohne Unterricht oder Vorbereitung vom Salon auf die Bretter geht und London im Sturm nimmt ...«

»Sie hat sich aber doch in der Provinz einige Routine angeeignet?« fragte Mary.

»Ausgeschlossen!« entgegnete Brailsford aufgebracht. »Wenn man mit einer Horde Vagabunden und Schmierenkomödianten herumzieht, so gibt das keine Routine – nicht die richtige Routine für eine junge Dame. Sie ist die erste Brailsford, die jemals für Geld an einem öffentlichen Theater gespielt hat. Sie ist überhaupt keine Brailsford! Ich habe es ihr verboten, den Namen zu führen, den sie entehrt hat.«

»Lassen Sie es nur gut sein,« unterbrach Lady Geraldine. »Sie sind stolz auf Madge – das wissen Sie selbst am besten.«

»Ich bin es nicht! Ich habe sie nicht empfangen wollen. Ich habe mich von ihr losgesagt. Eine ihrer Schwestern habe ich abgefaßt, wie sie ins Theater kam, um sich dies unanständige französische Stück anzusehen, dessen Leben und Seele sie ist. Was wäre das Stück ohne sie, Lady Geraldine? Sagen Sie gefälligst, was wäre es ohne sie?«

»Das Langweiligste, was man sich denken kann.«

»Ha, ha!« rief Brailsford triumphierend. »Das will ich meinen! So langweilig wie Nudelteig! Schon ihr Organ würde ganz London ins Theater bringen. Sie glauben vielleicht, ich hätte ihr diese Sprache eingepaukt? Ich schwöre Ihnen, Mrs. Herbert – mit meinen eigenen zwei Fäusten hätte ich sie lieber umgebracht, als sie für diesen Beruf vorbereitet. Ich möchte nur wissen, wer ihr das beigebracht hat.«

»Ich!« warf Jack ein. Brailsford, der Jacks Anwesenheit noch nicht bemerkt hatte, starrte ihn an und wurde plötzlich in seiner Haltung ganz steif.

»Ich glaube, Sie kennen Mr. Jack schon,« bemerkte Lady Geraldine, die die beiden mit einiger Unruhe beobachtete.

»Sie sehen ja, was sie aus sich gemacht hat,« sagte Jack, indem er ihn scharf ins Auge faßte. »Ich bin ihr dabei behilflich gewesen – Sie haben ihr Hindernisse in den Weg gelegt. Wer von uns hatte also recht?«

»Ich habe keine Lust, diese Frage mit Ihnen zu erörtern,« entgegnete Brailsford laut und fuchtelte dabei mit seinem Handschuh umher. »Ich bin mit dem Vorgehen meiner Tochter nicht einverstanden.« Dann wandte er sich von Jack zu Mrs. Herbert und versuchte tapfer, eine ungezwungene Plauderei mit ihr einzuleiten. »Sehr auserlesenes Publikum, heute abend. Auch Ihren Sohn habe ich irgendwo im Hause gesehen – keineswegs der am wenigsten Auserlesene. Die Malerei ist eine vornehme Kunst. Ich erinnere mich noch an die Zeiten, wo Maler in der Gesellschaft nicht so angesehen waren wie jetzt. Ich habe es aber in meinem Leben nicht an Achtung vor ihnen fehlen lassen. Niemals! Wenn man sich ein schönes Gemälde angesehen hat, fühlt man sich wie ein besserer Mensch. Ihr Herr Sohn hat eine beneidenswerte Zukunft vor sich.«

»So höre ich.«

»Darüber kann kein Zweifel bestehen. Er ist ein ganz hervorragender junger Mann – wie denn überhaupt ein solches Erbteil persönlicher Vorzüge und geistiger Talente bei ihm nicht ausbleiben konnte.«

»Er schlägt sehr nach seinem Vater.«

»Das mag wohl sein, gnädige Frau,« entgegnete Brailsford mit einer Verneigung. »Ich habe seinen Vater nicht gekannt.«

»Wie sich seine Zukunft auch gestalten mag – ich werde nur wenig daran teilnehmen. Ich habe ihn zur Künstlerlaufbahn nicht ermutigt. Ich habe mich, so gut ich konnte, geweigert. Offenbar war ich im Irrtum – man wird leichter ein bekannter Maler, als ich es dachte. Kinder aber verzeihen solche Irrtümer nie.«

»Verzeihen?« rief Brailsford, wobei seine welken Züge sich leicht röteten. »Wenn Sie ihm seinen Widerstand gegen Ihre Wünsche einmal verziehen haben, so können Sie ihn doch wohl unmöglich für den entarteten Sohn halten, der jetzt noch irgendwelchen Groll gegen Sie nährt.«

»Wenn man eine unverdiente Kränkung der Eitelkeit nachträgt, so ist das keineswegs widernatürlich. Könnte ich Adrians Arbeiten selbst jetzt noch aufrichtig schätzen – er würde sich unzweifelhaft im Laufe der Zeit auch wieder mit mir aussöhnen wollen. Ich kann es aber nun einmal nicht. Ich finde seine Bilder schwächlich und sentimental. In jeder Linie sehe ich seine Charakterfehler. Bisher war ich immer der Meinung, daß Talent die unabweisliche Vorbedingung zum Erfolg wäre.«

»Ha, ha!« lachte Jack. »Was Sie Erfolg nennen, ist das Entgelt für den talentlosen Menschen. Hätten Sie an sein Talent geglaubt und ihm auch dann noch Erfolg gewünscht – Ihr Widerstand wäre begründeter und nachhaltiger gewesen. Manche fangen damit an, daß sie sich hohe Ziele stecken, und sie müssen warten, bis die Welt sich zu ihrer Höhe emporhebt. Andere wollen nicht so hoch hinaus und müssen sich zum Erfolg hinaufrappeln. Glückspilze wie Herr Adrian nehmen leicht den richtigen Maßstab an, da sie weder für die Akademieclique zu viel, noch für das Publikum zu wenig können.«

»Sie haben vielleicht recht,« meinte Mrs. Herbert. »Ich hätte daran denken sollen, daß auch schlechtere Maler wie er ihr zukommendes Teilchen Duldsamkeit abbekommen. Jetzt aber muß ich mich mit meinem Irrtum zufrieden geben.«

Brailsford klammerte sich an ihre letzten Worte. »Sie wollen damit doch nicht sagen, daß er Ihnen jetzt noch immer diesen oder jenen kleinen Verdruß nachträgt, den Sie ihm früher vielleicht bereitet haben? Nein, nein – das kann er doch nicht! Er muß einsehen, daß Sie lediglich von den aufrichtigsten Wünschen für sein Wohlergehen geleitet wurden – und so weiter.«

»Ich finde, seine Hartnäckigkeit oder, besser gesagt, seine Ausdauer tritt jetzt in seinem Groll gegen mich ebenso deutlich zutage wie damals in seinem Entschluß, gegen meinen ausdrücklichen Wunsch Künstler zu werden.«

Brailsford biß sich vor Verwirrung die Nägel und sah einigemal wortlos zu Mrs. Herbert hinüber. Lady Geraldine beobachtete ihn eine Weile und sagte:

»Der Fall liegt bei Ihnen aber ganz anders als bei Mrs. Herbert.«

»Natürlich,« stimmte er hastig zu, »natürlich – ganz anders! Ich wollte damit auch gar nicht – –«

»Und doch wieder sehr ähnlich,« fügte Lady Geraldine hinzu. »Sie haben sich beide den Neigungen Ihrer Kinder widersetzt. Mrs. Herbert aber glaubt nicht an Adrians Talent, wenn sie sich auch über die Stellung freut, die er sich geschaffen hat. Sie hingegen werden von Magdalens Talent mitgerissen, während Sie über die Stellung, die sie erreicht hat, empört sind.«

»Ich bin absolut nicht hingerissen. Sie verstehen meine Empfindungen ganz falsch. Ich bedaure Madges Handlungsweise aufs tiefste. Ich habe alle Korrespondenz mit ihr abgebrochen, seitdem sie durch die Annahme eines Engagements in London allen meinen Gefühlen Trotz geboten hat.«

»Kurz und gut also,« meinte Lady Geraldine mit freundlichem Scherz, »Sie würden, wenn sie jetzt hier in die Loge träte, nicht das Wort an sie richten?«

Brailsford zuckte zusammen und sah sich um. Es stand niemand hinter ihm! Nur Jack war verschwunden. »Nein,« entgegnete er beruhigt. »Auf keinen Fall. Ich kann auch kaum annehmen, daß sie es wagen würde, mir unter die Augen zu treten.«

Während seiner letzten Worte ging der Vorhang wieder in die Höhe. Bei Madges erneutem Auftreten war die Rolle ernsterer Art – mehr entschlossene Herzlosigkeit der Abenteuerin als ergötzliche Unverfrorenheit. Lady Geraldine, der ein solcher Passus gerade besonders gut gefiel, wandte sich mit einem beifälligen Blick an Brailsford. Er starrte unaufhörlich auf die Bühne – nicht mehr so triumphierend wie vorher, sondern mit fast verstörten Zügen. Als die Darstellerin, die einen früheren Liebhaber wiederzuerkennen hatte, in ihrer Härte etwas nachgab und einige Anzeichen von Gefühl zur Schau trug, da kam es fast wie eine Erleichterung über ihn. Nach dem Aktschluß starrte er noch immer auf den Vorhang. Plötzlich öffnete sich die Logentür. Er sah sich wieder bestürzt um. Es war Jack, der nahe an ihn herantrat und seinen forschenden Blick mit einem grimmigen Lächeln erwiderte. Er streckte seinen Arm über Brailsfords Kopf vor und zog eine der Gardinen vor, um die Loge so vom Zuhörerraum abzuschließen. Brailsford erhob sich, am ganzen Leibe bebend.

»Ich werde unter keinen Umständen – –« begann er.

Jack öffnete die Tür – und Madge trat ein. Ihr Kostüm war unter einem weiten, dominoartigen Mantel verborgen. Sobald die Tür sich schloß, warf sie die Umhüllung ab, schlang die Arme um ihren Vater und küßte ihn.

»Mein liebes Kind,« brachte er mühsam hervor. Dann setzte er sich. Sein Kopf sank herab; die Erregung des Augenblicks überwältigte ihn. Madge hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt und verneigte sich sehr selbstbewußt zu den Anwesenden, besonders zu Mary, die sie mit ›Miß Sutherland‹ anredete.

»Ich habe hier eigentlich nichts zu suchen,« sagte sie in eindringlichem Flüsterton. »Außerdem ist es auch verboten. Als aber Mister Jack kam und mir sagte, mein Vater wäre hier – da konnte ich ihn nicht wieder gehen lassen, ohne wenigstens ein Wort mit Papa zu sprechen.«

Lady Geraldine verneigte sich. Sie sowohl als auch die anderen Damen waren bereit gewesen, Madge mit freimütiger Liebenswürdigkeit zu empfangen. Ihr Aussehen aber und ihr Wesen beraubte sie aller Fassung. Sie erinnerten sich ihrer als eines hübschen, ausgelassenen jungen Mädchens – und vor kaum zwei Minuten hatten sie sie noch als etwas Ähnliches auf der Bühne gesehen. Wie sie aber jetzt vor ihnen stand, schien es, als hätte sie in diesen zwei Minuten nicht nur an Höhe sondern auch an Umfang zugenommen. Die elegante schlanke Dame der Bühne war hier in der Loge ein mächtiges starkes Weib mit volltönender Stimme und getragener Sprache. Selbst in der Bewegung der Hand, wie sie ihren Vater auf die Schulter klopfte, lag etwas Rhythmisches, als ob die Gebärde einstudiert wäre. Die wohlwollende Protektormiene, mit der Lady Geraldine dem impulsiven, begabten jungen Mädchen hatte begegnen wollen, ging in einem Gemisch von Respekt, Enttäuschung und sogar Abneigung verloren, wie sie das selbstbewußte, selbständige, vollgültige Weib in ihr erweckte. Mary fand zuerst ihre Fassung wieder.

»Madge,« begann sie, »das heißt – wenn man dich Madge nennen darf.«

»Natürlich darf man!« entgegnete diese mit einem anmutigen Lächeln und Kopfnicken.

»Auf der Bühne bist du dir eigentlich selbst viel ähnlicher als vor der Bühne.«

»Jawohl,« bestätigte Madge. »Seit zweiundeinhalb Jahren habe ich mir nicht ein einziges Mal Ferien gemacht.«

Brailsford, der sich wieder aufgerichtet hatte, hüstelte und sah sich mit strenger Miene im Kreise um. Als sein Blick auf Madge fiel, löste sich die harte Spannung seiner Lippen; und als er noch einmal ängstlich zu ihr aufblickte, ging ihm seine Selbstbeherrschung noch sichtlicher verloren als den übrigen.

»Ich finde, du bist sehr gewachsen, mein Kind,« sagte er verwirrt.

»Ja. Ich glaubte, du würdest mich nicht wieder erkennen. Du siehst besser aus denn je. Was machen die Mädels?«

»Es geht ihnen sehr gut, mein Kind. Danke – sehr gut.«

»Und Mama?«

»Oh – auch gut. Nur ein wenig Rheumatismus, natürlich – und – ah – oh – –«

»Morgen werde ich euch alle besuchen – um eins. Ihr bleibt doch bestimmt zu Hause, nicht wahr?«

»Natürlich, natürlich! Wir werden uns alle sehr freuen.«

»Jetzt muß ich aber fort. Heute abend sehe ich dich nur noch durch die Rampenlichter. Mr. Jack – bitte, meinen Mantel!« Jack legte ihn ihr um die Schultern. »Ist der Korridor leer?« Jack sah hinaus und nickte zustimmend. »Ich muß dir noch einen Kuß geben, Papa!« Das tat sie denn auch, und Brailsford zeigte bei dieser Gelegenheit keinerlei Erregung, begnügte sich vielmehr mit einem völlig verblüfften Gesicht. Dann verabschiedete Madge sich mit einer ebenso freundlichen Verneigung wie vorher von Lady Geraldine und Mrs. Herbert.

»Guten Abend, Madge,« sagte Mary, indem sie ihren Kneifer aufsetzte und ihr voll ins Gesicht sah.

»Guten Abend, liebes Kind,« erwiderte Madge, indem sie ihr den Arm um den Nacken legte und sich zu einem Kusse niederbeugte. »Besuche mich doch morgen – dann werde ich dir meine ganze Geschichte erzählen! Sollen wir's jetzt versuchen, Mr. Jack?«

»Vorwärts!« rief dieser. Wie sie jetzt hinaustrippelte, raffte sie den Mantel mit einer geschickten Bewegung auf und ließ so für einen kurzen Augenblick ihren kleinen Fuß sehen.

Nach ihrem Verschwinden erfüllte eine Weile lang peinliches Schweigen die Loge. Schließlich unterbrach Jack die Stille, indem er sich mit einem vergnüglichen Kichern abseits an Mary wandte: »Als ich diese junge Dame zum erstenmal sah, war sie ein hilfloser, unbrauchbarer Putzartikel.«

»Und jetzt ist sie ein unabhängiges Weib und eine vollendete Künstlerin,« fügte Mary hinzu. »Wie ich sie beneide!«

»Und warum, wenn ich fragen darf?« meinte Jack.

»Weil sie doch wenigstens zu etwas in der Welt nütze ist.«

»Ich werde mich jetzt auf meinen Platz zurückbegeben,« sagte Brailsford, der sich plötzlich erhob. »Ich glaube, ich störe hier doch nur. Guten Abend.« Er reichte Lady Geraldine seine zitternde Hand, verneigte sich höflich vor Mary und Mrs. Herbert und wandte sich zum Gehen. Auf dem Wege zur Tür blieb er stehen, trat vor Jack hin und machte eine förmliche Verbeugung, die dieser ebenso würdevoll erwiderte. Dann ging er langsam hinaus – wie ein alter gebrochener Mann, ohne den geringsten Anflug seiner sonst so munteren Lebhaftigkeit.

»Armer Teufel!« meinte Jack. »Er findet sein Lieblingsbaby in eine ausgewachsene Frau verwandelt – und das paßt ihm nicht. Wäre sie noch immer das liebliche reizende kleine Ding, das in allen Dingen von ihm abhängig war – er würde sich vor Freude über das niedliche Spielzeug gar nicht fassen können.«

»Möglich!« meinte Lady Geraldine. »Es gibt aber auch noch etwas in der Welt, was man Vatergefühl nennt. Vielleicht ist Mr. Brailsford auch nicht genug Philosoph, um sich an einer Veränderung zu erfreuen, die den Spalt zwischen ihrer Jugend und seinem Alter – –«

»Er braucht keine Angst zu haben,« erwiderte Jack. »Wenn er sie nicht länger als Spielzeug benutzen kann, so ist sie imstande, aus ihm ein Spielzeug zu machen. Sie geht schon mit dem Gedanken um, den weißhaarigen Papa in einen Bestandteil ihrer Bühnenausrüstung umzuwandeln. Ich habe es erkannt, wie der wilden Hummel der Gedanke durch den Kopf schoß, als sie so dastand und auf ihn herniedersah. Er machte einen sehr effektvollen Eindruck. Diese Art von Familienzugehörigkeit ist zur Hälfte Besitztitel, zur andern Superioritätsgefühl. Miß Sutherland – eine unglückliche junge Dame, die zu weiter nichts in der Welt nütze ist – besaß kein solches Eigentumsrecht auf Miß Brailsford, wie ihr Vater es ehedem für sich in Anspruch nahm, noch befand sie sich früher in der bequemen Lage, sie zu Gesellschaften einzuladen und unter die Haube zu bringen. Demzufolge war sie jetzt auch die einzige, die die Veränderung an ihr mit Wohlwollen hingenommen und sie aufrichtig willkommen geheißen hat.«

»Ich bin mir nicht bewußt, ihr anders als in jeder Hinsicht freundlich entgegengekommen zu sein.«

»Sind Sie dessen so sicher?« entgegnete Jack skeptisch. Lady Geraldine errötete unmerklich, lächelte aber trotz ihrem Ärger. »Nein, wirklich, Mr. Jack,« rief sie. »Sie sind ein ausgewachsenes enfant terrible. Ich will es ja gern eingestehen, daß ich von ihrem komödienhaften Wesen etwas abgestoßen war. Ich kann sehr gut begreifen, daß Schauspieler auf der Bühne unerträglich komödienhaft und im gewöhnlichen Leben völlig natürlich sind. Ich verstehe aber nicht, wie eine Schauspielerin auf den Brettern ganz natürlich und außerhalb so komödienhaft sein kann.«

»Das Komödiespielen ist ihr eben zur zweiten Natur geworden, und sie hat sich Ihren gesellschaftlichen Kreisen entwöhnt – das ist alles. Wie sie ja ganz richtig bemerken – schlechten Schauspielern wird das Spiel niemals zur zweiten Natur. Jetzt tritt sie wieder auf.«

»Der ganze Reiz der Erscheinung wirkt schon viel schwächer,« meinte Lady Geraldine, sich der Bühne zuwendend. »Jetzt kommt sie mir nicht halb so lebenswahr vor wie vorhin.«

Das Stück endete ebenso erfolgreich, wie es begonnen. Die Übersetzer dankten im Namen des Autors für den Beifall; von dem übrigen Applaus erhielt Madge Lanchester den Löwenanteil. Die Besucher des Parterres und der Galerie strömten mit lautem Getrampel über die Treppen der Straße zu. Die Inhaber der teureren Plätze bahnten sich langsam Schritt für Schritt ihren Weg durchs Foyer: die Männer ließen die Füße bei jeder Bewegung über den Boden gleiten – die Damen hielten warme Umschlagtücher fest in der einen Hand und hängten sich mit der andern linkisch an die Arme ihrer Begleiter. Lady Geraldine bekam Herrn Brailsford, als sie die Treppe hinunterstieg, flüchtig zu sehen; er aber eilte von dannen, als trachte er, jede weitere Unterhaltung zu vermeiden. Jack, der bei den rührenden Stellen des Stücks Ergriffenheit gezeigt und die Lady damit weidlich ergötzt hatte, verharrte seitdem in Schweigen und schritt mit düsterer Miene neben Mary einher. Im Vestibül gab es einen kleinen Aufenthalt, da Lady Geraldines Diener nicht gleich zur Stelle war.

»Da kommt wenigstens einer, der glücklich ist!« sagte er verdrossen.

Mary sah auf und erblickte Herbert, der mit Aurélie, die wie Jack Gegenstand einigen Geflüsters und Fingerzeigens war, die Treppe herunterstieg.

»Jawohl,« entgegnete Mary, »er ist glücklich. Es wundert mich auch nicht – sie ist sehr hübsch und fein. Sie ist eine größere Künstlerin als Madge – und sie hat auch nichts von Madges sicherem Auftreten an sich. Das würde Adrian abstoßen.«

»Sie verfügt über genug Sicherheit in der Musik – das ist ihr Geschäft. Miß Madge hat viel Sicherheit im Wesen – das ist eben Madges Geschäft!«

»Wissen Sie, Geraldine,« bemerkte Mrs. Herbert, »ich denke gerade an den Unterschied zwischen Adrian und dem Mädel – Madge Brailsford. Sie kann etwas, sie ist klug, sie behauptet ihren Platz der Welt gegenüber. Kurz und gut, sie ist alles, was Adrian nicht ist und was ich mir an ihm so oft wünsche. Und doch ist ihr Vater ebenso weit von einem Einverständnis mit ihr entfernt, wie Adrian von mir. Ich frage also: Hat es irgendwelchen Zweck, seine Kinder liebzuhaben? Ich glaube wirklich, es hat keinen.«

»Nicht den geringsten – sobald sie einmal selbständig geworden sind,« entgegnete Lady Geraldine, wobei sie ungeduldig nach der Tür blickte. »Wo bleibt denn nur mein Diener? Der Mensch muß verrückt geworden sein!«

In diesem Augenblick erkannte Aurélie Mrs. Herbert, wollte stehenbleiben und sagte einige Worte zu Adrian, die ihn unverzüglich in Verwirrung und Unentschlossenheit versetzten. Offenbar drang sie mit einer Bitte in ihn. Während er nach Ausflüchten suchte und sich befleißigte, nicht zu seiner Mutter hinüberzusehen. Was sich hier Mrs. Herberts Blicken bot, war für sie auch ohne die Zutat von Worten verständlich, und sie machte Lady Geraldine darauf aufmerksam.

»Das ist alles die Schuld meines Dieners,« meinte diese. »Wir hätten schon vor fünf Minuten draußen sein können. Sie tun am besten, den Stier bei den Hörnern zu packen, Eliza. Reden Sie ihn doch an – den Waschlappen.«

»Auf keinen Fall!« rief Mrs. Herbert. »Hoffentlich hat er wenigstens so viel Willenskraft, sie weiter zu bringen.«

Der Vorfall wurde durch das Erscheinen des Dieners abgeschlossen, der eilig herbeikam und den Aufschub zu erklären begann.

»Na, endlich!« meinte Lady Geraldine. »Ich will nichts hören! Wo ist denn Mary?«

Mary eilte mit Jack schon vorauf.

Herbert bemerkte ihr Verschwinden mit einem Gefühl der Erleichterung. Als er in seine Wohnung gelangte, sah er sich einem Anflug von Reue über sein ausweichendes Benehmen mit Mary in nicht gerade angenehmer Weise überhoben. Auf dem Tisch fand er ein Paketchen mit allen ihr ehedem zugedachten Briefen und Geschenken, daneben lagen einige Zeilen, die ›Geehrter Herr Herbert‹ begannen und in denen sie ihm in kurzen Worten mitteilte, sie halte es nach nochmaliger Überlegung für besser, den in solchen Fällen üblichen Weg einzuschlagen. Am Schlusse empfahl sie sich ihm ›hochachtungsvoll‹ als seine ›ergebene Mary Sutherland‹.


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