Willy Seidel
Der neue Daniel
Willy Seidel

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Der Knabe im Spiegel

Die Hitze war zwar durch die erhöhte Lage des Hauses etwas gemildert, da der langgestreckte Hügelkamm von stetigen Winden bestrichen wurde, aber auf Erwin drückte sie. Er konnte von der Gewohnheit nicht lassen, sich in seiner Dachstube aufzuhalten. So hatte er wenigstens die melancholische Beruhigung, Wände um sich zu haben und sich einzubilden, er sitze in einer gesicherten Zelle, die er sich freiwillig erwählt.

Was waren es auch schließlich anderes als Zellenwände, was ihn umgab? Abgesehen von einer Bibliothek von hauptsächlich englischen Werken, die er sich im Laufe der Zeit gesammelt, von ein paar Buntdrucken, die er sich gelegentlich aus den Beilagen der Hearstblätter ausgeschnitten, lebte keine Vertraulichkeit darin und sprach nichts zu seiner Seele.

Das erhitzte Dachgestühl schickte Wärme nach unten und belastete ihn. Aber hätte er auch im ersten Stock gesessen, so hätte ihn der Anblick Mildreds, die blaß und mechanisch mit toten Augen umherblickend geschäftig war, zu sehr gereizt. Es war vorgekommen, daß sie einen kleinen Streit vom Zaune brachen, nur um dieses gefährlich lähmende Gefühl der Abgeschlossenheit durch die Erregung über eine noch so läppische Kleinigkeit abzulenken.

Er hatte jähzornige Momente gehabt, wo er eine Tasse mit der Hand zerdrückte oder einen Stuhl sinnlos beschädigte ... Sie war kurzen Weinkrämpfen unterworfen, die ihn ernüchterten, so als ziehe man ihm den Boden unter den Füßen weg. Das Gefühl der vollständigen Hilflosigkeit vor dieser Mißhandelten, die Ohnmacht, ihr zu helfen, rieben ihn fast noch mehr auf, wie ein solcher Anfall selbst. Die Nerven der beiden waren so gespannt, daß die kleinste Reibung genügt hätte, um sie schrill zum Zerreißen zu bringen. Deshalb hielt der dumpfe Selbsterhaltungstrieb sie von Zeit zu Zeit voneinander fern.

Er scheute Szenen, scheute die Beschämung, die solchen Auftritten unmittelbar darauf folgte und die Liebkosungen, die ihren Anlaß aus so nichtigem Zwange heraus schöpften.

Es war im August und er hatte sich wieder angekleidet auf das Bett gelegt, und seine leicht im Wasser schwimmenden Augen grasten die blanke Decke ab.

Es hatte ihn heute – und er wußte nicht warum – eine besondere lähmende Mattigkeit von Herz und Hirn ergriffen.

Wenn man mich eingraben könnte wie einen Fakir und mich nach Jahren wieder ans Licht bringen, so wäre mir vielleicht geholfen. Ich hätte dann vielleicht noch eine kleine warme Stelle am Scheitel, in der der letzte Rest des Lebens wachgeblieben wäre; sonst wäre ich kalt, empfindungslos und wachte auf in eine vielleicht menschenwürdigere Welt hinein.

Aber man muß ja atmen, leben, existieren, von Fratzen umgeben. Man muß unter der Presse dieses Alpdruckes mühsam weiteratmen, bis vielleicht das Herz von selbst aufhört zu schlagen. Warum kreist dieser Blutstrom noch durch meinen Körper?

Er lag still. Er erstarrte im Liegen. Er versuchte sich selbst zu hypnotisieren, in den Hochschlaf hinein. Es gelang ihm, indem er die Augen in das stammende Fenster richtete und sich mit aller Energie dazu zwang, an nichts zu denken.

Die leisen Unbehaglichkeiten, die ihm noch wie Ameisen über den Körper wimmelten, verloschen allgemach. Ihm schien, als schwebe er gewichtslos im Raum. Sein Geist belauerte die träge Masse, die statt seiner auf dem Bett lag, und kroch langsam, langsam hinter die Schwelle des Unterbewußtseins zurück.

Auf einmal, aus den purpurnen Gründen seines Gedächtnisses, tauchte folgendes auf: – – – Eine Stube umschloß ihn mit halbdurchleuchteten Fensterrolläden; ferner leises Musizieren drang an sein Ohr. Türen klappten auf und zu, und das Räderrasseln und verklingende Hufgetrappel einer verschollenen Zeit, einer kleinen deutschen Residenz, sickerte in seinen Gehörgang und webte darin weiter wie ein holder Traum.

Kam der Vater schon aus der Klinik zurück? Ich habe Fieber und male mir abenteuerliche Begebnisse aus, die zwischen den Tapetenblumen sich vollziehen. Ich fahre mit einer Hand, die noch weiche Gruben statt der Knöchel trägt, an den Ornamenten entlang; oder ich baue mir Luftschlösser und Gebirge, die ich erobere, im kühlen weißen Linnenbezug des Plumeaus. Ich stehe auf und hole mir barfüßig, was mir streng untersagt ist, die Porzellantiere aus dem Schrank ins Bett. Es fröstelt mich leicht dabei, obwohl es sehr warm ist und ich mache, daß ich zurückkomme. Dann liege ich wieder still, nur etwas mit den Zähnen klappernd, aber ich schlafe halb und gleite weiter, wunschlos, selig, und doch ein wenig unruhig.

Ob nicht noch eine kleine Abenteuerlichkeit für mich in Bereitschaft liegt, der gegenüber ich mein Knabenherz wappnen muß?

Erwin sah in die tiefe Zimmerflucht einer deutschen Wohnung hinein mit schweren Möbeln, die mit ihm flüsterten und Mitwisser waren seiner Leiden und Freuden.

Keime von bunter Zukunft formten sich in den Sonnenstreifen, die durch eine Markise drangen, gebaren sich aus dem Tanz der aufblitzenden Stäubchen, die auf unendliche Wanderschaften gingen; Pläne, kindlich, harmonisch und riesenhaft, wuchteten über ihm wie ein Baldachin, unter dem ein sanftes Dämmerlicht webte ...

Der Schrankspiegel warf ihm ein rundes helles Gesicht entgegen, einen schlanken Körper, der sich des Anhauchs übergroßer Wärme träumend erwehrte und entblößte; dem er Kräfte zutraute, die ihn befähigten, verwunschene Wälder kühn zu durchbrechen.

Er kreuzte die Hände unter dem blonden Kopf und sah sich aufmerksam im Spiegel an wie einen Zweiten, dem er Glück auf die Reise wünschte und über dessen Wiederkunft er sich insgeheim freuen würde. Es werde viel zu berichten sein von solchen Ausflügen. –

Und dann sank er in den purpurnen Schlaf zurück. Jetzt auf einmal, während Erwin seinem Odem lauschte, den er langsam durch die Nüstern sog, entstand ein ganz leicht singender Ton, der mit dem Singsang jener verschollenen Fieber aus der Kindheit tief verwandt war. Aber auch ein Laut war darin, den er noch, so kam ihm vor, vor kurzem gehört, und er riß die Augen auf.

Heftig atmend starrte er um sich: wild, entsetzt. War er hier noch im verwunschenen Wald? Waren das die giftgrünen Ahornblätter vor den Fenstern? Hatte ihn nicht wiederum ein metallenes Zikadengeräusch überflutet; klang es nicht schrill nach in seinem Hirn?! –

Für einen Moment sah er die Kammer von Lakewood um sich und Fichten, nichts als Fichten!

Wie befreit aufstöhnend gelang es ihm endlich, die Gegenstände zu gruppieren. Er war nicht mehr dort. Jene Hölle war überwunden. Aber die akute Qual hatte sich in eine langsame, unauffälligere, entlegenere verwandelt, die einen nicht minder schmerzhaften Ring um sein Dasein zog. Jenes wäre ein gewaltsames Sterben gewesen; dieses war ein langsames, durch Freiwilligkeit versüßtes ....

Er legte sich wieder zurück und ein Bild trat hervor, das ihn damals, von scharfen Fiebervisionen durchpulst, wie körperliches Erlebnis bedrängt hatte: das Bild der Grube und darin der Einsame an der Mauer, der sich der Löwen erwehrt.

Dieses Bild war damals eine bloße Schöpfung der Phantasie gewesen, die er nach Belieben hervorrief oder auslöschte. Er hatte die Kulissen gestellt und niedergerissen. Jetzt aber ward mehr, ward üppige Wirklichkeit daraus, wie ihn dünkte. Er war es auf einmal selbst, war Daniel, griff um sich, ertastete Steine und sah auch, was er erwartet hatte: die hungrigen Bestien gleich Schatten vor ihm durcheinanderwogen.

»Das bist du,« schrie ihm jemand ins Ohr. Und er glaubte es, glaubte es so stark, daß die erträumten Ängste ihn wie Fühlbares und Lebendiges überfielen.

Und ihm war, als geschehe folgendes: Als die murrende Wut der Bestien wuchs, da erfaßte ihn Daniel, wieder die ungeheure Kraft der Gewißheit, daß er einen Freund in der Mauer hinter sich im Rücken habe, einen, den er mit den Händen herausgraben müsse. Und er wandte sich und krallte die Finger in die Fugen der Wand. Schweiß brach ihm aus und seine Seele lechzte danach, ihn zu schauen, diesmal ganz zu schauen. Aber noch geschah nichts, noch war um ihn herum fühllose Kälte. Und wie er sich wieder umwandte, hatte sich die Grube erweitert. Das Murren war geblieben; die Augen der Raubtiere starr auf ihn gerichtet, aber es schien, als seien diese selbst verwandelt, als glichen diese Leuten, wie er sie kannte und verabscheute, wie er sie stündlich um sich hatte und die auf einmal trotz ihres sonst gewohnten Anblicks etwas Verändertes zur Schau trugen, etwas dämonisch Bösartiges, das er sich nicht erklären konnte.

Sie glichen alle einander; waren ähnlich gekleidet, hatten ähnliche Gesichter; aber in ihrer Masse hatten sie etwas Bedrohendes und schnaubten ihm ihre Vertilgungslust entgegen als Strom von schmutzigen Worten, in dem schön gefügte Phrasen zerbrochen umhertrieben: – Große Wörter, die, einzeln genommen, sinnlos waren; die nur zuweilen Satzgruppen bildeten und in ihrer Neuartigkeit verführten oder bezauberten. Jedoch der dunkle Schwall der Schmutzrede verschlang sie oder zerfetzte sie bis zur Unverständlichkeit.

Was man von ihm heischte, wußte er nicht. Nur schien es, als kämen Argumente, die er sich nie erträumt, wie Pfeile aus dem Finsteren gefahren und prallten neben ihm an die Mauer; oder er spürte schmerzhaftes Zucken in der Brust bei einer besonders sorgfältig gezielten Phrase, die glatt an seinem Lebensnerv vorbeitraf.

Sein Gewissen, sein deutsches Gewissen, war ungeschickt. Die Pfeile prallten nicht alle davon ab. Viele blieben zitternd stecken und brannten. Er hatte ihnen nichts entgegenzusetzen als die schwerfällige Kraft, die sich wohl der Argumente annehmen wollte, aber das Zurückschlagen war nicht möglich. Es waren ihrer zu viele und er brauchte noch einen Schild, um dahinter zu grübeln und das Schlagwort zu finden, das diese Pfeile entgiften und machtlos machen sollte. Wer bot ihm den Schild?

Der Ansturm ward größer; das Getöse lauter. Er schritt hin und her, doch überallhin folgten ihm die weisen Sentenzen, diese hämisch nach oben gedrehten, an Fragezeichen wie an Peitschenschnüren durch die Luft geknallten Sätze. Und er fühlte, daß sein Geist genug an einer dumpfen und reichen Logik barg, um sie zu widerlegen, so wie er damals die Löwen in die Ecke gescheucht. Nur mußte man ihm helfen.

In diesem Moment äußerster Willensanspannung geschah folgendes: Er spürte, wie sein Ich eine Wandlung erfuhr; wie sich etwas in ihm zu gleichen Teilen trennte, wie Öl vom Wasser sich trennt.

Er tat nichts dazu. Nur blickte er mit Staunen auf. Er hatte gesehen, wie die Meute zögernd zurückwich, und das Geschwirr der Fragen und Anklagen schwoll gedämpfter.

Zu seiner Rechten stand schimmernd ein etwa zwölfjähriger Knabe. Er sah ihn an. Es war jener blonde Knabe, den er soeben noch im Spiegel erblickt.

Zu seiner Linken stand ein Mann, der genauer betrachtet einem glich, den er unlängst gekannt. Er hatte ein scharfes Profil und über seinem Haupte dämmerte der Umriß eines eisernen Helmes.

Diese Zwei, so wesensfremd sie einander waren, schienen wie Klänge eines Akkordes, die man einzeln anschlägt, auseinanderzutreten und sich doch im Geheimen tief verwandt zu bleiben. Zwei Naturen waren das: – dieser besinnliche Knabe, in dessen blaugrauen Augen, leicht gebuckelter Stirn und weichem Munde künftige schrankenlose Schöpfertätigkeit keimte; den seine kräftigen Beine mit den sonnenbraunen Knien durch die Welt tragen würden im dumpfen Wagemut gestaltender Phantasie: – und der Andere, die kaltberechnende Kraft, die stählerne Energie, die den Weicheren schützt und ihn vor Unbill und Erniedrigung bewahrt. Diese beiden waren vereint denkbar. Doch der Knabe war der Größere, er war der Erste, der aus der Mauer getreten.

Der Mann hatte einen Schild und überreichte ihn Daniel. Dann stellte sich der Krieger spreizbeinig, mit unbewaffneter Brust, vor die Meute hin; und Daniel fühlte den Regen der Pfeile verstärkt auf dem Schilde. An diesem vorbei sah er, wie der Krieger langsam mit steifem Gang in die Dunkelheit hineinschritt; wie eine formlose dunkle Masse sich auf ihn stürzte und wie er nach einer heroischen Abwehrbewegung wie in einer Wolke darin unterging – – ein Antlitz zurückwendend, das die Maske eines rätselhaften Leidensübermaßes trug.

Und es überkam Daniel Furcht: Nun jener entschwunden war, schien er schutzlos. Der Spiegelknabe, der von frühen Träumen trächtige, mußte ihn nun allein schützen. Dieser setzte die runde Stirn gegen das frisch herandrängende Gezücht; setzte die verworrenen Laute, die Farben einer köstlichen Jugend dagegen: das Räderrasseln hinter dumpf bestrahlter Markise und den Tanz der Sonnenstäubchen, die er wie Weltensysteme durchdrang.

Und wieder trat das verschollene Zimmer aus tiefster Frühe, aus der Nachbarschaft der Quelle hervor, und entfaltete, halb verschleiert durch heimwehkranke Zärtlichkeit, stumme Ecken, schweigende Möbelgruppen, geöffnete Türen, hinter denen geheimnisreiche Welten verdämmerten ... der Knabe war Fürst eines orangefarbenen Herzogtums, das im Wolkenprunk der Sonnenuntergänge jener Zeit erglänzte und versank ...!

Daniel schob ihn vor sich her. Er sah mit langsam kälter werdendem Herzen, wie trotz anfänglichen Zurückbebens vor der stillen Waffe dieses Jüngeren die Meute wieder vordrang und auch ihn mit dem Pfeilhagel von Argumenten beschüttete. O du Herz vom Herzen Europas – – was wankst du?

Und während alle die Phrasen, all die entnervenden Bruchstücke Großer Worte die Luft doppelt verfinsterten; – – während Daniel den Knaben an sich schließend seinen Widerstand verrinnen fühlte in einer Agonie, die der Qual des Nazareners schier vergleichbar schien – – während dies alles sich begab und jede Hoffnung versank auf Verständigung mit der konturenlosen, stets dunkler emporschnellenden Bestie – – da geschah drüben ein Wunder, trat eine Gestalt hervor.

Sie löste sich zögernd, unnahbar und fern aus dem dunklen Hintergrunde. Sie stand eine Zeitlang bewegungslos wie ein Bild aus Stein, von abweisendster Fremdheit umwittert. Ihre Augen glichen Edelsteinen: – farblose Leere war darin wie die eines Meeres vor der Dämmerung.

Dann kam sie langsam auf Daniel zu. Ihr Blick war streng und er vermeinte sie flüstern zu hören: »Ich habe viel geopfert ... um Deinetwillen.«

Er erschrak vor der Größe solchen Opfers. Das Opfer schimmerte von ihren Fingerspitzen, vom Silber ihres Kleides, von ihrem herbgespaltenen Mund, von ihrem gestrafften Hals.

Dann lächelte sie mit den Schatten eines Lächelns. Sie schritt näher herzu ... und siehe: der Knabe trat in sie hinein wie in ein Tor. Entschwindend verschmolz er mit ihr.

Und als Daniel aufblickte, war keine Grube mehr und waren keine Mauern um ihn, wo er stand. Und fern auf einem Hügel vor einem dunkeln Blau, das erster sanfter Lichtkern stufenweis erhellte, stand sein Sommerhaus – und die Fenster ob dem Söller klafften weitgeöffnet. Indem er noch starrte, blitzte es golden auf über den Treppen. Ihm war, als höre er Gesang herüberbringen wie von Chören.


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