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Hühnchen als Großvater zu sehen, war eine wirkliche Freude, und obwohl er in sehr jugendlichem Alter zu dieser Würde gelangt war, so mußte man doch sagen, er war dazu geboren. Die Mischung von großväterlichem Ernst und kindlicher Vertraulichkeit in seinem Wesen war bewunderungswürdig und ward nur durch die Geduld übertroffen, mit der er sich den phantastischen Launen seiner Enkelkinder fügte. Er war alles, was sie wollten, ein Elefant, ein Pferdebahnwagen, ein Kamel, eine Dampfmaschine, ja sogar scheußliche Lindwürmer darzustellen gab er sich her. Denn einst, als er bei uns war und sich mit den Kindern auf dem Teppich balgte, während ich in meinem kleinen Zimmer noch eine notwendige Arbeit zu erledigen hatte, ward ich gerufen, um ein lebendes Bild in Augenschein zu nehmen, das die drei darstellten und das an die Phantasie des Beschauers die ungeheuerlichsten Anforderungen stellte. Es betitelte sich: »Der Ritter Sankt Georg mit dem Drachen.« Hühnchen wand sich als Lindwurm am Boden, während der vierjährige Wolfgang, auf den Knien liegend, das Pferd darstellte. Auf ihm saß die kleine zweijährige Helene als Ritter Georg und zielte mit einem Spazierstock auf den furchtbar aufgesperrten Rachen des greulichen Ungetüms, während dieses mit seinen Krallen mächtig ausholte.
Sogar zu Dichtungen regten ihn seine Enkel an. Als der kleine Wolfgang zwei Jahre alt war, spielte er vorzugsweise mit zwei wolligen Holztieren, einem Lamm und einem Hund, deren Fell er mit einem Kamm und einer kleinen Bürste eifrig bearbeitete, an welchem seltsamen Spiel er ein unerschöpfliches Gefallen fand. Dazu machte Großpapa ein kleines Märchen, das später zum eisernen Bestand der Kinderstube gehörte und allen unseren Kindern, wenn sie in gleichem Alter waren, nicht oft genug erzählt werden konnte. Es lautete: »Es waren einmal ein Wauwau und ein Mählamm, und es waren einmal ein Kamm und eine Bürste. Da sagte das Mählamm zur Bürste: ›Komm, Bürste, bürste mich!‹ Da sagte aber der Wauwau zur Bürste: ›Nein, Bürste, bürste mich!, Nun sagte das Mählamm zum Kamm. ›Komm, Kamm, komm, kämme mich!‹ Aber gleich sagte auch der Wauwau zum Kamm: ›Nein, Kamm, komm, kämme mich!‹ Da taten Kamm und Bürste sich in ihr Futteral und sprachen: ›Alles zu seiner Zeit! Geduld, Geduld verlaß mich nicht!‹«
Von den vielen Versen, die er auswendig konnte und den Kindern zu ihrem Jubel vorsang und vorsagte, will ich nur ein kleines Gedicht mitteilen, das mir bemerkenswert ist, weil es mir vorkommt, als müßte der Verfasser Hühnchens gekannt und sie unter dem Bild dieser Vogelfamilie dargestellt haben. Es lautete:
Bei Goldhähnchens
Bei Goldhähnchens war ich jüngst zu Gast! Sie wohnen im grünen Fichtenpalast, In einem Nestchen klein, Sehr niedlich und sehr fein. Was hat es gegeben? Schmetterlingsei, Dann sang uns Vater Goldhähnchen was: Dann sagt' ich: »Adieu!« und: »danke sehr!« |
Und was konnte Großpapa nicht alles machen! Das erste war, wenn er kam, daß ihm alle Invaliden gebracht wurden, an denen es in einer Kinderstube nie fehlt, und daß er sich den Fischleimtopf holte. Hühnchen brachte sie alle zurecht, er setzte den Pferden neue Beine an und den Wagen gab er die Räder wieder. Soldaten, die höchst unmilitärischerweise ihre Gewehre verloren hatten, bewaffnete er aufs neue und kein Tier in der Arche Noahs gab es, das nicht schon einmal in seiner Kur gewesen wäre. Wolfgang hatte aber auch einen solchen felsenfesten Glauben an die unfehlbare Kunst seines Großvaters, daß einst, als ein kleiner Knabe bei einem wilden Straßenspiel das Bein gebrochen hatte und die Mutter darüber weinte und lamentierte, er auf diese zuging und sagte: »Nich weinen, Frau! Großpapa mit Fischleim wieder heil machen!«
Schon als Wolfgang vier Jahre alt war, baute Hühnchen ihm einen gewaltigen Drachen, und als wir ihn einst in Steglitz besuchten, ließen die beiden ihn steigen. Nachher sagte Hühnchen zu mir: »Eigentlich habe ich hier nicht ganz ehrlich gehandelt, denn der Junge ist für dieses Vergnügen noch viel zu klein und hat sehr wenig davon. Ich will dir nur offen gestehen, daß mich schnöde Selbstsucht geleitet hat, denn obwohl ich Großvater bin: Drachen steigen lassen, macht mir noch ganz ungeheuer viel Spaß!«
Unter Hühnchens Fingern ward jedes Stückchen Papier zum Spielzeug und nahm hunderterlei Form und Gestalt an, und was für komische Männchen, Tiere, Mützen und sonstige Dinge er aus einem Taschentuch gestalten konnte, war einfach unglaublich. Gab man ihm eine Anzahl schwedischer Streichholzschachteln, ein wenig steifes Papier, ein bißchen Zwirn, einige Streichhölzer, etwas Siegellack und eine Schere, so machte er daraus die halbe Welt. Zum Beispiel eine schöne Waage mit Schalen aus Streichholzschachteln, oder ganze Güterzüge mit Achsen aus Streichhölzern und Rädern von steifem Papier, die sich zur großen Wonne der Kinder »ordentlich drehten«, oder den Palantin der Prinzessin von China, den Staatsschlitten des Kaisers von Rußland, Mühlenräder, die mit Sand getrieben wurden, und wer weiß was sonst noch.
Jedes Weihnachtsfest und jeder Geburtstag brachte ein neues Bilderbuch seiner Fabrik, wozu er die Bilder aus illustrierten Journalen, Anzeigen und dergleichen sammelte und sorgfältig in einen Band aus steifen Papier klebte. Komische Unterschriften oder kleine selbstgemachte Verse bildeten den Text zu diesen Bilderbüchern. Im Hühnchenschen Hause kam überhaupt nichts um. Jedes Stückchen Stanniol, jede Scherbe bunten Glases, jeder blanke Knopf, jedes Gummibändchen und was sonst an Wertlosigkeiten und Abfall im Haus vorkommt, wurde aufbewahrt und fand gelegentlich eine manchmal geradezu geniale Verwendung.
Am ersten Ostertag fuhren wir alle stets nach Steglitz und in Hühnchens Garten wurden Eier gesucht. Er mußte wohl ein besonders gutes Verhältnis mit dem Osterhasen haben, denn in Hühnchens Garten legte dieser rätselhafte Vierfüßler, der seinen einzigen Kollegen in der Eierproduktion, das wunderliche Schnabeltier, sowohl in der Reichhaltigkeit seiner Erzeugnisse so fabelhaft übertrifft, die herrlichsten Eier. Da gab es goldene und silberne und solche, die in allen Farben des Regenbogens glänzten. Da gab es welche, die nach der Methode, die im Spreewald angewendet wird, mit den herrlichen Ornamenten geziert waren, und einige sogar hatte ihr Erzeuger mit seinem eigenen Bildnis geschmückt und mit deutlicher Pfote darunter geschrieben: »Z. fr. Erg. Der Osterhase.«
Großpapa Hühnchen war natürlich infolge so trefflicher Eigenschaften der Liebling aller meiner Kinder und selbst der kleine Werner, der zwei Jahre nach Helene geboren war, streckte ihm schon, als er noch ganz klein war, vom Arme seines Mädchens die Händchen entgegen und krähte vor Vergnügen. Sein besonderer Liebling aber war Helene. Unsere Kinder hatten alle etwas Sonniges in ihrem Wesen, das mochte wohl eine Erbschaft von ihrem Großvater sein, aber Helene hatte diese Eigenschaft im höchsten Grade. Wir nannten sie nur das Sonnenkind oder Großpapas Sonnenschein. Von ihrem freundlichen Gesicht ging stets ein heller Schimmer aus und auf ihrem braunen Haar lag es wie ein goldiger Glanz. Sie hatte auch mit dem Sonnenschein ein besonderes Verhältnis und spielte sogar mit ihm. Als das Kind fast vier Jahre alt war, rief mich meine Frau einmal um die Mittagszeit, als die Sonne zwischen den Vorhängen hindurch einen breiten Strahl in das Schlafzimmer sendete, und zeigte mir ein holdes Bild. Dort kniete Helenchen vor einem Stuhl, auf den das himmlische Licht mit ganzer Kraft funkelte, und griff mit den zarten Händchen in den hellen Sonnenschein und versuchte ihn mit zierlicher Bewegung der Finger in die dunklen Ecken zu streuen. Außer dem Sonnenschein liebte sie die Blumen, die seine Kinder sind, und oft rührte es mich tief, wenn sie bei unseren Spaziergängen das kleine dürftige Blumenwerk, das an den staubigen Wegen wuchs, mit heller Freude begrüßte und die kümmerlichen Glöckchen und Sterne sorglich in der kleinen warmen Hand nach Hause trug. Wie arm sind doch die Kinder einer so großen Stadt gegen die auf dem Lande. Wir waren in dem Sommer, da Wolfgang sechs Jahre alt wurde, und nun zum Herbst die Schule besuchen sollte, vom Onkel Nebendahl auf sein Pachtgut eingeladen und ich werde nie vergessen, wie ich mit den beiden älteren Kindern das erstemal im Felde spazieren ging. Wir gelangten auf einem Fußsteige durch Kornfelder zu einem wenig befahrenen Landweg, der über und über mit Blumen bewachsen war und weithin in schimmernder Farbenpracht vor uns lag. Die Kinder betrachteten dieses Paradies anfangs mit einer heiligen Scheu, und Helene sagte nur wie überwältigt: »O Blumen, Blumen, Blumen!«
Dann stellte Wolfgang mit zaghafter Schüchternheit die Frage: »Dürfen wir uns hier wohl ein paar pflücken?«
Ich sagte: »Sie gehören euch alle! Pflückt so viele ihr wollt!«
Dies erschien ihnen wie ein Märchen, denn sie waren nur an die staubigen Wegränder der nächsten Berliner Umgegend und an das Nolimetangere des Tiergartens gewöhnt, und so unzählig wie herrenlose Blumen hatten sie noch niemals beieinander gesehen. Sie stürzten sich nun wie zwei jauchzende Schwimmer in diesen Blumenstrom und gerieten in einen förmlichen Rausch über die Fülle dieser Reichtümer. Bald tauchten sie unter zu den roten Blüten des Klees, bald erhoben sie sich wieder und stürzten zu den goldenen und weißen Tellern der Wucherblume, bald wurden sie gelockt von den großen hellblauen Blütensternen des Wegewarts, bald von den roten Büscheln der Flockenblumen oder den goldenen Knöpfen des Rainfarns. Als sie nun aber im angrenzenden Kornfeld die purpurnen Köpfe des Mohns, die leuchtenden Raden, den dunkelblauen Rittersporn und vor allem die Kornblumen, nach ihrem Sinne die Königin dieser ganzen Gesellschaft, erblickten, da glaubten sie sich in einem Zauberlande. Das sind nun allerdings wieder Freuden, die ein Landkind, das mit dergleichen als gemeinen Dingen groß geworden ist, niemals kennenlernt.
So rauften und rupften sie, bis sie so viel von der schimmernden Farbenpracht dieses Ortes zu großen Büscheln vereinigt in den Händen trugen, daß diese den Reichtum nicht mehr zu fassen vermochten. Ich band ihnen die Sträuße mit Binsen zusammen und wie große Schätze trugen sie sie nach Hause.
»Vater«, sagte Wolfgang dann, nachdem er eine Weile still und ernsthaft nachgedacht hatte: »Onkel Nebendahl ist wohl sehr, sehr reich?«
»Warum meinst du das, mein Kind?«
»Weil er so furchtbar schrecklich viele Blumen hat!«
Onkel Nebendahl und seine Frau, die ebenso behäbig, rundlich und glänzend aussah wie ihr Mann, hätten unsere Kinder in aller Gutmütigkeit fast umgebracht, wenn wir nicht stets auf der Hut gewesen wären. Wie so manche Landleute geneigt, das städtische Leben als ein Hungerleben anzusehen, waren sie stets darauf aus, sowohl während als außerhalb der regelmäßigen Mahlzeiten, deren es täglich fünf gab, unsere Kinder bis obenhin voll guten Sachen zu stopfen. In Sonderheit Onkel Nebendahl war der Ansicht, ein ordentlicher Junge auf dem Lande müsse stets, wie er sich ausdrückte, »mit den Vorderfüßen im Fliegenschrank stehen«, so habe er es auch gemacht und er sei darum auch stets ein »Bostbengel« gewesen. Als Mittel, solches Ziel auch bei Wolfgang zu erreichen, empfahl er die reichliche Vertilgung von Butterbroten in der Zwischenzeit und zwar von dem großen Landschwarzbrot, dessen Scheiben ungefähr einen halben Quadratfuß Oberfläche haben. Ein einziges solches Ungetüm, ungefähr zwei Zentimeter dick und mit einem halben Zentimeter Butter und desgleichen Leberkäse darauf, hätte meinen Sohn, der an so schweres Geschütz nicht gewöhnt war, auf der Stelle niedergeworfen.
Helene, obwohl sie ihn im Punkt des Essens ebenfalls nicht befriedigte, war auch sein Liebling. »Diese kleine Dirn'«, sagte er, »is immer vergnügt un so fix zu Bein wie'n Brummküsel, un tanzt un singt un springt den ganzen Tag. Wenn ich manchmal so sitz und grätz mich un ärger' mich über die Wirtschaft, un die kleine Dirn' kommt rein, un so drat sie man in der Tür is, da is sie auch schon bei mir un sitzt mir aufn Schoß un guckt mich an mit'n Gesicht, als wenn die Sonn' in 'n goldenen Becher scheint – ja denn ist aller Ärger gleich weg. Un alle Kreatur is ihr gut, das mit Wasser wird' ich mein Lebtag nicht vergessen.«