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Erwin und Mildred heirateten in New York und verbrachten ihre Flitterwochen am oberen Hudson. Den darauffolgenden Winter verlebten sie wieder in der Stadt; und als das Frühjahr des Jahres neunzehnhundertsechzehn kam, hatten sie sich noch immer nicht von ihrem Erstaunen erholt darüber, daß der Krieg noch keineswegs zu Ende war, sondern sich in Europa zu einer schauerlichen Angewohnheit auszuwachsen schien.
Aus ihrem früheren Optimismus (was die Dauer des Krieges anging), verbunden mit der herzlichen Antipathie, die sie der Bevölkerung ihres Zwangsexils entgegenbrachten, erklärt es sich auch, daß sie sich nicht die geringste Mühe gaben, sich einen festen Freundeskreis zu bilden, auf den sie hätten zurückgreifen können. Erwin hätte immerhin noch Winkel gefunden, warme Ecken, wo er sich an einem Schatten von Verständnis dürftig hätte anwärmen können; sie aber mit ihrer englischen Abneigung gegen überstürzte Herzlichkeit hatte ihn mehrfach verhindert, mit gewissen Menschen in Kontakt zu bleiben; hatte ein paar für Europa sehr nützliche, aber für den jetzigen oberflächlichen Allerweltsbetrieb unangebrachte Vorurteile mitgebracht, an denen sie vielleicht selbst litt, deren sie aber ohne Verlust an Selbstachtung nicht entraten durfte. Sie machte auch ihn reserviert. Was jedoch einem anderen gut gestanden, was ihm die Wege geebnet hätte, schadete Erwin, da er ein zu einladendes Äußeres besaß. Der schlichte Durchschnittsamerikaner ging selten an ihm vorüber, ohne die Verlockung zu spüren, ihm auf die Schulter zu klopfen oder ihm eine Zigarre anzubieten. So wurde er frühzeitig schon von seinem natürlichen Instinkt, der Menschen nötig hatte, künstlich abgelenkt und gleichsam zwischen Tisch und Stuhl gewiesen... Andererseits ersetzte ihm die amüsante Persönlichkeit seiner Gefährtin viel von dem, was er zuweilen halb schmerzlich vermißte.
Nach dem Gefühlssturm der ersten gemeinsamen Wochen, in denen sich ihre inkongruenten Naturen abschliffen und ihre Liebe ihm plötzlich vollerblüht in den Schoß fiel – (nachdem er fast geglaubt, ihr fürderes Verhältnis würde sich auf Kameradschaftlichkeit und freundschaftliche Rücksichtnahme beschränken müssen) – geschah es, daß sie einander völlig unentbehrlich wurden und daß die durch nationale Verschiedenheiten gestörte Harmonie ihr ruhiges Strombett fand.
Trotz der festen Erwartung eines Heimes, wie es ihnen ein baldiges Ende des Krieges lockend vor Augen stellte – (und der Krieg mußte doch einmal ein Ende haben!) – spürten sie nach gelegentlichen Ausflügen in die Stadt, nach wirbelndem Wechsel von Gesichtern, nach Vorstellungen oder Lichtbildern, voll von zuckender Handlung in stechend heller Bestrahlung, eine ungeheure Leere um sich herum... Diese Leere wuchs überall hervor. Sie hing in den Profilreihen, die sich ihnen beim Eintritt in die Untergrundbahn leicht verblüfft entgegendrehten. Sie grinste aus den maskenhaften Gesichtern gleichgültiger Kellner. Sie dröhnte, taub an ihnen zerplatzend, aus den gellenden Rufen der Zeitungsjungen. Sie stieg aus jeder Straßenschlucht und kreischte metallen aus den Achsen der L-Züge, die sich eine Viertelmeile von ihren Fenstern entfernt scharf um eine Kurve quälten; ja, sie schwebte sogar als ein böser Geist in deutsch aufgeputzten Lokalen, wo alles darauf berechnet war, mit Holzvertäfelung, neckischen Zinnkrügen, heimatlichen Städtebildern und deutschen Speisebenennungen stimmungsvoll zu wirken.
Oft schien Europa ihnen zum Greifen nahe, und doch war es nur ein gestohlenes Flittergewand, das man an die Dinge gehängt hatte und das vor einem durch die Nase gesprochenen Laut, vor einem kaltglitzernden Blick, vor dem gehetzten, von Fusel verseuchten Atemstoß eines Trunksüchtigen herabglitt und zur Schimäre wurde. Das nackte Amerika, die kalte, wuchtige und erbarmungslose Maschine, sprang enthüllt hervor. Es wurde nichts aus der Anheimelung.
Sie fühlten sich hilflos im Bereich der großen Fangarme, die täglich Millionen ausgeleerter, nach Geld fiebernder Menschen an sich rafften und täglich wieder in ihre dürftigen, phantasielosen Behausungen zurückpreßten. Stets konnten sie das Pochen des Herzens fühlen, das in diesem Moloch arbeitete, das Geräusch einer großen Pumpe, die Kontrakte, ephemere Schwindelunternehmungen, Grundstücksspekulationen, Kriegsbestellungen in sich hineinsog und sie als einen Strom von Geld, eine trübe Fontäne fragwürdig erraffter Dollarscheine wieder hervorspie. Nirgends war man sicher vor Geld; Gedanken und Handlungen rochen danach, und was sie beide bis dahin als Schönheit empfunden, schien aus dem Leben gestrichen. Wohl gab es noch süßes Himmelsblau, schlanke, bezaubernde Kinder, Hafengeschäftigkeit gleitender Mäste im Morgennebel und täglich halberspähte Menschlichkeiten, die das Herz flüchtig rühren konnten; aber all dieses befruchtende Stimmungsgold schien verschwendet an Menschen, die nur in Masse dachten, nur in Masse existieren konnten und unter dem Stempel einer selbstgewollten Zwecksklaverei ärmlich dahinvegetierten. Ja, wimmelnden Insekten glichen sie auf einem unerschöpflichen, von Gott in milder Güte ihnen gespendeten Nahrungsklumpen; auf einem großen, von ungeheuren Möglichkeiten trächtigen Stück dieser Welt, in dem sie nach Herzenslust schürften; das nie genug hergeben konnte, nur damit die Insekten ihr sinnlos wirres Hasten nicht abzudämpfen hätten...
Und selbst nachts – (es schienen ähnliche Sterne wie über Sussex oder über Thüringen) – kam die große Pumpe nicht zur Ruhe. Sie schien etwas leiser zu arbeiten, aber es war, als ob ihre Arbeit unterirdisch zitternd weiterwühlte, wenn an verschiedenen Plätzen und Straßenquadraten Manhattans die Luft plötzlich zerrissen wurde von dumpfen Explosionen. Die Insekten gruben weiter durch den Felsen hindurch. Sie spürten neue Verkehrskanäle auf, sie wühlten selbst unter dem Wasser Wege. Sie ließen sich nicht genügen an ihren staunenswerten Verkettungen zwischen Himmel und Erde, an gigantischen Netzen aus Stahl, unter denen große Verkehrsdampfer hindurchzugleiten vermochten ohne ihre Schornsteine umzulegen; nein, sie eroberten sich den Felsen selbst und machten ihn porös, auf daß die Menschenpumpe nicht zu rasten brauche. Kaum erschütterten diese Explosionen ein Fenster, geschweige denn, daß sie ein leichtes Vibrieren in die Last von Beton gebracht hätten, die mit oft zwanzig oder dreißig Stockwerken über ihnen getürmt hing. Aber man hörte sie, hörte sie durch die schwächeren Nachtgeräusche hindurch, die immer noch laut genug brausten, um einer kleinen europäischen Residenz das Gepräge einer entfesselten Weltstadt zu geben.
Erwin und Mildred fuhren in ihren Betten auf, denn sie wußten, es war etwas da: eine halbe Erdumdrehung entfernt lastete etwas, rumorte etwas aus tausend speienden Metallschlünden hervor, das nicht wegzudenken war, das wie ein Alpdruck, wie eine schwere Bürde auf einem gesunden Organ dieser Welt lag und sich dort spitz und grausam, Entzündungen verbreitend, eingrub und weitergrub, Tag für Tag. Und die dumpfen Böllerschüsse der Dynamitsprengungen unter ihnen, wenn sie auch ein Friedensgeräusch waren, schienen ihnen wie ein unerwarteter, peinigender Warnruf, wie ein schwacher Versuch, jene entfernte Hölle nachzuäffen. Die ganze Nacht hindurch stand vor den Fenstern, selbst wenn sie geschlossen waren, ein kompakter Körper von wiehernden, aufgestörten Lauten, der keine Pause kannte und um die frühesten Morgenstunden mit grausamem Rhythmus anschwoll, bis er in das große Tagesgeschrei hineinwuchs. Das war damals Amerika für sie. Beider Ohren waren noch empfindlich, noch keine Haut war ihnen über das Trommelfell gewachsen. Sie blicken frisch und interessiert in das Leben, das ihnen noch bunt erschien, wo seine Farben anderen längst zu Grau zerlaufen waren. Sie sprachen mit vielen Leuten; doch ihre nette Ironie wurde verkannt und mit Plattheiten vergolten; ihre kleinen Gefühlsausbrüche mit nichtssagendem Syrup bestätigt und entwertet zurückerstattet. Ihre Interessen wurden zu Marotten und ihre Kenntnisse zu bloßem Gedächtniskram, entbehrlich darum, weil er sich auf den ersten Blick nicht in Geld umdenken ließ...