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Durch jene unglückselige Nacht hatte sich im Kolk eine kleine Gemeinschaft gegründet, deren Mittelpunkt nun Barbe Wiels Haus war. Daniel Timm kam jeden Tag herüber, um seine ernsten Gespräche mit Tina für ein Stündchen fortzusetzen. Barbe Wiel hörte gern zu; oft, das Scheuertuch in der Hand, stand sie im Türrahmen und lauschte auf Timms Worte. Sie gab auch hin und wieder eine Bemerkung dazu, so, wie sie über Gott und Welt in ihrem einfältigen Herzen dachte. Sie freute sich darüber, wenn Timm auf ihre Gedanken einging, und es kam sogar vor, daß sie die Arbeit länger liegen ließ, als sie es verantworten zu können glaubte. Dann fuhr sie jedesmal mit einem kleinen Schrei auf und mit einem »Herr Gott, wie die Zeit rennt« lief sie hinaus an ihre Arbeit.

Sie hatte mit einem gewissen Stolz Timm eines Tages das Haus gezeigt. Sieben Stuben waren darin. »Sieben ist eine gute Zahl«, sagte er. Es waren eigentlich kleine, niedrige Kammern, von Wand zu Wand hatte man nur drei Schritte. Vier dieser kleinen Stuben lagen um die winzige Küche gruppiert im Erdgeschoß, die drei andern hingen wie Nester im Dachgebälk. Hier hauste Anton Olkers. Er stöhnte oft, wenn sein lahmes Bein die schmale Treppe hinaufstelzen mußte, aber dagegen war nichts zu machen, man konnte doch nicht einfach seinen Kram mit Barbe Wiel zusammenwerfen. Das ging schon vor den Leuten nicht. Alles muß Sitte und Anstand haben. So kroch er Abend für Abend unter das Dach, und nur an windigen Tagen, wenn es ihn im gesunden Bein zwackte, durfte er ausnahmsweise auf dem kleinen geblümten Sofa schlafen. Aber da lag er sich krumm und war froh, am nächsten Abend wieder in seinem Schwalbennest zu liegen.

In dem Haus gab es viele Blumen, fuchsrote Geranien und sogenannte englische, deren Blätter besonders geartet waren. Diese Blumen blühten bis in den Winter hinein. Es waren auch Wachsblumen da, Asklepia nannte sie Daniel Timm. Das waren dickblattige Rankpflanzen, wie man sie nur noch selten sah, denn man sagt, daß sie die Luft der Altfrauenstuben zum Gedeih nötig haben. Das Wunder unter den Blumen der Barbe Wiel aber war die Passionsblume, in deren blauer Glasblüte die Dornenkrone des Herrn dargestellt war, die böse Lanze des Römers, mit der man ihm die Seite öffnete, und der gute Speer, darauf man ihm den Essigschwamm reichte. Solche Blumen gab es im Hause, und andere mit bescheidenem Namen. Fleißiges Lieschen und Waldkraut, dessen Stengel mit weißen und blaßblauen Blütensternen übersät waren.

Draußen aber, vorm Haus, schrien und flatterten die Möwen. Sie hatten sich angewöhnt, bis dicht an den Gartenzaun zu kommen, und nach dem Brot zu haschen, das ihnen Olkers oder Uhlig hinwarf. Olkers nahm diese Möwen für sich in Anspruch. Sie waren an den langweiligen dunklen Tagen seine Unterhaltung, und es ärgerte ihn, wenn sie sich vor Herrn Peines Laden auf das Geländer setzten. Kamen sie dann wieder zu ihm geflogen, so schimpfte er ihnen ärgerlich entgegen: »Was habt ihr da zu suchen? Ich habe fünfzehn Jahre da gewohnt und sie haben mich rausgesetzt. Das ist kein Platz für euch.« Er war erst wieder zufrieden, wenn die kühnste der Möwen herabschoß und ihm das Brot aus den Fingern riß.

An einem dieser Wintertage hatte Atze Uhlig Herrn Schowe getroffen. Sie sahen sich wohl jeden Tag im Vorbeigehen, aber sie sprachen nicht miteinander. Uhlig war ärgerlich darüber, daß Schowes nicht ein einziges Mal sich nach Tinas Befinden erkundigt hatten. Nur als Uhlig die Miete gebracht hatte, fragte Schowe, wie es mit Frau Öffgens Befinden stünde und ob sie wohl dächte, die Wohnung weiter halten zu können. »Ich will sie nicht an die Luft setzen«, hatte Schowe gesagt, »aber ich muß sagen, daß mir die ganze Geschichte fatal ist. Ich habe solchen Krach und Aufstand nicht gern im Hause. Mein Haus ist immer ein ruhiges Haus gewesen.« Schowe hatte das kleinlaut herausgebracht und man merkte wohl, daß diese Worte nicht von ihm kamen, sondern daß er sie eingeflößt bekommen hatte. Vielleicht dachte Frau Schowe schon daran, auch Tinas Wohnung für ihre Tochter mit Beschlag zu belegen. Nun aber konnte man schon im Geschäft auf ein Vierteljahr zurücksehen, und es hatte sich in dieser Zeit herausgestellt, daß die Erwartungen bei weitem nicht erfüllt waren. Uhligs Hauptkundschaft waren die Schiffer gewesen, die sonnabends große Einkäufe für ihre Reise machten, Brose, Aderholt, Wiedemann und Gülke oder wie sie noch hießen. Das waren Männer, die am alten hingen und die den Laden, darin sie kauften oder ihren Schnaps tranken, so sehen wollten, wie sie es seit langen Jahren gewohnt waren. Sie waren auch mit Uhlig befreundet und sein Reinfall mit Löders hatte sich bei ihnen herumgesprochen. Vor allem aber waren sie ärgerlich auf Schowe, der diese Gelegenheit benutzt hatte, um seinen Schwiegersohn ins Geschäft zu setzen.

So hingen sie nach wie vor in guter Gesinnung an Uhlig, und sie baten ihn oft, ihnen dieses oder jenes aus der Stadt zu besorgen. Daraus war mit der Zeit eine Gewohnheit geworden, und sie fanden sonnabends die gewünschten Sachen bei Timm aufgestapelt. Uhlig hatte schließlich im Hausflur ein paar Bänke aufgestellt, auf denen die Schiffer oder ihre Frauen saßen und das Bier tranken, das man aus der Wirtschaft am Unterdamm schnell besorgen konnte.

Daniel Timm war anfangs nicht ganz damit einverstanden gewesen, aber er hatte bald herausgefunden, daß die Schiffer nachdenkliche Menschen waren, bei denen ein Wort nicht leicht verloren ging. Wenn sie auch oft über Timm lachten, so hielten sie im Grunde ihres Herzens doch viel von ihm, kamen gern und ließen sich manche Wundergeschichte erzählen.

Herrn Peines Laden aber wurde von den Schiffern nicht mehr betreten. Auch mit dem Versandgeschäft ging es nicht so gut, wie man es sich ausgemalt hatte. Albert war wohl mit dem Lieferwagen den ganzen Tag unterwegs, auch wenn keine Bestellungen aus der Stadt vorlagen.

»Man muß sich immer wieder in Erinnerung bringen«, hatte Herr Peine gesagt, und so mußte Albert dafür sorgen, daß der kanariengelbe Wagen der Firma Peine & Co. durch alle Straßen der Stadt flitzte.

Herr Schowe hatte also genug Verdruß und er war oft im stillen wütend auf seine Frau, die ihn in all dies Neue hineingeworfen hatte. Weil man Geld im Geschäft brauchte, mußte er sich schweren Herzens entschließen, noch mehr von seinem Ackerland zu verkaufen, und er sah schon den Tag herankommen, wo ihm nichts mehr bleiben würde als das graue Mietshaus, das karge Feldstück und eine pompöse Firma, die nichts zu beißen hatte.

Nun also hatte er Uhlig getroffen. Sie waren beide auf dem Nachhausewege und Schowe hatte sich beeilt, Uhlig einzuholen. Es war wohl die Sehnsucht, einmal wieder mit einem Menschen zu sprechen, den man aus alter Zeit her kannte. So gewissermaßen ein Gespräch behaglich und nachbarlich, wobei man am liebsten das Jackett ausziehen würde, um es sich bei Rede und Gegenrede mit einer Zigarre im Munde und in Hemdsärmeln von Herzen gemütlich zu machen. Uhlig schleppte ein großes Paket, dessen Last ihm die Schulter herunterzog.

»Das ist wohl wieder für die Schiffer?« fragte Schowe. »Sie sind mir schon einer!«

Er lachte plötzlich, weil es ihn freute, daß seinem Schwiegersohn, mit dem er am Vormittage wieder einmal eine Auseinandersetzung gehabt hatte, da ein paar Taler durch die Lappen gingen.

»Es ist Kreude, ich habe den Saft frisch von der Fabrik geholt. Brose hat ihn bestellt«, antwortete Uhlig.

»Dann wollen wir's mal so machen«, sagte Schowe zu Uhligs Überraschung, schob seinen Stock durch die Schnur und sie trugen nun die Eimer mit dem Rübensaft gemeinsam.

»Das kann ich gar nicht annehmen«, meinte Uhlig.

»Unsinn«, rief Schowe, »ich dächte, wir kennen uns lange genug. Das hilft sich gegenseitig. Wie du mir, so ich dir.«

Er schwieg verlegen, weil es ihm wohl einfiel, wie er an Uhlig hatte handeln müssen.

»Na ja«, fuhr er schließlich fort, »das ist nun mal so. Wie geht's denn der Tina? Barbe Wiel päppelt sie wohl tüchtig. Man hat sie lange nicht zu Gesicht bekommen.«

Uhlig wurde nun auch gesprächiger und berichtete, was Schowe zu wissen wünschte.

»Wie ist's denn nun eigentlich mit dem Stam Öffgen?« fragte Schowe. »Der hat sich wohl schlank gemacht wie so 'n Regenwurm. Nun, vielleicht zieht es sich wieder zusammen. Es gibt immer mal Krach in der Ehe. Am besten wär's, er würde die Frau nach Hamburg holen. So ist das nichts Halbes und nichts Ganzes.«

Uhlig antwortete nicht.

»Sie haben recht«, sagte Schowe, »was soll man dazu sagen? Aber ich finde, Sie rebbeln sich zu sehr auf bei der Geschichte. Nachher hat man nicht mal ein Dankeschön. Das wissen Sie am besten.«

Uhlig wehrte ab. »Die Hauptlast hat ja Barbe Wiel, und sie tut es gern.«

»Ja, das ist ne Frau«, sagte Schowe anerkennend, »immer fleißig und adrett. Man kann ihr nichts nachsagen. Das Haus ist ein richtiger Schmuckkasten, so klein, wie es ist.«

Sie waren jetzt kurz vor Timms Torweg. Schowe zog seinen Stock aus der Schnur. »Das Stückchen geht's wohl nun allein«, sagte er. Er fürchtete wohl, daß seine Frau es sehen könnte. Aber sie standen noch ein Weilchen im Gespräch. Schowe hatte Uhlig auf die Schulter geklopft.

»Wissen Sie«, sagte er schmunzelnd, »die Barbe Wiel ist keine schlechte Frau. Früher habe ich manchmal gedacht, der Uhlig wird sich da noch ranmachen. Die paar Jahre, die sie älter ist, machen ja den Kohl nicht fett. Was sind schon zehn Jahre?«

Uhlig war so verdutzt, daß er kein Wort der Erwiderung fand. Er starrte bloß in Schowes schmunzelndes Gesicht.

»Da hat mir neulich einer erzählt«, sagte Schowe, »daß sein Freund eine Frau ganz hinten in Ostpreußen geheiratet hat. Die ist vierzig Jahre älter. Und wissen Sie, was ihr erstes Geschenk für den Bräutigam war? Ein schwarzes Käppi, so wie's ihr seliger Mann getragen hat. Damit muß nun der junge Ehemann den ganzen Tag am Ofen sitzen, und sie sagt Vater zu ihm. Das nenn ich Courage, wenn die Frau vierzig Jahre älter ist. Aber im allgemeinen hat man's nicht schlecht bei 'ner älteren Frau. Überlegen Sie sich's mal.«

Er tippte an den Hut und ging weiter. »Wiedersehen«, sagte er noch.

Als er ein paar Schritte hin war, begann Uhlig zu lachen. Schowes Vorschlag amüsierte ihn den ganzen Tag. »Was hast du bloß?« fragte Barbe Wiel neugierig. Seine Lustigkeit teilte sich allen mit, und man war an diesem Tage in dem kleinen Haus von Herzen vergnügt, so daß Daniel Timm gar nicht dazu kam, die fromme Geschichte weiter zu erzählen, die er tags zuvor begonnen hatte.

An diesem Abend mußte Uhlig noch spät in die Stadt gehen, um eine Versicherung abzuschließen. Ab und zu boten sich ihm noch solche Geschäfte, allerdings bloß selten, für gewöhnlich war es ein zweckloses Auf- und Ablaufen, und er hatte schließlich diese Tätigkeit fast ganz aufgegeben. Nur wenn ihm einmal von dieser oder jener Seite ein Wink gegeben wurde, holte er die Aktentasche mit den Polizzen und Formularen aus der Ecke und machte sich auf den Weg.

Nun war er zu einem jungen Ehepaar bestellt worden. Er kam in eine kleine Wohnung. Es waren wohl nur zwei Zimmer und Küche, aber vom ersten Schritt an hatte er das Gefühl, in ein abgeschlossenes Reich zu kommen, in eine besondere Welt inmitten eines großen Mietshauses. Da stand nichts an den Wänden von billigen Abzahlungsmöbeln, wie er sie oft in solchen Wohnungen vorgefunden hatte, Möbel, die nach außen hin ein großes Trara machten und im Grunde nichts weiter waren als billiges Kistenholz und jämmerliche Schablone. Diese Möbel hier waren solide und handfeste Stücke und dachten nicht daran, eine erbärmliche Pracht vorzutäuschen.

»Ich habe sie selbst gezimmert«, sagte der Mann, »abends nach der Arbeit.«

»Sie sind Tischler?« fragte Uhlig.

»Seit einem Jahr«, sagte der Mann, »mein Vater war Lokomotivführer und wollte, daß ich was Besseres würde. Er schickte mich in eine Kaufmannslehre. ›Da kannst du mal Prokurist werden‹, sagte er. Er ist mit diesem frommen Wunsch auch gestorben. Leider ist es, wie Sie sehen, nur ein Wunsch geblieben, oder besser Gott sei Dank. Ich brauche Ihnen das nicht zu erzählen. Wir haben es ja alle am eigenen Leibe erfahren. Ich habe dann meine Frau kennengelernt und hatte es satt, nebenbei zu stehen. Schließlich will man nicht bloß ein paar Bettelpfennige bekommen, sondern seinen eigenen Hausstand haben, Frau und Familie. Ich hab' also kurz entschlossen umgesattelt und von vorn angefangen. Und ich bin zufrieden darüber.«

Uhlig sah sich in der Stube um. Der Mann hatte also den ganzen Verhältnissen zum Trotz sein Leben neu ausgebaut. Man merkte es auch schon seinem Tonfall an, daß er nicht gewohnt war, unterzukriechen. Dieser Mann hatte also einfach eines Tages ein paar Bretter genommen und seine Wirtschaft gezimmert. Nun saß er zwischen eigenem Hausrat. Er wird es schwer haben, so hoch wird sein Verdienst nicht sein, aber sicher arbeitet die Frau noch mit. Sie wird schneidern oder nähen oder hier und da in fremden Haushalten helfen. Es ist eine junge, frische Frau, die mit Strumpf und Stopfnadel unter dem Lampenschirm sitzt. Der Mann hat eine Bastelei vor sich, es soll ein Nähkasten werden.

Uhlig hat seinen Besuch etwas länger ausgedehnt. Man hat erzählt und sein Leben ein wenig aufgedeckt.

»Sie sollten sich wieder selbständig machen«, hatte der Mann gesagt. »Mit Versicherungen ist es doch nichts mehr. Ich würde an Ihrer Stelle hinterher sein, wieder einen kleinen Laden zu bekommen. Und wenn das nicht ist, einen Handwagen an einer lebhaften Ecke in der Stadt. Man muß sehen, daß man was in den Händen hat, was Greifbares. Es ist nichts, bloß immer hinterher zu laufen.«

Er entwarf Uhlig einen Plan, wie er es anfangen müßte.

Uhlig war ärgerlich, als er ging. Er hatte dagesessen wie ein Schuljunge und sich alles angehört. So unselbständig war man. Jeder glaubte, seine Weisheit bei ihm anbringen zu können. Schowe mit seinem dummen Einfall und nun wieder der Tischler. Man hatte doch selber jahrelang ein eigenes Geschäft gehabt, das einen ausreichenden Nutzen brachte.

Darüber dachte Uhlig jetzt nach und auf einmal erschien es ihm, als hätte nicht er das Geschäft besessen, sondern das Geschäft ihn, und als wäre er nicht der Herr seines Ladens gewesen, sondern ein Diener.

Was war denn eigentlich passiert? Nichts weiter, als daß Schowe ihm vor Monaten den Laden gekündigt hatte, aber es gab viele Läden, die leer standen und man hätte irgendwo anders gut wirtschaften können. Seine Lieferanten würden ihm schon Ware auf Kredit gegeben haben.

Anstatt sich für Neues und Größeres zu entschließen, war er herumgelaufen, um hier oder da wehleidig die Summe zu borgen, für die er für Löders bei Schowe gutgesagt hatte.

Nicht für das Gewesene hätte er seine Kraft einsetzen sollen, sondern für das Zukünftige.

Seine Tätigkeit jetzt war nichts Halbes und nichts Ganzes. Er lebte von der Hand in den Mund und nirgends war etwas, wovon er mit Stolz hätte sagen können: das gehört mir.

Der Tischler also hatte einfach neu angefangen.

Er hatte eine Frau kennengelernt. Da wußte er natürlich, wofür er es tat.

Warum weiß ich das denn nicht, dachte Uhlig. Wo steht's denn geschrieben, daß ich allein durch die Welt laufen soll? Da muß man sich auf einmal vor den Kopf schlagen. Man hat sich schön im Leben verblättert, das muß man schon sagen.

Uhlig ging an diesem Abend durch viele Straßen. Es hatte zu schneien begonnen, große weiche Flocken fielen. Sie tanzten wie Schmetterlinge durch das Laternenlicht. Die kleine Kirche auf dem Platz war noch erleuchtet. Sie hatte einen kurzen, klumpigen Turm und mit dem tief herabgezogenen Dach sah sie aus wie eine rundliche Nachbarin mit grauem Kopftuch, die sich zu einem kleinen Schwatz hingesetzt hat. Nun schaukelten sich an den hellen, bunten Fenstern die dicken Flocken vorbei.

In Uhlig war plötzlich eine vergnügte Freude. Das ist ein putziger Abend, denkt er. Man ist ärgerlich und denkt über viele Dinge nach. Man zankt sich aus, weil man sich auf das falsche Pferd gesetzt hat. Man überlegt, wie man's besser machen könnte, und man weiß nicht recht, wie es gehen soll, und auf einmal mitten drin wird es einem vom Herzen aus fidel. Da ist eine kleine, schnurrige Kirche, die Fenster mit den Heiligen darauf sind erleuchtet, es sind blaue, gelbe und grüne Fenster. Durch die dicken Steine hört man nur brummelnd die Stimme des Predigers. Und nun steht man gemütlich da und ist doch weit weg, sitzt wieder bei Mutter am Tisch mit Schere und Roggenkleister, hat einen Modellierbogen ausgeschnitten und klebt eine Kirche zusammen, eine schnurrige Kirche mit einem kurzen, klumpigen Turm, auf dessen Spitze ein gelber Hahn sitzt. Wenn man vorsichtig ein Licht hineinschiebt, vorsichtig, damit die ganze Pracht nicht abbrennt, sind die kleinen papierenen Fenster hell. Man kann Watteflocken darüber schneien lassen, Mehl oder Zucker. Die Stube ist warm und Mutter stopft die Hose, die man am Tage zerrissen hat. Wenn Mutter die Nadel einfädelt, muß sie sich weit ins Licht beugen. Sie hat eine Brille auf der Nase und auf der Stirne den alten lieben Leberfleck. Der sitzt da wie ein kleiner, bräunlicher Mond.

Atze Uhlig war als Kind oft traurig gewesen, daß der Leberfleck bei ihm unter dem Hals saß und daß man ihn nicht sah. Er hätte ihn auch gerne auf der Stirne gehabt, aber groß wie eine Sonne.

Nun war Mutter lange tot und die kleine papierene Kirche war längst zerrissen, aber an diesem Abend war das alles wieder aufgestanden, regte sich um ihn und es war, als wollte es mit ihm sprechen. Wenn er früher als Kind genug hatte von Spiel und Lauf, sagte er: »Nun will ich zu Mutter gehen.« Als er jetzt im Schnee vor der Kirche stand, mit vielerlei Nachdenken, sagte er auf einmal aus seinen Gedanken heraus: »Nun will ich einmal nach Tina sehn.« Er hatte ihren Namen im Munde behalten und sagte ihn noch ein paarmal vor sich hin. Du bist krank gewesen, Tina, aber nun wird das gut. Du hast viel Schlimmes durchgemacht, aber das soll nicht mehr sein.

Er hatte die Mütze abgenommen und die Flocken tanzten ihm über den Kopf. Er schluchzte, schluckte, lachte und schneuzte sich. Er trabte barhäuptig weiter, in seinem Herzen blühte Gottes große heimliche Fröhlichkeit.

»Ich will Tina Blumen mitnehmen«, sagte er.

Vorm Konzerthaus stand immer eine alte Frau, die Blumen feilbot. Nelken, Tulpen, manchmal auch Rosen. ›Was wird sie jetzt im Schnee wohl für Blumen haben?‹ überlegte er.

Sie hatte Veilchen, große, blaue Veilchen. »Die duften auch«, behauptete die Frau, aber er spürte nichts davon. Die Kälte saß ihm wohl in der Nase. Er zählte der Frau das Geld in die Hand. »Im Winter läßt sich der Frühling bezahlen«, sagte er. »Die Braut freut sich aber«, sagte die Frau noch.

Der Schnee stöberte mehr und mehr. Uhlig hatte sich in die Tür des Konzerthauses gestellt. Jetzt da er Veilchen in dünnem Seidenpapier in der Hand hielt, wollte er warten, bis das Schneetreiben nachließ.

Durch die Glastüre konnte er in den Vorraum sehen. Das Konzert war noch nicht zu Ende, die Garderobenfrauen saßen dösig vor den aufgehängten Mänteln. Der alte Pförtner lehnte an der Wand, das Ohr gegen die Saaltüre geneigt. Uhlig kannte ihn und nickte ihm zu. Der alte Pförtner winkte und Uhlig schlich vorsichtig zu ihm hin. Sie standen schweigend nebeneinander, durch die Saaltüre klang gedämpft die Musik. Es war eine wundervolle Musik. »Mozart«, flüsterte der Pförtner. ›Engel‹, dachte Uhlig.

Ehe die Türen geöffnet wurden und die Menschen herausströmten, war Uhlig schon auf der Straße. Was war das für ein Abend gewesen? Ein gewöhnlicher Tag, aber welcher Abend! ›Ich war eines Geschäftes wegen in die Stadt gegangen und nun ist Musik überall. Der Himmel selber ist wohl mit Engelsflöten herabgekommen. So schön ist auf einmal das Leben.‹

Uhlig trägt vorsichtig seinen Veilchenstrauß. Er hält ihn unter der Jacke verborgen, damit die Kälte nicht heran kann.

Bei Barbe Wiel geht er leise in Tinas Kammer. Er stellt den Strauß an ihr Bett. ›Wenn sie aufwacht, blühen die Veilchen‹, denkt er.

Dann sitzt er die halbe Nacht mit Olkers und Daniel Timm.

»Ich habe morgen etwas mit dir zu bereden«, sagt Uhlig zu Timm.

»Schieß los«, ruft Olkers.

»Heute nicht«, antwortet Uhlig, und in der Redeweise des Lumpenhändlers fügt er nachdenklich hinzu: »Dieser Tag war reich genug.«

Daniel Timm blickte auf und sah ihn prüfend an.

»Möge jeder Tag es sein«, sagte er dann.

Der Hammer klingt und die Nägel springen ins Holz. Das ist eine lustige Melodie.

Was ist denn im Kolk los, Leute? Da wird ja geklopft und gehämmert! Das geht schon seit dem frühen Morgen. Aber das ist kein Hämmern, das nach verdrießlicher Arbeit schmeckt, das ist so ein Hämmern mit Lust in jedem Schwung. Da müssen wir doch mal stehen bleiben und in den Torbogen sehen. In den Torbogen des Lumpenhändlers Daniel Timm.

Ja, was sagt der Mensch, ist das hier eine Werkstatt geworden? Ihr kriegt's wohl bezahlt. Nun blickt doch mal auf! He, Uhlig! He, Olkers! He, Timm!

Ihr schlagt ja die alten Bänke entzwei, dreht ihnen die Beine ab. Was soll denn das heißen? Die wolltest du doch für deine Vorträge haben, Daniel Timm? Darauf sollten die Menschen doch beten. Singen sollten sie und Halleluja sagen. Nun nimmst du ihnen die Bänke weg. Woran sollen sie denn nun niederknien? Ja, ja, da blickst du verlegen zur Seite. Antworte lieber, Daniel Timm. Du willst deinem lieben Gott die Bänke stehlen, so ist es doch. Was sagst du da? Die Arbeit ist das beste Gebet! Ob Hammer oder Orgel, Amboß oder Harmonium, jeder Ton ist Gott angenehm, wenn nur die Freude darin singt, ein gutes Herz und ein rüstiger Mensch.

Habt ihr's gehört, was der Lumpenfahrer gesagt hat? Er hat sich ein neues Lied gemacht, das Gotteslied von der frohen Kraft, von der gütigen Kraft, die im Anfang steht, das Lied vom glückseligen Anfang, Da glauben nun auch die Bänke daran. Sie haben die Beine schon weggelegt und wollen nun Schränke werden. Da glauben nun auch die Stühle daran. Sie gaben die Beine zu Leisten her und gaben die Sitze zu Türen. Aus Bank und Stuhl, aus Stuhl und Bank ist nun schon ein Schrank geworden. Bei Timm spielt heute ein lustiges Terzett, Hobel, Hammer und Feile.

Nun singt es schon eine Woche lang. Morgens singt es und abends. Im Torbogen neben dem Lumpenstall in der alten winkligen Stube.

Wo willst du denn heut mit den Töpfen hin, he, Olkers? Du hast dir den ganzen Rock schon beschmiert. Du bist ja ein bunter Osterhahn, du riechst ja nach Farbe und Terpentin, du willst wohl gar noch ein Maler werden! Ein Maler sein wie der in der Stadt. Dein lahmes Bein schwappt die Farbe aus, man sieht ja, wo du gegangen bist. Das macht nichts, lachst du, das macht nichts!

Auf einmal sind die Wände schon weiß, auf einmal ist die Decke schon hell. Auf einmal ist die Diele frisch braun, so frisch und so braun wie die Haselnuß. Und der Schrank ist lackiert und der Tisch ist lackiert und die Bank an der Wand und der Stuhl an der Tür. Und alles duftet nach Festtag.

Barbe Wiel putzt das Fenster. Sie schrubbert und seift. Der Dreck hat hier einen grauen Bart. Der Dreck ist so alt wie der ganze Kolk. Man wußte ja gar nicht, daß es Glas war. Das war ja alles ein Schmant und Schmier. Da steht selbst Timm verwundert dabei. »Das ist tatsächlich Glas«, hat er gesagt.

Nun ist auf einmal das Fenster blank. Auf einmal ist Barbe Wiel zweimal da. Sie nickt sich zu in dem hellen Glas. »Man kann sich drin spiegeln«, ruft sie erstaunt.

Da kommt doch Tina die Straße lang. Langsam Schritt für Schritt. Sie ist in drei warme Tücher gehüllt. Da sieht nun ihr schmales Gesicht heraus. Wo sind denn die trüben Falten geblieben, die Furchen und Fältchen, die Furchen voll Gram, die Fältchen des Leides und die Falten des Kummers? Wo sind denn die müden Blicke geblieben und die bangen seufzenden Lippen? Das alles fraß wohl die Krankheit auf. Sie hat sich daran den Magen verdorben. Da hat sie sich schnell aus dem Staub gemacht.

Die Veilchen blühten an deinem Bett, da war auf einmal ein junger Tag. Die Veilchen blühten an deinem Bett, da war auf einmal ein Lerchenschlag. Ein Lerchenschlag und ein junger Tag und die blauen, blauen Veilchen.

Nun gehst du schon die Straße entlang, das ist auf einmal ein neuer Gang über die alten Steine. Das ist einmal ein sanfter Schritt und das Herz singt mit, und der Himmel singt mit über den alten Steinen.

Du gehst nicht allein durch den neuen Tag, durch den neuen Tag und den Lerchenschlag, es geht wer an deiner Seite. Er hält dir leise die Hand gedrückt, und der Himmel hat sich mit Sonne geschmückt, und nun lacht ihr schon beide.

Es war für Uhlig nicht so leicht gewesen, Daniel Timm von seinem Plan zu überzeugen. Vor allem hatte es seine Zeit gedauert, bis Timm sich entschloß, die Bänke, die er einmal aus einer alten Schulaula aufgekauft hatte, herzugeben. Immer hatte ihm vorgeschwebt, daß er aus der Stube am Torbogen einen Vortragsraum für fromme Leute herrichten könnte, hatte sich ausgemalt, wie sie auf seine Worte lauschen würden und wie sie alle ergriffen von himmlischem Überschwang ihre Herzen vor Gott auftun wollten. Das sollte in Angriff genommen werden, sobald Gottes Stimme sich nachts bei ihm meldete, aber diese Stimme hatte bis jetzt geschwiegen, und statt dessen war Uhlig mit seinem praktischen Wort gekommen. Nun war aus dem geplanten Vortragsraum ein Laden geworden, über dessen Türe zwei Namen standen: Atze Uhlig und Daniel Timm.

Schowe hatte allen diesen Arbeiten eine gewisse Neugier entgegengebracht. Es war sogar vorgekommen, daß er ein paarmal selbst mit zugegriffen hatte. Frau Schowe war über das Interesse ihres Mannes im höchsten Grade ungehalten.

»Jeder will leben«, sagte Schowe, »man kann's ihnen nicht verbieten, den kleinen Laden aufzumachen. Sie werden's schwer genug haben.«

Frau Schowe geriet immer mehr in Aufregung:

»Warte nur ab, das sind zwei ganz Gerissene, Herr Uhlig mit seinem Unschuldigtun und Herr Timm mit seiner Frömmigkeit. Ich wundere mich überhaupt, daß du so sorglos bist. Du weißt doch ganz genau, daß die Schiffer bei Peine nicht kaufen.«

»Warum denn auch Schiffer?« antwortete Schowe. »Ihr habt doch ein Versandgeschäft. Lieferwaren etcetera, wie Peine sagt. Ihr seid doch eine Firma!«

Immer mehr hatte er gemerkt, daß er falsch eingestiegen war, daß er wohl die Kalesche bezahlen durfte, daß man ihm aber nur einen Hintersitz eingeräumt hatte. Wenn man zu den Mahlzeiten vom Geschäft sprach – man hatte sich angewöhnt, diese Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen, wohl deshalb, weil Wally mit dem Kochen noch nicht so gut Bescheid wußte –, wenn man also bei Tisch auf das Geschäft zu sprechen kam, und es war meistens der einzige Gesprächsstoff, dann wurde es eigentlich nur ein Zwiegespräch zwischen Herrn Peine und Frau Schowe. Wally saß dabei und hörte mit gutem Appetit zu. Vielleicht tat sie auch nur so. Jedenfalls hatte es sich herausgestellt, daß sie die beiden Worte Debet und Kredit überhaupt nicht begreifen konnte.

»Das ist der Grundstock eines jeden Geschäftes«, hatte Herr Peine sie belehrt. »Debet, Kredit, Saldo und Bilanz, diese Worte mußt du als erstes wissen. Sie müssen dir geläufig sein. Schlechte Bilanz, schlechte Balanz«, pflegte er zu scherzen.

Wenn Schowe ein Wort hinzutun wollte, wurde ihm klar gemacht, daß es leichter wäre, ein Kartoffelfeld zu bestellen als ein Geschäft in Schuß zu halten, noch dazu ein Versandgeschäft, das mehr Umsicht erfordere als ein einfacher Ladenbetrieb. Da kommen und gehen die Kunden, nehmen das Gekaufte gleich mit, und man hat sich nicht darum zu sorgen, daß sie mit ihrem Einkauf rechtzeitig zu Hause sind. Aber bei einem Versandgeschäft muß alles am Schnürchen klappen. Man hat selbstverständlich ein Telephon. Die Anschlußnummer ist mit großen weißen Ziffern auf die Schaufensterscheibe gemalt. ›Hier Peine & Co., selbstverständlich, Herr Justizrat, die Fische sind punkt zwölf da.‹ – ›Aber, Frau Sanitätsrat, unser Wagen ist bereits unterwegs.‹ – ›Ich danke Ihnen verbindlichst, Frau Medizinalrat, die Bestellung wird prompt ausgeführt.‹ – Wenn man Herrn Peines Telephongespräche mit anhörte, mußte man annehmen, daß die ganze Stadt nur aus Räten bestand. Man konnte den Eindruck haben, daß das Geschäft leidlich ging, aber allzu oft nur hatte der Chauffeur Albert nichts weiter in seinem Lieferwagen als ein Päckchen Fische, ein paar Pfund Butter und einige Büchsen Konserven.

Seit Schowe nun eines Tages behauptet hatte, es wäre bedeutend billiger, wenn Albert statt des Lieferwagens einen Rucksack nehme, stand es fest, daß er dem Geschäft nicht im geringsten gewachsen war. So ließ man ihn kaum mehr zu Worte kommen, und Herr Schowe hatte eines Tages einen Strich darunter gezogen, die Türe zugeknallt und geschrien:

»Macht, was ihr wollt!«

Nun hatte er wieder dadurch Ärger zu Hause erregt, daß er anfing, sich mit Timm und Uhlig abzugeben.

»Jedes Stück haben sie selbst zusammengenagelt«, sagte er zu seinem Schwiegersohn, »ich hätte es ihnen gar nicht zugetraut. Du mußt bloß mal sehen, wie hübsch sie das Regal gemacht haben. Nicht groß, bewahre, soviel Platz haben sie nicht im Laden, aber von jedem steht eine Kleinigkeit drauf. Sardinen, Marmelade, Eingemachtes. Auch der Schrank ist ganz passabel. Kleine Kästchen für Pfeffer und Gewürz und so, und große Kästen für Mehl und Zucker. Der Ladentisch ist ja ein bißchen zu klein. Gott, was sollen sie machen. Er muß zulangen. Und dann haben sie 'ne Holzbank 'reingestellt und da sitzt man dann und schwatzt ein bißchen, kann seine Flasche Bier trinken, nein, nein, alles was recht ist, das ist 'ne saubere Sache!«

»Ja, erlaub mal, Schwiegerpapa«, sagte Herr Peine, »du bist wohl da zu Hause. Du beschreibst ja mit einer Eindringlichkeit diesen Zauberladen, na, ich muß sagen –«

»Was, du gehst zur Konkurrenz?« trumpfte Frau Schowe.

»Konkurrenz, pah«, machte Herr Peine.

Herr Schowe dachte über den Disput nach. »Schließlich haben sie recht«, sagte er, »ich hab' ja auch mein gutes Geld in Peines Geschäft gesteckt. Man sollte dem Uhlig gar nicht noch zum Munde reden.«

Schowe ging ein paar Tage mißgestimmt umher. Er betrat Uhligs Laden nicht, aber dann mußte er feststellen, daß ihm irgend etwas fehlte. ›Seine Mutter ist ja bei uns zu Haus ein- und ausgegangen. Man muß doch mal sehen, wie's ihrem Sohn geht.‹

Herr Schowe war wohl auch zufrieden, durch diese kleinen Freundlichkeiten jetzt das schlechte Gewissen, das er Uhlig gegenüber immer noch hatte, zu beschwichtigen. So saß er wieder in dem kleinen Laden, nicht lange, ein Stündchen nur, »Ich wollte bloß mal mit reinsehen«, hatte er gesagt. Nun waren Brose da und Frau Brose und Tina saß hinterm Ladentisch und mahlte Kaffee, denn draußen war es kalt, und Frau Brose wollte was Warmes in den Magen haben. Uhlig hatte eine Flasche Kümmel aufgekorkt und goß ein. »Trinken wir«, sagte Brose, und sie stießen an.

»Die gehn jetzt auf meine Rechnung«, rief Schowe, »Prosit, Frau Brose!«

Frau Brose zwinkerte ihm zu: »Als wir das letzte Mal zusammen getrunken haben, hatten Sie gerade Uhlig rausgeschmissen.«

Uhlig stieß sie vorwurfsvoll an. »Nicht doch«, flüsterte er.

Schowe hatte einen roten Kopf bekommen. »Soll's zum Guten sein«, sagte er schließlich.

Nun war Tina mit dem Kaffee fertig, und die Tassen dampften.

Da läßt nun ein fernes Land große Sträucher wachsen, damit wir eine angenehme Stunde haben. Da sorgen nun fremde Hände dafür, daß wir ein Getränk bekommen, das uns die Sorgen vertreibt. So gut sind die Menschen. Man sollte viel mehr daran denken.

Man sitzt nun zu viert auf der Bank, Broses, Schowe und Tina. »Wenn's bloß keinen Schiffbruch gibt«, lacht Brose.

»Für ihn ist auch noch Platz«, sagte Schowe und sie rücken noch enger zusammen. Tatsächlich, auch Uhlig findet noch ein Eckchen.

»Nun fahren wir nach Amerika«, singt Brose.

›Amerika‹, denkt Uhlig und erschrickt. ›Amerika ist Löders. Wir haben nichts mehr miteinander abzumachen‹, denkt Uhlig und lacht.

»Wir fahren nach Amerika«, wiederholt er.

Es gibt tausend Dinge zu erzählen. Schließlich spricht Brose auch von Hamburg.

›Hamburg‹, denkt Tina. ›Hamburg. In Hamburg spielt nun ein kleiner Junge. Köppje heißt er. Ob er wohl manchmal nach mir fragt?‹

Sie weint auf einmal.

»Was habe ich denn gesagt?« fragt Brose erschrocken.

Dann sind sie eine lange Weile still, sitzen zusammen, rühren manchmal den Zucker in den Tassen um, dann klingt jedesmal der Löffel gegen den Tassenrand, sie schlürfen auch ab und zu einen Schluck, zwei Schluck, und sie sitzen lange und schweigen. Dann ist Olkers gekommen, und man schwatzt wieder, lacht und spricht durcheinander. Das Schweigen ist vorbei und die Löffel klingen nicht mehr am Tassenmund. Bloß Tina sitzt noch still da.

»Du wirst ihn schon wiedersehen«, sagt Frau Brose.

Tina hat ihr eine Tafel Schokolade zugesteckt. »Wenn du ihn sehen solltest«, sagt sie.

Das ist eine Kälte draußen. Nun kommt der Winter mit Macht, das hat Olkers' lahmes Bein gesagt. Sturm kommt und Schnee. Olkers hat auch ein paar Holzscheite noch in den glühenden Kanonenofen geworfen. »Der frißt sein Quantum«, sagt Anton Olkers. »Ein Scheit in den Ofen, einen Schluck in den Magen.«

»So kommen wir über den Winter«, lacht Brose.

In der Niederlage auf dem Hof brennt Licht. Daniel Timm sitzt vor seinem frommen Buch. Er hat Uhlig das Geschäft überlassen. Wichtiger ist es, an der Türe zu stehen und zu warten, wann Gott vorüberwandelt. Nicht an die großen Türen wird er klopfen, er ist schon einmal gekommen und hatte Einkehr gehalten bei den Armen und Blöden, bei den Geringen und Verworfenen, bei den armseligen Fischern und bei denen, die mühselig von ihrer Hand leben mußten. Bis in die Nacht brennt das Licht bei Daniel Timm, brennt blaß und blakend zwischen Lumpen und zerbeultem Hausrat. Es ist das trübe Licht einer kleinen Lampe, aber eines Tages wird ein Licht angezündet sein, heller als alle Gestirne.

An diesem Abend standen Uhlig und Schowe noch vor der Türe.

Schowe sagte: »Sie ist doch eine patente Frau, die Tina, das muß man ihr lassen. Wie sie sich rausgemacht hat.«

»Sie klagt nun auf Scheidung«, erwiderte Uhlig.

»Das wird noch manche Schererei geben«, meinte Schowe bedenklich.

Am nächsten Tage gab es vielerlei Ärger. Der Direktor der Zuckerfabrik hatte seine Einkäufe bei Uhlig machen lassen. Wally war gerade an dem kleinen Laden vorbeigekommen, als das Dienstmädchen mit vollgepackter Markttasche heraustrat. Wally hatte sich nichts Sonderliches dabei gedacht. Sie war auf dem Wege zu einer Freundin, dort würde sie noch ein paar andere junge Frauen treffen und man würde zusammen sitzen. Schlagsahne essen und schwatzen. Sie nannten sich Kränzchen und hatten eine Kasse angelegt, in die jedesmal Geld hineingetan wurde. Wenn die Summe ausreichte, wollte man dafür im Sommer einen Ausflug machen. Eine Omnibuspartie hatte Wally vorgeschlagen mit einer Girlande um den Kutschbock und bunten Laternen über den Sitzen. Da sie nichts Sonderliches erlebte, hatte jede Kleinigkeit für sie Bedeutung und nach solchen Nachmittagen konnte sie alles haarklein berichten: den Hinweg, die Plauderstunde und die Heimkehr. Dabei sagte sie ganz nebenbei:

»Als ich bei Uhlig vorbeiging, kam gerade das Mädchen vom Direktor.«

»Was haben sie denn gekauft?« fragte Frau Schowe Herrn Peine.

Herr Peine glaubte Anlaß zu haben, seit einiger Zeit an der Redlichkeit des Lehrlings Labesehr zweifeln zu müssen. So benutzte er diesen Anlaß zur Kontrolle. »Fritz«, fragte er, »was haben Direktors gekauft?« – »Nichts«, bekam er zur Antwort. »Nichts?« wiederholte Herr Peine und fixierte den Lehrling. Wally mischte sich in das Gespräch. »Das Mädchen ist doch aus Uhligs Laden gekommen«, sagte sie, verwundert darüber, daß ihre Mitteilung soviel Aufstand gemacht hatte.

»Uhlig?« rief Herr Peine.

»Uhlig?« schrie Frau Schowe. Ihre Stimme überschlug sich. Sie sah ganz fassungslos aus. »Es ist doch unmöglich«, sagte sie dann, »daß Direktors jetzt bei Uhlig kaufen. Wir stehen doch in Geschäftsverbindung.«

Herr Peine ging ärgerlich auf und ab.

Wally sagte: »Warum sollen sie nicht auch mal bei Uhlig was kaufen lassen?«

»Was ist denn nun schon wieder?« brummelte Herr Schowe hinter seiner Zeitung. Frau Schowe fiel über ihn her: »Ist es ein Wunder, daß andere zu Uhlig laufen, wenn Herr Schowe selbst in der Krambude sitzt? Du machst ja Reklame dafür!« rief sie.

»Unser Kognak scheint dir nicht gut genug zu sein«, fiel Herr Peine dazwischen, »vielleicht sind dir unsere Zigarren auch zu feucht.«

Dazu lachte er ironisch, denn er wußte, daß Herr Schowe vor höhnischem Auflachen sehr bald kapitulierte. »Der Herr Schwiegerpapa in trautem Verein mit der sogenannten Konkurrenz«, fuhr Herr Peine fort.

»Na, na, na«, sagte Schowe.

»Peine hat ganz recht«, rief Frau Schowe.

Der Krach war unvermeidlich. Wally hatte schon ein weinerliches Gesicht. »Jeden Tag ist es so«, jammerte sie.

Herr Schowe hatte zuerst ein Weilchen noch an sich gehalten, und seine Frau und Herr Peine waren mit vollen Segeln gegen ihn losgezogen. Man mußte endlich einmal reinen Tisch machen. Schließlich wurde es Herrn Schowe zu bunt.

»Was«, schrie er aufgebracht, »ich soll nicht mehr mit Uhlig sprechen? Was kann der dafür, wenn Peine sein Geschäft nicht versteht?«

Nun war dem Faß der Boden ausgeschlagen, und die Worte sprangen hin und her wie Hagelkörner. Wally saß schluchzend in der Sofaecke. Der Lehrling stand draußen im Flur, das Ohr gegen die Tür, und hatte sein Vergnügen.

Die Zeitung war schon über den Tisch geflogen. Jetzt begann auch der Stuhl hin- und hergerüttelt zu werden. Der Tisch rutschte beiseite, und Herr Schowe stand groß und mächtig im Zimmer.

»Mir paßt euer Kram schon lange nicht mehr. Immer bloß Geld und wieder Geld! Ein Stück Acker nach dem andern ist hingegangen. Jetzt ist Schluß, verstanden! Schluß!«

Da war also nun der eiserne Besen, fuhr dazwischen und hatte Herrn Peine schon gegen die Wand gedrückt. Frau Schowe stand schützend vor ihm.

»Das ist eine Katastrophe«, schrie sie.

»Die feine Madame, die feine Madame«, brüllte Schowe ein paarmal. Er meinte wohl seine Frau. Plötzlich riß er den Deckel vom Klavier hoch, haute auf die Tasten und schrie: »Lauter Firlefanz!«

Er riß das Bild einer Sängerin im Silberrahmen herunter, schleuderte es in die Stube und wollte darauf treten.

»Barbar«, rief Frau Schowe.

»Hängt euch auf«, schrie Schowe. Er knallte die Türe zu. Der Lehrling Labesehr sprang wie eine Katze vor ihm die Treppe herunter.

»Einen Kognak«, sagte Schowe bei Uhlig. Er war noch so aufgeregt, daß er die Hälfte verschüttete.

Nun war die Atmosphäre geladen. Das Gewitter war vorübergezogen, aber ein neues drohte jeden Augenblick aufzuziehen. Es wetterleuchtete, und ein unwirtliches Wetter rumorte tagelang im Hause des Herrn Schowe. Dann, eines Tages, sagte Herr Peine:

»Mir ist ein Geschäft in der Altstadt angeboten, direkt am Markt. Gute Lage, alte Firma. Ich habe Lust, es zu kaufen.«

»Wenn du das Geld hast –«, sagte Schowe gleichgültig.

Herr Peine sah auf Frau Schowe.

»Es wäre gut, wenn wir aus dem Kolk herauskämen«, sagte sie. »Schließlich kann man nicht sein ganzes Leben in dieser Gegend hier verbringen. Wir sind es schon Wally schuldig. Ihre Freundinnen genieren sich immer, wenn sie hierher müssen. In der Stadt sagt man: der verlorene Winkel. Soviel ich von Peine weiß, ist das Angebot sehr günstig. Es ist ein zweistöckiges Haus, direkt dem Rathaus gegenüber. Da können wir den Kolk gern Herrn Uhlig überlassen.«

»Das steht euch ja frei«, sagte Schowe und griff nach dem Abendblatt. Es war nichts mehr mit ihm anzufangen.

In den nächsten Tagen schickte man nun Wally vor. Es war ein langer Sonntagnachmittag. Draußen regnete ein nasser Schnee. Herr Peine saß im Kontor und arbeitete, und Frau Schowe hatte sich in ihre Stube zurückgezogen. So war Herr Schowe allein in dem großen Zimmer, das sie Salon nannten. Er hatte sich einen Fauteuil an das Fenster geschoben. In dem Plüsch war er tief eingesunken und sah nur über das Fensterbrett hinweg die schmutzigen Tropfen gegen die Scheibe. Nun war Wally hereingekommen.

Sie kommt mit ungeschicktem Zärtlichtun in diese Trübseligkeit. Man merkt, daß jede Tatscherei gut gemeint ist. Wie kann man da mißmutig sein und sich abwenden? Man weiß, sie hat was auf dem Herzen.

»Schieß los«, sagt man schließlich, »was gibt's denn? Ach so – natürlich, das Haus am Markt. Bleib mir damit vom Hals.« Aber nun sagt Wally bittend: »Papa.« Nichts anderes, bloß Papa. Das ist ein dummes rundes Wort, es ist ein Wort wie ein Lebkuchenherz. So ein rührseliges mit Stern und Schleife – Papa –? – »Was denn, Kind? Nun laßt mich doch endlich in Ruh.« – Aber nun ist wieder solch ein schmollendes Zwitschern. Eine Träne? »Na na, Kindchen, so schlimm ist es nicht. Nicht gleich weinen. Ihr denkt wohl, ich hab einen Dukatenmacher. Also das Haus am Markt. Was ihr euch so alles in den Kopf setzt. Graderüber vom Rathaus. Zweistöckig. Was sagst du? Gute Kapitalsanlage. Wer hat dir denn das eingeschwatzt, Wally? Du willst wohl solch kleiner Bankier werden? Gute Kapitalsanlage, sagt das Mädchen. Was es davon schon versteht! Natürlich, natürlich, Muttern seh ich schon. Zweistöckiges Haus am Markt. Erste Etage. Was du nicht alles weißt, Wally. Also drei Schaufenster, eigene Kaffeerösterei, zwei große Rösttrommeln. Kind, Kind, daß du das alles behalten hast. Also nun steh erst mal auf, das Knie ist mir schon lahm. Siehst schmuck aus, das muß man sagen. Endlich mal kein Rosa. Das ewige Rosa konnte mich schon verdreht machen. Das Blau steht dir doch gut. Dreh dich mal rum. Siehst wirklich passabel aus. Drall und rund, nanu, nanu, Kindchen, was wirst du denn so rot? Auf einmal verlegen? Wally, Mädchen, was hast du denn? – ach so – wirklich? Wirklich? Wally, Wally?! Nee nee, das ist aber 'ne Freude. Nu komm mal her. Erst mal 'nen Kuß. Frau Wally, haha, Frau Wally! Also das Haus am Markt soll's sein! Abgemacht, jetzt muß man an die Zukunft denken. Laß nur, laß nur, du drückst mich ja tot Daß es dir bloß nichts schadet.«

Auf einmal ist draußen kein schmutziger Schnee, kein trüber Tag, kein regnender Wind, auf einmal ist draußen ein Sonntag. Der blickt zu dem trüben Fenster herein, er macht das trübe Fenster ganz hell. Nun ist er schon in der Stube. Er tanzt in alle Ecken hinein, über Tisch und Stuhl, dieser frohe Tag, nun klimpert er über die Tasten.

Das Haus am Markt war gekauft worden. In Herrn Peines Laden war Ausverkauf. Das heißt, es waren große Schilder angebracht mit der Ankündigung, daß man das alte Geschäft am Markt übernommen hätte, also nicht solch trübseliger Ladenschluß wie damals bei Uhlig – im Gegenteil – ein Aufschwung, ein Schritt voran. Der Lehrling Labesehr schwatzte gewaltig zu den Frauen, die noch dieses oder jenes billig haschen wollten. Er war nicht mehr der Lehrling vom Kolk, er war jetzt schon der Kommis vom Markt.

Aber noch durch ein anderes Ereignis war der Kolk in eine gewisse Aufregung versetzt worden. Noch im Winter war Klara, Barbe Wiels Schwester, eingetroffen. Sie war eine ältere eckige Frau mit staksigen Bewegungen, die im Gespräch die Arme weit wegschleuderte, den Kopf vorgestreckt und so dicht an den anderen, daß man fürchten mußte, nicht ohne Beule davonzukommen. Sie kam angebraust wie ein Sturmwind. Schnaufend und durch die Aufregung der Fahrt trotz der Kälte in Schweiß geraten, eilte sie durch den Kolk. Barbe Wiel hatte sie von der Bahn abgeholt, und Tina war mitgegangen. Sie trug jetzt den Strohkoffer und einen Stoffbeutel, darin man Eier oder auch Fische vermuten konnte.

»So, Sie wohnen also jetzt bei meiner Schwester«, sagte Klara, »na, Bärbchen, dann hast du ja das Haus voll.«

»Wieso denn?« fragte Barbe Wiel etwas verschüchtert.

»Ich denke, es wohnt noch ein Veteran bei dir. Hast du so was nicht mal geschrieben?« forschte Klara streng.

›Ach du lieber Gott‹, denkt Barbe Wiel, ›weshalb ist sie denn so fuchtig? Was ist dabei, wenn ich ein paar Zimmer weggegeben habe. So viel Platz brauch ich doch nicht. Warum kommt Klara überhaupt auf einmal an. Sie hat sich doch jahrelang nicht sehen lassen. Auf einmal ist sie da und macht ein Gefrage wie die Polizei.‹

Barbe Wiel hat sich geärgert und antwortet gar nicht mehr.

Dann denkt sie, nun ja, es ist deine Schwester, ihr habt euch immer ganz gut gestanden, nun kommt sie mal zwei Tage zu Besuch. Warum soll man sich die verärgern?

Barbe Wiel wird wieder freundlich und zugänglich. Sie hat viel Erkundigungen nach dem kleinen Leben der Schwester. Klara ist auch gemütlicher geworden. Sie erzählt von ihrem Dorf.

Aber zu Hause, als die beiden Schwestern allein sich gegenübersitzen, sagt Klara:

»Du hast jetzt also hier das Haus voll Menschen. Die werden dir bei deiner Gutmütigkeit schön auf der Tasche liegen. Denn nach Geld sieht die Frau doch nicht aus. Und ein Kind hat sie auch. Solch Mädchen ißt doch was. An mich scheinst du gar nicht zu denken. Natürlich, deine Schwester hat sich ihr ganzes Leben geplackt. Sie könnte ja übermütig werden, wenn sie's mal besser bekäme.«

Klara schluchzte plötzlich: »Du hast immer deine Rente gehabt, Bärbchen«, sagte sie, »und ich dachte, daß ich mal etwas von dir bekäme, wenn du stirbst, aber nun geht das alles hin!«

Barbe Wiel schlug aufgeregt die Hände zusammen. »Aber Klärchen, Klärchen, was ist denn? Nun tröst dich doch. Ich werd doch an meine jüngere Schwester denken.«

»Und ein Invalider ist auch noch im Haus. Den fütterst du wohl auch mit durch«, begann Klara von neuem wütend zu werden.

Barbe Wiel erschrak. »Das ist nun ein Irrtum von dir, Klärchen«, sagte sie verlegen.

»Du hast es selbst geschrieben«, behauptete Klara.

»Das mußt du falsch gelesen haben«, sagte nun Barbe Wiel, denn wozu sollten sie sich die beiden Tage verderben, die Klara da war.

»Das mußt du falsch gelesen haben«, sagte also Barbe Wiel, »hier wohnt wohl einer in der Nachbarschaft, das ist alles.«

Sie brachte das Gespräch schnell auf Tina. Sie erzählte der Schwester die ganze unglückliche Geschichte. »Ich hab sie bloß vorübergehend aufgenommen, weil sie's hin und wieder noch mit dem Gemüt hat. Darum will sie wohl auch nicht in ihre Wohnung. Es ist ja zu verstehen. Sie hat an dem kleinen Köppje gehangen, aber nun wird sie wohl bald heiraten, den Kaufmann Uhlig nebenan. Dann wird das Haus hier wieder leer.«

Klara schien sich zu beruhigen. Doch kam sie noch einmal auf den Invaliden zu sprechen. »Ich dachte schon, du hättest dir da einen Mann aufgebürdet, einen, der keinen Pfennig hat, vielleicht gar ein Faulpelz ist, einen, der deine Altersgroschen mit aufzehren will. Lehr du mich die Männer kennen! Wenn sie einen offenen Topf finden, stecken sie schon den Löffel darein. Ich weiß doch, wie gutmütig du bist.«

Barbe Wiel saß vor diesen Worten verschüchtert wie ein kleines Mädchen.

»Das Haus ist klein, und die Groschen sind abgezählt«, sagte sie.

»In jedem Beutel ist Platz für noch einen Taler«, antwortete Klara unverblümt, »du kannst doch deine Rente nicht aufessen. Was brauchst du schon?«

Barbe Wiel sagte nichts mehr. Sie machte sich in der Küche zu schaffen. Klara war müde von der Reise. Sie schlief im Lehnstuhl ein und begann zu schnarchen. Da ging Barbe Wiel leise hinaus. Sie ging auf Zehen und zog die Tür vorsichtig ins Schloß, nicht einmal die Fliege flog auf.

Auf der Straße kam gerade Olkers angestelzt. Barbe Wiel machte ihm Zeichen. Er wurde daraus nicht klug.

»Komm«, flüsterte ihm Barbe Wiel zu. Sie hatte den Finger auf dem Mund, es war wie eine Verschwörung. Anton Olkers humpelte verwundert mit. Er nahm immer einen langen und einen kurzen Schritt. Barbe Wiel zog ihn in Uhligs Laden. Sie sagte:

»Du mußt heute mal außer Haus schlafen. Morgen auch. Bei Uhlig ist ja noch ein Bett frei. Du kannst ihn doch wohl mal beherbergen, Atze?«

»Selbstredend«, antwortete Uhlig.

»Wozu denn?« fragte Olkers.

»Klara ist da«, antwortete Barbe Wiel, »sie hat mir den Kopf fuselig geredet.«

»Was hat das mit meiner Schlafstatt zu tun?« meinte Olkers.

›Ich kann's ihm doch gar nicht erklären‹, denkt Barbe Wiel, ›ich kann ihm doch nicht erzählen, was Klara alles geschwätzt hat. Der Mensch muß ja denken, ich bin hinter ihm her.‹

»Sie will doch nicht etwa in meinem Bett schlafen«, sagt Olkers ärgerlich. »Du hast doch unten noch das Sofa. Und das Feldbett könnte man ja auch aufstellen. Die Stange ist zwar kaputt, aber das läßt sich mit einem Strick machen.«

»Nein, nein«, sagte Barbe Wiel, »Klara schläft bei mir, das ist es nicht.«

»Was dann?« fragt Olkers hartnäckig.

»Ich erzähl euch alles, wenn Klara wieder weg ist«, antwortet Barbe Wiel endlich, »das ist ein langes Brimbamborium. Du mußt mir schon den Gefallen tun und bei Uhlig schlafen. Am besten ist's, du läßt dich heute und morgen gar nicht sehen.«

»Will sie mir denn zu Leibe?« fragt Olkers verdutzt.

»Es ist schon besser, sie weiß gar nicht, daß du bei mir wohnst.«

»Ach so, sie denkt wohl –?« fragt Olkers stolz. »So läuft der Hase! Ist in Ordnung, Barbe Wiel, wird gemacht, brauchst keine Angst zu haben.«

»Übermorgen reist sie ja schon ab«, sagt Barbe Wiel. Sie hat Olkers in die Seite gepufft, lacht noch und sagt: »So könnt's dir passen!«

»Man ist noch nicht der Älteste«, sagt Olkers. Aber Barbe Wiel ist schon aus dem Laden.

»Ne forsche Person«, sagt Olkers, »alles was recht ist. Aber bist du draus klug geworden, Uhlig? Es scheint doch wohl so, daß die Schwester annimmt, wir hätten 'ne Liebschaft. Es soll 'ne resolute Frau sein, die Klara. Da will ich mich denn lieber die paar Tage dünn machen. Wozu soll man sich in die Hölle begeben? So was könnte doch sein. Meinst du nicht, Uhlig?«

Am Abend aber, als er zu Uhlig mit heraufkommen soll, zögert er vor der Haustüre. Uhlig wohnt noch immer bei Schowe in Tinas Wohnung.

»Brauchst dich nicht zu genieren, Olkers, komm, das macht mir keine Umstände.«

»Man hat mich mal aus diesem Haus hinausgeschmissen wie einen, der seine Miete nicht zahlt. Fünfzehn Jahre hab ich hier gewohnt, und dann ist Herr Schowe gekommen und hat gesagt: Ausziehen! Fünfzehn Jahr lang Tag für Tag bin ich durch diese Haustür gegangen. Man hat mich rausgeworfen. Nein, nein, das Haus betrete ich nicht wieder!«

Uhlig will ihm gut zureden, doch Olkers bleibt halsstarrig.

»Das geht nicht gegen dich, Uhlig«, sagt er.

»Du hast doch inzwischen schon oft mit Schowe gesprochen. Neulich habt ihr zusammen angestoßen bei mir im Laden«, erwidert Uhlig.

»Schowe, ja«, sagt Olkers, »bei dem saß die Frau dahinter. Ich hab's ihm vergeben, aber das Haus. Keine zwei Paar Ochsen kriegen mich rein. Man schläft nicht gut, wo man nicht gern gesehen ist. Wie gesagt, das soll nicht gegen dich sein, Uhlig.«

»Wo willst du denn hin?« fragt Uhlig.

Olkers lacht verschmitzt. »Ich zieh mir die Stiefel aus, da hört mich keiner.« Er stelzte davon.

Klara hatte einen leisen Schlaf. Nach einem Stündchen war sie hochgefahren, hatte Barbe angestoßen und gesagt:

»Es ist ein Dieb im Haus.« »Nein«, sagte Barbe Wiel und schlief wieder ein.

Klara weckte sie wieder. »Hörst du's denn nicht?« fragte sie.

Man vernahm deutlich tappende Schritte, die über dem Kopf waren. Einen leisen Schritt und einen lauten Schritt.

»Es scheinen zwei zu sein«, flüsterte Klara. Sie wollte aufstehen und Licht machen. Sie war eine couragierte Frau und würde ihrer zwei ins Bockshorn jagen.

Barbe Wiel hatte schon so schön geschlafen. Sie hatte sich in ihre Federbetten eingerollt. Da lag jede Zehe geschützt vor Zugluft. Die Hände schliefen immer auf dem Deckbett. Angefaßt wie Geschwister. Im Schlaf hatte Barbe Wiel noch rötere Backen als am Tage. Die blühten aus der weißen Nachthaube hervor. Der Atem ist lang und ruhig, manchmal fängt er sich in der Nase, dann gibt es ein kleines Geschnarch. Barbe Wiel hat vom Schlaf nichts zu fürchten. Sie hat gute und einfache Träume. Sie kauft Butter ein im Traumladen oder Fleisch, sie steht auch in der Traumküche und kocht. Und manchmal, wenn es der Schlaf besonders gut mit ihr meint, ist eine Traumkutsche da und fährt sie über Land. Wie kann man in so schöner Schlafestiefe an die List und die Arglist des Tages denken? Barbe Wiel rekelt sich ein wenig, dreht den Kopf verschlafen zur Schwester und, noch befangen vom schönen Traumbild, sagt sie gähnend:

»Es ist bloß Olkers.«

Dabei drehte sie sich wieder auf die andere Seite.

Klara aber stieg aus dem Bett, machte Licht und schrie:

»Belogen also wird man in diesem Haus! Pfui! Die leibliche Schwester belügen um einen fremden Kerl.«

Jetzt war Barbe Wiel wach und setzte sich auf, aber Klara ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Schmeiß ihm nur alles in den Rachen. So ist's richtig! Lieber einem Hergelaufenen als der eigenen Schwester!«

»Deshalb also«, sagte Barbe Wiel, »also deshalb!«

»Heirate ihn doch«, zankte Klara, »so alt und so – pfui! Heiratet euch doch. Das ist ja ein sauberes Haus!«

Es war ein giftiges Lachen in ihrer Kehle, das jedes Wort zerfraß.

Barbe Wiel hatte vor Aufregung kein Wort gefunden. Sie schlug nur mit beiden Händen auf die Bettdecke.

Tina horchte nebenan erschrocken. Sie wagte nicht, sich in den Zank zu mischen.

Auch Olkers hörte den Lärm bis in seine Stube. Da ihm aber Barbe Wiel verboten hatte, sich sehen zu lassen, so legte er sich zu Bett und zog die Decke über den Kopf. ›Es ist nur gut, daß ich die Stiefel ausgezogen hatte‹, dachte er noch.

Am nächsten Morgen schon zeitig fuhr Klara wieder ab.

*


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