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Köppje hatte im Kolk einen jungen Vogel gefangen.

Es stand kein Baum im Kolk, und es konnte auch schwerlich ein Nest da sein, darin es andere Vögel gab als Sperlinge und Schwalben. Aber dieser junge Vogel hatte nichts mit den plumpen gefiederten Straßenjungens zu tun und nichts mit den schlanken blauen Seglern. Man wußte nicht genau, aus welcher Familie er stammte.

»Ein Stieglitz«, sagte der eine, der andere sagte: »Ein Zeisig.« Aber nun war der Vogel da und es genügte Köppje, daß man für das Junge den Namen Tütchen gefunden hatte. Gitti war zuerst darauf gekommen.

Nun saß Tütchen in einem gelben Käfig, der außen am Fenster angebracht war, damit der Sonnenschein den Vogel zu einem kleinen Gesang verlocke. Doch vorläufig blieb es noch beim Piepsen und tolpatschigem Gehops.

Damals ging noch alles gut oder besser gesagt, es war wieder gut geworden.

An der Ladentüre klebte zwar immer noch ein Schild: »Wegen Umbau geschlossen.« Man hätte dieses Schild gar nicht anzubringen brauchen, denn das Gerüst vor dem Schaufenster und die aufgestemmte Wand verrieten genug. Die einzigen Überbleibsel von früher waren ein paar Blechschilder, gegen welche die Kinder von Stam Öffgen trommelten, morgens, wenn sie zur Schule gingen, und nachmittags, wenn sie auf der Straße herumtollten.

Die Vorräte aus dem Laden waren in dem Keller mit aufgestapelt worden, soweit sie nicht schnell verkauft werden mußten, damit sie nicht verdürben. Für diese Vorräte hatte Uhlig eine kleine Summe bekommen, mit der er nun etwas Neues hatte beginnen müssen. Er war der Hoffnung gewesen, daß sich Herr Schowe bei dieser Gelegenheit großzügiger zeigen würde, doch Herr Schowe hatte ihm auseinandergesetzt, daß alles unheimlich viel kostete und daß er gar nicht wüßte, woher er all das Geld nehmen sollte. So mußte man mit dem zufrieden sein, was man erhalten hatte, denn von anderer Seite wäre noch weniger geboten worden.

Der Laden war also geschlossen und die Tage der Ratlosigkeit waren vorübergegangen. Uhlig hatte wieder etwas festen Boden unter den Füßen. Die paar Möbelstücke, die er besaß, waren zu Tina Öffgen heraufgeschafft worden, die sich nun mit Küche und Kammer begnügte, und die Stube nach der Straße hin an Uhlig abgegeben hatte. Frau Brose war auf diese Idee gekommen.

»Wo dein Mann weg ist, braucht ihr nicht soviel Platz«, hatte sie gesagt. »Ich selbst bin nicht fürs Abvermieten, aber wenn man die Person kennt, die man herein bekommt, dann kann man's schon riskieren. Uhlig ist ein fleißiger Mensch und wird pünktlich zahlen. Wo soll denn der arme Kerl auch hin? So bleibt er wenigstens im Hause.«

Tina hatte Bedenken. Uhlig dagegen leuchtete der Vorschlag sofort ein.

Seit Barbe Wiel Uhlig ausgezankt hatte und er statt Trostworte Vorhaltungen zu hören bekam, ging er ihr am liebsten aus dem Wege.

»Wenn er denkt, daß er für seine Dummheit noch gestreichelt werden muß, dann soll er woanders hingehen«, sagte Barbe Wiel zu dem Invaliden Anton Olkers. »Er ist ein Mutterkind. Wenn er die Nase in den Wind hält, kriegt er den Schnupfen. Nachher hat man das Jammern, weil man dachte, man könnte allein mit seiner Nase was anfangen. Da heißt's dann, was soll ich nun machen? Wenn man ihm dann den Kopf zurecht setzt, zieht er ein Maul. Mir kann's recht sein, daß er nicht kommt. Ich will's gar nicht sehen.«

Insgeheim aber war sie doch um ihn besorgt und ermunterte Olkers, hin und wieder bei Uhlig mit vorzusprechen.

»Er hat einen Gewürzhandel«, berichtete Olkers.

»Das ist auch kein Geschäft«, antwortete Barbe Wiel. Sie würde ihm bestimmt dazu geraten haben, wenn er sie vorher gefragt hätte. Aber so sagte sie:

»Er hätte es lieber mit Versicherungen versuchen sollen.«

»Treppauf, treppab läuft er«, erzählte Anton Olkers, »er hat seinen Laden jetzt in der Aktentasche. Manchmal hat er einen ganz hübschen Verdienst, wenn es gerade so klappt. Er besucht die Herrschaften in der neuen Altstadt.«

Die neue Altstadt waren ein paar Villenstraßen, die sich am Altstädtischen Graben entlang nach dem Stadtwald hinzogen. Da wohnte auch der Direktor der Zuckerfabrik, der Uhlig einige Empfehlungen gegeben hatte.

»Also treppauf, treppab«, sagte Barbe Wiel, »und bei jedem Wetter. Da soll er sich nur immer warm anziehen. Er konnte Zugluft nie vertragen. Wer stopft ihm denn jetzt die Strümpfe?« erkundigte sie sich.

»Das wird wohl Tina machen«, meinte Olkers.

»Die hat doch keine Zeit dazu«, antwortete Barbe Wiel. »Du kannst mir die Strümpfe mal mitbringen. Er wird wohl jetzt viel zerreißen.«

Nach ein paar Tagen kam Olkers mit der Nachricht, daß Uhlig auch versuchen wollte, die Vertretung einer Versicherung zu bekommen.

»Ich hab' ihn auf den Gedanken gebracht«, sagte der Invalide.

»Ich denke doch wohl, daß ich es gesagt habe«, antwortete Barbe Wiel. »Wie ist es denn mit den Strümpfen?«

»Das läßt sich Gitti nicht nehmen. Du sollst mal sehen, wie das Mädchen das schon versteht. Die kleinen Hände, das geht wie der Teufel.«

»So, wenn man mich nicht braucht –«, ärgerte sich Barbe Wiel.

Ein paar Tage lang schwieg sie hartnäckig, wenn der Invalide von Atze Uhlig erzählen wollte. Aber dann begann sie wieder sich nach ihm zu erkundigen.

An dem Hause war nun ein kleines Schild angebracht worden, darauf »A. Uhlig, Gewürze und Versicherungen« zu lesen war. Der Name prangte wieder wie früher an der grauen Hausfront, kleiner und bescheidener zwar, doch freundlich und sauber in blauer Schrift auf weißem Grund.

Abends saßen sie wie eine Familie um den Tisch in der Küche, Atze Uhlig, Tina Öffgen und die beiden Kinder. Jeden Abend auch wurde Tütchen in seinem gelben Käfig in die Küche geholt. Man plauderte ein halbes Stündchen mit ihm, und wenn es dann Zeit zum Schlafen für Tütchen war, wurde sein Gitterhaus mit einem großen Zeitungsbogen verhüllt. Anfangs verlangte Köppje dann immer, daß man sich nur noch im Flüstertone unterhielte, damit Tütchen nicht in seiner Ruhe gestört würde. Doch dauerte es gar nicht lange, bis Köppje als erster seine Stimme ungehindert wieder erschallen ließ.

War der Invalide Olkers abends zu Besuch bei ihnen, dann durfte Tütchen ein Viertelstündchen langer wach bleiben. Olkers saß während der ganzen Zeit vor dem Bauer und versuchte durch kleine, lockende Pfeiflaute den Vogel zu irgendeiner Äußerung zu bewegen.

»Sie sind schlau, diese Art Vögel«, behauptete er, »ihr werdet es eines Tages erleben. Sie fressen dann aus der Hand, lassen sich kraulen und gehen einem nicht von der Schulter. Es gibt auch einige Sorten, die singen. Er ist nur noch zu jung dazu.«

Hatte man dann Tütchen zur Ruhe gebracht, begann Olkers von Barbe Wiel zu erzählen.

»Du solltest mal zu ihr gehen, Uhlig. Sie hat ein gutes Herz. Da hat sie mir doch das hier für dich in die Tasche gesteckt.«

Es war ein Notizblock. Sie hatte ihn bei einem Einkauf zubekommen.

»Du kannst ihn gut gebrauchen, Uhlig«, sagte er.

Köppje wollte gleich darin malen, aber Tina nahm ihm den Block weg und gab ihn Uhlig.

»Er ist praktisch liniert«, antwortete er. »Du meinst, ich sollte mal zu ihr gehen. Sie wird mir bloß wieder den Kopf waschen wollen.«

»Sie ist schon damit einverstanden, wie du dir nun alles eingerichtet hast«, beruhigte ihn Olkers. »Wenn du zu ihr gehst, brauchst du von dem Block da nichts zu sagen. Ich hab ihn mir geben lassen, weil ich mir sagte, was soll sie damit. Sie wird schon ahnen, daß ich ihn hierher gebracht habe.«

Uhlig erwähnte nichts von diesem Notizblock, als er Barbe Wiel besuchte. Sie tat zuerst so, als wäre sie durch sein Fernbleiben beleidigt gewesen. Sie machte auch kein Hehl daraus, daß sie es unklug gefunden hatte, so ganz ohne ihren Rat sein Leben umgestellt zu haben. Schließlich mußte sie doch zugeben, daß Uhlig gar nicht so ungeschickt gehandelt hatte.

»Ich glaub' schon, daß du bei Tina gut aufgehoben bist«, meinte sie, »wenn die Leute nichts dabei finden.«

»Wieso?« fragte Uhlig verwundert.

»Na ja«, sagte sie zögernd, »man hört so hin und wieder mal was. Tina ist jung und ihr Mann ist weg.«

»Wie meinst du denn das?« erwiderte Atze Uhlig.

»Ich selbst meine gar nichts«, sagte sie, »aber die Leute nehmen gern einen Nachbarn ins Maul.«

»Was sagen sie denn?« erschrak Atze Uhlig.

»Was sollen sie wohl sagen«, ärgerte sich Barbe Wiel, »du bist ein Dummkopf. Das könntest du dir doch wohl denken.«

»Ach so«, fiel es Uhlig ein und er lachte. »Da muß man ja wirklich lachen. Das ist ja zum Schießen. Was den Menschen so in die Köpfe kommt.«

Barbe Wiel war über diesen Ausbruch verwundert. Sie hatte geglaubt, daß sich Uhlig über das dumme Gerede, das in der Nachbarschaft aufzukommen begann, ärgern würde. Aber er lachte wie ein Kind und tippte andauernd vor seine Stirn.

»Es wär' schon gescheiter, wenn du ernst bliebst«, sagte Barbe Wiel. »Man muß solchem Geschwätz den Kopf abhauen, sonst reißt es einem selbst den Kopf ab.«

»Wenn's den Menschen Spaß macht«, lachte Uhlig noch immer.

Barbe Wiel schüttelte den Kopf. Sie wurde unsicher. Was soll das Lachen heißen?

»Ihr habt doch nichts miteinander?« fragte sie erschrocken.

Atze Uhlig starrte sie an. Es dauerte ein Weilchen, bis er sich faßte. »Was soll das heißen?« rief er. »Du solltest mich doch kennen!« Er lief aufgeregt an das Fenster und trommelte gegen die Scheiben.

»Da soll doch –«, schrie er. Er nahm seinen Hut und lief davon.

Barbe Wiel war ganz durcheinander. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Endlich band sie ihr Tuch um und ging zu Tina Öffgen.

»Ist Uhlig schon da?« fragte sie.

»Ja«, sagte Tina, »er ist in seiner Stube. Er muß Ärger gehabt haben.«

»Kann man ihn sprechen?« fragte Barbe Wiel.

Tina klopfte an die Stubentüre und rief: »Es ist Besuch da!«

Atze Uhlig kam heraus. Er sah Barbe Wiel kaum an, er sagte nur:

»Du bist es.«

Seine Stimme klang so fremd, daß Barbe Wiel nicht wußte, was sie vorgeben sollte. Auch stand Tina dabei und brachte sie noch mehr in Verlegenheit. So sagte Barbe Wiel nur:

»Wenn du mal mit vorbeikommen könntest.«

Atze Uhlig sah Barbe Wiel noch immer nicht an. Er sagte laut in die Stube: »Nein.«

Tina blickte fragend auf Barbe Wiel.

»Nein«, sagte Uhlig noch einmal.

Da wandte sich Barbe Wiel um und ging aus dem Flur. Sie stieg langsam die Treppe hinunter, fast schwerfällig, die Hand am Geländer. Was habe ich da angerichtet, dachte sie in einem fort.

Tina sah ihr nach, bis sie um den Treppenabsatz verschwunden war. Atze Uhlig saß schon wieder in seiner Stube.

Vielleicht wäre Uhlig damals von Tina fortgezogen, wenn er nicht gewußt hätte, wie notwendig sie sein Mietsgeld brauchte, und wenn er sich leichteren Herzens von den Kindern hätte trennen können, von den Kindern und von Tütchen. Abends wartete Köppje schon. Er hatte immer ein Anliegen oder eine Frage. Er war stolz, daß jetzt wieder ein Mann im Hause war, mit dem man über Dinge reden konnte, von denen Frauen nichts verstanden, von Telegraphenstangen zum Beispiel und von Kanallöchern, von deren Tiefe man sich durch einen Steinwurf überzeugen konnte.

Es hatte sich eine Freundschaft zwischen ihm und Uhlig entwickelt, und kam dann noch als dritter der Invalide Olkers hinzu, so war man ein Kleeblatt, das in der Küche sein Recht behauptete. Köppje fühlte deutlich, daß diese Tatsache Gitti Respekt einflößte, und daß sie es nicht mehr so oft wie früher unternahm, ihn bei jeder Gelegenheit belehren zu wollen. Er lohnte die Hilfsstellung, die ihm Uhlig ohne Wissen dabei gab, mit einer treuen Anhänglichkeit, die oft soweit ging, daß er Uhlig in den Abendstunden entgegenlief, ihn vom Rücken her mit kühnem Ansprung begrüßte und ihm mit einem freundschaftlichen Knuff die Tasche entriß, um dann mit seiner Beute stolz neben Uhlig herzugehen.

Für Uhlig war so eine neue Welt aufgegangen, in die er sich durch seine Unbeholfenheit Kindern gegenüber anfänglich nur schwer gewöhnen konnte, und in der er später infolge seiner Gutmütigkeit manches zu erdulden hatte. Aber alle kleinen Unannehmlichkeiten wurden von dem glücklichen Gefühl überwogen, etwas zu bedeuten, und um der Kenntnisse willen, die man einst aus Büchern und Zeitschriften erworben hatte, geschätzt zu werden. Vor allem hatte Uhlig einen dankbaren Zuhörer, wenn er von den fremden Ländern erzählte, aus denen die Dinge kämen, die man in den Kaufläden erstehen könnte. Für Köppje war es selbstverständlich, daß alle diese Waren mit großen Schiffen über das Meer gekommen waren. Von Uhlig hörte er zum ersten Male auch etwas über die Kamele, die geduldig ihre Lasten trügen und die man in einem Bilderbuch hätte sehen können, das Uhlig früher einmal besessen hatte. Weil Köppje nicht immer der sein wollte, der staunend zuhören mußte, so erfand er sich selber Geschichten von Fischen, auf denen man reiten konnte, und von Muscheln, die so groß wären wie ein Boot.

Tina hörte oft ihren Erzählungen zu und fand zuweilen ihr Lachen wieder. Gitti dagegen wollte solchen Unsinn nicht glauben, und wenn Uhlig tat, als wäre er von der Wahrheit dieser Geschichten überzeugt, konnte sie bis zum Weinen zum Widerspruch gereizt werden, bis Uhlig, um sie zu versöhnen, die Hände hinhielt, damit sie ihr Wollknäuel darüber spannen könnte.

Man saß in der Küche und hatte nach den Mühen des Tages seinen guten Abend.

Wie hätte man glauben können, daß es dem Schicksal gefallen würde, selbst dieses kleine Genügen anzutasten. Nun jedoch standen die Worte der Barbe Wiel wie eine jähe Mauer da, von deren Ausmaß man erschüttert war, und in deren Schatten man fror.

Von jenem Tage an war Uhlig Tina gegenüber befangen. Sie fragte ihn, was er mit Barbe Wiel gehabt hätte, aber er antwortete ihr nur ausweichend. Sie merkte, daß es einen Zusammenhang mit ihr haben müßte, und sie erklärte, daß sie Barbe Wiel selbst fragen würde.

»Mach es dir nicht zu wissen«, bat er, »was soll auch schon gewesen sein.«

Es hatte sich im täglichen Umgange ergeben, daß sie du zueinander sagten, doch dachten sie sich nichts weiter dabei, es war das Du der Kameradschaft unter arbeitenden Menschen, die aus einer Krippe essen.

Tina ließ sich bestimmen und fragte Barbe Wiel nicht. Es wird ein dummes Gerede sein, das keine langen Beine hat, tröstete sie sich. Da außerdem der Invalide Olkers nach wie vor kam, so maß sie der Angelegenheit keine Bedeutung bei, allerdings fiel ihr auf, daß Olkers es vermied, von Barbe Wiel zu sprechen. Sie mußte ihm wohl gesagt haben, daß sie mit Atze Uhlig über den Span gekommen wäre.

Doch hatten die Abende jetzt ein anderes Gesicht. Sie aßen nach wie vor zusammen, aber Uhlig ging bald in seine Stube. Er schützte Arbeiten vor und war selbst oft durch Köppjes Klopfen nicht zu bewegen herauszukommen.

Eines Tages brachte er auch ein paar Bücher mit und las nun die ganze Zeit über, die er zu Hause war. Er hatte sich diese Bücher für billiges Geld bei dem Lumpenhändler Timm gekauft, der ein paar Häuser hin im Kolk wohnte und als sonderbarer Kauz galt. Es hieß, daß er früher bessere Tage gesehen hätte, dann aber wäre ihm eines Nachts ein Engel erschienen und hätte ihn ermahnt, auf die Freuden dieser Welt zu verzichten. Darüber war Timm lange Zeit schwermütig geworden, denn es ist nicht leicht, das gute Leben abzutun, das man mit in die Wiege bekommen hat. Schließlich schien Timm eingesehen zu haben, daß der Engel recht hatte, und so verschwand er aus der Vaterstadt, in welcher er sein gutes und reichliches Brot gehabt hatte. Er soll dann jahrelang unstet gewandert sein, bis er endlich im Kolk auftauchte und in einem alten Hause hinten auf dem Hofe eine Niederlage mietete, darin er nun zwischen Lumpen, Abfällen und Büchern hauste. Er war so bescheiden geworden, daß er tagsüber von ein paar Pfennigen leben konnte. Wenn er die durch seinen kläglichen Handel verdient hatte, genügte es ihm, und er saß die übrige Zeit des Tages über frommen Büchern. Er war ein hilfsbereiter Mensch, der von dem wenigen, was er hatte, noch abgab. Diese Hilfsbereitschaft war es auch, um die man ihm seine Sonderlichkeit verzieh und ohne große Überwindung sogar eine gewisse Hochachtung entgegenbrachte.

Von diesem Händler Timm also hatte Uhlig einige Bücher mit nach Hause gebracht. Es waren weise Bücher, deren Sinn Uhlig in seiner Einfachheit nicht erfassen konnte, in denen er aber in der Empfänglichkeit seines Herzens den Hauch seltsamer Wunder spürte.

Tina glaubte, daß diese zerlesenen Bücher der Grund seines verwandelten Wesens wären. Sie brachte einmal das Gespräch darauf, aber Uhlig antwortete:

»Offen gesagt, ich verstehe nicht viel davon. Ich werde mal mit Timm darüber sprechen. Ich glaube, es lohnt sich.«

Die Bücher konnten also nicht schuld daran sein, daß Uhlig jetzt nicht mehr in Hemdsärmeln beim Abendbrot saß, sondern seine Jacke anbehielt, und daß er auch nicht mehr in seinem alten Schlafrock bei ihr erschien, um seinen Kaffee zu trinken.

Tina hatte früher nichts dabei gefunden, wenn sie in seiner Anwesenheit im Unterrock in der Wohnung herumwirtschaftete. Jetzt gab sie auf sich acht und vermied alles, woran ein Fremder hätte Anstoß nehmen können. Sie waren durch ein Unerklärliches aus ihrem unbekümmerten Wandel aufgescheucht. Sie begannen eine Scheu voreinander zu hegen, wurden verlegen im Gespräch und oft sogar verwirrt. Sie fingen an, ihre Gedanken voreinander zu verstecken. Sie waren vor jedem Wort auf der Hut, gingen sich aus dem Wege und konnten sich das alles nicht erklären.

»Guten Abend, Frau Tina«, sagte Uhlig.

»Da sind Sie ja«, antwortete Tina mit Betonung. Sie war rot bei diesen Worten geworden und hantierte hastiger am Herde. An diesem Abend sprachen sie nichts weiter miteinander. Vom nächsten Tage an vermieden sie jede Anrede.

»Schon zurück?« fragte Tina.

»Wenn noch etwas Kaffee da wäre«, sagte Uhlig.

Gitti war zu sehr mit den Handarbeiten, die sie sich ausdachte, beschäftigt, um von diesem veränderten Beieinander viel zu merken. Köppje dagegen war oft unmutig, maulte herum und gab sich erst zufrieden, wenn Uhlig ihm erlaubte, in der Stube zu spielen. Er gewöhnte sich bald an diese abendlichen Besuche, kramte in Uhligs Schrank, spielte an seiner Waschkommode und empfand das alles bald als einen Vorteil.

Wenn Olkers kam, saß man zwar nach wie vor beisammen und gab sich Mühe, in ein gutes Gespräch zu kommen, aber irgendwo hakte es dann doch, man wurde einsilbiger und war nicht mehr so zufrieden wie früher.

Olkers kam von Mal zu Mal mißmutiger von solchen Abenden heim. Er ärgerte sich auch über Barbe Wiel, die bedrückt einherging und in Gedanken, aus denen sie keinen Ausweg zu finden schien.

»Der ganze Kolk ist verhext«, brummelte der Invalide Olkers, »man sollte mit einem Donnerwetter dazwischenfahren. Es ist wohl noch nicht genug Elend da, daß man sich auch noch gegenseitig die Köpfe verrammeln muß.«

Er stelzte in seinem Zimmer auf und ab und hielt lange Selbstgespräche.

Seine einzigen Erholungen waren Unterhaltungen mit Albert, der, wie er sagte, vom Knecht zum Chauffeur avanciert war. Der neue Lieferwagen war bereits gekauft und Albert bekam Unterricht, ihn zu steuern und zu behandeln. Es war ein großer gelber Kastenwagen, auf dem die Firma »Peine & Co., Lebensmittel, Fische und Südfrüchte« prangte.

Herr Schowe hatte sich als Teilhaber mit eintragen lassen, nicht etwa weil er der Zuverlässigkeit seines Schwiegersohns mißtraute, sondern weil er behauptete, daß dieses »und Compagnon« einer Firma erst das richtige Ansehen gäbe.

Das zweite Schaufenster war inzwischen eingesetzt worden, das Gerüst war verschwunden, und die Handwerker des Meisters Frommhold gaben den Wänden den letzten Anstrich. Um das Geschäft aus dem Grau des Mietshauses hervorzuheben, hatte man die Fassade einige Handbreit um die Schaufenster ebenfalls mit gelber Ölfarbe bestrichen, auf der sich in einer beinah taumelnden Schräge die Worte »Lebensmittel, Fische und Südfrüchte« wiederholten. So war das Ganze wie eine Rakete, die knallend hinein in den Kolk schoß.

»Man denkt immer, man hat sich verlaufen«, sagte der Invalide Olkers.

»Es ist eine großstädtische Sache«, belehrte ihn Albert, »du sollst mal sehen, wie die Stadt staunt, wenn wir eröffnen. Herr Peine läßt schon kleine Fähnchen für die Kinder anfertigen, auch soll es Luftballons geben.«

Es schwebte ihm wohl eine Art Volksfest vor, doch vollzog sich die Eröffnung des Ladens in gewöhnlicherem Ausmaß. Die Nachbarn kamen aus Neugier, die Kinder erhielten auch kleine Geschenke, aber in der Stadt hatte man weiter keine Notiz davon genommen, obgleich Albert den ganzen Tag mit bekränztem Lieferwagen durch die Straßen fahren mußte.

Die ersten Tage war Herr Peine in weißem Kittel von morgens bis abends im Laden. Von der nächsten Woche schien es ihm jedoch zu genügen, daß der Lehrling Labesehr hinter dem Ladentisch stand. Herr Peine selbst saß in dem jetzt geräumigen Kontor und baute sein Versandgeschäft auf. Schowe leistete ihm dabei Gesellschaft und wollte seine guten Ratschläge anbringen, aber er verstummte bald vor dem Wissen, das der Schwiegersohn an den Tag legte.

Oft kam Wally herein, dann unterbrach Herr Peine seine Arbeit, um die Braut in die Arme zu schließen und ihr zu versichern, daß er daran wäre, ihr Glück zu bauen.

In dieser Zeit war Frau Schowe viel unterwegs. Es gab hundert Dinge, an die sie denken mußte. Die Einladungen waren verschickt, es sollte eine große Hochzeit werden, wie es sich für die einzige Tochter eines Mannes gehörte, der auf dem Wege zum Rentier war. Man hatte für die Feier einen altrenommierten Gasthof gewählt, dessen Wirt sich nun seinerseits verpflichtet fühlte, Herrn Peine mit seinen Aufträgen zu beehren.

»So erwirbt man sich Kundschaft«, sagte Herr Schowe vergnügt, und um diese Geschäftsverbindung zu pflegen, ließ er sich jetzt täglich zu einem Glas Bier in dem Gasthof sehen. Hier kehrte auch die Landbevölkerung nach ihren Einkäufen in der Stadt ein, und Schowe unterließ es nicht, überall, wo sich Gelegenheit bot, auf die Vorzüge seines neuen Versandgeschäftes hinzuweisen.

Während eines solchen Gespräches stutzte er plötzlich. Er hatte im Hintergrunde des Gastzimmers einen Mann gesehen, in welchem er Stam Öffgen wiederzuerkennen glaubte. Dieser Mann hatte wie ein Logiergast von der Wand einen Schlüssel genommen und war durch die Hintertüre verschwunden, ehe sich Schowe vollends von der Richtigkeit seiner Wahrnehmung überzeugen konnte.

Er wollte den Wirt fragen, aber der Wirt war in den Keller gegangen, und als er wieder zum Vorschein kam, hatte Schowe über seinem Gespräch den Vorfall vergessen.

Erst am Abend dachte er wieder daran und sprach zu seiner Frau darüber.

»Das ist eine heikle Geschichte«, sagte Frau Schowe. »Ich wollte schon mal mit dir darüber sprechen, aber man hat jetzt seinen Kopf mit wichtigeren Dingen voll. Die Frau und Uhlig sollen sich richtig angefreundet haben, erzählt man hier. Wer weiß, was da noch alles passieren kann.«

Herr Schowe sah ganz betroffen aus.

»Das sind so Redereien«, antwortete er.

Frau Schowe zuckte die Achseln.

»Du müßtest dich als Hauswirt mal drum kümmern«, meinte sie.

»Was geht das mich an?« wehrte Schowe.

Seine Frau erwiderte nichts. Sie war dabei, die Speisenfolge zu studieren, die der Wirt für die Hochzeit zusammengestellt hatte.

Immerhin machte sich Herr Schowe Gedanken. Er haßte nichts mehr als Unzuträglichkeiten zwischen seinen Mietern. »Mein Haus ist ein anständiges Haus«, sagte er stets, wenn man ihm mit irgendeiner Beschwerde kam. Meistens handelte es sich in solchen Fällen nur darum, daß Köppje irgendeine Unart angestellt hatte.

Hier aber lag der Fall viel schlimmer. Stam Öffgen war ein Mann, der sich nichts gefallen ließ, und wenn da irgend etwas nicht stimmen sollte, konnte man befürchten, daß es nicht in Güte beigelegt würde.

Schowe ging an diesem Abend noch einmal in den Gasthof, um sich zu vergewissern.

Er kam aufgeregt nach Hause. »Es ist Stam Öffgen«, sagte er ärgerlich. Das war acht Tage vor der Hochzeit. Die Hochzeit sollte an einem Sonnabend gefeiert werden, damit die Gäste tags darauf sich ausschlafen könnten.

Am Montag zuvor hatte Herr Schowe Stam Öffgen gesehen. Am Dienstag wollte er ein ernstes Wort mit Uhlig reden. Es war ihm jetzt klar, daß irgend etwas vorgefallen sein mußte. Weshalb wohnte Stam Öffgen sonst in einem Gasthof? Früher war er doch immer gleich zu seiner Frau gegangen. Nun, es konnte ja auch einen anderen Grund haben. – Vielleicht legte Stam Öffgen selbst keinen Wert darauf, heimzukehren. Schiffsvolk ist unbeständig, sagt man. Aber was trieb er sich dann überhaupt in der Stadt herum? Da muß man schon Genaueres erfahren, sagte sich Schowe. Es war eine unangenehme Geschichte.

Seit er Atze Uhlig den Laden genommen hatte, fühlte er sich immer von einer Schuld bedrückt, wenn er seinem Mieter begegnete. Er war froh, daß ihm Uhlig nichts nachtrug. Er rechnete ihm sogar den freundlichen Gruß hoch an. Nun sollte er ihm mit einem nichtswürdigen Verdacht kommen, an dem wohl gar nichts war, und den sich nur ein paar Menschen im Kolk ausgedacht hatten, weil es für sie nichts Besseres zu denken gab.

Herr Schowe war schlechter Laune geworden. Er hatte sich auf die bevorstehende Hochzeit gefreut. Er wollte eine Rede halten, er wollte sich als Brautvater fühlen, tanzen wollte er, trinken, trinken und essen. Nun war ihm da plötzlich ein Haufen Schmutz in den Weg gekehrt worden, durch den er zuvor noch waten sollte. Er überlegte, ob er nicht besser täte, im Bogen daran vorbeizugehen. Sollten die Menschen mit ihren Angelegenheiten unter sich fertig werden.

Endlich entschloß er sich, es Uhlig im Vorbeigehen zu sagen. Er traf ihn auf der Treppe, tippte an den Hut und sagte so nebenbei:

»Stam Öffgen ist also wieder da.«

Er sah deutlich, wie Uhlig erschrak.

»Ja, ja«, sagte er mit Nachdruck, »Öffgen ist da.«

Uhlig starrte ihn noch immer an.

»Nein«, antwortete er schließlich.

»Ich habe ihn selbst gesehen«, erwiderte Schowe heftig, »er wohnt im Gasthaus. – Daß es hier keinen Krach gibt«, setzte er leiser hinzu. Seine Stimme hatte einen besorgten Klang. Dann ging er schnell die Treppe hinab. Uhlig tat ihm leid. ›Er stand da wie ein begossener Pudel‹, dachte er, ›wenn es bloß gut abgeht. Ich habe das meine getan. Ich will weiter nichts von der Geschichte wissen.‹ Auf der Straße schüttelte er plötzlich den Kopf. ›So ein Kerl, dieser Uhlig‹, sagte er vor sich hin. ›Das hätt' ich ihm gar nicht zugetraut. Sieht aus wie die liebe Unschuld.‹ Herr Schowe lachte beinahe.

An diesem Dienstagabend ging Stam Öffgen nach seiner Rückkehr zum ersten Male durch den Kolk. Es regnete und die Straße war leer. Stam Öffgen ging langsam, es begegnete ihm niemand. Er blieb vor dem Hause stehen und sah zu dem Fenster empor, hinter dem jetzt Uhlig wohnte. In der Stube war Licht. Es war ein freundlicher warmer Schein hinter der zugezogenen Gardine. ›Da sitzt also Tina‹, dachte Stam Öffgen, ›sie weiß noch gar nicht, daß ich da bin. Sie weiß auch noch gar nicht, was ich von ihr will. Ich will jetzt zu ihr raufgehen, einmal muß es gesagt sein.‹

Stam Öffgen ging mit raschem Schritt bis zur Haustüre, aber dann zögerte er, nahm die Mütze vom Kopf und fuhr mehrere Male mit der Hand durch das Haar. Dann setzte er die Mütze wieder auf, machte mit der Schulter eine eckige Bewegung und ging unentschlossen die Straße zurück. An der Ecke zum Damm blieb er stehen und überlegte noch einmal. Dann dachte er: morgen. Ich will bis morgen warten. Es ist ein ekliger Weg, aber morgen bestimmt. Er ging langsam, dann mit schnellerem Schritt davon.

Atze Uhlig saß noch immer verstört in seiner Stube. Er konnte es sich nicht erklären, aus welchem Grunde er über die Nachricht so erschrocken gewesen war und weshalb er noch immer nicht diesen Schreck überwunden hatte. ›Was habe ich damit zu tun? Was geht es mich an, ob Stam Öffgen wieder zurückkommt oder nicht? Herr Schowe tat ja gerade, als müßte er mich verwarnen. Daß es hier keinen Krach gibt, hat er gesagt. Was heißt das? Da hat er wohl auch von dem Gerede gehört. Ich hätte wegziehen sollen, das wäre wohl gescheiter gewesen.‹

Vor Uhlig lag aufgeschlagen eines der Bücher, die er von dem Lumpenhändler Timm erstanden hatte. Auf der Eingangsseite war ein Drache abgebildet, der sich um eine Felshöhle ringelte, in welcher ein Eremit über einem heiligen Buch saß. Der Eremit hatte ein verklärtes Gesicht. Er schien nichts von dem Untier zu ahnen, das schon den Ausgang versperrt hielt und dessen Atem die Bäume des Waldes bereits entzündet hatte. Die Vögel verließen in großen Scharen die zerstörten Nester. Sie wälzten sich wie eine schreiende Wolke flüchtend durch den Rauch. Die Tiere des Waldes jagten in großen Sprüngen davon, und das erhitzte Wasser des Quells dampfte und brodelte. In dem Antlitz des Eremiten aber lag offenbar die Seligkeit des Himmels.

Dieses Bild hatte Uhlig lange betrachtet. Nun war es verschlagen, und die Buchstaben der nächsten Seiten hingen unruhig unter Uhligs Blicken. Er schlug das Buch zu und saß nachdenklich davor. In seinen Gedanken stand immer wieder die Rückkehr des Stam Öffgen. Trotz aller Begütigung stand sie da und trotz allen guten Gewissens. Sie schien auf einmal der Drache zu sein, der sich bereits vor der Türe ringelte und dessen Geifer jede Minute hereinzuwehen drohte. Uhlig stand auf, er wollte Tina vorbereiten, er wollte ihr sagen: dein Mann ist da, aber wir brauchen uns Gott sei Dank in nichts Vorwürfe zu machen. Er soll im Gasthof wohnen. Weiß Gott, weshalb er dahin gezogen ist. Wenn ihm ein Gerede zu Ohren gekommen sein sollte, so werden wir ihn überzeugen, daß nichts Wahres daran ist. Ich denke mir, er wird zurückgekehrt sein, um sich mit dir zu versöhnen. Er hat sich wohl nicht gleich hergewagt, weil er fürchtet, daß du ihm Vorwürfe machst wegen des Mädchens in Hamburg. So wird es sein. Wenn er nun guten Willens ist, sollst du es ihm nachsehen.

Das wollte Uhlig zu Tina sagen. Aber als er die Türe öffnete, zitterte er und hatte das Gefühl, daß ihm jedes Wort im Kopf zerschlagen war. Er hörte Tina ruhig in der Küche hantieren, wie es ihre Art war. Er hörte Köppje lachen. Es war ein stolzes Lachen, als wäre ihm eine Arbeit gut geglückt.

›Ich will's ihr morgen sagen‹, dachte Uhlig und ging ans Fenster. Er schob die Gardine zurück, er öffnete das Fenster und fühlte den Regen auf seiner Hand. Er beugte sich etwas hinaus, denn die Luft tat ihm wohl. Der Kolk war menschenleer, nur um die Ecke zum Damm verschwand langsam eine Gestalt. Uhlig beugte sich weiter vor, aber sie war schon fort.

Die Türe wurde energisch aufgerissen. Köppje stand da und hielt einen Papierdrachen in der Hand. »Er ist eben fertig geworden«, verkündete er, »morgen lasse ich ihn steigen.« Er betrachtete ihn von allen Seiten. »Es muß noch ein Schweif daran«, sagte er, »du kannst mir Papier dazu geben, weißes und buntes.«

Uhlig atmete auf. Er lachte.

»Das ist also der Drache«, sagte er. Man hat sich eben noch gefürchtet, hat gezittert und allerlei Böses geahnt, und auf einmal ist ein Kind da und hält das Untier, von dessen giftigem Atem man sich bedroht fühlte, als Spielzeug vergnügt in der Hand. Dem Himmel sei Dank, daß es soviel Unschuld gibt.

»Das also ist der Drache«, lachte Uhlig wieder.

»Sieh nur, was ich ihm für ein Maul gemalt habe«, sagte Köppje. Er zeigte auf einen breiten roten Strich, der sich zwischen zwei zittrigen grünen Kreisen, die wohl die Augen vorstellen sollten, quer über den Rücken des Papierdrachens zog.

»Er wird uns alle auffressen«, sagte Uhlig.

»Mich nicht«, erklärte Köppje, »er gehört mir, und ich halt' ihn am Strick. Er tut, was ich will.«

»Nun soll er einen Schweif haben«, sagte Uhlig. Er kramte lustig zwischen seinen Papieren und zog allerlei bunte Zettel hervor. Auch Köppje beteiligte sich an dem Suchen. Er stöberte in dem oberen Fach der Kommode.

»Laß das liegen«, ermahnte ihn Uhlig, »da sind wichtige Briefschaften bei.«

Köppje legte die Papiere wieder in das Fach, nur einen beschriebenen Zettel behielt er. Es war weißes glänzendes Papier, das sich ganz glatt anfaßte.

Herr Schowe schrieb immer auf solchem Papier. Ein ganzer Berg davon lag auf seinem Schreibtisch, Köppje hatte es schon oft gesehen, wenn er mit seiner Mutter die Miete bezahlte. Er hätte früher gern schon einen Bogen davon gehabt, einen sauberen unbeschriebenen, nun hatte er wenigstens diesen hier.

›Ich will ihn so kniffen, daß man die dumme Schrift nicht sieht‹, dachte Köppje. Er verbarg ihn schnell in der Tasche, damit Uhlig ihm das Papier nicht wieder wegnähme.

»Ich denke, das reicht«, sagte Uhlig. Er hatte einen Stoß Zettel vor sich auf dem Tisch. Es waren bunte Reklamezettel, die noch aus der Zeit stammten, in der er einen Laden besessen hatte. Eigentlich wollte er diese Zettel als Andenken aufheben. Sie sollten ihn in späteren Jahren daran erinnern, wie die großen Geschäftsherren der Stadt einmal Wert darauf gelegt hatten, ihm, Atze Uhlig, ihre Waren anzupreisen. Nun mochte Köppje sie haben, und der Drachen würde dieses letzte Zeichen vergangener Herrlichkeit mit durch die Luft schweben lassen. Sie würden steigen und fallen, so wie es auch das Los des Menschen ist, sie würden versuchen, bis an die Wolken zu schweben und müßten sich doch einer Hand beugen, die diese ganze Pracht an einer Schnur hält und sie wieder auf die Erde reißt, wann es ihr beliebt.

Köppje und Uhlig saßen da, falteten die Zettel und verknüpften sie mit dem Bindfaden. Es wurde ein herrlicher Schweif, den nun der Drachen stolz hinter sich herzog.

Ehe Köppje zu Bett ging, befestigte er noch heimlich das glatte glänzende Papier des Herrn Schowe daran, mit den steifen harten Schriftzügen darauf und mit den schnörkligen Unterschriften darunter, um die Uhlig seinen Laden verlieren mußte.

So war der Dienstag zu Ende gegangen. Als Uhlig am Mittwoch nachmittag nach Hause kam, ließ ihm Köppje keine Ruhe. Er hatte nur einen Gedanken, den Drachen hoch in der Luft dahingleiten zu sehen, und schon am Morgen war er erfreut gewesen, daß ein Wind sich aufgemacht hatte und durch den Kolk blies.

Auf der anderen Seite des Wasserlaufes lagen die Rübenfelder, die der Zuckerfabrik gehörten und deren grünes Blättergewoge sich weithin dehnte. Von der Brücke aus kam man in einen schmalen Feldweg, der oft zu abendlichen Spaziergängen einlud. Er mündete in die große Landstraße, die von dem Lärm der Lastwagen und von dem Staub der leichten Fahrzeuge erfüllt war. Diese Landstraße war gewissermaßen die Verbindung mit der Welt, und wenn man genug hatte von der Abgeschlossenheit im Kolk, konnte man hier den raschen Atem des rastlosen Lebens genießen.

Köppje bemühte sich, Atze Uhlig davon zu überzeugen, daß am Rande dieser Landstraße der geeignete Platz wäre, den Drachen in die Lüfte zu schicken. Aber Uhlig wollte nichts davon wissen.

Er war stundenlang in der Stadt herumgelaufen, um seine Gewürze an den Mann zu bringen und für seine Versicherungen zu werben. Die Beine waren ihm müde.

So blieb man zu herbstlichem Spiel auf der Brücke. Uhlig gab seine Ratschläge und Köppje lief, den Drachen an langer Schnur, auf dem Feldrain. Er war ungehalten, daß der Aufstieg nicht schnell genug glücken wollte, aber als der Drachen dann etwa die Höhe der Häuser erreicht hatte und über den Telegraphendraht hinausgestiegen war, jubelte er und war stolz auf sein Machwerk.

An diesem Nachmittag war Stam Öffgen wieder in den Kolk gegangen. ›Es hilft alles nichts, ich werde mit ihr sprechen. Die Tage vergehen und ich muß nach Hamburg zurück. Teufel, ist man ein Mann oder ist man keiner! Ich werde sagen, das ist nun so und ich kann von dem Mädchen nicht lassen. Nun will sie partout heiraten, das mußt du einsehen. Ich meine, wir werden da eine Einigung finden. Man braucht ja nicht gleich alles zu zerschlagen. Das will ich ihr sagen. Auch noch, daß sie sich keine Sorge zu machen braucht. Wir können da einen Kahn übernehmen, man kann also selbständig werden. Das darf man nicht so von der Hand weisen. Ich will ihr das auseinandersetzen. Alles ist zu seiner Zeit richtig. Wir haben es schön miteinander gehabt, das stimmt schon, und die Kinder sind auch da, daran will ich schon denken. Aber das Mädchen, die Lisa, eine Person sag ich dir, kräftig, so und so, die geht ins Geschirr, sag ich dir, die kann Bäume ausreißen, also, das mußt du einsehen –‹

Stam Öffgen geriet mit seinen Gedanken ins Stocken. Er blieb stehen und starrte vor sich hin. Da kamen Menschen den Kolk entlang. ›Das sind doch nicht etwa Bekannte? Die brauchen mich nicht zu sehen.‹ Er trat rasch in den Torbogen, dahinter der Lumpenhändler Timm seine Niederlage hatte.

Stam Öffgen stand in dem Torbogen in die Ecke gedrückt und zündete die Tabakspfeife an, damit man ihm nicht ins Gesicht sehen könnte. ›Ist nicht nötig, das gibt gleich Geschwätz.‹

Die Menschen waren vorbei. Stam Öffgen wendete sich um. Er sah einen Mann auf der Brücke stehen und neben ihm einen Jungen, der die Schnur eines Drachens in der Hand hielt. Die beiden blickten steil in die Luft.

›Das ist doch Köppje!‹ denkt Stam Öffgen. ›Köppje‹, will er rufen, aber er besinnt sich. Also jetzt ist Uhlig dabei, wenn der Drachen steigt. Im vorigen Jahre hab ich es ihm beigebracht. Sieh einer an, wie hoch der Drachen schon ist! Uhlig scheint Zeit zu haben. Er hat sich wohl zur Ruhe gesetzt.

Stam Öffgen sah, daß Köppje die Schnur aufzuwickeln begann. Der Drachen kam langsam herunter. ›Er wird im Draht hängen bleiben, vorsichtig, vorsichtig! Richtig, da hängt er schon. Das hab' ich gleich gesehen. Reiß doch nicht, Köppje. Natürlich, du Dummkopf, da bleibt nun der schöne Schweif oben, bloß das gerupfte Huhn kommt herunter.‹

Stam Öffgen kann sich nicht mehr halten. Er geht schnell auf die beiden zu, er gestikuliert, er ruft ärgerlich:

»Nun ist der Schwanz zum Teufel. Du konntest wohl nicht aufpassen, Uhlig!«

Er kann seinen Ärger nicht unterdrücken. Köppje starrt ihn an, Uhlig starrt ihn an. Der schweiflose Drachen baumelt trübselig herunter, er schleift auf der Erde.

Stam Öffgen ist verwirrt. »Da staunt ihr«, sagt er nach einem Weilchen. »Ich bin's wirklich.«

Köppje hat sich noch immer nicht gefaßt.

»Du kannst mir wohl nicht die Hand geben«, sagt Stam Öffgen.

Aber Köppje bekommt nur den Mund auf, weit auf vor Staunen.

»Bin ich ein Gespenst?« fragt Öffgen. »Mach endlich dein Maul zu. Hat einer schon so was erlebt? Da wird man angeglotzt wie ein Zirkuspferd. Ist Mutter oben?«

»Sie ist waschen«, antwortet Köppje verschüchtert.

Sonst ist er seinem Vater entgegengesprungen. Die Mutter hatte immer gesagt: heute kommt Vater, und dann wartete Köppje schon auf der Straße. Aber heute war der Vater plötzlich aus dem Boden gewachsen. Keiner hatte von ihm gesprochen. Aber nun war er auf einmal da und zankte, weil der Drachen verunglückte.

»Das ist eine Überraschung«, sagte jetzt Uhlig.

»Das habe ich gemerkt«, erwiderte Stam Öffgen. »Also Mutter ist nicht da«, sagte er. Er ging voran. Sie stiegen die Treppe hoch, Uhlig schloß sich als letzter an.

»Ich wohne jetzt hier«, erklärte er, »ich habe die Vorderstube gemietet. Das ist eine Erleichterung für deine Frau.«

»Das hat mir schon Brose erzählt«, antwortete Öffgen, »hoffentlich vertragt ihr euch.«

»O ja«, erwiderte Uhlig.

Sie standen nun in der Küche.

»Hast du was mitgebracht?« fragte Köppje. Er fing an, munterer zu werden und hatte sich an den Vater gehängt.

»Richtig«, sagte Öffgen, »da habe ich doch was.«

Er kramte in der Tasche. Er holte ein kleines Schiff aus Zelluloid hervor und ein Stückchen Kampfer. Köppje konnte seine Neugier nicht mehr unterdrücken. Nun wurde eine Schüssel mit Wasser gefüllt und Stam Öffgen befestigte das Stückchen Kampfer an dem Schiff. Er brachte es zu Wasser und das Schiff fuhr nun aus sich am Rande der Schüssel im Kreise entlang.

»Das ist was ganz Neues«, sagte Öffgen zu Uhlig. Sie neigten sich über die Schüssel und betrachteten das Schiff, das plötzlich wie von unsichtbarem Sturm herumwirbelte und dann wieder langsam seine Fahrt fortsetzte. Köppje sah bewundernd auf dieses Spiel. Er hatte alles um sich vergessen, er hing weit über dem Tisch, atemlos, und die Hände aufgeregt über dem Wasser, bereit, jede Sekunde einzugreifen, falls das Schiff kentern würde.

Da ist auf einmal ein Meer mitten auf dem Tisch. Das ist kein Napf mehr, das geht über alle Grenzen. Das ist das weite, riesige Meer, nicht mit einem Zelluloidschiffchen darauf, sondern mit stolzen Dampfern, die majestätisch vorüberfahren, das Meer mit den großen Segelschiffen, die mit dem Wind um die Wette laufen, das Meer, das kühne Walfischfänger trägt und eiserne Geschwader, es war das Meer, das seine Unerschöpflichkeiten nun bis in den Kolk gesandt hatte, in diese enge Straße an schmalem Wasserlauf, bis hierher gesandt hatte, nur weil ein Junge über einem kleinen bunten Spielzeug die große Seefahrt erlebte.

Köppje legte plötzlich seine Arme um den Hals des Vaters.

»Ich will Kapitän werden«, sagte er. Dann hingen seine Blicke wieder unverwandt an dem Schiffchen aus Zelluloid.

Die beiden Männer sprachen kaum zwei Worte miteinander. Vielleicht war es das Spiel, das ihre Gedanken gefangen nahm, vielleicht hatten sie eine Scheu voreinander, ohne sich darüber Rechenschaft geben zu können. Sie waren wohl froh, daß sie über Köppjes Staunen um jedes Wort kamen.

Stam Öffgen richtete sich auf. Er sah nach der Uhr. Da war also eine Stunde vergangen, eine ganze Stunde war man schon zu Hause. Er sagte:

»Nun wird wohl Mutter gleich da sein«, und es fiel ihm ein, daß er dann mit ihr reden müßte. Er hatte es ganz vergessen.

Man muß einen schweren Gang tun, aber ein Schmetterling kommt einem in den Weg, und sein flatternder Flügelflug, vollgetrunken von Duft und Sonne, wirft einem jede Erwägung über den Haufen.

Stam Öffgen gibt Uhlig die Hand. Er streicht Köppje hastig über das Haar. »Ich komme wieder«, sagt er rasch und geht schon hinaus. Er läuft die Treppe hinunter. Er ist fort. Nach Gitti hatte er gar nicht gefragt.

Das Schiffchen fuhr noch immer in der Schüssel. Köppje verfolgte jede Wendung. Er hatte wohl nicht bemerkt, daß der Vater gegangen war.

Tina wartete, daß Stam Öffgen zurückkäme. Sie saß an jenem Abend lange auf dem Stuhle neben dem Herd. Sie saß bis in die Nacht auf. Es war stürmisch geworden und das Fenster klirrte. Wenn jemand nach Hause kam, schlug unten die Türe lauter zu als sonst und das Hoftor rüttelte im Zugwind und knarrte. In solchen Stunden des Wartens kommt jedes Geräusch auf einen zu. Jeder Laut scheint nur ein Vorbote dessen, den man erwartet. Es sind Schritte auf der Straße, ferne Schritte, nahe Schritte, klingen auf, klingen ab, sind da und sind vorüber und die Stille wächst wieder auf, in die der Sturm jählings hineinfährt. Er wirft die Stille zusammen wie ein altes Gemäuer, überall wehklagt ihr Einsturz. Es ist ein heulendes Weinen im Sturm, es jammert gegen das Fenster, es fröstelt sich in die Menschen hinein, es macht sie zu müde zum Schlaf.

Tina wartete einen Abend und eine Nacht lang. Sie ging am Morgen nicht zur Arbeit. Sie wartete auch den ganzen Tag. Draußen war nur der Sturm und redete in vielen Stimmen.

Von Uhlig wußte sie, daß Stam Öffgen in dem Gasthof wohnte. Sie wollte ihn aufsuchen und fragen, warum er sie warten ließe. Sie bildete sich ein, daß alles gut werden könnte. Nicht von Herzen aus wünschte sie es, aber sie fürchtete plötzlich allein zu stehen und niemand im Hintergrund ihres Lebens zu haben. Wie die Pflanze den Stock, daran sie gebunden ist, nicht mit dem Herzschlag ihrer Wurzel fühlt, sondern ihn nur haltsuchend mit Ranken umklammert, so empfand Tina jetzt ihre Ehe. Sie fühlte sich ohnmächtiger als sie war, und sie schien vergessen zu haben, daß das Leben sie längst aus sicherem Hafen hinausgestoßen und gezwungen hatte, das Boot alleine im Sturm zu halten.

Tina Öffgen weinte an diesem Tage viel. Sie war verzagt gewesen, als müßte für sie nun ein einsamer Weg durch Nacht und Wüste beginnen.

Uhlig gab sich Mühe, ihr Trost zuzusprechen.

»Kannst glauben, er ist noch nicht mit sich im klaren, sonst wäre er wohl nicht weggelaufen«, sagte er.

Tina sah in Tränen auf. ›Sonst wäre er wohl nicht weggelaufen‹, hoffte sie.

Am Nachmittag machte sie sich auf, um zu Stam Öffgen nach dem Gasthof zu gehen. Uhlig redete ihr zu. Er war gesprächig an diesem Tage, denn er hatte bemerkt, daß jedes Wort Tina gut tat. Als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, trat Atze Uhlig an das Fenster, um ihr nachzusehen. Sie ging langsam und man sah ihr an, daß sie tief in Gedanken war. Ihre Schultern waren schmal und es rührte Uhlig, daß sie eine schwerere Bürde zu tragen hatten, als man ihnen zutrauen durfte. Es war das erste Mal, daß er über Tina nachdachte.

Sie war den Kolk hinuntergegangen. Mit jedem Schritte war sie zuversichtlicher geworden. ›Er wird schon Köppjes wegen nicht fortgehen. Es soll mir recht sein, wenn er seinetwillen bleibt. Um mich braucht er es nicht zu tun, wir sind darüber hinaus. Er wird bleiben‹ – dachte sie, ›er geht von Köppje nicht weg. Er hat ihm gestern ein Spielzeug gebracht.‹

Sie stand dann vor dem Gasthof. Sie ging vorbei und kam zurück und ging wieder vorbei und stand und wartete. Sie war von neuem verzagt geworden und fürchtete sich auch vor Stam Öffgens lauter Sprache. Sie wollte durch das Fenster in die Gaststube sehen, aber sie wagte es nicht, denn es gingen viele Menschen vorüber. Als sie dann Herrn Schowe aus der Türe treten sah, lief sie schnell davon. Sie war so hastig, daß die Menschen sich nach ihr umwandten. Sie kam auf weitem Umweg nach Hause.

»Ist er hier gewesen?« war ihre erste Frage.

»Nein«, antwortete Uhlig, verwundert, daß sie ihn nicht gesprochen hatte.

Tina saß wieder auf dem Stuhle an der Herdseite. Sie wartete den Abend lang.

Atze Uhlig war fortgegangen. Er konnte Tinas Kummer nicht mehr mit ansehen, er hatte alle Trostworte verbraucht und empfand den Widersinn, immer dasselbe zu sagen.

Auch Köppje war ungeduldig, weil der Vater noch nicht zurück war. Das bunte Kampferschiff wollte nicht mehr fahren, es lag trübselig auf der Seite und Köppje wußte sich nicht zu helfen. Gitti saß still dabei. Sie hatte hilflose Augen. Ein paarmal hatte sie versucht, sich ihrer Mutter zu nähern, aber Tina war vor ihrer Berührung aufgeschreckt und hatte Gittis Hand, wenn auch nicht unfreundlich, so doch mit gedankenloser Abweisung beiseite geschoben. Nun saß das Mädchen verzagt da und war nahe am Weinen.

Uhlig kam an diesem Abend später nach Hause. Er hatte gehofft, daß Tina schon schlafen gegangen war, doch hörte er von außen schon ihren Schritt. Sie öffnete sogar die Türe, sie dachte wohl, daß es Stam Öffgen wäre.

Uhlig war verwirrt, er reichte Tina die Hand. Das tat er sonst nie. Nun hielt er ihre Hand und drückte sie leise. Er wurde befangen, als er merkte, daß sie Tränen in den Augen hatte, und da ihm kein Wort einfiel, strich er ihr über das Haar. Er erschrak darüber und zog die Hand hastig zurück.

»Er ist nicht gekommen«, sagte Tina.

Uhlig hatte ihre Hand losgelassen.

»Wenn er nun schon abgereist ist«, klagte Tina, »er braucht sich doch nicht vor mir zu fürchten.«

»Nein«, sagte Uhlig. »wahrhaftig nicht.«

Er sah, wie sie traurig dastand, und sagte leise: »Wir wollen schon zusammenhalten.« Er war betroffen über seine Worte, doch Tina hatte sie nicht gehört. Sie schüttelte nur in Verzweiflung den Kopf. Aus seiner Stube heraus sagte er noch: »Ich könnte ja mit ihm sprechen.«

Er saß dann am Tisch vor seinen Büchern und überlegte. Später, ehe er zu Bett ging, sah er noch einmal in die Küche. Tina saß noch angekleidet neben dem Herd.

»Wenn es dir recht ist, gehe ich morgen in den Gasthof. Ich denke, es wird sich alles einrenken lassen.«

Tina antwortete mutlos: »Es könnte ja sein.«

Uhlig machte sich noch am Schrank zu schaffen. Er kramte darin, als suche er irgend etwas. In Wirklichkeit aber hoffte er, daß ihm noch einige Worte einfielen, mit denen er Tina Trost zusprechen könnte. Aber es kam ihm kein Wort, das ihr nützen könnte. So wünschte er nur gute Nacht und ging in seine Stube, noch erschrocken über den Klang seiner Stimme. Sie war rauh gewesen und es war ihm, als schlüge die Ader wie ein großer Hammer gegen seine Kehle. Es dauerte auch noch lange, bis er ins Bett fand. Er stand noch ein paarmal an der Türe, die Klinke schon in der Hand, denn er hörte deutlich, daß Tina weinte.

*


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