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Am Freitag ging es in dem Hause hoch her. Frühe schon kamen Boten und brachten Blumen. Es wurden auch Geschenke abgeladen. Große Geschenke, die beinahe den ganzen Wagen für sich beanspruchten.
»Heute ist Polterabend«, sang Köppje auf der Treppe. Er lief überall herum und bettelte sich Scherben zusammen, mit denen er am Abend vor Schowes Türe poltern wollte. Es war Kuchen gebacken worden, unübersehbare Bleche voll, und am Nachmittag ging Wally mit vielen Päckchen im Arm durch die Nachbarschaft. Sie teilte von dem Kuchen aus und alle freuten sich, wie schmuck die Braut in ihrem neuen Kleide aussah. Herr Peine hatte darauf gedrungen, daß Wally den Leuten den Kuchen persönlich überbrachte, weil solche Freundlichkeit, wie er sagte, dem Geschäft zugute kommen würde. Auch die ärmeren Leute sollten fühlen, daß er mit ihnen verbunden wäre.
Auch bei Tina klingelte Wally. Gitti öffnete zaghaft die Türe. Sie war durch die trostlose Stimmung, von der sie seit Tagen umgeben war, verschüchtert worden. Sie machte vor Wally nur einen tiefen Knicks und blieb, ohne ein Wort zu sagen, mit dem Hochzeitskuchen lange auf dem Flur stehen, bis Köppje kam, ihr den Kuchen entriß und damit auf die Straße lief. Er hatte nun alle Taschen voll Kuchen und saß wie ein Wächter vor dem zusammengetragenen Haufen zerbrochener Tassen und Teller.
Am frühen Nachmittag schon kamen Gäste. Das Klavier klimperte bei Schowes bis zum späten Abend. Man hatte sich auch ein Grammophon besorgt, und auf der Straße hörte man deutlich das Schlurfen der tanzenden Paare.
Tina war auch an diesem Freitag nicht aus ihrer Wohnung herausgegangen. Sie wartete auf Stam Öffgen und hatte zwischendurch Gitti zu trösten, die nun erst wegen des verlorenen Kuchens zu weinen begann.
Tina wartete auch darauf, daß Atze Uhlig zurückkommen würde. Er hatte ihr noch einmal versprochen, mit Öffgen zu reden, war in den Gasthof gegangen und sah sich nach Stam um. Er entdeckte ihn schließlich in dem Saal, darin Gärtner und Tapezierer beschäftigt waren, die Dekorationen für Wallys Hochzeit anzubringen. Es waren große Blattpflanzen aufgestellt und eine blühende Girlande mit Myrtensträußen zog sich vom Kronleuchter aus über die ganze Tafel. Der Tapezierer stand auf hoher Leiter und befestigte kunstvolle Draperien aus Seidenstoff an den Wänden. Stam Öffgen hielt die Leiter, die allzu steil aufgestellt war.
Atze Uhlig sagte zu ihm: »Wenn ich dich nachher mal sprechen könnte.«
Stam Öffgen antwortete, ohne ihn anzusehen: »Kannst es hier vorbringen. Es werden ja keine Heimlichkeiten sein.«
Uhlig wurde unsicher, weil er sofort die Abwehr aus dieser Antwort herausfühlte. Er hatte geglaubt, mit Öffgen wie Mann zu Mann sprechen zu können. Nun stieß er gleich auf Feindseliges. So war er um eine Erwiderung verlegen und ehe er noch ein Wort hervorbringen konnte, sagte Stam Öffgen schon: »Wenn Tina dich geschickt hat, konntest du dir den Weg sparen. Ich spreche alleine mit ihr. Das kannst du ihr ausrichten.«
Er hatte schon mehrere Glas getrunken, denn der Tapezierer fühlte sich verpflichtet, ihn für seine Mithilfe mit billigem Schnaps zu traktieren.
Atze Uhlig merkte, daß er Tina wenig würde nützen können. Er verließ den Gasthof, aber da er es nicht übers Herz brachte, so unverrichteter Dinge zu Tina zurückzukommen, machte er noch vielerlei Umwege. Er ging am Nachmittag noch einmal nach dem Gasthof in der Hoffnung, Stam Öffgen geneigter zu finden. Die Hochzeitsdekorationen im Saale waren nun fertiggestellt, und zwischen all der Pracht saß einsam an der langen Tafel Stam Öffgen, den Kopf gestützt und die Beine weit von sich. Man hätte annehmen können, daß er schliefe, wenn nicht sein rechter Arm zuweilen hart durch die Luft gefahren wäre, als wollte er da einen Weg bahnen.
Uhlig betrachtete lange den Nachdenklichen. Er stand hinter einer Säule, die jetzt ein Transparent trug, auf dem man die Worte lesen konnte: Glück und Segen allerwegen!
Uhlig zögerte, Stam Öffgen anzureden. Er dachte: Ich will ihn nicht in seinen Gedanken stören. Er wird sich die ganze Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Da wird er schon zu einem Entschluß kommen. Schließlich muß jeder Mensch den rechten Weg selber finden.
Diese Überlegung war für Uhlig eine gute Ausrede, denn von Anfang an hatte er die Einsicht gehabt, daß er nicht der richtige Mann wäre, bei Stam Öffgen zum Guten zu reden. Er dachte: ›Wenn Tina jetzt hier wäre, könnte wohl alles noch zurecht kommen. Ich will ihr sagen, wie ich Stam Öffgen hier gefunden habe. Es wird am besten sein, wenn ich sie hole.‹
Als Uhlig nach Hause kam, war alles schon zu spät.
Man geht eine Straße entlang in dem festen Entschluß, dieses oder jenes zu tun. Aber auf einmal kommt einem eine Kleinigkeit über den Weg, die den Vorsatz zu Fall bringt und in den Gedanken eine Verwirrung anstiftet. Es ist seltsam, welcher Dummheiten sich das Schicksal bedient, um seinen Gang gehen zu können.
Am Ende der Straße gegen den Kolk war großes Geschrei. Uhlig sah Gitti weinend vor einem Baum stehen, während Köppje aus Leibeskräften trillerte. Ein paar Menschen standen herum und sahen neugierig zu. Als Uhlig näher kam, bemerkte er auf der Spitze eines Astes den gelben Vogel Tütchen. Er erkannte ihn sofort.
»Tütchen, Tütchen«, rief Uhlig, aber der Vogel hörte nicht darauf. Er saß da und putzte sich, bewegte die Flügel, steckte den Kopf darunter oder drehte den Hals neugierig nach allen Seiten. Es war ein lustiges Spiel, das Tütchen da trieb. Endlich flog er auf den nächsten Baum, und die Menschen folgten ihm, die Köpfe in die Luft.
Köppje hatte Uhligs Hand genommen und zog ihn mit. »Wir müssen ihn wiederkriegen«, sagte er, »Gitti hat die Türe aufgelassen. Wir wollten ihm vom Hochzeitskuchen geben. Sie bekommt nachher noch ihre Prügel.«
Gitti war weinend zurückgeblieben. Sie glaubte nicht mehr daran, daß man Tütchen wieder bekäme. Aber Köppje und Uhlig folgten dem Vogel, der nun mit vergnüglichem Flügelschlag von Baum zu Baum flog, die Straße entlang, an dem Gasthof vorbei, in die Stadt hinein. Sie waren schon weit weg vom Kolk.
Plötzlich blieb Uhlig stehen. »Da laufe ich dem Vogel nach«, sagte er erschrocken. Er begriff nicht, wie ihn dieser kleine Flüchtling von seinem Entschluß hatte abbringen können, aber er liebte Tütchen und fürchtete, daß der Vogel im Freien umkommen würde, weil er die Freiheit nicht mehr gewohnt wäre. »Der arme Vogel«, sagte Uhlig noch und kehrte schnell um. Er lief fast nach dem Kolk zurück. Köppje aber fand Gefallen an der Jagd und rannte noch immer hinter Tütchen her.
Als Uhlig die Flurtüre öffnen wollte, hörte er Stam Öffgens Stimme polternd in der Küche.
Er stieg leise die Treppe wieder hinab, vorbei an Schowes Türe, hinter der Musik und Lachen war, und weil er nicht wußte, wohin er sich wenden sollte, ging er in die Niederlage des Lumpenhändlers Timm. Er saß dort zwischen altem, verwittertem Hausrat und seine Gedanken waren ein buntes Durcheinander, aber auf all diesen Wegen und Irrwegen hinter seiner Stirn zuckte immer wieder Tinas Name auf. Es war keine Gestalt dahinter, es war nur wie ein Ruf, der überall in ihm laut wurde. Darüber bekam er eine große Unruhe. ›Ich hätte mich nicht durch Tütchen vom Wege abbringen lassen sollen‹, sagte er, ›ich hätte vielleicht auch in die Küche gehen sollen. Wer weiß, was er ihr alles sagt.‹ Doch war es nicht nur diese Angst und Unruhe, es war auf einmal ein wunderliches Gefühl dahinter, das man sich nicht erklären konnte, ein verwirrtes Erschrockensein wie am Abend zuvor, als man zum ersten Male einer Frau über das Haar gestrichen hatte, und in seiner unerklärlichen Betroffenheit legte Atze Uhlig die Hände ineinander und betete wie ein Kind inständig und mit langsamem Tonfall: »Lieber Gott, laß alles gut werden.«
Stam Öffgen hatte Barbe Wiel im Kolk getroffen. Es war nachmittags gewesen, und sie stand an dem Feldstück, neugierig, was wohl alles am Polterabend in Schowes Haus ein- und ausgehen könnte. Nun sah sie Stam Öffgen die Straße entlangkommen. Sie erkannte ihn an der Art, wie er den Kopf trug. An seinem Gang würde es ihr kaum möglich gewesen sein, denn seine Schritte waren zögernd, wie es sonst nicht seine Art war. Er kam auf sie zu. Es war ihm wohl angenehm, sich vorher noch im nebensächlichen Gespräche Ruhe zu verschaffen, um sicherer der Aussprache mit Tina entgegengehen zu können.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte er zu Barbe Wiel.
»Ist's meine Schuld?« antwortete sie und zuckte die Schultern. Sie war ärgerlich auf ihn, weil durch sein Fernsein der Ärger zwischen ihr und Uhlig aufgekommen war. Wenn jeder abends in das Haus ginge, wohin er gehört, gäb's weniger Kummer auf der Welt.
»Du hast recht«, sagte Stam Öffgen, »ich war lange fort. Es hat sich hier auch manches geändert. Da ist ja jetzt ein funkelnagelneuer Laden.«
»Es hat sich noch mehr geändert«, erwiderte Barbe Wiel, »Olkers wohnt jetzt bei mir, und heut ist da Hochzeit. Sie haben Uhlig aus seinem Laden gesetzt.«
»Ich denke, er wohnt ganz gut bei Tina«, meinte Stam Öffgen nebenhin.
Er war verstimmt darüber, daß Barbe Wiel kürzer mit ihm sprach, als sie es sonst an sich hatte.
Barbe Wiel erschrak etwas. »Es war ein guter Ausweg für Uhlig«, sagte sie, »und Tina kann das Mietsgeld schon gebrauchen.«
»Es sorgt wohl keiner für sie«, fuhr Stam Öffgen auf, »da muß Herr Uhlig kommen.«
Er fühlte sich schuldbewußt, daß er Tina mit den Kindern so lange ohne Geld hatte sitzen lassen.
Barbe Wiel wollte ihn begütigen. Sie sagte: »Uhlig ist ein anständiger Mensch. Ich kenne ihn von klein auf. Wenn dir jemand was zugetragen hat, so ist das bloß ein Geschwätz.«
Stam Öffgen sah Barbe Wiel an, öffnete den Mund, als wollte er was Lautes sagen, aber dann pfiff er bloß.
Jetzt fürchtete Barbe Wiel, eine Dummheit begangen zu haben, und sie setzte hinzu: »Du weißt ja, wie schnell einen die Nachbarn im Maul haben. Von dir schwatzt man auch so allerhand. Aber jeder soll vor seiner Türe kehren. Man weiß doch, wie's überall aussieht.«
Stam Öffgen lachte plötzlich. »So also steht's«, rief er.
Er ließ Barbe Wiel stehen und ging auf die Haustüre zu. Barbe Wiel folgte ihm unruhig. Sie redete beschwichtigend hinter ihm her, aber ihre Worte schienen in den Wind gesagt. Stam Öffgen beachtete sie nicht.
Als er die Treppe hinaufging, scholl ihm die Musik aus Schowes Wohnung entgegen. Er sang ein paar Takte mit und sprang schließlich die Treppe hinauf. Er nahm zwei Stufen auf einmal.
»Dein Galan ist wohl nicht da«, schrie er Tina an, »da können wir ja miteinander reden.«
Tina war so bestürzt, daß sie keine Antwort fand.
Stam Öffgen polterte nun viele Worte vor sie hin, Vorwürfe, Anklagen und Drohungen. Er redete sich da hinein, weil es für ihn so am bequemsten war, von Tina loszukommen. Als er nichts mehr vorzubringen wußte, nahm er die Mütze ab und wischte sich damit die Stirn.
»Warum antwortest du nicht?« sagte er barsch.
Tina schwieg. Sie sah ihn groß an. Sie sah ihn an und fand kein Wort der Erwiderung.
Stam Öffgen setzte die Mütze wieder auf und trat an das Fenster.
»Sprich doch«, sagte er beherrschter. Er wandte ihr den Rücken zu und sah zum Fenster hinaus. »So sprich doch endlich!« Seine Stimme hatte jetzt fast etwas Bittendes, aber Tina schwieg. Er sah in diesem Augenblick Gitti auf der Straße kommen. Sie hatte die Hände vor den Augen. Anscheinend weinte sie. Er fürchtete sich, daß das Kind in die Stube treten könnte. Er wandte sich jäh um. »Es hilft alles nichts, das muß nun ein Ende haben. Ich geh' wieder nach Hamburg. Das ist am besten.«
Er warf die Tür hinter sich zu und ging schnell die Treppe hinab. Er ging so schnell, daß er nicht die Musik hinter Schowes Türe hörte. Aber als er unten im Flur war, hörte er ein Schreien. Es war Tina. Sie heulte wie ein Hund.
Stam Öffgen stolperte über die Schwelle in die Straße. Er stand plötzlich vor Gitti, die ihn anstarrte. »Lauf zu Mutter, sie ist krank«, sagte er schnell. Dann ging er rasch den Kolk entlang in die Stadt.
Unterwegs traf er Köppje, der von der erfolglosen Jagd hinter Tütchen zurückkam. Stam Öffgen war darüber etwas yerwirrt, er machte vor dem Jungen ein verlegenes Gesicht.
Köppje sagte: »Es ist gut, daß du da bist. Tütchen ist weggeflogen, und das Schiff ist schon kaputt. Du kannst es gleich machen.«
Er sagte das so forsch, daß Stam Öffgen lachen mußte.
»Ich will dir einen anderen Vogel kaufen und ein neues Schiff sollst du auch haben«, und er fügte nachdenklich hinzu: »Was kaputt ist, ist kaputt.«
Köppje sprang neben seinem Vater her.
»Was meinst du«, sagt Stam Öffgen, »wenn wir beide nach Hamburg reisten? Da sind große Schiffe. Tausendmal so groß wie das Sandschiff im Kolk.«
Köppje bekam ein strahlendes Gesicht. »Wir wollen nach Hamburg!« schrie er.
Stam Öffgen hatte ihm seinen Arm um die Schulter gelegt. »Du sollst mal ein richtiger Matrose werden«, versprach er.
»Kapitän«, verbesserte ihn Köppje.
»Natürlich Kapitän«, lachte Stam Öffgen.
Im Gasthof setzte er sich hin und schrieb ein paar Zeilen an Tina. Er schrieb:
»Ich habe Köppje mitgenommen, damit du keine Last mit ihm hast. Gitti kann dir schon zur Hand gehen, aber solch Junge ist ungeschickt fürs Haus.«
Das schrieb er langsam und mit vielfachem Stocken. Er hatte Köppje bunte Bleistifte gekauft, ein rotes Blei und ein blaues. Damit saß Köppje am anderen Tisch und malte. Er malte hohe blaue Wogen und kleine rote Schiffe darauf, aber eines hatte ein großes Segel. »Das ist meins«, sagte er später zu Stam Öffgen.
Den Brief hinterlegte Stam Öffgen beim Wirt. Er sollte ihn Tina am nächsten Tage aushändigen. Als Atze Uhlig Stunden später nach Hause kam, fand er Tina in großer Aufregung. Es war schon spät, und Köppje war noch nicht zurückgekommen. Darüber hatte Tina allen Schmerz, den ihr Stam Öffgen zugefügt hatte, zurückgestellt. Sie hatte den Jungen durch Gitti in der Nachbarschaft suchen lassen, aber es war erfolglos geblieben. Nun wollte sie selber sehen, ob sie Köppje fände. Atze Uhlig beruhigte sie.
»Er wird schon kommen. Unten liegen ja die Scherben, womit er bei Schowes poltern wollte. So was vergißt ein Junge nicht.«
Als sie dann später auf der Straße Klirren und Spektakeln hörten, hofften sie, daß Köppje darunter wäre. Tina stürzte auf die Straße. Es war ein ganzes Rudel Jungens, das mit lautem Geschrei Töpfe und Tassen gegen die neue Ladentüre warf, bis Frau Schowe ärgerlich das Fenster öffnete und herauszankte, und Herr Peine Albert beauftragte, ein paar Latten vor die Türe zu stellen, damit die Farbe nicht ruiniert würde. Die Jungens warteten noch ein Weilchen, ob sie nicht ihr wohlverdientes Stück Kuchen erhielten, aber Frau Schowe zankte noch immer auf den wilden Unfug, wie sie es nannte. So trollten die Jungens schließlich davon. Köppje war nicht unter ihnen gewesen.
Tina schrak plötzlich zusammen. Ihr war eingefallen, daß vielleicht Stam Öffgen Köppje auf der Straße getroffen hätte. Dieser Gedanke schreckte sie so, daß sie ihre Befürchtung kaum herausbringen konnte.
»Er hat Köppje mitgenommen«, schluchzte sie.
»Ängstige dich nicht«, sagte Uhlig, »ich will in den Gasthof gehen. Er soll den Jungen schon herausgeben, wenn er ihn hat.«
Aber Uhlig traf weder Stam Öffgen noch Köppje in dem Gasthof.
»Sie sind schon abgefahren«, sagte der Wirt, »der Junge konnte kaum die Zeit abwarten. Hier ist übrigens ein Brief für die Frau. Den könnten Sie gleich mitnehmen.«
Uhlig steckte den Brief in die Tasche.
»In der Ehe stimmte es ja schon lange nicht mehr«, sagte der Wirt, »ich habe Öffgen zugeredet, ein Junge gehört zum Vater.«
»Ja, ja«, sagte Uhlig tonlos, »so ist es wohl.«
»Natürlich ist's so«, rief der Wirt, »die Frau wird froh sein, wenn sie einen Mund weniger satt machen muß.«
Er hatte zwei Glas Bier eingeschenkt und schob Uhlig eins hin.
»Trinken wir auf die Aufregung«, sagte er. Er stieß sein Glas gegen Uhligs und leerte es auf einen Zug. Dann wandte er sich anderen Gästen zu.
Uhlig kam niedergeschlagen nach Haus. Er hatte sich unterwegs alles zurecht gelegt, was er Tina Gutes sagen wollte. Nun öffnete er die Türe, und im gleichen Augenblick war es ihm, als wären alle Worte weggeblasen. ›Was wollte ich doch Tina sagen?‹ dachte er. Er sah sich um und war froh, daß Tina nicht in der Küche war. Er brachte mit Mühe ein paar Sätze wieder in Gedanken zurechf und ging dann in die Stube. Auf Gittis Bett saß Tina. Der Kopf war ihr vornüber gefallen. Eine dumpfe Müdigkeit hatte sie übermannt. ›Sie schläft‹, dachte Uhlig, ›ich will sie nicht wecken. Es ist gut, daß sie schläft, es wird ihr wohltun.‹
Er legte den Brief auf die Kommode. Da wird sie ihn gleich sehen. Ich will wach bleiben, damit ich zur Hand bin, falls mit dem Brief was ist. Er ging leise, auf Zehen, in seine Stube, zog einen Stuhl neben die Türe und setzte sich. Ich will wachbleiben, wiederholte er mehrmals, als wollte er es sich einhämmern. Durch die Diele von unten drang die Musik. Man tanzte bei Schowes und war lustig. Man spielte einen Walzer nach dem anderen. Man sang dazu und klingelte mit den Gläsern. Es wurde auch eine Rede gehalten. Das alles hörte Uhlig.
Er hörte auch Herrn Peines Stimme, die heute einen schneidigen Klang hatte. Von vielen Seiten war an seine Hochzeit gedacht worden, auch der Direktor der Zuckerfabrik hatte Blumen geschickt, und sein früherer Chef ließ ihm sogar durch den Buchhalter einen Tafelaufsatz überreichen.
»Wir werden unsere Firma schon in die Höhe bringen«, sagte Herr Peine, »ich hoffe, daß wir schon im nächsten Jahre eine Filiale in der Stadt errichten können.«
Der Lehrling Labesehr, der an diesem Tage für kleine Dienste zur Hand sein mußte, stieg von Zeit zu Zeit in den Keller hinab, holte ein paar neue Flaschen oder eine frische Kiste Zigarren. Er hatte eine aufgestülpte Nase und trug die Haartolle mit Wasser an die Stirn gekleckst. Er hatte so dichtes Haar, daß er den Scheitel fast bis zum Kragen ziehen konnte. Wenn er die Treppen herauf und herunter ging, pflegte er laut zu pfeifen. Auch dieses Pfeifen des Lehrlings Labesehr hörte Uhlig. Er hörte auch Schowes dröhnendes Lachen. Frau Schowe war dieses Lachen oft unangenehm. Wenn sie ihn dessen verwies und er guter Laune war, sagte er wohl: »Man soll gleich wissen, wer vor der Tür steht.«
Auch dieses Lachen hörte Uhlig. Doch mit der Zeit wurde es ein Mischmasch von Tönen und Geräuschen, und endlich war es vor seinem müden Ohr wie das Auf und Ab eines Wassers. Es brodelte zu ihm, und mit jeder Sekunde machte es ihn schläfriger. Hin und wieder fielen ihm die Augen schon zu. Er glaubte, dann Schritte nebenan zu hören, richtete sich hoch und horchte. Er sah auch in die Küche, aber da war niemand. In Tinas Kammer brannte kein Licht. Sie schlief also noch.
Uhlig saß wieder neben der Türe, vorgeneigt und mit schlaffem Willen. Unten kreischte schwerfällig die Tür.
Auf einmal war ein Schrei auf der Straße. Kein entsetzter Schrei, kein ängstlicher Schrei. Es war ein beinahe singender Schrei. Lang und hinschaukelnd. Manchmal haben Straßenverkäufer solche Rufe, manchmal auch Viehtreiber. Das fiel Uhlig zuerst ein. Aber es war eine Frau, die schrie. Er hörte es deutlich. Manchmal rufen Frauen über das Feld hin so nach ihren Kindern. Uhlig lauschte. Es ist sonderbar, daß eine Frau nachts so auf der Straße schreit. Nun, sie wird zu Schowes Gesellschaft gehören und sich einen Spaß machen. Er horchte, ob der Schrei wiederkehre. Er mußte ein Weilchen warten, dann hörte er ihn zum zweiten Male, entfernter schon, und schließlich ein drittes Mal, wieder näher heran. Was ist das seltsam, eine Frau macht sich nachts den Spaß, im Kolk auf und ab zu gehen und zu schreien. Sie müssen tüchtig gefeiert haben.
Plötzlich aber überfällt Uhlig eine Unruhe. Er sieht zum Fenster hinaus. Von Schowes hellen Fenstern ist die Straße erleuchtet. Er sieht eine Frau sich entfernen. Sie trägt ein großes Bündel im Arm. Es ragt ihr über die Schulter. Es kann auch ein Kind sein, so wenigstens trägt sie es. Vielleicht ist es auch ein Kind, warm in ein Tuch gehüllt.
Uhlig beugt sich weit vor. Tina? denkt er, nur eine Sekunde, Tina? Nein, sie ist es nicht. Diese Frau da hat einen breiten, etwas schaukelnden Gang, Seeleute haben ihn so, wenn sie über das Deck ihres Schiffes gehen. Sie behalten das auch am Lande bei. Stam Öffgen geht so ähnlich, denkt Uhlig. Aber er ist unruhiger als vorher. Plötzlich läuft er in die Kammer. Er nimmt keine Rücksicht. Er zündet ein Streichholz an. Gitti schläft, schläft ganz fest und mit ruhigem Atem. Aber Tina ist nicht da. Nur der Brief liegt da, gelesen und zerknittert.
Tina, schreit es plötzlich in Uhlig. Er ist schon auf der Treppe.
Im Hausflur, zusammengerollt, an die Wand gelehnt, hatte ein Teppich gestanden. Eine Brücke nennt man es auch, die bis zum Wagenschlag über die Steine gelegt werden sollte, wenn die Hochzeitskutsche kam. Nun ist es auf einmal kein Teppich mehr. »Köppje«, sagt Tina zu ihm und streichelt darüber. Sie hat den Teppich wie ein Kind im Arm und läuft über den Kolk. »Köppje, Köppje«, hat sie ein paarmal geschrien. Es ist viel Licht in Schowes Fenstern. Es ist Musik und frohes Wort. Der Kolk ist heut nacht eine festliche Straße. »Köppje, Köppje«, schreit Tina. Das Geländer zum Wasser ist kalt. Es ist schon Herbst. Morgen ist Herrn Peines Hochzeitstag. Seine Eltern haben vor vielen Jahren am gleichen Tage geheiratet. Er ist ein getreuer Sohn, es ist auch eine gute Familie. »Köppje, Köppje«, schreit Tina. Wally trägt heute ein gelbes Kleid und morgen ein weißes. Sie hat heut einen roten Kranz aus kleinen runden Kugelrosen und morgen einen grünen mit weißen Myrtensternen darin. Es ist ein runder Kranz, ein grüner, runder Myrtenkranz. Tinas Kranz ist offen gewesen, der Herr Pastor wollte das so, weil Gitti schon unterwegs war. Gitti ist nun ein verständiges Mädchen. Sie kann nähen und kochen. Morgen sollte sie Blumen streuen. »Köppje, Köppje«, schreit Tina. Die Brücke am Kolk ist hölzern und hohl. Sie klingt wie ein Faß, wenn Olkers darüber geht. Er muß nun schon sechzig sein. Er hat sich das Bein im Dienst zerstoßen. Fünfzehn Jahre hat er bei Schowe gewohnt. Er hörte nachts das Pferd im Stall, und die Schwalben zirpten am Fensterbrett. Er hat immer pünktlich die Miete gezahlt. »Köppje, Köppje«, schreit Tina. Stam Öffgen ist fort, und Uhlig schläft. Stam Öffgen kommt wohl nicht wieder. In Hamburg soll er ein Mädchen haben.
Der Kahn fährt lange. Hamburg ist weit. »Köppje, Köppje«, schreit Tina. Das Wasser ist blaß, wo das Licht hinfällt. Wie tief ist das Wasser im Kolk. Es ist so weich, wenn ein Boot drüber fährt, dann schmiegt es sich hin und biegt sich und schleift. Es ist so hart, wenn ein Stein reinfällt. Dann klirrt es und knurrt und beißt und frißt. Es hat das Wasser wohl zweierlei Herz, ein hartes Herz und ein gutes Herz. Das Wasser ist schwarz und das Wasser ist blank, das Wasser ist weiß, wo ein Licht hinfällt. »Köppje, Köppje«, schreit Tina.
Die Brücke hat einen Halt aus Holz. Zwei Schienen sind zur Seite gespannt. Man beugt sich darüber, die Schiene knarrt. Es knarrt das Brückenholz unterm Herz. Vom Wasser kommt wohl ein kalter Strom, der fließt hinauf zum Brückenholz. Er fließt eiskalt über Hals und Gesicht. Das schwarze Wasser hat kein Blut. Es bebt kein Aderschlag darin. Das schwarze Wasser hat kein Herz, es ist nur Glas und bricht entzwei.
Ich halte dich fest im Arm, mein Kind. »Köppje, Köppje«, schreit Tina. Wo hast du heut dein blondes Haar, wo hast du heut den frischen Mund? Wo sind die Händchen, wo dein Bein? Was lachst du nicht und sprichst du nicht? »Lach doch, lach doch«, schreit Tina. Ich setz dich nun aufs Brückenholz, biege, biege dein Beinchen. Ich will dich wiegen die ganze Nacht. Gib mir, gib mir dein Händchen. Wo hast du Händchen und Beinchen nur, wie soll ich dich halten und fassen? Du tanzt mir ja unter den Armen hindurch. Du springst mir ja noch von dem Brückenholz.
»Köppje, Köppje«, schreit Tina. Wo bist du geblieben? Das Wasser zankt. Das Wasser sprang mir wohl gar auf die Hand. Warum ist das Wasser so böse? Wo bist du geblieben? Das Wasser ist still. Du sitzt ja nicht mehr auf dem Brückenholz. Das Holz ist schon kalt, und das Wasser ist fort. »Köppje, Köppje«, schreit Tina.
Es ist noch immer Musik im Kolk. Es ist noch immer viel Licht im Kolk. Morgen ist Hochzeit für Wally. Sie warfen heute die Tassen tot. Sie warfen heute die Kannen tot, die Tassen und Kannen und Töpfe. Die Scherben sprangen die Tür hinauf, die Scherben fraßen die Farbe auf. Es lachten und starben die Töpfe. Es ist keine Bank am Brückenholz, wenn man müde ist, wohin setzt man sich dann? Es ist keine Bank am Brückenholz, nur zwei kalte Steine. Man setzt sich lange, der Weg ist weit. Der Weg ist weit vom Brückenholz bis auf die Steine hinunter. Man setzt sich nicht, man fällt so hin. Es ist ein langer, langer Fall. Wie weit ist's doch vom Brückenholz bis auf die kalten Steine. Das ist ja eine ganze Welt, das ist ein ganzes Leben lang, das ist schon eine Ewigkeit. Man ist ein Kind und spielt und singt. Der Vater hatte ein rundes Gesicht und eine blaue Mütze. Die Mutter trug immer ein graues Kleid, sie hatte auch ein Häkeltuch, und sonntags, wenn's zum Walde ging, eine große Tasche. Das Zuckerbrot, das Mandelbrot, das ist nun längst gegessen. Die dünnen Schuhe sind vertanzt, die hellen Tage sind verwacht, die Träume sind verschlafen. Nun ist nur noch ein langer Fall, ein tiefer Fall, ein müder Fall auf die kalten Steine.
Es ist noch immer Musik im Kolk. Es ist noch immer viel Licht im Kolk, aber die Steine sind dunkel. Herr Schowe hat einen weichen Stuhl. Frau Schowe hat ein warmes Bett, aber kalt sind die Steine. Herr Peine trägt schon den Hochzeitsrock, und Wally trägt schon den Schleier. Sie tanzten ihren Kranz entzwei, den roten, roten Rosenkranz. Sie tanzten eine ganze Nacht, auch morgen wollen sie tanzen.
Nun ist wohl gar ein kleiner Stern, ein heller Stern, ein guter Stern über der kalten Brücke. Der leuchtet wie ein Kinderblick, ein Kinderauge leuchtet so. So klein und hell, so klein und gut. »Köppje, Köppje«, stöhnt Tina.
Nun schlägt eine Uhr. Aber wo schlägt die Uhr? Sie schlägt irgendwo in der Mitternacht.
Nun ist es schon über zwölf und eins.
»Sollte man's glauben«, lacht Anton Olkers, »sie haben mir einen aufgehuckt. So ein Luder, der Wirt. Anton, Anton, paß auf. Fünf Glas sind zu viel für dich. Was, noch ein sechstes? Daß wir mal ein gutes Gedenken haben, prost! Das geht ja heute wie der Wind, so die Straße lang. Sonst will das Bein sich immer ziehen lassen, aber heut ist's voraus. Nicht so flink, nicht so flink, du lahmer Gaul. Kommst früh genug in den Stall. Jetzt schlägt's nach rechts aus und jetzt nach links. Was ist dem lahmen Bein bloß in den Kopf gestiegen? Hat man so was schon erlebt! Sechs Gläser Bier, und der Lahme tanzt. Nun langsam, langsam, die Ecke rum. Wir sind gleich zu Haus. Da ist schon der Kolk. Der alte Kolk lebt immer noch. Auch wenn solch Gernegroß kommt und Peine heißt. Er nennt sich Chef. Haha, so 'n Chef. Der Chef ist nicht da, sagt der Schwengel zu mir. Der Chef ist heute nicht zu sprechen. Er hat wohl die Hose gestrichen voll Stolz? Sag deinem Chef, Herr Olkers ist da. Er hat mir meine Stube gestohlen. Er hat mir meine Küche gestohlen. Ich habe immer die Miete gezahlt. Ich habe hier fünfzehn Jahre gewohnt. Ich hörte nachts das Pferd im Stall. Jawohl. Ihr macht den ganzen Kolk kaputt. Herr Peine hin, Herr Peine her, hier kommt der alte Olkers. Das lahme Bein ist heut vergnügt, es hat sechs Gläser Bier gekriegt. Hoppla, rum um die Ecke! Hier ist ja heute so viel Licht! Was schlaft ihr nicht, ihr Rackerzeug? Die Hosen aus, und marsch ins Bett. Wer schreit da noch, wer macht Skandal? Das Maul gehalten! Jetzt ist Nacht! Du schreist manchmal, du Querulant? Ich komm gleich hin, jetzt komm ich hin. Du steckst dich hinters Brückenholz? Heraus mit dir! Ich krieg dich doch! Ich seh dich doch! Da sitzt du ja, da hockst du ja, da liegst du ja! Du denkst, ich habe keinen Blick? Steh auf und marsch. Stell dich nicht an. Du tust wohl so, als wärst du tot. Das könnt dir passen, einfach tot. Der Tod kost't mehr als 'nen Sechser! Steh auf, die Steine sind doch kalt, du machst dir bloß die Lunge schwach. So red doch mal. Wer bist du denn? Ich hab sechs Gläser Bier gehabt, darum fällt mir das Bücken schwer. Ich kenn dich doch, wer bist du gleich? Nimm deine Arme vom Gesicht. Nun steh doch auf und rede doch. Du liegst so still, du bist doch nicht –? Tina, Tina!« schreit Olkers.
In dieser Nacht um Uhrer eins wachte der Lumpensammler Daniel Timm aus dem Schlaf auf. Er schob die Decken und Lumpen beiseite und stieg von der Bettstatt. Er zündete ein Licht an und zog seinen Mantel über. Weil er noch Schlaf in den Augen hatte, fuhr er mit der Hand in die Kanne und netzte seine Augen. Er stand dann ein wenig verwundert mitten in dem Raum und konnte sich nicht erklären, aus welchem Grunde er aufgestanden war. Als er darüber nachdachte, fiel ihm ein, daß er im Traume dreimal ein Klopfen an der Türe gehört hätte. Er wartete darauf, daß dieses Klopfen sich wiederholen sollte. Aber es blieb still. Wenn es im Traume klopft, so hat dieses Klopfen eine tiefere Bewandtnis als das tatsächliche. Wenn man im Traume ein Licht anzündet, brennt es heller als das wirkliche. Und wenn einem im Traume ein Wort zugerufen wird, ohne daß man den Mund sieht, der es ausspricht, so darf man wohl glauben, daß es eine hohe Botschaft bedeutet.
»Ich habe das Klopfen deutlich vernommen«, sagt Daniel Timm. »Ich halte mich bereit, um gewärtig zu sein.«
Wie er nun so lauschend dastand, hörte er plötzlich, daß ein Mann draußen zweimal einen Namen schrie.
›Das wird es sein‹, dachte Timm, und er ging ohne Furcht auf die Straße. Das Licht hielt er angezündet in der Hand. Er sah nun, daß ein Mann an der Brücke stand, der mit den Armen wie in Verzweiflung durch die Luft fuhr. »Er ruft nach einem Menschen«, sagte Daniel Timm und ging auf die Gestalt zu. Der Kolk war noch immer hell von Schowes Fest, und seine Schritte waren von der Musik begleitet, die gedämpft aus den Fenstern drang. Als er nahe genug heran war, sah er, daß der Invalide Olkers an der Brücke lehnte. Er sah auch, daß eine dunkle Gestalt auf den Steinen davor lag.
»Es ist Tina«, flüsterte Olkers ängstlich. »Es ist Tina.
Timm gab ihm das Licht in die Hand und versuchte die Liegende aufzurichten. Sie schien so leblos, daß sie keinen Halt mehr in sich hatte, und Timm überlegte, wie man sie fortschaffen könnte.
»Ich bin stark«, sagte Anton Olkers plötzlich. Er hatte gesehen, wie sich Timm mit der Frau mühte. Jetzt war das Bier verflogen und die Worte waren verflogen, und es waren nur noch zwei Hände da, zwei sechzigjährige Hände, die sich Mühe gaben, zuzupacken wie junge.
So brachten sie die Frau hoch und sie brachten sie in die Niederlage, darin Timm seine Lumpen aufbewahrt hatte.
»Wir wollen sie nicht nach Hause schaffen«, hatte er gesagt, »das gibt bloß Aufstand. Sie sind bei Schowes noch mitten im Fest.«
Nun hatten sie Tina auf Timms Bettstatt gelegt, mit Decken zugedeckt und alten Tüchern, mit verkratzten Wolldecken und zerfransten Lappen. Als sie so weich gebettet lag im alten Zeug, streckte sie sich, und ihr Kopf fiel schlaff hintenüber. Timm saß neben ihrem Lager und beobachtete ihr Gesicht. Olkers stand unschlüssig in der Ecke. Er überlegte, ob es gut wäre, Uhlig Bescheid zu sagen, aber er wußte nicht, ob er sich von diesen Augenblicken, die vielleicht letzte sein könnten, trennen dürfte.
Daniel Timm bewegte die Lippen, doch verstand Olkers nicht, was er betete. Als nun Tinas Kopf leblos zurücksank, sagte Daniel laut:
»Wenn der Mensch eingeht in die Ewigkeit, ist das Herz Gottes wieder in die Mitte gestellt.«
Olkers glaubte, daß Tina nun tot wäre, und so trat er leise dicht heran, blickte auf die Liegende und sagte schließlich aus einem tiefen Nachdenken heraus: »Vom Himmel hoch, da komm ich her.«
Es war das Lied, das er weihnachts als Kind gesungen hatte, und nach einem sechzigjährigen Leben fiel es ihm nun wie ein Engelswort ein.
Timm beugte sich zu Tina. Er bewegte die Hände. Vielleicht wollte er ihr die Augen zudrücken. Aber im gleichen Augenblick öffnete sie weit den Blick, und es lag eine tiefe Verwunderung darin. Sie versuchte sich etwas aufzurichten und sich in dem Raume umzusehen.
Daniel Timm hatte ein verlegenes Gesicht. Er sah den Invaliden Olkers von der Seite an, prüfte dessen Ausdruck, und als er sah, daß es wie eine Enttäuschung um den alten Mund lag, sagte er zu ihm leise:
»Das Tor der Herrlichkeit hat sich wieder zugetan. Wohin aber sollen wir wandeln?«
Olkers lachte auf einmal. »Da hat sie uns ein Schnippchen geschlagen. Sie lebt. Wahrhaftig, sie lebt.«
Er war ganz außer sich vor Freude:
»Das war ein Tag heute, sechs Glas Bier und nun das!«
Er hatte den Arm unter Tinas Kopf geschoben. »Ja, ja, da wunderst du dich. Sieh dich nur um. Hier ist's wärmer als auf den Steinen.«
Daniel Timm hatte alle frommen Gedanken beiseite getan, stand vor seiner Kochbank und bereitete warme Milch. Als er sie Tina zu trinken geben wollte, war sie schon fest eingeschlafen.
»Wir wollen sie nicht wecken«, sagte er, und er teilte die Milch in zwei Tassen, gab Olkers eine und trank aus der anderen.
Draußen im Kolk waren jetzt viele laute Stimmen. Es waren Schowes Gäste, die lustig nach Haus gingen, Sie sangen und tanzten wohl noch auf der Straße. Man hörte ihre Zurufe und ihr Gekreisch.
»Was wissen sie von einer Nacht«, sagte Timm.
»Sie sind alle besoffen«, sagte Olkers.
Dann saßen sie wieder schweigend an Tinas Bett.
In dieser Nacht lief Atze Uhlig ruhelos umher. Als er gesehen hatte, daß Tina nicht in der Kammer war, hatte er sich daran gemacht, sie zu suchen. Er war aufgeregt den Kolk entlanggelaufen. In seiner Unruhe hatte er die Kauernde an der Brücke nicht bemerkt. Er war weiter gelaufen, den Unterdamm entlang und den Oberdamm, hier und da hatte ihn die Gestalt einer einsam Gehenden irregeführt. Er war bis zu dem Gasthof gelaufen, hatte geforscht und gesucht, war schließlich angstvoll umgekehrt und saß nun ratlos in seiner Stube, von jeder Minute erflehend, daß sie Tina zurückbringen möchte.
Erst am frühen Morgen klopfte es. Olkers stand vor der Türe. »Schon früh auf heute?« fragte er.
»Wo ist Tina? Weißt du was?« fragte Uhlig hastig. »Ich hab überall gesucht. Die ganze Nacht.«
»Darum komm ich ja«, antwortete Olkers umständlich. »Wir haben sie auf der Brücke gefunden, und nun ist sie bei Timm. Sie will nicht in ihre Wohnung.«
Er wollte noch dies und das erzählen, doch Uhlig war schon voraus gelaufen, und ehe Olkers noch aus der Haustüre war, stand Uhlig schon an Tinas Lager. Als er sie blaß daliegen sah und mit müdem Gesicht, die Augen halb geschlossen, die mageren Hände lang auf der Decke, überfiel ihn ein Weinen. »Sie hat viel durchgemacht«, sagte er schließlich zu Timm.
»Wir wollen sie in Ruhe lassen«, antwortete der, und die beiden Männer gingen leise hinaus und setzten sich vor die Tür der Niederlage.
Nun kam Olkers dazu. »Da war ja der Skat fertig«, sagte er. Er konnte seine Lustigkeit nicht verbergen, daß mit Tina alles so gut abgelaufen war. Er schwatzte unaufhörlich und erzählte nacheinander alles, was er so im Laufe seines Lebens erlebt hatte. Es war nicht viel gewesen, doch das Wenige hatte er bis in alle Einzelheiten im Gedächtnis behalten.
Timm ordnete gleichmütig die Abfälle, und Uhlig saß zurückgelehnt da. Er fühlte sich wie damals in der Kindheit, als er nach einer langen Krankheit zu genesen begann.
Während sie so saßen, hörten sie einen flatternden Schrei vom Kolk her.
»Die Möwen«, rief Uhlig. Er war aufgesprungen und lachte.
»Die Möwen sind da«, schrie Olkers und humpelte davon.
Er stand dann mit Uhlig am Wasser. Auf dem Brückenholz saßen die ersten Möwen.
»Nun ist ein Jahr um«, sagte Uhlig. Er rechnete oft die Zeit nach der Ankunft der weißen Seevögel.
»Es hat's in sich gehabt«, sagte Olkers, »also die Möwen sind da.« Er ging nachdenklich fort.
Nachmittags stand der Kolk voller Menschen. Die Hochzeitskutsche hielt vor Schowes Haus, aber Herr Peine war sehr zornig eingestiegen, denn der Teppich war fort, der über die Steine gelegt werden sollte.
»Gestohlen«, sagte er zu Wally im Brautwagen, »es ist eine rüde Gegend. Wir hätten uns wo anders niederlassen sollen.«
Es hielt auch noch eine zweite Kutsche im Kolk. Herr Schowe nahm darin Platz mit seiner Frau, die ein lila Atlaskleid trug.
»Da haben sie uns wieder mal den Teppich gestohlen«, sagte Frau Schowe, »jeden Tag ist was verschwunden. Du mußt es sofort bei der Versicherung anmelden.«
»Ja, ja, ja«, sagte Schowe. Er war noch fidel vom Abend vorher. Er hatte getrunken und sein Tänzchen gemacht, und nun wollte er auch die Hochzeitsrede halten. Dafür hatte er schon ein paar Witze parat.
Gitti hatte scheu in der Ecke gestanden. Nun war es nichts geworden mit dem Blumenstreuen. Uhlig hatte sie am Vormittag zur Mutter geholt, und sie war lange bei ihr gewesen, bis draußen die Kutsche vorbeirollte. »Nun wird die Braut geholt«, sagte Gitti.
»Sieh's dir an«, hatte Tina leise geantwortet, »lauf nur.«
Es war fast das einzige, was sie den ganzen Tag über gesprochen hatte.
Nur das hatte sie noch gesagt, daß sie bei Timm bleiben wollte, wenn es ihm nicht ungelegen wäre. Sie fürchtete sich vor ihrer Stube. Das konnte Gitti nicht begreifen. Sie war traurig, weil die Mutter nun in dem Lumpenkeller schlief, wie die Kinder Timms Behausung nannten. Sie kam nicht gerne dorthin, und so war sie froh, daß sie nun die Stuben und Küche zu Hause allein in Ordnung halten mußte, nach den Schulstunden viel Arbeit hatte und höchstens gegen Abend einmal bei der Mutter saß.
Anfangs hatte sie sich sehr geängstigt, doch Uhlig beruhigte sie, und weil er selber zufrieden einherging, denn es war ihm ein großer Stein vom Herzen gefallen, so wirkte sich das wohltuend auf Gitti aus. Sie hatte eingesehen, daß die Mutter noch lange Zeit der Ruhe bedürfe, und sie war stolz darauf, nun allein schalten und walten zu können. Wenn sie bei Tina saß, redete sie wie eine Nachbarin, die ihren Besuch machte. Sie war auf einmal erwachsen und erzählte von ihrem Haushalt. Sie ärgerte sich darüber, wenn Timm ihr kleine bunte Bilder schenken wollte oder Hauchblätter, die sich unter dem Atem bogen und aufrollten. Sie waren grün und rot, trugen einen frommen Spruch und waren oft in Kreuzesform geschnitten.
›Was er mir da schenkt‹, dachte Gitti, ›das soll er doch für die Kinder aufheben.‹
Eines Tages kam Timm mit dem Schweif, der einst Köppjes Drachen geziert hatte. Der Wind hatte ihn von den Telegraphendrähten heruntergeweht. Die grünen und roten Zettel waren verwittert, und das weiße Papier, das zu unterst befestigt war, hatte das Wetter verschmutzt und der Regen durchnäßt.
Der Schweif hing nun an einem rostigen Nagel im Türrahmen. Als Uhlig ihn sah, sagte er:
»Den hab' ich noch mit Köppje fabriziert! Wir wollen ihn beiseite tun, damit Tina ihn nicht sieht. Sonst erinnert's sie vielleicht an den Jungen. Stecken wir ihn einfach in den Herd«, sagte er.
Er kauerte vor dem Feuerloch und löste die Zettel von der Schnur. ›Das ist eine alte Zeit‹, dachte er. ›Darüber ist viel Wasser zu Tal geflossen.‹
Er glättete die Zettel noch einmal, ehe er sie ins Feuer warf. Auf dem einen waren Heringe angepriesen und Gurken auf dem andern, Bienenhonig und Rübensaft, Seifenflocken und Nähgarne.
»Das alles hat man nun mal gehabt«, sagte er wehmütig. Er warf langsam einen Zettel nach dem andern in das Feuer. Als er den letzten Zettel öffnete, zitterten ihm die Hände. Die Schrift war schon ganz verwaschen und kaum noch zu entziffern.
Er ging damit bis in das Tageslicht an der Tür, doch dann las er nicht. Er stand nur da, den Zettel lange in der Hand.
»Wenn er ein Lump ist, nützt der Zettel auch nichts«, sagte er nachdenklich. Er wandte sich rasch um und warf den Zettel ins Feuer. Nun war schon die Flamme da und fraß. Wie groß die Flamme wurde. Sie wollte wohl durch die Ringe hindurch. Sie war blau und rot, sie flackte und züngelte. Lang war sie und mit unruhigem Blick.
›Du kannst getrost unterschreiben, wir sind Freunde von Kind auf. Du kennst mich doch. – Natürlich kenne ich dich, Löders, wir haben in der Schule nebeneinander gesessen und haben in der Pause das Butterbrot geteilt. So was hält für's ganze Leben. – Natürlich, natürlich, Uhlig, du kannst dich auf mich verlassen. Sechs Monate genügen, dann habe ich das Geld zusammen. Auf Heller und Pfennig kriegt Schowe alles wieder. – Weiß ich, Löders, wir wollen keine großen Worte drum machen. – Du schreibst noch immer wie gestochen, Uhlig, du warst schon auf der Schule der Beste.‹
Die Flamme ist schmal und dünn geworden. Sie ist nur noch so schmal wie ein Halm, weht hin und her.
›Ich wäre wohl schon längst gekommen, Uhlig, aber Amerika ist weit, da ist viel Wasser zwischen uns. Vielleicht später mal, wenn's sich so schickt.‹
›Ich bin nun meinen Laden deinetwegen los, Löders. Die Tür ist weg, und die Stube ist weg. Auch die Bank ist weg, wo du oft deinen Schnaps getrunken hast. Du bist ein Lump, Löders, das muß ich schon sagen. Es kommt mir schwer an, aber ich muß dir das nachreden.‹
›Ha, ha, ha, Uhlig, der Himmel ist hoch, und der Zar ist weit!‹
Nun ist die Flamme ausgelöscht. »Das steigt und fällt«, sagt Uhlig.
Er steht auf, klopft die Hände gegeneinander, als wäre Staub daran, und setzt sich dann zu Tina.
»Du wirst, nun bald aufstehen können«, sagt er.
»Wohin?« fragt sie furchtsam.
»Es ist alles in schönster Ordnung«, antwortet Uhlig, »Gitti hat alles sauber gehalten.«
»Nicht wieder da hin«, sagt Tina.
»Du sollst jetzt nicht darüber denken«, tröstet Uhlig, »du mußt dich schonen. Wir wollen doch bald spazieren gehen. Die Möwen sind da, und es stehen Drachen über dem Feld.«
Vorläufig doch war an einen Spaziergang noch nicht zu denken. Tina wollte sich nicht recht erholen. Man merkte ihr keine Besserung an. Die Entbehrungen der letzten Jahre machten sich fühlbar, und der Arzt, der jetzt regelmäßig kam, fürchtete für ihre Lunge. Er drängte auch darauf, daß Tina in einer ordentlichen Kammer untergebracht würde, doch davon wollte sie nichts wissen. Sie fühlte sich wohl in der Umgebung und war zufrieden, wenn Timm aus seinen frommen Büchern ihr vorlas oder Nachdenkliches mit ihr beredete. Er sagte:
»Wenn die Seele wohlgemut ist, gesundet der Körper von selbst. Alle Krankheiten kommen aus dem Gemüt«, behauptete er, »der Arzt weiß das nur nicht. Wenn Gottes große Zufriedenheit über dich kommt, wird auch dein Körper dir keinen Kummer mehr bereiten.«
›Ach Gott‹, dachte Tina, ›wie soll ich wohl zufrieden werden?‹ Und sie weinte, weil sie an Köppje denken mußte.
Uhlig, der ahnte, welcher Schmerz sie wieder bedrückte, sagte:
»Er ist ja nicht aus der Welt. Du wirst ihn schon wiedersehen.«
Tina weinte und konnte oft ganz verzagt sein. Aber dann gab es wieder Tage, wo sie sich an jedes gute Wort klammerte, an jedem kleinen tröstlichen Zuspruch sich aufrichtete und oft sogar lächelte, wenn Gitti in ihrer Wichtigkeit von häuslichen Arbeiten erzählte oder Olkers seine kleinen Erlebnisse berichtete.
»Das schwatzt und schwatzt«, konnte dann Barbe Wiel sagen, »es ist schon eine Wichtigkeit mit ihm.«
Auf dem Heimwege zankten sie sich dann. »Ich habe Tina gerettet«, protzte Olkers. »Sie hat bewußtlos auf der Brücke gelegen. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte sie keiner weggeschafft. Du hast dich am ersten Tag nicht mal um sie gekümmert.«
»Ach Gott ja«, klagte Barbe Wiel, »ich hätte wohl gleich rumkommen müssen, aber der Schreck hatte mir alle Glieder zerschlagen.«
Sie wollte nicht zugeben, daß sie sich zuerst nicht vor Tina gewagt hatte, denn sie fürchtete anfangs, daß Stam Öffgen sie mit in die Klatscherei gezogen hätte, und daß Tina mit Recht zornig auf sie wäre. So hatte sie zu Hause gesessen und sich Vorwürfe gemacht.
›Maultasch‹, hatte sie sich gescholten, ›mußt du mit fünfzig noch so unklug sein, Stroh ins Feuer zu tun! Konntest du nicht besser auf deine Worte passen? Da hast du nun dem Öffgen etwas ins Ohr geflüstert, und er ist gleich hingelaufen und hat alles aus dem Geleise gebracht. Daß du auch nie lernst, das richtige Register zu ziehn. Du meinst es gut, und schon wird es widerhaarig und stellt dich der Beschämung aus. Erst hast du den Uhlig von deinem Stuhl getrieben, und nun, wo's anfing sich wieder gut einzufädeln, muß dich der Teufel reiten, deinen Mund in andrer Leute Streitigkeit zu mischen. Was geht's dich an, ob Stam Öffgen hier ist oder da, und was kümmert's dich, was man im Kolk über ihn redet. Nun ist die Suppe verschüttet, und du sitzt vor dem leeren Napf. Aber das alles möchte noch hingehen, wenn das Unglück nicht passiert wäre. Wie soll ich mich jetzt zu Tina wagen, wo sie krank bei Timm liegt. Ich will schon gern alles gut machen und ihr behilflich sein, aber wer weiß, ob sie meine Hilfe annehmen will, und ob meine Gegenwart sie nicht an vielerlei erinnert.‹
Mit solchen Gedanken hatte Barbe Wiel dagesessen, bis sie dann doch das Herz fand, zu Tina zu gehen. Da war nun alles besser gewesen, als sie anfangs glaubte. Tina war noch zu schwach, um mit ihr zu sprechen, aber an ihrem Blick hatte sie gemerkt, daß die arme heimgesuchte Frau nichts gegen sie hatte. Auch Uhlig war freundlich, und man fühlte, wie er sich nach dem bösen Schicksal nach lieben Menschen sehnte.
»Es ist schön, daß du gekommen bist«, hatte er zu Barbe Wiel gesagt. »Du bist eine erfahrene Frau, und wir drei Mannsleute werden wohl doch mit der Pflege nicht fertig werden.«
Nun kam Barbe Wiel täglich und sah nach dem Rechten. Sie kochte wie früher wieder die Suppe, zu der Uhlig die Zutaten mitbrachte. Auch um Tinas Wohnung kümmerte sie sich, und daß da alles in Ordnung bliebe.
Eines Tages schlug sie vor, Tina zu sich ins Haus zu nehmen. Das war nun ein Plan, der langes Überlegen notwendig machte. Barbe Wiel hatte sich hinter den Arzt gesteckt, der ihr Anerbieten befürwortete.
»Tina kann in der kleinen Kammer liegen, die nach dem Garten geht. Da hat sie es gemütlich und ihre kleinen Abwechslungen. Sie kann vom Bett aus sehen, was draußen vorgeht.«
Barbe Wiel lobte ihr kleines Hauswesen und brachte alle Annehmlichkeiten vor, um Tina zu der Übersiedlung zu bewegen. Sie wollte wohl gutmachen, was ihre Geschwätzigkeit vielleicht angerichtet hatte.
Olkers konnte seine Freude über den Plan nicht verbergen. Er hatte noch viele neue Vorschläge dazu. Die Wände der Kammer wollte er vorher noch neu streichen. Auch eine Bank sollte gezimmert werden, die bequemer wäre als die alte. Vielleicht könnte man auch die Stubendecke weißen oder wenigstens mit einem alten Brotkanten säubern.
»Da bist du gerade der Richtige dazu«, sagte Barbe Wiel, »du wirst mir vom Stuhl fallen, und zwei lahme Pferde ziehen keinen Wagen mehr.«
Uhlig war still zu Barbe Wiels Vorschlag. Er hatte sich daran gewöhnt, für alles zu sorgen, und diese Pflicht, die er sich da gegeben hatte, war ihm lieb geworden. Nun glaubte er, nebensächlich beiseite gestellt zu sein, wenn Barbe Wiel erst wieder das Zepter alleine führte. Wenn sie zu ihm sagte:
»Was hältst du davon? So red doch mal«, dann antwortete er nur: »Das liegt allein bei Tina. Wir können doch nichts dazu sagen.«
Es dauerte noch eine Zeitlang, bis sich Tina entschloß. Sie ging auch nicht aus innerer Überlegung darauf ein, sondern weil sie anfing, sich in Timms Keller ungemütlich zu fühlen. Es ging schon zu Spätherbst, und die Mäuse, die sich über Sommer draußen vergnügt hatten, kehrten nun wieder in das warme Lumpenland zurück. Sie knabberten hier und knisterten da, gingen auch furchtlos auf den Leisten spazieren und hantierten sich überhaupt so, als hätte Daniel Timm seinen Keller eigens für sie eingerichtet. Tina fürchtete sich vor diesen grauen flinken Vierbeinigen und lag Timm in den Ohren, Jagd auf sie zu machen. Darüber war Timm ganz erschrocken.
Diese Mäuse waren an den langen Winterabenden seine Gefährten, mit denen er das kärgliche Abendbrot teilte, und an deren lustigem Pfeifen und Getänzel er sich freute. Er begriff nicht, daß man sich vor diesen sanften Tieren, wie er sie nannte, fürchten konnte.
Als nun gar eines Tages Olkers mit einer großen Mausefalle kam und am Herd Speck als Köder rösten wollte, wurde Timm zornig. Man hatte nie erlebt, daß er in Aufregung geriet oder gar ein böses Wort gebrauchte. Aber in diesem Augenblick konnte man meinen, nicht mehr in der armen Höhle eines frommen Eremiten zu sein, sondern zwischen Tür und Angel bei einem geharnischten Lumpenhändler. Er riß Olkers das Mordinstrument, wie er es nannte, aus der Hand, warf es auf den Hof und trampelte darauf herum, bis die Drahtmaschen vollkommen verbogen waren. Olkers sah ihm fassungslos zu. Solche Wut über eine vernünftige Sache war ihm unbegreiflich. Er hatte den gebratenen Speck noch in der Hand, und weil er nicht wußte, wohin damit, steckte er ihn in den Mund.
Tina mußte schließlich lachen, aber sie willigte nun doch in den Umzug zu Barbe Wiel.
»Ich werde später alles gutmachen, wenn ich wieder arbeiten kann«, hatte sie zu Timm beim Abschied gesagt, aber er wehrte ab und wollte davon nichts wissen.
Am Nachmittage hatten Uhlig und Olkers einen großen Lehnstuhl herübergeschafft. Darauf wurde Tina gesetzt und man trug sie vorsichtig in Barbe Wiels Haus. Tina genierte sich, weil sie fürchtete, unterwegs Menschen zu treffen, aber es war schon dunkel, und bis auf den Lehrling Labesehr, der untätig in der Ladentüre stand, sahen sie niemand.
»Da hat sich Schowe verrechnet mit dem Laden«, sagte Olkers mit grimmiger Freude. »Außer ein paar Dienstmädchen kommt keiner, und die tun's bloß wegen des Scharmutzierens mit dem Seifenjüngling. So was ist ja auch kein Laden mehr. Das ist ein bunter Flatterkram, großmäulig und nichts weiter.«
Dabei stapfte er hinter dem Lehnstuhl her, den Uhlig und Timm vorsichtig trugen.
Barbe Wiel hatte alles gemütlich gemacht. Blaue Astern standen im Fensterbrett und auf dem Tisch dampfte schon die Kaffeekanne inmitten eines Kuchenberges.
»Ich habe schnell noch gebacken«, sagte sie.
Ehe Tina zu Bett gebracht wurde, setzte man sie in dem großen Lehnstuhl mit an den Tisch. Sie sollte trinken und essen. Die anderen saßen da und redeten ihr zu.
Daniel Timm sagte: »So ist nun ein neues Leben begonnen.«
Da begann Tina zu weinen und auch die anderen weinten. Uhlig saß still und Barbe Wiel hatte die Schürze vor den Augen. Olkers fuhr sich mit dem Rücken der Hand, in welcher er ein Stück Kuchen hielt, übers Gesicht und Timm hatte die Hände gefaltet und sah regungslos vor sich hin.
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