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Der Wassermann

In Norddeutschland gibt es große, buchtenreiche Seen, die sich zwischen bewaldeten Hügeln weithin erstrecken und mit grünen Inseln anmutig geziert sind. An einem solchen See, gerade an der Stelle, wo ein Bach einmündete, nachdem er weite grüne Wiesentäler und rauschende Buchenwälder durchströmt hatte, lag in der Talsenkung ein Dorf, mit seinen Feldern und Wiesen recht wie eine Insel in den Wald eingesprengt. In diesem Dorfe wohnten nahe am Wasser ein Fischer und seine Frau mit einem kleinen Sohne, der Konrad hieß. Dessen liebste Spielgefährtin war Gertrud, die kleine Tochter des benachbarten Bauern. Da die Gärten der Eltern aneinandergrenzten, so schlüpften die Kinder alle Tage durch eine Heckenlücke hinüber und herüber, und jedes war in den Räumen des Nachbars ebenso zu Hause wie in den eigenen. Sie streiften auch gemeinsam an den Ufern des Sees umher, der stille, flache Buchten hatte, bedeckt mit weißen Wasserrosen oder von Rohrwäldern umsäumt war, in denen das schwarze Wasserhuhn und der Kragentaucher nisteten und die kleinen Rohrsänger unablässig ihren schwatzenden Gesang erhoben. An manchen Stellen war das Ufer sandig und frei und dem Schlage der Wellen ausgesetzt. Dort suchten sie Muscheln und Steine, und diese Schätze sammelten sie alle an einem verborgenen Ort zwischen dichten Dornbüschen, wo in dem lehmigen Abhang eine kleine Höhlung war. Sie hatten dort große Muscheln wie längliche Schalen, die inwendig wie Perlmutter glänzten, und Steine klar wie Glas oder weiß wie Milch. Manche waren von buntem Geäder anmutig durchzogen und einer, den sie besonders wert hielten, war durchscheinend und glänzte, wenn man ihn gegen das Licht hielt, wie das Morgenrot. Auch bernsteingelbe Donnerkeile bewahrten sie dort, von denen die Großmutter erzählt hatte, die seien mit dem Blitz vom Himmel gekommen; doch der größte Schatz war ein glattpoliertes Steinbeil, wie es unsere heidnischen Vorfahren, die noch kein Eisen kannten, zu benutzen pflegten. Die Kinder hatten es auf der benachbarten Insel gefunden, zu der Konrads Vater, wenn er zum Fischen ausfuhr, sie manchmal überzusetzen pflegte. Auf dieser Insel, die dicht mit großen Bäumen und niederem Buschwerk und Gestrüpp überwachsen war, sollte zur heidnischen Zeit ein Heiligtum gewesen sein; und wirklich befand sich auch noch auf ihrem höchsten Punkte unter düsteren, uralten Eichen eine Anzahl mächtiger, mit Moos überwachsener Felsblöcke, die zu einem Kreise angeordnet waren. Einmal waren Konrad und Gertrud durch das Dickicht bis dahin vorgedrungen, allein es war dort so düster und einsam, und man hörte nichts als das Sausen des Windes in den Zweigen und den rauhen, dumpfen Ruf eines Raben, der in den Eichen sein Nest hatte, so daß die Kinder ein Schauer anwandelte und sie eilig wieder an das Seeufer zurückkehrten, wo die freundliche Sonne schien und ihnen die glänzenden Wellen vertraut entgegenrauschten.

Wenn der Winter herankam, so bot sich mannigfache andere Unterhaltung dar. Zuweilen trat auf lange Zeit strenge Kälte ein, ohne daß Schnee dazu fiel, und dann geschah es, daß sich der ganze See mit einer spiegelblanken sicheren Eisfläche bedeckte. Dann holte Konrad seine Schlittschuhe hervor und fuhr Gertrud in ihrem Schlitten weit hinaus bis an die Insel und darüber hinweg. Am Abend saßen sie dann im Fischerhause in der Küche am warmen Herdfeuer, und während draußen auf dem See von der strengen Kälte mit mächtig hallendem Donner von Ufer zu Ufer riesenlange Spalten in das Eis sprangen, erzählte die Großmutter die schönsten Geschichten.

Die Großmutter hatte ein Gesicht aus lauter kleinen Falten und Fältchen zusammengesetzt, aber ihre Augen waren noch hell und klar, und wenn sie erzählte, da blickte sie unverwandt vor sich hin in die Dunkelheit, als sähe sie dort alles leibhaftig vor sich. Sie wußte alle Sagen aus der ganzen Umgegend und so viele Märchen, daß sie, wenn sie wollte, an jedem Winterabend ein neues erzählen konnte. Eines Abends, als wieder einmal der zugefrorene See heftig rumorte und das hallende Rollen und Donnern gar nicht aufhörte, sagte sie: »Unten auf dem Grunde, wo der See am tiefsten ist, hat der Wassermann sein Schloß aus Korallen, Muscheln und Bernstein, so herrlich, daß es gar nicht zu beschreiben ist. Ringsum liegt sein Garten, in dem sind die Steige mit Perlen bestreut, die Beete mit Perlmuttermuscheln eingefaßt, und die herrlichsten Blumen mit goldenen und silbernen Blättern und leuchtend wie Edelsteine wachsen darin. Dein Vater, Konrad, hat einmal in einer Vollmondnacht auf dem Grunde die ganze Herrlichkeit schimmern und glänzen sehen, allein er hat nachher die Stelle niemals wiederfinden können. In dem Schlosse des Wassermannes sind viele herrliche Zimmer, doch eines davon enthält weiter nichts als an den Wänden viele Borte, auf denen eine Menge von verschlossenen bauchigen Glasflaschen stehen. Sie sind mit Wasser gefüllt, und zuweilen plätschert es darin, als sei ein Fisch miteingeschlossen, allein man sieht nichts darin. Diese Flaschen enthalten die Seelen der im See ertrunkenen Menschen. Er selbst hat keine Seele, aber die Seelen anderer zu besitzen und festzuhalten, gefällt ihm. Hört ihr, wie das Eis draußen donnert und hallt, wenn die Spalten hineinspringen? Das tut der Wassermann. Es behagt ihm nicht, dort unten im See wie in einem gläsernen Gefängnis zu sitzen, und da stemmt er sich mit mächtiger Kraft unter die Eisdecke, daß sie krachend zerspringt. Aber fortbringen kann er sie doch nicht, da muß er auch warten, bis vom Süden der Tauwind kommt.

Wenn ihr einmal an einer verborgenen Stelle ein kreisrundes Loch im Eise findet, so groß wie ein Wagenrad, davor hütet euch, das ist des Wassermanns Ausguck. Die Ränder des Eises sind dort rund, wie abgeschliffen, und das Wasser gefriert auch bei der strengsten Kälte nicht. Dort taucht er zuweilen auf und schaut nach dem Wetter, ob nicht bald der Südwind kommt. Auch lauert er gern unter dem Eise und zieht die herab, die dem Loch zu nahe kommen. Darum hütet euch davor!«

»Kann man die armen Seelen gar nicht retten?« fragte Gertrud plötzlich.

»Wer die Blume des Lebens findet und sie auf dem Herzen trägt, dem kann, solange ihr Duft andauert, das Wasser und der Wassermann nichts anhaben, sofern er der Verlockung widersteht, von dessen Speisen und Getränken zu genießen. Er darf ruhig ins Wasser springen und kann dort wie auf dem Lande leben und sich bewegen. Aber die Blume des Lebens ist sehr schwer zu finden. Sie blüht mitten im Winter an einsamen Orten aus dem Schnee hervor und, wird sie nicht gepflückt, so vergeht sie wieder eine Stunde nach dem Aufblühen und löst sich in eitel Duft auf. Auf dieser Insel, wo das Heidenmal ist, soll sie einmal vor vielen Jahren einer hier aus dem Dorfe gesehen haben, wie sie mitten in dem großen Steinring aus dem Schnee gewachsen war, allein er hat sich gefürchtet und ist davongelaufen.« Also erzählte die Großmutter.

Am anderen Tage hatte die strenge Kälte nachgelassen, und es war ein schöner, sonniger Wintertag. Nach dem Mittagessen setzte sich Gertrud in ihren Schlitten, und Konrad fuhr sie auf den See hinaus. Sie hatten sich heute eine größere Reise vorgenommen und wollten ganz um die Insel herumfahren. So weit waren sie in früheren Jahren noch nie gekommen. Nach einer Viertelstunde unablässiger Fahrt waren sie in die Nähe der Insel gekommen, und Konrad hielt an, um ein wenig zu verschnaufen. Dann wandte er sich seitlich, um das Eiland im großen Bogen Zu umfahren. Das Eis war hier noch glatt und unberührt und sah schwarz und glänzend aus. Wenn Konrad jetzt den Schlitten anhielt, so hörte man nichts als das Flüstern des Windes in dem trockenen Schilfrohr am Ufersaum der Insel und ein Hallen und Tönen in der Eisfläche, das sich von entfernten Orten her fortpflanzte. Vom Dorf sahen sie nichts mehr, weil sich die Insel davorgeschoben hatte, es war ganz einsam auf der sonnbeglänzten Eisfläche.

»Ich fürchte mich!« sagte Gertrud.

»Das Eis ist sicher!« antwortete Konrad, »der Vater hat's gesagt.«

»Ich fürchte mich vor dem Wassermann!« sagte Gertrud und schauderte zusammen.

»Es gibt gar keinen Wassermann!« rief Konrad, »das ist ja nur ein Märchen!«

Mit einem Male schraken beide Kinder zusammen, denn mit lautem Krachen sprang vor ihnen eine Spalte in das Eis und pflanzte sich mit laut nachhallendem Donner über den See hin fort.

»Das war er, das war er!« flüsterte Gertrud, »laß uns umkehren!«

Aber Konrad beschwichtigte und tröstete sie und erklärte ihr, daß sie sich gerade auf der Mitte des Weges befinden, und wenn sie ihren Weg fortsetzten, ebenso rasch nach Hause kämen, und so fuhren sie weiter. Sie kamen bald an einen Ort, wo sich eine rings von Rohr besäumte kleine Bucht in die Insel hineinzog und einen abgeschlossenen, einsamen Winkel bildete. Als Gertrud dort hineinblickte, rief sie in plötzlichem Schrecken: »Siehst du dort – der Ausguck des Wassermannes! Fahr schnell vorüber!«

Aber Konrad, von Neugier erfüllt, hielt den Schlitten an und sagte: »Wenn man nur nicht herangeht, ist es nicht gefährlich; sieh mal, es ist ganz so, wie es die Großmutter beschrieben hat.«

In einiger Entfernung war ein kreisrundes Loch im Eise mit glatten Rändern, und das Wasser darin war von dem leichten Luftzuge, der ringsum das welke Schilf flüstern machte, leicht gekräuselt.

Als die Kinder nun unverwandt mit jener Bangigkeit, die das Unheimliche einflößt, darauf hinstarrten, blitzte es in dem Wasser plötzlich auf, der goldene Rücken eines großen Fisches hob sich hervor und bewegte sich unruhig hin und her. Plötzlich fing das Tier an, mit dem Schwanze zu schlagen und sich emporzuschnellen, und ehe man es sich versah, lag der armlange Fisch zappelnd auf dem Eise und strebte vergeblich wieder ins Wasser zurück. Solches Märwunder hatten die Kinder noch niemals gesehen; das Tier war lasurblau und golden gestreift und warf förmlich Funken in der Sonne.

Konrad konnte seinen Jagdeifer nicht zähmen, er rief: »Den muß ich haben!« und obgleich Gertrud bat und weinte, lief er auf den zappelnden Fisch zu und packte ihn mit beiden Händen um den glatten Leib. Aber kaum war dies geschehen, da glitt das Tier mit unwiderstehlicher Gewalt, den Knaben mit sich reißend, in das Loch zurück, und in einem Augenblick waren beide verschwunden. Gertrud schrie und weinte, allein es blieb ihr nichts weiter übrig, als den Schlitten im Stich zu lassen und eilig nach Hause zu laufen, um unter fortwährenden Tränen das schreckliche Ereignis zu verkünden. Einige mutige Männer zogen mit dem Vater des Knaben mit Stangen hinaus und suchten den ganzen Grund in der Umgebung des Loches ab, allein sie fanden nicht das geringste.

Trauer und Schrecken verbreitete sich in dem Dorfe über das unglückliche Ende des kleinen Konrad, aber am traurigsten war doch Gertrud. Sie weinte Tag und Nacht, so lange, bis sie keine Tränen mehr hatte. Dann kam eine Ruhe über sie, und der Entschluß stand plötzlich fest, daß sie ihr Leben daransetzen wolle, den kleinen Konrad aus seiner Gefangenschaft zu retten.

Sie nahm eine goldene Kapsel, die ein Andenken an ihre Mutter war, und hing sie so um den Hals, daß sie unter dem Kleide auf dem Herzen ruhte. Dann steckte sie ihre Taschen voll Brot, und an einem Sonntag in der Morgendämmerung machte sie sich auf, die Blume des Lebens zu suchen. Sie dachte, auf der Insel würde und müßte sie zu finden sein.

In der Nacht war Schnee gefallen, und der See lag als eine weiße unberührte Fläche vor ihr, und wie ein grauer Nebelhügel hob sich in der Dämmerung die Insel hervor. Sie befahl ihre Seele Gott und schritt durch den weichen Schnee daraufhin. Als sie dort anlangte, war die Sonne aufgegangen, und Gertrud wandte sich noch einmal, um auf das Dorf zurückzublicken. Es lag mit seinen weißen Dächern im blauen Winterdunst, und aus den Schornsteinen stieg der helle Rauch kerzengerade in die Luft, sich deutlich abhebend gegen den Wald, der wie eine dunkle Mauer in großem Bogen die Feldmark umgab. Dann kamen vom Kirchturme her die Klänge des Morgengeläutes und schlangen sich wie mit weichen Fäden um ihr Herz, um sie zurückzuziehen, aber sie wendete sich und drang mutig in das schneebedeckte Dickicht ein. Sie hielt immer die Augen auf den Boden gerichtet und achtete es nicht, wenn die Zweige, die sie streifte, ihr den Schnee in Gesicht und Nacken schütteten; sie zwängte sich durch das Gestrüpp und kroch durch die Lücken, aber immer war es vergeblich. Schon läutete es im Dorfe zum letztenmal zur Kirche, schon hatte sie fast die ganze Insel durchsucht, aber immer noch nichts gefunden. Sie stieg den Hügel empor, wo die mächtigen Eichen ihre knorrigen Äste in die Luft streckten; dort hatte die Blume schon einmal geblüht, es konnte ja wieder sein. Hier sah sie im Schnee, der sonst überall ganz unberührt und frisch war, plötzlich eine Menge von kleinen feinen Fußspuren, die alle auf den großen Steinring zuliefen. Sie folgte ihnen voll Verwunderung und fand, daß sie alle durch eine der Lücken in den Ring hineinführten und auf zwei der mächtigen Steinblöcke zugingen, die, mit den Häuptern gegeneinander geneigt, eine dunkle Höhlung bildeten. Als sie davorstand, sah sie, daß diese Öffnung wirklich der Eingang zu einer Höhle war. Eine wärme Frühlingsluft und ein Duft nach grünen Waldkräutern und Veilchen wehte daraus hervor, so daß der Schnee am Rande der beiden Felsblöcke zerschmolz und in glänzenden Tropfen zu Boden fiel.

Gertrud ging mutig hinein und schritt einen schmalen finsteren Gang hinab, der gerade so hoch war, daß sie, ohne sich zu bücken, darin gehen konnte. Allmählich ward es heller und der Blumenduft stärker, und endlich trat sie in einen hohlen Raum, der ganz von sanftem Lichte erhellt war. Dieser helle Schein ging aber von einem wunderschönen nackten Kinde aus mit schimmernd weißen Gliedern, das inmitten der Höhle auf einem Bette von blühenden Veilchen lag und schlief. Aus den Wänden und aus der Decke dieses Raumes waren überall in dichter Fülle die mannigfachsten Frühlingsblumen hervorgewachsen als eine duftende Bekleidung, und alle die tausend dicht gedrängten Blumensterne waren wie ebenso viele Augen auf das schöne schlafende Kind gerichtet.

Gertrud war bei diesem wunderbaren Anblick wie in Andacht versunken; sie faltete die Hände und konnte kein Auge davon abwenden, als plötzlich eine feine Stimme fragte: »Wer bist du, die hier eintritt zur guten Stunde?« Gertrud sah ein kleines, grün gekleidetes Männchen mit eisgrauem Bart und einer roten Kappe vor sich stehen, das sie mit gutmütigen Augen anblickte. Sie sprach: »Ich suche die Blume des Lebens!«

Das Männchen erwiderte: »Nur ein unschuldiges Herz und ein reiner Wille findet den Weg hier herein – dein Begehren soll erfüllt werden.« Unterdes waren noch mehr ebenso gekleidete Männchen aus dem Hintergrunde der Höhle gekommen und blickten Gertrud neugierig an. Diese aber vermochte noch immer nicht die Augen von dem schlafenden Kinde abzuwenden, und als der Alte das bemerkte, sprach er: »Du möchtest wissen, wer dies schlafende Kind ist? Es ist das Jahrkind, gutes Mädchen, und wir haben es in sicherer Hut, bis seine Zeit da ist. Die letzte Rose des Sommers trägt ungleich anderen Rosen ein Samenkorn wie eine Walnuß groß, das wir in unsere Pflege nehmen und sorglich behüten.

Um die Zeit der Sonnenwende springt seine Schale, und ein winziges Kindlein liegt darin. Das nähren und säugen wir mit Blumenhonig und Morgentau, bis daß es, immer schlafend, ein großer, starker Knabe geworden ist und erwachsen hinaustritt in die winterliche Welt. Aus seinen Spuren wachsen Blumen und Gräser, und unter seinen sonnigen Blicken ergrünen die Bäume, und eine Wolke von singenden Lerchen schwirrt über seinem Haupte. Es ist der künftige Frühling, der hier schläft. – Nun erzähle uns auch deine Geschichte!«

Gertrud tat dies, und die kleinen Männchen hörten voll Rührung zu. Dann sprach der Alte wieder: »Du bist der Blume des Lebens wert, mutiges Mädchen!«, zog eine silberne Schere aus dem Gürtel und schnitt von den Haaren des Jahrkindes, die so fein und golden wie Sonnenstrahlen waren, eines ab und reichte es Gertrud hin. »Nimm dieses Haar«, sagte er, »und lege es draußen auf den Schnee, dann wird die Blume des Lebens hervorblühen!«

Dann reichten alle kleinen Männchen Gertrud die Hände, und sie kehrten durch den engen Gang wieder zurück. Aber er war jetzt nicht mehr dunkel, denn das Haar in ihrer Hand leuchtete ihr in mildem Lichte voran.

Als sie draußen angelangt war, kniete sie nieder und legte das Haar auf den Boden. Als sei es glühend, versank es sofort in dem aufzischenden Schnee, der alsbald in weitem Umkreis hinwegschmolz, daß der schwarze Boden frei ward. An der Stelle, wo das Haar versunken war, kam sogleich ein Keim aus der Erde und faltete sich zu einem Blätterstern von leuchtendem Blaugrün auseinander, aus dessen Herzen ein Blütenschaft emporwuchs, der sich an seinem Ende zu einer Knospe verdickte. Diese schwoll an und rötete sich; es ward ein Klingen in der Luft wie ferner Lerchengesang, und plötzlich öffnete sich ein roter, strahlender Blütenstern, auf dessen Grunde leuchtende Fäden standen, fein und golden wie Sonnenstrahlen. Zugleich verbreitete sich ringsum ein Duft, so stark und herrlich, daß Gertrud fast davon betäubt ward. Aber sie verlor nicht ihre Zeit. Mit bebenden Fingern und voll stummer Andacht brach sie die Blume und verbarg sie in der goldenen Kapsel an ihrem Herzen. Dann ging sie eilfertig den Berg hinab zu der kleinen Bucht, wo sie bald das runde Wasserloch, dunkel abgezeichnet in der weißen Schneeflur, erblickte. Sie ging darauf zu, sprach ein kurzes Gebet, und die Hand aufs Herz gedrückt, wo ihr kostbarer Schatz ruhte, sprang sie mutig in die Tiefe. Das Wasser spritzte hoch auf und schlug über ihr zusammen. Eine Weile wogte und wallte es noch, bis es bald wieder glatt und blank dalag, als sei nichts geschehen. Ringsum war alles still und einsam, nur ein kleiner Zaunkönig saß in dem Wipfel einer Eiche im Sonnenschein und sang sein kleines fröhliches Lied trotz Schnee und Eis und Winterkälte.

Als Gertrud auf dem Grunde des Sees anlangte, empfand sie kaum, daß sie sich im Wasser bewegte, nur fühlte sie, daß ein Element sie umschloß, schwerer und kühler als die Luft. Sie sah einen weißen gewundenen Sandweg vor sich, der allmählich in die Tiefe führte, und schritt so schnell sie konnte auf ihm dahin. Zur Seite wuchsen auf dem Grunde gefiederte Wasserpflanzen, die ihre feinen Blätter leise bewegten, wenn ein Fisch vorüberschwamm. Sie sah dies alles erst, nachdem sich ihre Augen, die aus der blendenden Helle kamen, daran gewöhnt hatten, denn, weil Schnee auf der Eisdecke lag, herrschte unten eine trübe Dämmerung. Zuweilen kam eine ganze Schar kleiner Fische angeschwommen und schoß schnell an ihr vorüber, oder sie warteten, bis Gertrud vorbei war, und stierten indessen mit dummen Augen auf sie hin. Manchmal erschreckte sie ein riesiger Hecht, der raubgierig zwischen den Wasserpflanzen kauerte und sie tückisch anglotzte; einmal kam auch ein ungeheurer Wels, um dessen breites Maul die schmalen Bartfäden spielten. Er schwamm eine Weile neben ihr her und schien sich gewaltig zu wundern; dann blieb er träge zurück und legte sich auf den Grund. Mächtige Aale glitten wie Schlangen über den Weg, und Krebse schnellten eilig zurück ins Kraut, wenn sie vorüberkam. Endlich gelangte sie an einen Ort, der aussah wie eine große grüne Wiese, und hier erblickte sie eine Gestalt, die in einiger Entfernung stand und auf sie hinblickte. Ein freudiger Schreck durchrieselte sie beim Näherkommen, denn sie sah, daß es Konrad war. Er stand dort mit einer Gerte in der Hand und hütete eine große Herde von alten bemoosten Karpfen, die so fett waren wie Schweine. Sie lief eilig auf ihn zu, ergriff seine Hand und rief: »Konrad, komm mit mir, ich will dich retten – ich habe die Blume des Lebens!«

Der Knabe zog seine Hand aus der ihren, sah sie fremd an und sprach: »Deine Hand ist so warm – ich kenne dich nicht!«

Da fiel es ihr erst auf, daß er sich anfühlte kalt wie Eis. In seinen Augen war ein leerer Glanz, wenn er sie anblickte, und sie sah mit einemmal, daß er keine Seele mehr hatte. Das Mädchen brach in Tränen aus und eine von ihnen fiel zufällig auf Konrads Hand. Da kam es plötzlich wie ein warmer Schein in seine Augen, es war einen Augenblick, als ob er sie erkenne, allein sofort erlosch es wieder, und er blickte so gleichgültig wie zuvor. »Ich darf hier nicht fortgehen«, sagte er dann. »Ich muß die Karpfen hüten, wenn ich nicht gut aufpasse, wird der Wassermann mich beißen. Er hat so spitze grüne Zähne.«

Traurig schritt Gertrud weiter und gelangte bald an einen Ort, wo der Garten des Wassermanns seinen Anfang nahm. Die seltsamsten Pflanzen wuchsen um sie her mit feinem goldenen und silbernen Blätterwerk, wie Fischschuppen anzuschauen. Andere trugen wieder große blaue oder rote durchscheinende Blätter und wogten und schlängelten sich, als seien sie lebendig. Dazwischen schwammen Fische von unerhört seltsamen Formen; manche waren durchsichtig wie Glas, und andere leuchteten in allen Farben wie Edelsteine. Dann dämmerte auch das Schloß des Wassermanns vor ihr auf, und als sie ans Tor kam, schossen plötzlich zwei riesengroße Hechte, die dort Wache hielten, auf sie zu und zeigten grimmig ihre spitzen Zähne. Aber plötzlich verspürten sie die Wirkung der Blume des Lebens, fuhren eilig wieder zurück und glotzten nun von ferne auf sie hin. Gertrud trat in das Schloß ein und gelangte in einen großen Muschelsaal, in dessen Fußboden allerlei Fische mit kostbaren Steinen künstlich ausgelegt waren. Dort saß der Wassermann hinter einem Tisch mit köstlichen Gerichten ganz allein und aß und trank blutroten Wein dazu. Er stierte mit tückischen Augen auf sie hin, fletschte seine grünen spitzen Zähne und schrie: »Was willst du hier, Erdenwurm?«

»Du sollst mir Konrad wiedergeben!« sagte Gertrud unerschrocken.

Der Wassermann lachte häßlich: »Der muß die Karpfen hüten, den kann ich nicht missen«, sagte er, »auch hat er so eine unschuldige kleine Seele, die mir wohlgefällt! Du hast ja die Blume des Lebens – sieh zu, was du damit machen kannst!« Dann lachte er wieder höhnisch – jedoch bald verzerrte er sein Gesicht zu einem freundlichen Grinsen und sagte: »Doch du bist nun mein Gast, Kind – komm her und iß!« Damit schob er die schönsten Speisen zu ihr hin und füllte einen goldenen Becher mit Wein. Gertrud war hungrig, sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, und die Gerichte des Wassermannes dufteten sehr verführerisch; allein sie hatte die Warnung der Großmutter nicht vergessen. Deshalb dankte sie, zog ein Stück Brot aus der Tasche und verzehrte es.

Der Wassermann sah sie boshaft lauernd an: »Der kleine Teufel ist gewitzigt«, murmelte er zwischen den Zähnen. Dann dachte er weiter: »Ob er aber auch das Letzte weiß? Ich will das Mädchen hinhalten, bis nach drei Tagen der Duft ihrer Blume erloschen ist. Dann soll es meine Karauschen auf die Weide treiben.« Er stellte sich nun sehr freundlich und führte Gertrud überall umher, zeigte ihr alle seine Schätze und Kostbarkeiten, nur das Zimmer mit den Flaschen nicht, auch konnte Gertrud, soviel sie auch spähte, keine Spur davon entdecken. So kam die Nacht heran, ohne daß sie Konrad wiedersah, denn der arme kleine Karpfenhüter schlief bei seiner Herde. Am Morgen des nächsten Tages war der Wassermann fort, denn über Nacht war starkes Tauwetter mit Regen eingetreten, und er hatte sich in den Fluß begeben, da dort eine Überschwemmung bevorstand, woran er immer eine große Freude hatte.

Den ganzen Tag suchte Gertrud nach dem verborgenen Zimmer, allein sie fand es nicht. Am Abend zog sie die goldene Kapsel mit der Blume hervor und fand, daß ihr Duft schon weit schwächer geworden war. Hätte sie gewußt, daß ihre Kraft mit Sonnenuntergang des nächsten Tages erlöschen würde, da wäre ihre Angst groß gewesen. Am Morgen war sie wieder früh heraus und suchte. Alle Türen im Hause hatte sie wohl schon zehnmal geöffnet und alle Wände mit prüfenden Augen betrachtet, allein sie konnte nicht die geringste Spur des geheimen Zimmers entdecken. Da, als sie gerade hinter einem Vorhang hervortreten wollte, sah sie plötzlich den Wassermann den Gang entlanghuschen. Er trug eine Flasche in der Hand und sah sich vorsichtig um. Dann trat er an eine glatte Wand und drückte auf einen kleinen goldenen Fisch, der in diese eingelassen war, worauf sich die Wand leise auftat. Der Wassermann ging hinein und kehrte nach einer kurzen Weile wieder ohne die Flasche zurück. Dann schritt er den Gang entlang und ging in den Muschelsaal. Gertrud blieb noch eine Weile mit pochendem Herzen hinter dem Vorhang, dann schlich sie leise dem Wassermann nach und spähte durch eine Türspalte in den Saal. Dort sah sie, wie er einen mächtigen Becher Wein leerte, sich auf ein Polster legte und einschlief. Als ihr sein gewaltiges Schnarchen vernehmlich ward, ging sie eilig wieder zurück und drückte ebenfalls auf den goldenen Fisch. Die Wand tat sich auf, und Gertrud trat in ein kleines dämmeriges Zimmer, dessen Fenster stark vergittert waren. Dort standen aber sehr viele Flaschen, und ihr sank mit einemmal der Mut, denn wie sollte sie die, die Konrads Seele enthielt, herausfinden? Als sie ganz verzagt die Blicke über alle die Flaschen gleiten ließ, fiel ihr ein kleines Schränkchen ins Auge, das sie vorhin übersehen hatte. Es war aber verschlossen. Sie nahm die Kapsel mit der Blume des Lebens hervor und hielt sie ans Schlüsselloch. Da sprang die Tür auf, und es zeigte sich, daß dieser Schrank nur eine einzige gefüllte und eine leere Flasche enthielt. Gertrud holte die erste hervor, und als sie sie aufmerksam betrachtete, plätscherte es deutlich darin, und es war ihr, als ob ihr Konrads blaue Augen aus der spiegelnden Fläche entgegenschauten. Sie steckte die Flasche zu sich und öffnete dann nach der Reihe alle anderen, die dort noch standen. Mit leisem, singendem Getön wie Bienensummen zogen die befreiten Seelen davon. Dann eilte Gertrud schnell weiter, füllte ihre Taschen im Vorübergehen mit soviel Perlen und Edelgestein als hineingingen und lief davon, um Konrad zu suchen. Aber sie konnte ihn nicht finden. Eine entsetzliche Angst überfiel sie, denn der Mittag war schon vorüber, und noch immer war Konrad nicht zu sehen. Endlich traf sie auf seine Karpfenherde, und als sie ringsum alles absuchte, fand sie ihn, wie er in einer kleinen Bodensenkung lag und schlief. Sie teilte die Blume des Lebens, die nur noch sehr wenig Duft besaß, in zwei Teile und steckte den einen dem schlafenden Konrad in die Westentasche, den anderen behielt sie. Dann öffnete sie vorsichtig dicht vor seinem Munde die mitgebrachte Flasche. Sein Gesicht rötete sich plötzlich, warmes Leben rieselte durch seine Glieder, er schlug verwundert die Augen auf und wußte nicht, wo er sich befand. Aber Gertrud ließ ihm keine Zeit, sich zu besinnen; sie ergriff seine Hand und zog ihn mit sich fort. Sie fand den Weg wieder, der sie hergeführt hatte, und nach einer Weile standen sie unter dem Loche des Wassermannes, das sich in hellerem Schein gegen das Eis abzeichnete. Aber wie sollten sie da hinaufkommen, noch dazu mit der Last von Perlen und Edelgestein, die Gertrud zur Hälfte dem Knaben übergeben hatte. Schon wollte sie diese Schätze zurücklassen, und Konrad, der schwimmen konnte, wollte Gertrud mit emporheben, als sie plötzlich Schritte auf der Eisfläche vernahmen und sich dunkle Schatten dort bewegen sahen. Es war der Fischer und sein Nachbar, der Bauer, die noch einmal versuchen wollten, ob es ihnen nicht glücken würde, die Leichen ihrer versunkenen Kinder unter dem Eise aufzufinden. Plötzlich tauchte dann eine lange Stange mit einem Haken daran auf den Grund und ward tastend umherbewegt. Sofort klammerten sich beide Kinder daran fest. Als man oben den Widerstand bemerkte, ward die Stange sofort emporgezogen, und wer beschreibt das Erstaunen und die Freude der beiden Väter, als ihre Kinder frisch und gesund aus der Flut hervortauchten.

Kaum hatten sich alle eine Strecke von dem Loch entfernt, da entstand ein Brausen und Sausen unter der Eisdecke, und plötzlich tauchte der Wassermann mit halbem Leibe hervor. Er schüttelte drohend seine haarigen Arme, fletschte die Zähne und heulte vor Wut, allein es half ihm nichts mehr.

Die beiden Väter zogen mit ihren Kindern fröhlich nach Hause, und bald herrschte Jubel und Freude im ganzen Dorfe über deren wunderbare Errettung.

Mit den Reichtümern, die Gertrud dem Schatz des Wassermannes entnommen hatte, kauften die Väter große Güter in einer anderen Gegend, wo die Nachkommen von Konrad und Gertrud noch heute leben und gedeihen.


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