Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen
Heinrich Seidel

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Den Garten zeigte mir Hühnchen mit großem Stolz. Die Wasserkunst war fertig und erwies sich als ein kleiner fadendünner Springbrunnen von fast ein Meter Höhe, der sein Gewässer in eine mit bunten Steinchen ausgelegte Schale ergoß.

»Leider ist er ein wenig asthmatisch«, sagte Hühnchen, »denn sein Bassin ist nur klein und muß jede halbe Stunde gefüllt werden. Aber es sieht doch opulent und festlich aus.«

Am Weinstock waren in diesem Jahr fünfzehn Trauben gewachsen, und der Nußbaum trug einundzwanzig Früchte.

»Eigentlich sind es fünfundzwanzig gewesen«, sagte Hühnchen, »allein drei sind vorher abgefallen, und eine war auf unbegreifliche Art verschwunden. Aber noch am selben Abend, als Lore den Kindern, die schon im Bett lagen, gute Nacht sagte, fingen beide an, unermeßlich zu schluchzen und gestanden unter vielen Tränen, wo die vermißte geblieben war. Hans hatte, getrieben vom Dämon der Genußsucht, sie unterschlagen und dann Frieda zur Teilnahme an dieser Untat verführt. Sie waren mit ihrem Raub auf den Boden gegangen und hatten ihn dort gemeinschaftlich verzehrt.«

Wir gelangten nun an den Birnbaum. »Hier ist eine schmähliche Täuschung zu verzeichnen«, sagte Hühnchen; »der Schuster hat sich als ein Lügenbold erwiesen, denn anstatt Bergamotten hat dieser Baum ganz gemeine Kräuterbirnen hervorgebracht. Den Kindern hat es jedoch viel Vergnügen bereitet, denn sie schätzen diese harmlose Frucht ungemein.«

Nach Besichtigung der Menagerie, in der die Säugetiere durch ein schwarzes Kaninchen, die Vogelwelt durch einen jungen Star ohne Schwanz und die Amphibien durch einen melancholischen Laubfrosch vertreten waren, führte mich Hühnchen in einen schattigen Winkel des kleinen Gärtchens, woselbst ein Hügel aus Erde, Unkraut, halb vermodertem Strauchwerk, Laub und Küchenabfällen zusammengesetzt, sich meinen Blicken zeigte.

»Diese Einrichtung bitte ich mit Ehrfurcht zu betrachten«, sagte er, »denn hier schlummert die Zukunft. Dies ist nämlich der Komposthaufen. Kraft und Milde, Süßigkeit und Würze liegen hier begraben, um in späteren Jahren glanzvoll zur Auferstehung zu gelangen und als köstliches Gemüse oder süße Frucht uns zu nähren und zu laben.«

Die Kinder kamen jetzt, jedes mit einem Körbchen und einer Schere ausgerüstet, aus dem Hause, und wir begaben uns in die Laube, woselbst auf dem Tisch eine kleine Kinderkanone aus Messing bereits geladen unser harrte. Hühnchen entzündete feierlich ein Stückchen Feuerschwamm, das an einem Stöckchen befestigt war, und feuerte mit großem Geschick diesen festlichen Böller ab. Er gab einen kleinen zimperlichen Knall von sich, und die Weinlese begann. Bei dem stürmischen Eifer der kleinen Winzer war sie in einer halben Minute beendigt. Auch das festliche Nußpflücken nahm nicht mehr Zeit in Anspruch. Hühnchen nahm nun eine kleine Blechpfeife aus der Tasche, stellte sich an die Spitze seiner Nachkommenschaft und hielt einen feierlichen Umzug durch den Garten, wozu er einen herzbewegenden Marsch in einer verkehrten Melodie nach einem falschen Tempo blies. Nachdem dieser Umzug beendet und die eingesammelten Früchte abgeliefert waren, machte sich Hühnchen an die Vorbereitungen zum Feuerwerk, da die Dunkelheit bereits hereingebrochen war. Nach einer erwartungsvollen Pause ward es durch einen der bereits bekannten Böllerschüsse eingeleitet. Der erste Teil bestand aus einem großartigen Sprühteufel, an den mindestens für fünfundzwanzig Pfennig Pulver verschwendet war.

Den größten Effekt machte aber der zweite Teil, die bengalische Beleuchtung des Springbrunnens, eine Nummer, die einstimmig da capo begehrt wurde. Diesem ehrenden Verlangen konnte aber keine Folge gegeben werden, weil das Pulver alle war. »Ohne Rakete ist die Sache eigentlich nur halb, allein das geht wegen der Nachbarschaft nicht«, sagte Hühnchen dann, »aber ich verstehe mich herrlich auf eine ganz gefahrlose Sorte.«

Damit steckte er einen Finger in den Mund und machte so täuschend das Geräusch einer steigenden und platzenden Rakete nach, daß wir in die Hände klatschten und bewundernd »Ah!« riefen, wie die Leute zu tun pflegen, wenn der bunte Sternenregen leuchtend hervorblüht. Natürlich immer mit Ausnahme der steifen alten Jungfer mit der glänzenden Vergangenheit. Diese saß wie eine feierliche alte Mumie da und sah unergründlich aus.

Das Abendessen war dem glanzvollen Verlauf dieser Festlichkeit vollkommen angemessen. An jedem Platz lag ein fein beschriebenes Kärtchen mit folgendem Inhalt:

Menü

1. Speisen

Pellkartoffeln mit Hering. Dazu Zwiebeln und Speck.
(NB. Kartoffeln und Zwiebeln eigenes Wachstum.)
Kartoffelpfannkuchen mit Johannisbeeren.
(NB. Spezialität der Frau Hühnchen.)

*

Butter und ganz alter Berliner Kuhkäse.

*

Weintrauben, Walnüsse. (Eigenes Wachstum.)

*

2. Getränke.

Doppelkümmel von Gilka
und Bier aus der weltberühmten Brauerei
des Herrn Patzenhofer in Berlin.

Gewürzt war dies köstliche Mahl durch die außerordentlichsten Tischreden von Hühnchen und in der ersten Pause durch den gemeinschaftlichen Gesang des schönen Liedes von Matthias Claudius:

»Pasteten hin, Pasteten her,
Was kümmern uns Pasteten?«...

Mit besonderem Nachdruck ward die letzte Strophe von Hühnchen hervorgeschmettert:

»Schön rötlich die Kartoffeln sind
Und weiß wie Alabaster!
Sie däu'n sich lieblich und geschwind
Und sind für Mann und Weib und Kind
Ein rechtes Magenpflaster.«

Die alte Dame saß wiederum steif und unverstanden da, benutzte aber die Ablenkung der allgemeinen Aufmerksamkeit dazu, mit merkwürdiger Gewandtheit heimlich einen Kümmel zu trinken. Als ich danach ihre rötliche Nasenspitze, die einzige farbige Abwechslung in ihrem langen, grauweißlichen Gesicht, betrachtete, mußte ich im stillen mit dem vortrefflichen Menschenkenner Wilhelm Busch denken:

»Es ist ein Brauch von alters her:
Wer Sorgen hat, hat auch Likör!«

Wir gelangten allmählich zu den Früchten, und hier muß ich über einen Akt der Verschwendung berichten, den ich in diesem Haus nicht erwartet hatte. Hühnchen ließ sich darüber, als die letzte Traube von der Schüssel verschwunden war, in dieser Weise aus:

»Wie lange und sorgfältig hat nicht die Natur gearbeitet mit Frühlingsregen und Sommersonnenschein, um diese Trauben zu reifen. Monate gingen dahin, um diese milde Süßigkeit hervorzubringen, die nun in wenig Augenblicken verschlampampt wird. Aber das gefällt mir – es erhebt meine Seele und erfüllt mein Gemüt mit Genugtuung. Die Erde ist mein, und ich gebiete ihr. Was sie in sorglich langer Arbeit mühsam zeitigt, ist gerade gut genug, einen flüchtigen Augenblick lang meine Zunge zu ergötzen.«

Dann kam das Tanzvergnügen. Frau Lore saß am Klavier und spielte einen altertümlichen Walzer, der der Brümmerwalzer hieß und sich seit Jahren in der Familie fortgeerbt hatte. Es war der einzige Tanz, den sie konnte. Die alte Dame nahm meine Aufforderung mit einem ungeheuren Knicks entgegen und tanzte mit mir wie ein feierliches Lineal, während Hühnchen mit seinem Töchterlein erklecklich umherhopste. Als ich nach dem Tanz neben dem Fräulein saß, ward es etwas aufgeknöpfter, und während die beiden Kinder nun munter nach dem Takt des Brümmerwalzers herumsprangen, geruhte sie, mir allerlei anzuvertrauen.

»Die Hühnchens sind gute Leute«, sagte sie, »aber wenn man sich zeitlebens in der besseren Gesellschaft bewegt hat, wie ich, da muß man sagen, sie haben keine Lebensart. Ich habe mir viel Mühe gegeben mit den Kindern, ihnen ein wenig gutes Benehmen, Anstand und Grazie beizubringen; aber hopsen sie da nicht wie die Bauernkinder? Und wie laut sie lachen. Ja, das liegt im Blut, das muß angeboren sein. Meine Schwester, die Ministerialrätin Ritzebügel, hat eine Tochter in gleichem Alter; aber welch ein Unterschied! Diese Tournüre und diese feinen Manieren, die das Mädchen hat – keine Hofdame hat ein besseres Benehmen. Als das Kind noch in der Wiege lag, da bewegte es die Händchen schon so, daß man nichts Graziöseres sehen konnte. Nie werden Sie das Mädchen laufen oder sonst etwas tun sehen, das sich nicht schickt.«

In diesem Augenblick rief mich Hühnchen, um mir seinen Plan zu zeigen für die Bewirtschaftung seines Gartens im nächsten Jahr.

»Entschuldige, daß ich eure Unterhaltung störe«, sagte er; »aber das mit dem Plan ist nur ein Vorwand. Sieh mal, die alte Dame wird ewig von Zahnschmerzen gequält. Ich habe heute schon mehrfach gesehen, daß sie mit leidendem Ausdruck die Hand an die Backe legt. Nun weiß ich, daß ein wenig Alkohol ein gutes Linderungsmittel für dies Leiden ist. Im Vertrauen gesagt, sie hat oben ein Schränkchen mit einigen großen Flaschen, aus denen sie von Zeit zu Zeit einen Eßlöffel voll gegen diese häßlichen Schmerzen nimmt. Ich möchte ihr das kleine Gläschen wieder füllen, das hinter ihr steht. Da ich nun weiß, sie hätte es nicht gern, wenn du dies sehen würdest – du weißt ja, wie so alte Damen sind – so habe ich dich da weggerufen. Siehst du, darum.«

Dann schlich er sich leise hinterrücks herzu und füllte das Gläschen wieder. Als ich es nach einer Minute in Augenschein nahm, war es leer. Die Flasche stand aber in der Nähe, und ich bemerkte, daß Hühnchen sich noch öfter heimlich dort zu tun machte.

Schließlich ward die alte Dame noch ganz aufgeräumt, begab sich nach vielem Bitten an das Klavier und sang mit einem dünnen Stimmlein: »Ich grolle nicht«, wozu sie das kleine, heisere Klavier gar erbärmlich wimmern ließ. Dies schien aber die Saiten ihres Innern allzu heftig zu bewegen, denn nachher ward sie sehr melancholisch und schluchzte erklecklich. Sie sagte, sie hätte niemals dieses Lied singen sollen, an das so traurige Erinnerungen geknüpft wären. Dann seufzte sie kläglich: »O, meine Jugend!« und ward schließlich von Frau Lore hinaufgebracht.

»Sie hat viel Trauriges erlebt«, sagte Hühnchen, und fügte dann mitleidig hinzu: »Das arme, alte, einsame Geschöpf!«

Da nun das reichhaltige Programm abgewickelt und die Zeit gekommen war, da der Zug nach Berlin abging, verabschiedete ich mich ebenfalls, und somit nahm das Fest der Weinlese bei Leberecht Hühnchen ein Ende.


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