Willy Seidel
Der neue Daniel
Willy Seidel

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Fluchtversuch

Es war abends und Mildred saß Erwin wie gewöhnlich gegenüber, in ein Buch von Blackwood vertieft.

Es war einer jener halbmystischen Versuche des Schotten, die Natur zu personifizieren; diesmal verblüffte er durch die große Kunst, mit der er ein gewagtes und ganz unkörperliches Problem handhabte...

Mildred legte das Buch mit abrupter Bewegung weg und sah ihn starr aus ihren meerfarbenen Augen an. Er hatte diesen Ausdruck in letzter Zeit zu oft bemerkt, um ihn nicht sofort deuten zu können. Es war der Ausdruck aus der hölzernen Grabkammer dort draußen; ein gehetztes Licht war darin, als sei sie – wie damals körperlich, so diesmal seelisch, – in eine plötzliche Sackgasse geraten.

Draußen stand die Schwärze wie Eingänge von Höhlen vor den Mückenfenstern.

Einsilbiges Geräusch der großen lederartigzähen Ahornblätter ward hörbar.

Ein Kauz klagte; tiefer im Wald hörte man das unverständliche Plärren des entstellten Kindes, als fahre es aus dem Schlaf und schreie kurz nach Licht.

Man konnte sich in diese Schwärze nichts hineindenken als Kerkerstangen ... Ja horch! – wieder war es da, jenes feine peinigende Geräusch, das irgendwie mit den mächtigen Entfesselungen von Metall in weiter Ferne verwandt schien als winziges Echo, das gleichwohl schon Anschluß gefunden, und das sie mit übler Warnung verfolgte.

Der triefäugige Hund draußen murrte kurz auf und keuchte; dann schlug wieder die Stille über ihnen zusammen, durch nichts zerbrochen als durch das leise Sieden des Öls in der Lampe und Mildreds beschleunigte Atemzüge. In ihren Pupillen dämmerte eine plötzlich so starke Angst vor dem Nichts auf, Ratlosigkeit vor einer Mauer, daß er sich sofort sagte: ›irgend ein Entschluß muß gefaßt werden‹.

Endlich kam es schier tonlos, mit einem Zischen, aus ihrer Brust: »Es geht nicht so weiter; wir müssen weg, oder ich werde verrückt und beschließe meine Tage in der Spruce-Street... Wenn du aber noch etwas von mir retten willst, was dich an früher erinnert, so nimm mich schleunigst weg, wenn auch nur auf kurze Zeit, vielleicht eine Woche...« »Gut,« sagte er einfach, ohne sich im geringsten zu sträuben, »auch mir wird sie schier ein bißchen zu viel, die beneidenswerte Ruhe, von der Mr. Bradshaw sprach... Man kann auch zuviel davon bekommen.« –

Hinter seinen Worten versteckte sich ein plötzliches unaussprechliches Grauen, das Grauen eines, der halb unbewußt auf trügerischer Sumpfdecke gewandert ist und sich im plötzlich aufgurgelnden Wasser zur Rückkehr wendet. –

Auf einem weißlackierten Raddampfer fuhren sie den Hudson hinauf, dessen Ufer-Monotonie, ganz von Fabriken besät, bald welligeren Linien, von grobbestandenem Laubwald bedeckten Hügeln wich. Wie zartes Spinnennetz hing die Eisenbahnbrücke von Poughkeepsie in der Luft; sie schrumpfte hinter ihnen zusammen; und von jetzt ab schien das rein mechanische Getriebe der Riesenstadt wie hinter einem Tor zu verdämmern, das zu größeren Freiheiten führte.

Stinkende Qualm-Fetzen verräucherter Schlote verflogen vor einer Bergbrise. Gehämmer und Dröhnen verklang; leiseres Brodeln zerrann im Rauschen keuscherer Wellen. Summen von Sirenen, das den ganzen mächtigen Fluß von der Werft bis nah an die Brücke gesäumt, ging in einsamerem, innig begrüßtem Mövenschrei auf.

Erwin und Mildred saßen auf dem Vorderdeck, auf kleine Klappstühle gezwängt, eingekeilt zwischen junges Publikum, das diesen Ausflug mit der stoischen Temperamentlosigkeit des Landes gleichsam nur als Geldausgabe hinnahm, die man sich schuldet. Es war gut angezogene Mittelklasse: Buchhalter, Bankangestellte, Verkäuferinnen, Agenten, die von kleinen Firmen ein Salair bezogen, das gerade mit einem winzigen Bruchteil über ihre kärglichen Bedürfnisse hinausging.

Derlei unbekümmerte, phantasielose Leutchen gab es mehr; sie biederten sich mit einer den beiden Europäern fremden Selbstverständlichkeit miteinander an, spieen über das Geländer oder befaßten sich auf trockene Art mit der Weiblichkeit, die es nicht anders von ihnen zu erwarten schien. Sie saßen mit diesen appetitlichen Mädchen zusammen, ohne etwas anderes zu tun, als die Kinnbacken in wählender Bewegung zu erhalten und überließen es den Damen, den dünnen Faden sehr materieller Gespräche bis zur äußersten Unscheinbarkeit zu strecken.

Dies gegenseitige Anöden, diese äußerste Harmlosigkeit war ein Element, das man mit einer einzigen Bemerkung in ein hilfloses Chaos hätte verwandeln können, hätten die Leutchen Ironie genug besessen, um den Charakter einer solchen Störung wenigstens zu ahnen. So aber rann das mundfaule Gewäsch dieser ausgeleerten, doch nie ausfüllbedürftigen Menschen wie ein schleimiger Strom über das ganze Schiff.

Hie und da gab es prustendes Gelächter über ein läppisches Nichts; man sagte sich handfeste Wahrheiten, man begutachtete einander, man plätscherte in Zahlen, in sportlichen Ereignissen der letzten Abendausgabe; und wenn es vorkam, gab man eine Meinung ab über dieses oder jenes Filmdrama, nach dessen Genuß man etwa noch auf einem Dachgarten einen Icecream-Soda zu sich genommen habe ...

Äußerlich betrachtet waren es alles gut gebaute, hübsche Menschen. Man sah weiße Zähne blitzen, sah gebräunte Gesichter, gut und knapp geschnittene Hemden und Blusen. Wo sich das jugendliche Blut Bahn brach, so geschah es in primitiver Weise, so daß man an die Ausbrüche von jungen Hunden gemahnt ward, die halb toll vor dumpfem Betätigungsdrang an ihren Leinen zerren.

Doch die Leinen, an denen diese Menschenpuppen hingen, waren grausamer als die junger Hunde. Es war ein System von Stahldrähten, an denen sie zupften und die ab und zu in der Faust eines seelenlosen Kolosses – der dort hinten mit Millionen von Bureaufenstern wie mit halbblinden Augen nach ihnen starrte und sie gierig hypnotisierte – leicht gelockert wurden, um sich dann um so schneidender wieder zusammenzuziehen.

Amerikanische Jugend, wie seltsam führst du irre! Gibt es Kinder?

Ja, Kinder sind da; schön gewachsene, du siehst blendende Glieder, schimmernde Augen, kindlich lechzende Lippen in erhobenem Antlitz dieselbe Luft schlürfend, die um die bronzene Fackel weht hoch dort, wo die Hand der Freiheitsgöttin sie gebieterisch und pompös emporstößt ... Man verwöhnt dich; man kleidet dich vorbildlich; man nährt dich mit den unermeßlich aufgespeicherten Schätzen des Kontinents; man setzt dir leuchtende Vorbilder ins Hirn, jenen sanften Lincoln und stürmenden Washington; man erzählt dir, du seiest Erobererrasse; du habest Neuland vor dir für Leib und Seele... Man erzieht deinen Geist in großzügigem Drill, der nichts mit Kaserne zu tun zu haben wähnt; man stachelt deinen Ehrgeiz an, deinem Körper sein Recht zu geben durch athletische und muskelbildende Spiele... Und dann: was tut man?!...

Auf das ganze erhebende, der Alten Welt so fremde Programm prägt man einen Stempel, der es grausam entwertet!!

Die Entwertung heißt: »Mache Geld.«

Die Entwertung heißt: »Du bist nicht Vollmensch, eh' du nicht Konkurrent bist.«

Und die ermüdende, stets auf der Lauer liegende, erkältende Idee der Konkurrenz wächst neben diesen Geschöpfen auf, gleichzeitig mit dem unbekümmerten Wachstum der schönen Pflanze, wie ein grotesker Giftpilz, in dessen Sporenregen die Blüten verkümmern. Die amerikanische Stadt saugt die Jugend an und macht sie zur Maschine.

Man ließ ihren Körper streng harmonisch gedeihen, nur um sein Verwelken zu bemänteln, zu verzögern; nur um sein Erstarren im »Geschäft« in die Länge zu ziehn ...

Wo gibt es ein Kind, das sich mit zwanzig Jahren selbst entdeckt mit unheimlicher Freude und süß beklemmendem Erschrecken vor ungenutzten Möglichkeiten?

Wo ist die ahnungsvolle Seele; wo das Tasten, das rührend-hilflose; wo die tiefere Inbrunst geistiger Erfolge?

Da stehst du, spreizbeinig, amerikanischer Knabe! sehr tüchtig bist du; brauchbar und praktisch. Du gehst der Welt zu Leibe; aber du weißt nichts von der Welt. Du mordest die Natur mit einem Augenblinzeln. Du erledigst Gefühle mit blankem Lächeln. Dies Lächeln stand dir gut, als du dich mit vierzehn erhaben dünktest; es ward zur Maske, als du mit zwanzig die Welt in die Tasche stecktest, und es ward vollends zu aufreizendem Grinsen, als du geistig verbraucht, erfolgreich und satt deinen eigenen Sprößling »smart« fandest, denselben, den wir jetzt vor uns sehn mit zähen Schenkeln und gesunden Zähnen...

Und das Mädchen beschließt ihr Leben mit dem frühen Moment, wo es sich ein »Heim« schafft; ihr geistiges Niveau, auch wenn es Entwicklung versprach, sinkt langsam bei Inangriffnahme tausend unendlich belangloser »praktischer« Fragen; sinkt zu den Kindern herab, die sie unmutig gebiert und deren Wachstum sie wiederum in Rückentwicklung begleitet...

So gibt es Tausende, denen das häusliche Leben der Frau und das Geschäftsleben des Mannes nichts als einförmig maschinelle Funktion bedeutet... Die Wenigen, die Geld als Mittel und nicht Zweck des Lebens betrachten..: ach diese Wenigen von echterem Geiste, du siehst sie kaum! Und wenn du sie siehst, so begegnest du ihnen in einer Sphäre entrückter Überlegenheit; sie verschmelzen die Daseinsführung ihres Mutterlandes mit der Europas; sie schlagen feine, noch sehr fragwürdige Brücken über die Kluft, vom trägen, ideenschwangeren Osten herüber zu dem Ameisenhaufen im Schutz des Sternenbanners ... Das Gros aber dieser hundert Millionen ist unfruchtbar in höherem Sinn.

Dies waren Gedanken, die Erwin schon öfter gestreift, halb unbewußt; in diesem Augenblick wurde ihm die Fremdheit mit dem völkischen Lebensgedanken in verschärfter Weise deutlich.

Er witterte Opposition zu seinem eigensten Wesen, die er zu normalen Zeiten wohl nicht so heftig verspürt hätte. Gegensätzliche Stellungnahme ist selten mit Wohlwollen verquickt. Es müßte ja sehr schön sein, dachte er, sich von diesem Strom der Harmlosigkeit treiben zu lassen; wir haben es mit unserem europäischen Denken wahrhaftig nicht leicht; und Ameisen sind beneidenswert. Er sah nicht streng aus, sondern in seinem Blick war eher etwas Suchendes, das die blanken Augen ringsum zu einem flüchtig verblüfften Verweilen zwingen mochte.

Aber dies Verweilen schlug keine Fäden zu ihm herüber, sondern stellte, so dünkte ihn, deutlich erkennbare Scheidewände auf. Mildred ihrerseits war in der Haltung, wie sie saß, in dieser zusammengerafften Kurve des sitzenden Körpers der übergeschlagenen Beine, die verkörperte Opposition; und wenn Erwins Blick etwas mutig Fragendes zu tragen schien, so war der ihre kälter und ablehnender denn je. Dies beunruhigte ihn dunkel. Zur Erleichterung der Verständigung trug es nicht bei.

Eine Weile waren sie an Grün vorbeigeglitten, an hervorblitzenden Landhäusern im Kolonialstil, die ihre weiten Prunkwiesen bis zum Ufer hernieder schickten. Auf einmal sprang das Gesicht des Landes wieder grell hervor mit Backsteinhäusern, die von Fabrikgebäuden durchsetzt in zackigen Klumpen die Ufer schändeten.

Jede Haltestelle entließ einen Strom gleichgültiger Menschen und schickte einen neuen ebenso gleichgültiger dafür an Bord. Sie waren acht Stunden unterwegs; und Erwin hatte noch keine Gäste bemerkt, die ihm aufgefallen wäre; keinen Ausdruck, der ihn flüchtig interessiert hätte ...

Der Abend dämmerte, als sie in Catskill eintrafen, um sich bei einem Chauffeur nach einem ruhig gelegenen ländlichen ›Boardinghouse‹ zu erkundigen. Sie hatten das Gefühl, daß mit dem Herausgreifen des nächsten Besten das Schicksal beeinflußt werden könne, denn alles, was sie bisher bewußt getan, war ihnen zur Enttäuschung gediehen. So überließen sie sich der Maschine, die sie langsam über das holprige, grell erleuchtete Pflaster des Landstädtchens schleppte und sich dann mit ihnen in die Nacht hinein vergrub.

Nach halbstündiger Fahrt über welliges Terrain, das an tiefen Tälern vorüberführte, blitzte eine Laterne auf und beschien grell ein Plakat, auf dem zu lesen stand: »The Glencliff. – Stop right here.«


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