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Erwin saß, Kissen hinter den Rücken gestopft, halb aufrecht im Bett und folgte mit müden Blicken den Bewegungen Mildreds, die sich um ihn bemühte. Es war schon hoher Vormittag und der Doktor wurde in Bälde erwartet.
Das Fieber hatte ein wenig nachgelassen. Es ging in einer gleichmäßigen Abwärts-Kurve von der Nacht in den Morgen hinein, um am Abend wiederum zu schwellen.
Nachdem ihm Mildred etwas Tee und Zwieback verabreicht, ging sie, von einer qualvoll drängenden Unruhe getrieben, in das Erdgeschoß hinunter. Halb ohne es zu wissen, las sie die Kopfinschriften der »Times«. Siehe da, statt der üblichen Schützengraben-Fanfare, gewahrte sie, in schreienden Lettern, das Wort »Infantile Paralysis«.
Sie vertiefte sich unmutig in das Nähere und erkannte, daß die Seuche, die schon seit einer Woche in den versteckteren Spalten der Zeitung gespukt, sich nunmehr einen Hauptplatz auf der Titelseite erobert. Es ward hier natürlich keine Gelegenheit verabsäumt, um das Unglück auszuschlachten, ihm breiteste, mit Reporter-Wollust gewürzte Öffentlichkeit zu gewähren. Vielleicht war es nötig, in irgend einer Weise zu warnen; aber wieviele hysterische Mütter, wieviele abgehetzte Väter hatten diesen Brandalarm in hochgetürmter Druckerschwärze heute verschlungen! Welche Axtschläge waren das am Asyl stumpfen Bürgerglücks! – Und die Sensations-Hausierer setzten die doppelte Auflage ab. Hatte man nicht etwas erbeutet, womit man Wesens treiben konnte?! – Kinder starben wie die Fliegen. Manche fieberten, zuckten ein wenig und lagen mit Schaum vor dem Mund. Und die davonkamen, humpelten halb gelähmt durchs Leben ... Steinreiche Eltern versteckten ihre Augenweide in luxuriösen Landhäusern. Es half nichts; die Bazillen krochen aus allen Ecken und erbeuteten sich junge Leiber ohne Respekt vor den Wällen aus Mammon, die man zitternd zusammentrug...
Die Seuche war in diesem heißen Sommer launisch wie ein Tornado. Wie ein kreiselförmiger Wirbelwind über Landschaften hüpft und wo er den Boden berührt, alles aussaugt, so daß Häuser, Bäume und Menschen wahllos emporspritzen, so grassierte die Seuche im Ostviertel, übersprang dann Dutzende von Straßen, in denen kein einziges Kind erkrankte, nistete sich wiederum in der Nähe des Broadway ein, schlug sich eine Bresche durchs Millionenviertel und gleichsam, wie um zu zeigen, was sie könne, riß sie sich zuweilen auch erwachsene Kinder heraus. Ohne Übergang dann tummelte sie sich in entlegenen ländlichen Distrikten und verschmähte auch die sandige Gegend von New Jersey nicht, um ihre ahnungslosen Opfer anzufallen.
Man zergrübelte sich, hieß es, in Fachkreisen den Kopf, woher die Übertragung stamme. Insekten konnten kaum schuld sein, da man von so sporadischen Wanderungen der Keimträger nie gehört. Der Tod, so schlossen die Berichterstatter, feiere in diesem Sommer privatim sein kleines Fest. Es scheine dies eine Angelegenheit ganz für sein persönlichstes Vergnügen. Es sei als wäre in Europa eine erzwungene Atempause für ihn eingetreten, damit er sich zwischendurch hier ein wenig schadlos halten könne.
Aufatmend legte Mildred das Blatt weg. Sie hatte kein Kind zu verlieren und Erwin war zu alt.
Der Arzt, der jetzt erschien, war seiner Aussage nach überbürdet. Er hatte jedoch das Attest über den Blutbefund Erwins dabei und erklärte ohne Rücksicht, daß seine Diagnose ihn nicht getäuscht habe; es sei ein leichter Fall von Typhus. Er sagte das so nebenhin, halb mit sich selbst zufrieden; doch ein Herzschlag Mildreds setzte aus, so daß ihr Gesicht für Sekunden schneeweiß wurde und sie sich an die Stuhllehne klammerte. Der Doktor bemerkte dies Taumeln nicht, da sie im selben Moment ihre Haltung zurückfand. Wie ein Damokles-Schwert endlich herniedersaust auf Schultern, die halb bereit waren, sich ihm entgegenzustemmen und nun doch von der Wucht schmerzhaft zusammenzucken, so fiel diese Eröffnung auf Mildred herab.
Doch nun das Gewicht auf ihr lag, konnte sie ihre Muskeln einstellen, sie langsam zurechtrückend zu sprödem Widerstand gegen die Zukunft ...
Von den bunten Pillen sah der Doktor diesmal ab. Er förderte sogar eine schattenhafte Sachlichkeit zu Tage, die mit seinem sonstigen schnellfertigen Wesen in erfrischendem Gegensatze stand. Daß er unbedingtes Vertrauen in Mildred erweckte, davon war natürlich keine Rede, aber er gab sich Mühe, das sah sie, und so verzieh sie ihm den ersten Eindruck. Er stellte ein festes Programm auf: kaltes Bad um sechs Uhr, um das Fieber herabzudrücken, flüssige Nahrung in bescheidenen Quantitäten und keine Bewegung. Das war doch wenigstens etwas, woran man sich halten konnte. Das Herz Erwins sei nicht schlecht, meinte er, Hauptsache sei: Vermeiden jeder Überanstrengung. Drei Wochen lang dauere die Hauptattacke; eine halbe Woche sei herum, also bis in kurzem werde man ja schon wissen, wie er durchkomme. Mehr zu tun sei unmöglich, unter den Umständen auch nicht angebracht.
Mildred hörte die knarrende Stimme wie aus weiter Ferne. Kaum war er aus dem Hause, als Madleen zum Vorschein kam, ihm nachspähte und erst, als sein Motor hinter der Ecke verschwand, den Mund auftat.
Sie redete mit leiser bedeutungsschwangerer Stimme.
»Der Mann dort,« sagte sie, »ist sehr verdächtig; man sollte ihn nicht zu Rate ziehen; er wird Mr. Notacker unfehlbar umbringen. Besonders mit seinen Pillen hat er schon große Verwüstung angerichtet!«
»Diese Pillen seien des Teufels,« fuhr sie leise fort; »ein sehr böser Zauber stecke darin. Man habe ihr erzählt, daß neulich ein Knabe in einen Graben gefallen sei und sich das Sitzbein verstaucht habe. Er sei ganz gesund und munter gewesen, dieser Knabe; doch dann sei der Doktor mit seinen Pillen gekommen; habe behauptet, es sei ein Fall von Infantile Paralysis und habe ihm mit den Pillen in einer Viertelstunde den Garaus gemacht. Es seien grüne gewesen; sie warne Mildred schwer davor, Erwin mit grünen Pillen traktieren zu lassen. Ob die blauen oder roten so schlimm seien, könne sie nicht sagen; aber die grünen seien das schnell wirkendste Gift, das man je erlebt habe.«
Mildred, trotz ihrer trostlosen Lage, wurde auf diese Erzählung hin von unverhältnismäßiger Heiterkeit gepackt; von seltsam gewaltsamem Humor, der sich an der Grenzscheide klaren Denkens hielt und bald in kurzes Schluchzen überkippte. »Wie hätten wir dies doch genossen,« dachte sie dabei, »wenn Erwin gesund wäre.« Allein die Idee dieses Pillen-Doktors und seiner Pferdekuren ist Goldes wert heutzutage.
Madleen bemerkte sofort, daß ihre Erzählung eine seltsame Wirkung hatte. Sie blickte ratlos auf die junge Frau; rollte ihre Augen dann hilfesuchend umher, daß man das Weiße sah, schüttelte den Kopf mit blitzartiger Drehbewegung des feisten Halses und ging, sich mehrmals nach Mildred umsehend (als bereite diese eine Attacke auf ihren Rücken vor) – aus dem Zimmer heraus.– Daß man lachen konnte, wo solche Dinge im Schwang seien, ging gänzlich über ihr Begriffsvermögen. Was da aus Mildred lachte, war ein böser Geist, vor dem man sich am besten verriegelte.
In der Türe besann sie sich und kam zurück. Mildred merkte an dieser Wiederkehr – die mit gewisser Wucht und Bedeutsamkeit in Szene gesetzt ward – daß Madleen etwas zu sagen hatte; einen Trumpf darauf zu setzen habe, der ihr kleines einsames Gelächter zerquetschen sollte wie die Maus unter dem Ziegelstein.
»Sie lachen, junge Frau,« sagte Madleen, und ihre Augen blickten starr und kugelrund geradeaus. »Da gibt es nichts zu lachen. Aber ich weiß, der Böse lacht aus Ihnen. So ist es auch meinem Bruder gegangen, als er nach dem Osten kam. Schon in New Orleans war er als Trambahnführer gefürchtet, weil er die Kurven zu schnell nahm. Man verpflanzte ihn und er bekam als Kellner Stellung. Da fiel es schon auf, daß er mit Tellern um sich warf, wenn ihn was ärgerte. Seinen Boß, den griff er mit dem Messer an, als der ihm einen Dollar vom Lohn abzog, und er mußte in Sing-Sing Holz spalten und Hobelarbeit machen. Dort bekam er es nun zum erstenmal mit Instrumenten zu tun, und kaum war er draußen, wurde er Messerschmeißer und starb an einem epileptischen Anfall. – Ja, junge Frau, das ist der böse Geist, der in Ihnen sitzt. Meinen Bruder hat er unter die Erde gebracht. Sie wird er auch noch unter die Erde bringen. Sie und Ihren Mann, klaftertief. Es ist nicht gut, daß Menschen im Walde leben ganz für sich. Das habe ich mir gleich gedacht, wie ich herkam!« –
Sie stand da, die Fäuste unter die ungeheuren Brüste gestemmt; und ihr pockennarbiges, schwammiges, dunkles Gesicht glich in diesem Moment einer Maske, so als habe jemand alle dicken Wülste herausgeplättet; all die Wülste, die sich sonst auf ihrer Stirn bildeten und ihr etwas Kindliches gaben. Nur oben unter dem verfilzten Kräuselhaar zuckte eine Hautpartie wie bei einem Pferd, das eine hartnäckige Bremse abschütteln will...
Doch die Bremse, die an Madleens armem Kopf saß, war unverscheuchbar. Sie stach und sog den Rest an Logik, die sich noch in dem konfusen Negerhirn finden mochte, heraus. Wie lange wird es dauern, bis dies Geschöpf des Schlußvermögens gänzlich verlustig geht? – Bis es sich kreischender Triebhaftigkeit unter dem Einfluß der Kinder- und Negerdämonen überläßt? –
Mildred stand plötzlich auf. Sie wuchs förmlich vor Madleen in die Höhe, wuchs in gestrafften Hüften; weiß, schlank, gebieterisch, und sandte einen stahlgrauen Blick durch sie hindurch.
Vor diesem plötzlichen Inkrafttreten der Herrenrasse zuckte das Urwaldkind zusammen. Die Fäuste lockerten sich; die kugelrunden Augen schweiften wieder beiseite.
»Halte den Mund, Madleen, und schwatze keinen Unsinn«, sagte Mildred mit scharfer Stimme. »Du gehörst überhaupt in die Küche.«
Wiederum, nur etwas schwächer diesmal, schüttelte Madleen den Kopf; dann ging sie mit zögernden Schritten hinaus. Etwas Unausgesprochenes verblieb hinter ihr und Mildred sann ihr unmutig nach, ihr Taschentuch zerknitternd. Es war noch feucht von Lachtränen; oder waren es echte gewesen? Sie wußte es selbst nicht mehr genau. Nur eins kam ihr lähmend zu Bewußtsein: – »Das Telephon ist immer noch nicht instand gesetzt.« –
Ratlos ging sie in den zwei unteren Räumen für die nächsten Stunden hin und her. Das Haus zu verlassen, wagte sie nicht. Der dort droben durfte keinen Augenblick allein gelassen werden. Von Fenster zu Fenster ging sie und starrte sich die Augen fast blind am flammenden Grün, kaum eines Gedankens fähig. Ihre Not wuchs, je länger der Nachmittag vorschritt.
»Geh' ins Dorf, Madleen,« schrie sie der Negerin zu, plötzlich in die Küche brechend und mit dem Fuße stampfend: »Geh' ins Dorf und sage der verfluchten Gesellschaft, sie müßten noch heute kommen; noch heute! Verstehst du?«
Madleen hatte hinter ungewaschenen Tellern gesessen und mit den Zeigefingern Figuren im verschütteten Kaffee auf die Wachsleinwand gezeichnet. Sie fuhr zusammen, blickte ihre Herrin hündisch an, wich zurück und sagte eilig plappernd: »Jawohl, jawohl, ich gehe sofort, ich schicke sie her.«
Halb beruhigt sah Mildred noch kurze Zeit ihren eiligen Aufbruchsanstalten zu: wie sie sich die Schürze mit fettigen Fingern abnestelte und verschiedenes noch in halbe Ordnung setzte. Dann hörte sie sie dröhnend in ihre Kammer hinaufstapfen.
Mildred ging in das Wohnzimmer zurück, hörte Madleen herabkommen mit tierischem Schnaufen und mit einem Geräusch, als werde ein Sack voll Kartoffeln ruckweise hinuntergestoßen. Die Tür fiel hinten ins Schloß und sie wußte: »Gott sei Dank: sie ist unterwegs«.
Die Zeit verrann.
Es war nur noch eine Stunde vor der Dämmerung, als sich das Knirschen eines Wagens an der Ecke zur Einfahrt erhob.
Von zwei müden und fliegenumschwirrten Gäulen gezogen, schwankte ein Leiterwagen durch den mulmigen Sand. Er fuhr einmal ums Haus herum und kam dann vor dem Wohnzimmerfenster zum Stillstand.
In diesem Leiterwagen hockten sechs Arbeiter, in blaue Leinenanzüge aus einem Stück gekleidet. Sie saßen Rücken an Rücken, kauten Gummi und hängten die Beine durch die Stäbe heraus. Auf dem Bock saß niemand; es schien, als habe der Gaul von selbst den Weg gefunden.
Vorläufig blieben die Herren hocken und vergewisserten sich weiterkauend über das Terrain und die Lage des Hauses. Dann, mit jener fast katzenhaft lautlosen Selbstverständlichkeit, die amerikanische Mechaniker an sich haben, warfen sie die Werkzeuge einander zu (fingen sie sozusagen aus der Luft), und mit größter Ersparnis an Muskelkraft wurde ein wenig geraschelt und gehämmert.
Selbst das Hämmern klang so rücksichtsvoll, daß man es kaum vernahm!
Mildred hatte noch das Bild des ankommenden Wagen mit diesem trägen Bündel von Beinen frisch im Gedächtnis, als sich derselbe Wagen schon wieder, – die Gesellschaft in gleicher Stellung wie vorhin zu fauler Gruppe vereinigt – in Bewegung setzte und im selben Tempo hinter der Wegbiegung verschwand. Die Leute hatten genau zwölf Minuten »gearbeitet«; und das Wunder war geschehen! Sie ging ins Eßzimmer; – das Telephon war da. Sie ging ums Haus herum: – der neue Leitungsdraht zur Isolierung der alten Telegraphenstange hinter dem Hause war gehängt und blitzte kupfern. Das Ganze glich einer Zauberei. – Und darauf, dachte sie voll Ingrimm, hat man nun vier Wochen gewartet!! –
Ein Haß gegen die rohe Launenhaftigkeit dieses Landes stieg verstörend in ihr auf. Dann kam ein Trost-Gefühl: »Jetzt wenigstens sind wir nicht mehr allein«.
Dies Gefühl der Lösung war so stark, daß der halbhumoristische Vorgang sie diesmal zu stillem Lächeln reizte.
Es wurde allmählich dunkel. Madleen war noch immer nicht zurück. Von rechts wegen hätte sie auf dem Leiterwagen mit den Arbeitern kommen müssen. Aber vielleicht hatte sie noch einen Besuch bei ihren Volksgenossen vor? –
Als es schon spät am Abend war, ging Mildred in Madleens Kammer hinauf. Die Kammer war leer. Der Handkoffer fehlte, alles war ausgeräumt.
Madleen war auf Nimmerwiedersehn verschwunden.
Was Mildred in der nächsten Zeit leistete, grenzte ans Übermenschliche. Sie besorgte die Arbeiten, die das Haus ihr auferlegte und wich dabei doch selten für länger aus der Nähe des Kranken.
Jeden Nachmittag schleppte sie ihn – denn ein Gehen konnte man seine haltlos torkelnde Bewegung nicht nennen – nach dem Badezimmer hinüber und half ihm in die Wanne. Der eisige Chok des Wassers drückte jedesmal die Temperatur um einige Grade hinunter; gerade tief genug, um das Fieber in Schach zu halten. Gleichwohl blieb es andauernd nicht allzufern der Grenze, wo eine Erschlaffung droht.
Die Straße der Verstörten verhielt sich während dieser Woche lautlos, obwohl sich Erwins Krankheit herumgesprochen haben mußte. Die Leute schienen, aus der Ferne beobachtend, zu lauern, was wohl aus dem einsamen Paar werden, wie es ihnen gelingen würde, sich allein durchzuhelfen. Dieses Schweigen und der Mangel jeder menschlichen Anteilnahme waren so ostentativ, daß sie auf der Gegenseite, nämlich Mildreds, dieselbe Empfindung verstärkt hervorriefen. Sie floh jetzt geradezu vor Menschen; denn alles, was sie gewärtigen konnte, waren ein paar langweilige oder unaufrichtige Redensarten; und die waren ihr verhaßter noch als offenes Ignorieren.
Einmal läutete es an und siehe da: die zwitschernde Stimme der Miß Palmer war vom anderen Ende der Leitung hörbar: »How's the hospital?« Ob es Hohn war oder Teilnahme, war nicht festzustellen. Vielleicht sollte es eine kostenlose, humoristisch gemeinte Aufmunterung sein zum Durchhalten.
Doch Mildreds gereizter Zustand vertrug keine Zweideutigkeit mehr, und sie erledigte diese zwitschernde Stimme kurzerhand dadurch, daß sie das Hörrohr über den Haken zurückschlug, in der Hoffnung, die alte Jungfer werde am Geräusch dieses Abschlusses erkennen, wie sehr sie sich verrechnet habe. Erstaunlich blieb, daß diese gottgefällige Dame, die doch auf der anderen Seite der Straße wohnte, die paar Schritte scheute, um sich persönlich zu erkundigen.
Ihr Hymnus klang wie immer in der Dämmerung auf. Sie beanspruchte den lieben Gott offenbar so ausschließlich für sich, daß sie kaum auf den Gedanken kam, sie könne eine karge Portion des himmlischen Wohlwollens auch anderen gönnen. Mit dem Egoismus der halb Irren raffte sie Gnadenbeweise an sich und setzte sich darauf; vielleicht war sie auch der Meinung, daß mit diesen Privatandachten eine Fernwirkung erzielt werde – (was ja auch von ihrem Gesichtspunkt aus bequemer und praktischer schien).
Es hatte noch kein einziges Mal seit jenen Tagen geregnet. Plötzlich, ganz unvermutet, erschien eine etwa dreizehnjährige Negerin mit der Bemerkung, Madleen habe sie geschickt.
Madleen, die inzwischen wohl wieder nach New Port an die Ostseite gelangt war und dort Schauergeschichten über ihr sommerliches Abenteuer berichtete, hatte vielleicht eine Anwandlung von Reue verspürt und für einen Ersatz gesorgt.
Das Mädchen wohnte in der Negerkolonie und schlief auch dort. Somit riskierte sie nicht viel; denn sobald es dunkel war, verschwand sie wieder, um das von Geistern umwitterte Cottage zu solcher Stunde zu meiden. »Sie könne alles,« behauptete sie schlicht. Sie war trotz ihrer Jugend bereits voll entwickelt, mit straffen Brüsten, Hüften, von deren geschmeidigem Muskelspiel das dünne, kurze Röckchen nicht viel verbarg, und kraftstrotzenden Armen.
Sie packte ihre Arbeit an wie ein Raubtier, das sich auf Beute stürzt; war blitzschnell damit fertig und saß in den Pausen hinter dem Haus in der Sonne, Blätter durch die Zähne ziehend oder mit dem Frisieren ihres pudelartigen Haarwustes beschäftigt, den sie mit grobem Kamme unablässig strählte und mit Zitronensaft behandelte, um die Kräuselung zu verhindern. So, – hoffte sie, – würde man sie für eine Kubanerin halten.
Sie war etwas hellfarbiger als Madleen und konnte wohl Anspruch auf besseres Blut machen. Eine Gesellschaft oder gar eine Aussprache für Mildred bedeutete sie natürlich nicht. Aber sie erfüllte die Funktionen des gutdressierten Haustiers, gab bei jeder Gelegenheit, oft auch unvermittelt, platzende Lachsalven von sich; hatte ein albernes Gemüt und brachte auf diese Weise etwas Stimmung ins Haus.
Oft ließ sie sich auch ohne Bedenken beanspruchen, wenn sie grade mit dem Waschen ihrer Bluse – (der einzigen, die sie besaß) – beschäftigt war; und Mildred war zu tolerant gestimmt durch den Druck dieser Tage, zu abwechslungsbedürftig auch, um an der fröhlichen, gottgewollten Schamlosigkeit des halb nackten Naturkindes Anstoß zu nehmen... Im Gegenteil: dieser braune, biegsame, unkindlich starke Körper war fast eine Erholung für das Auge in einem Teil der Welt, der den Körper für Tabu erklärt.
Wenn Lia vor einem weißen Vorhang mit der dunklen Linie ihres Rückens oder der scharfen Silhouette eines hervorgleitenden Schenkels sich umherbewegte, so war es ein Stück Natur, was da neben ihr waltete und dem sie sich innerlich näher fühlte als den Leuten, mit denen das Schicksal sie zusammenwarf...
Zuweilen ließ Lia sich auch überreden, die Nacht hindurch dazubleiben. Sie hockte auf einem Kissen in der Nähe Mildreds, die sich der Anwesenheit des schwarzen Pudelkopfes zuweilen mit einem Blick versicherte. Dort war ja Hilfe und animalische Unterwerfung. Sie ging auf die primitiven Bedürfnisse des Menschenkindes ein und erntete die Anhänglichkeit eines zugelaufenen Hundes dafür...
»Es gibt ein böses Wetter, Ma'm,« sagte Lia eines Morgens plötzlich. Um ganz im Dunkeln zu sein, trat sie halb in das Kämmerlein zurück, worin man Küchengerätschaften aufbewahrte. Dabei kämmte sie sich heftig das Haar. »Sehen Sie nur her!«
Ein leichter violetter Schein glitt jedesmal über den knisternden Schopf. Die kugelrunden flüssigen Antilopenaugen darunter waren etwas weiter aufgerissen wie gewöhnlich, und Lias stete Heiterkeit gedämpfter.
»Es wäre mir lieb, wenn du hier bliebst, wenn es ein Gewitter gibt,« sagte Mildred.
Lia versprach es sehr zögernd ...
Die Sonne verkroch sich in einer Stunde hinter eine kleine Wolke. Ein Licht wie um vier Uhr morgens herrschte, eine Art Dämmerung, in der die Dinge ihre Seele verloren. Die Ahornblätter schwebten starr in der Luft, wie nach dem Niederfallen eines Bannes ... Reglosigkeit fraß um sich und etwas geschah, was man sonst nie am Tage vernommen, oder was das Ohr nie deutlich empfunden: – die Baumzikaden begannen so heftig aufzuschrillen, daß man geschlossnen Auges wähnen konnte, es sei Nacht...
Grauer Dunst kroch über den Himmel; keine konturenklaren Wolken waren das, sondern farbloser Rauch durch flammenden Himmel verteilt wie Pulver oder wie Schwaden von Qualm unter einem Gewölbe. Aus diesem Hellgrau schwärte eitriges Gelb. – Dabei verblieb unverändert jene reglose Erwartung; jene hochgradige nervenreizend-schwebende Spannung...
»Du brauchst keine Angst zu haben, Lia,« sagte Mildred. »Wir sind zu dritt hier, und mein Mann spürt ja nichts davon.«
Lia riß die Bluse auf und förderte ein Amulett zu Tage. Es war eine kleine silberne Kapsel, mit dem Harz eines Baumes gefüllt. Was es für ein Baum sei, darüber schwieg sie sich aus; jedenfalls hatte er nichts mit Christentum zu tun und stand irgendwo in einer versteckten Gegend von Westindien, wo sich afrikanische Riten erhalten haben mochten.
Sie rieb die Kapsel, hauchte darauf, scheuerte sie an Nase und Mund und versenkte sie wieder zwischen den Brüsten. Dann entwickelte sie eine wütende Geschäftigkeit... Als dieser Anfall, dieser Versuch, ihr tierhaftes Schutzbedürfnis vor sich selbst zu verleugnen, vorüber war, kroch sie in eine Ecke der Küche, schlang die muskulösen Arme um die heraufgezogenen Knie, zwischen die sie das Gesicht steckte, und begann, eine Art Gebet zu intonieren, das Mildred nicht verstand.
Jesus und die Muttergottes und eine Menge obskurer Heiligen tauchten darin auf wie Schwemmholz bei einem Dammbruch. Um ihr eine Richtung zu geben, beschloß Mildred, die Bibel zu holen.
Sie ging und suchte sie aus der Bibliothek heraus. Es war ein dicker Lederband mit kupfernen Schließen und wog gut an fünf Pfund. Sie legte das Ungetüm vor Lia hin, die es eilig aufschlug und den ersten Text, den sie fand, dankbar in ihr Gebet hineinbezog.
Sie schien jetzt beruhigt, gleichsam hinter einer sicheren Mauer verschanzt. Sie betrachtete dies aufgeschlagene Buch ganz naiv, vom Standpunkt eines Wilden aus, als schützendes Amulett, ähnlich dem an ihrer Brust. Sie faßte es von Zeit zu Zeit an und strich über die Seiten; und als Mildred später noch einmal hineinsah, hatte sie sich halb darauf gesetzt und war nun scheinbar überzeugt, daß ihr nichts geschehen könne –: wie ein Mensch, dem es gelungen ist, einen Zauberkreis um sich zu ziehen, dessen schützende Ätherwände die bösen Mächte nicht zu durchstoßen vermögen.