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Sie traten in die Höhle dunkel ein,
Dort saß der Mann des Weh's in düstrer Pein,
Dem finstern Drang des Grames hingegeben.
Spencer.
Es war Herr Ratcliffe, welcher sich dem Kummer der Miß Vere aufdrängte. Ellieslaw hatte in der Aufregung seiner Gefühle es vergessen, den Befehl, daß Herr Ratcliffe herbeigerufen würde, zurückzukehren, so daß jener die Thüre mit den Worten eröffnete: »Ihr habt mich rufen lassen, Herr Vere,« dann aber fügte er, sich umsehend, hinzu – »Miß Vere allein, auf dem Boden und in Thränen!«
»Verlaßt mich, Herr Ratcliffe,« sagte die unglückliche junge Dame.
»Ich darf Euch nicht verlassen,« sagte Ratcliffe, »ich habe zu wiederholtenmalen um Zutritt bei Euch nachgesucht, um Abschied von Euch zu nehmen, ich wurde jedoch zurückgewiesen, bis Euer Vater selbst mich rufen ließ. Tadelt mich nicht, wenn ich dreist und zudringlich bin; ich bin dieß jetzt allein, weil mir die Vollbringung einer Pflicht obliegt.«
»Ich kann Euch jetzt nicht anhören – ich kann nicht mit Euch reden, Herr Ratcliffe, empfangt meine besten Wünsche, und verlaßt mich um Gottes willen.«
»Sagt mir nur,« fragte Herr Ratcliffe, »ob es wahr ist, daß diese gräßliche Heirath wirklich stattfindet, und zwar noch heute Abend? Ich hörte, daß die Bedienten auf der Treppe dieß verkündigten; ich hörte Befehle, die Kapelle auf heute Abend herzurichten.«
»Schont meiner, Herr Ratcliffe,« erwiderte die unglückliche Braut, »und urtheilt nach dem Zustande, worin Ihr mich findet, über die Grausamkeit Eurer Fragen.«
»Sollt Ihr Euch verheirathen, und zwar mit Sir Frederik Langley? sogar noch heute Abend? es darf nicht, es kann nicht und es soll nicht geschehen.«
»Es muß geschehen, Herr Ratcliffe, oder mein Vater ist zu Grunde gerichtet.«
»Ha, ich verstehe,« erwiderte Ratcliffe; »Ihr also habt Euch geopfert, um ihn zu retten, der – möge jedoch die Tugend des Kindes die Fehler des Vaters sühnen – es ist keine Zeit, sie herzuzählen – was kann geschehen? Die Zeit drängt – ich weiß nur ein Mittel – innerhalb vierundzwanzig Stunden würde ich viele finden – Miß Vere, Ihr müßt den Schutz des einzigen, menschlichen Wesens anflehen, welches die Gewalt besitzt, den Lauf der Ereignisse aufzuhalten, die Euch fortzureißen drohen.«
»Und welches menschliche Wesen,« erwiderte Miß Vere, »besitzt solche Gewalt?«
»Erschreckt nicht, wenn ich es nenne,« erwiderte Ratcliffe, indem er näher trat und in leiser aber deutlicher Stimme sprach: »es ist derselbe Mann, den man Elshender, den Klausner von Mucklestane, nennt.«
»Ihr seid wahnsinnig, Herr Ratcliffe, oder Ihr wollt mein Elend durch übel angebrachte Scherze verspotten?«
»Junge Dame, ich bin ebensowohl bei Sinnen, wie Ihr,« sagte ihr Rathgeber. »Ich pflege nicht eitlen Scherz zu treiben, noch viel weniger mit dem Elend, am wenigsten vermag ich, das Eure zu verhöhnen. Ich schwöre Euch, daß dieses Wesen, der ein ganz anderer Mann zu sein scheint, wie er ist, die Mittel wirklich besitzt, um Euch von dieser verhaßten Verbindung zu erlösen.«
»Und zugleich meines Vaters Sicherheit zu verbürgen?«
»Ja, sogar dieß,« sagte Ratcliffe, »wenn Ihr seine Sache bei ihm vertretet; wie könnt Ihr aber Zutritt zum Klausner erhalten?«
»Deßhalb hegt keine Besorgniß,« sagte Miß Vere, indem sie sich plötzlich des Vorfalls mit der Rose erinnerte. Jetzt fällt mir ein, daß er nur den Wunsch aussprach, ich möchte ihn um seine Hülfe in meiner äußersten Noth ersuchen; er gab mir diese Blume als Zeichen, ehe dieselbe gänzlich verwelke, würde ich, wie er sagte, seiner Hülfe bedürfen; ist es möglich, daß seine Worte etwas Anderes waren, als die Raserei des Wahnsinns?«
»Zweifelt nicht, fürchtet nicht, vor Allem aber,« sagte Ratcliffe, »verliert keine Zeit – seid Ihr in Freiheit und unbewacht?«
»Ich glaube das,« erwiderte Isabelle; »was aber soll ich thun?«
»Verlaßt sogleich das Schloß,« sagte Ratcliffe, »und werft Euch diesem außerordentlichen Manne zu Füßen, welcher in Umständen, wie sie den äußersten Grad der verächtlichsten Armuth zu bezeugen scheinen, einen beinahe unumschränkten Einfluß über Euer Schicksal besitzt – Gäste und Diener sitzen beim Gelage, die Führer bereden sich im Geheimen über ihre verrätherischen Entwürfe – mein Pferd steht im Stalle bereit – ich werde eins für Euch satteln, und Euch am kleinen Gartenthor erwarten – laßt Euch durch keinen Zweifel an meiner Treue und Klugheit bewegen, daß Ihr den einzigen in Eurer Gewalt liegenden Schritt, um dem furchtbaren Schicksal zu entgehen, unterlaßt, welches Euch als die Gemahlin des Sir Frederik Langley zu Theil werden muß.«
»Herr Ratcliffe,« sagte Miß Vere, »Sie wurden immer als Mann von Ehre und Rechtlichkeit geschätzt, und ein Ertrinkender wird stets den schwächsten Zweig zu seiner Rettung ergreifen – ich will Euch vertrauen – ich will Eurem Rathe folgen – ich will mich Euch am Gartenthor anschließen.«
Sie verriegelte die äußere Thüre ihres Gemaches, sobald Herr Ratcliffe sie verließ, und stieg in den Garten durch eine besondere Treppe hinab, welche in ihr Ankleidezimmer ausging. Unterwegs empfand sie einige Neigung, ihre so schnell gegebene Einwilligung zu einem so hoffnungslosen und ausschweifenden Plane zurückzunehmen, als sie aber beim Herabsteigen der Hintertreppe an einer Thür vorüberkam, welche in die Kapelle führte, vernahm sie die Stimmen der weiblichen Dienerinnen, welche mit Reinigung der letzteren beschäftigt waren.
»Sie soll heirathen, und einen so schlechten Mann? lieber alles Andere, wie das!«
»Sie haben recht,« dachte Miß Vere, »lieber alles Andere, wie das!«
Sie eilte in den Garten. Herr Ratcliffe hatte sein Versprechen gehalten – die Pferde standen am Gartenthor gesattelt, und nach wenigen Augenblicken sprengten sie schnell zur Hütte des Einsiedlers.
So lange der Boden günstig blieb, war ihr Ritt so schnell, daß sie nicht viel mit einander reden konnten; als aber ein steiler Abhang sie nöthigte, die Hastigkeit ihrer Pferde zu mindern, drängte sich eine neue Besorgniß der Miß Vere auf.
»Herr Ratcliffe,« sagte sie, indem sie den Zügel ihres Pferdes anzog, »laßt uns unsern Ritt nicht weiter fortsetzen, dessen Unternehmung von meiner Seite nur die äußerste Aufregung meiner Seele rechtfertigen kann. Ich weiß wohl, daß dieser Mann bei der Volksmasse als ein Wesen mit übernatürlichen Kräften gilt, welches mit der andern Welt im Verkehr steht, ich möchte aber nicht, daß Ihr meintet, ich würde durch solche Thorheiten getäuscht, oder auch nur, daß ich, wenn ich wirklich an solche Dinge glaubte, wegen religiöser Gefühle mich an dieß Wesen in meinem Elend wenden könne.«
»Ich hätte glauben sollen, Miß Vere,« erwiderte Ratcliffe, »daß mein Charakter und meine Denkweise zu gut bekannt wären, um mich vor Ihnen gegen den Vorwurf zu rechtfertigen, als hätte ich den Glauben an solche Abgeschmacktheiten jemals begünstigen wollen.«
»In welch' andrer Weise aber,« sagte Isabelle, »kann ein offenbar so elendes Wesen Gewalt zu meinem Beistande besitzen?«
»Miß Vere,« sagte Ratcliffe nach augenblicklicher Pause, »ich bin durch einen feierlichen Eid zu Geheimhaltung verpflichtet, Ihr müßt Euch ohne weitere Erklärung von meiner Seite mit meiner Versicherung und meinem Worte begnügen, daß er die Gewalt besitzt, wenn Ihr bei ihm den Willen erwecken werdet, und ich zweifle nicht daran, daß Ihr dieß vermögt.«
»Herr Ratcliffe,« sagte Miß Vere, »Ihr irrt Euch vielleicht selbst, Ihr verlangt einen unbegrenzten Grad des Vertrauens von mir.«
»Gedenkt, Miß Vere,« erwiderte er, »des Falles, worin Ihr aus Menschlichkeit mich batet, zu Gunsten Haswells und seiner zu Grund gerichteten Familie bei Eurem Vater einzuschreiten – als Ihr mich ersuchtet, ihn zu einer Handlung zu bewegen, welche seiner Natur am meisten widerstrebte – zur Vergebung einer Beleidigung oder Nachlaß einer Strafe – damals machte ich Euch zur Bedingung, daß Ihr keine Fragen hinsichtlich der Quelle meines Einflusses an mich richten solltet – Ihr fandet damals keinen Grund zum Mißtrauen – mißtraut mir auch jetzt nicht.«
»Allein das außerordentliche Leben dieses Mannes,« sagte Miß Vere, »seine Absonderung – seine Gestalt – sein Menschenhaß, den er als tiefgewurzelt in seiner Sprache äußern soll – Herr Ratcliffe, was soll ich von ihm denken, wenn er wirklich die Gewalt besitzt, die Ihr ihm zuschreibt?«
»Dieser Mann, junge Dame, war als Katholik erzogen, eine Sekte, welche tausend Beispiele von Leuten darbietet, die sich aus Macht und Ueberfluß in freiwillige Entbehrungen zurückgezogen, die noch herber und strenger sind, als die seinigen.«
»Er gesteht ja aber keine religiösen Beweggründe ein,« erwiderte Miß Vere.
»Nein,« erwiderte Ratcliffe – »Widerwillen gegen die Welt hat ihn bewogen, sich ohne den Schleier des Aberglaubens aus derselben zurückzuziehen. So weit darf ich Ihnen Mittheilungen über ihn machen. – Er war der Erbe eines großen Vermögens, dessen Vergrößerung seine Eltern außerdem durch eine Verbindung mit einer weiblichen Verwandten beabsichtigten, die zu dem Zweck in ihrem Hause erzogen wurde. Ihr habt seine Gestalt gesehen, urtheilt somit über die Gedanken, welche die junge Dame hinsichtlich dieses ihr bestimmten Schicksals gehegt haben muß. Sie war jedoch an seine Erscheinung gewöhnt und zeigte gegen ihn keinen Widerwillen. Die Verwandten von – der Person, wovon ich rede, hegten keinen Zweifel, daß die Stärke seiner Anhänglichkeit, die mannigfache Ausbildung seines Geistes, seine vielen liebenswürdigen Eigenschaften den natürlichen Abscheu überwunden hätten, welchen die für ihn bestimmte Braut über ein so furchtbar widerliches Aeußere unterhalten haben mußte.«
»War ihre Ansicht die richtige?« fragte Isabelle.
»Ihr werdet es hören, wenigstens war er sich seines Mangels sehr wohl bewußt; das Gefühl desselben ängstete ihn wie ein Gespenst; ›ich bin,‹ äußerte er gegen mich – ich meine gegen einen Mann, zu dem er Vertrauen hegte – ›ich bin ungeachtet alles dessen, was Ihr mir sagt, ein armer, elender Verstoßener, für den es besser wäre, wenn man ihn in der Wiege erstickt hätte, als daß man ihn auferzog, um eine Vogelscheuche der Welt zu sein, in welcher ich umherkrieche.‹ Die Person, an welche er diese Worte richtete, bemühte sich vergeblich, ihm denjenigen Eindruck der Gleichgültigkeit gegen äußere Form zu ertheilen, welche das natürliche Ergebniß der Philosophie ist, oder ihn zu ersuchen, daß er der Ueberlegenheit seiner geistigen Talente über die mehr anlockenden Eigenschaften gedenke, welche nur persönlicher Art sind. ›Ich höre Euch,‹ pflegte er alsdann zu antworten. ›Allein Ihr führt die Sprache des kaltblütigen Stoikers, oder wenigstens die des parteiischen Freundes. Durchsucht aber jedes Buch, welches wir lasen, mit Ausnahme solcher über diejenige abstrakte Philosophie, für welche keine Stimme des Anklangs in unseren natürlichen Gefühlen sich vorfindet. Ist nicht die persönliche Form, wenigstens eine solche, wenn sie ohne Abscheu und Widerwillen ertragen werden kann, nicht stets als wesentliche Bedingung unserer Vorstellung von einem Freunde, um so mehr, von einem Liebhaber erwähnt? Wird nicht ein so mißgestaltetes Ungeheuer, wie ich, sogar durch den Befehl der Natur von den schönsten Genüssen derselben ausgeschlossen? Verhindert nicht allein mein Reichthum, daß alle Menschen – sogar vielleicht Lätitia oder vielleicht Ihr – als ein eurer Natur entfremdetes oder noch verhaßteres Geschöpf mich meidet, weil ich jene verdrehte Aehnlichkeit der Menschengestalt euch zeige, die wir in jener Thierfamilie beobachten, welche dem Menschen um so verhaßter ist, weil sie seine Karrikatur zu sein scheint.‹«
»Ihr wiederholt die Gefühle eines Wahnsinnigen,« sagte Miß Vere.
»Nein,« erwiderte ihr Führer; »wenn man nicht eine krankhafte und übermäßige Empfindlichkeit über einen solchen Gegenstand als Wahnsinn bezeichnen will. Ich will jedoch nicht läugnen, daß seine vorherrschenden Gefühle und Besorgnisse die Person, welche dieselben hegte, zu einem Uebermaß trieb, welches eine verwirrte Einbildungskraft anzeigte. Er schien zu glauben, es sei nothwendig für ihn, durch übertriebene und nicht immer gut angebrachte Aeußerungen der Freigebigkeit und sogar der Verschwendung sich mit dem Menschengeschlecht zu vereinigen, von welchem er sich als natürlich losgerissen dachte. Die Wohlthaten, die er aus einem natürlich menschenfreundlichen Charakter in einem ungewöhnlichen Grade spendete, wurden durch den Einfluß des stets ihn anstachelnden Gedankens übertrieben, von ihm werde mehr als von Andern erfordert; er verschwendete seine Schätze, als wolle er die Menschen bestechen, um ihn als Ihresgleichen anzuerkennen. Ich brauche kaum zu bemerken, daß die aus einer so launenhaften Quelle entspringende Mildthätigkeit oft mißbraucht und sein Vertrauen häufig verrathen ward. Die Täuschungen, welche mehr oder weniger Alle, hauptsächlich aber Solche erleiden, welche Wohlthaten ohne gerechten Unterschied vertheilen, bestärkten seine kranke Phantasie in dem Menschenhaß und in der Verachtung, welche seine persönliche Häßlichkeit hervorrief – allein ich ermüde Euch, Miß Vere.«
»Durchaus nicht, ich konnte nur nicht verhindern, daß meine Aufmerksamkeit einen Augenblick abgelenkt wurde; ich bitte Euch fortzufahren.«
»Er wurde zuletzt,« fuhr Ratcliffe fort, »der sinnreichste Selbstquäler, von welchem ich jemals gehört habe; der Hohn des Volkes und der Spott des noch roheren Pöbels über seinen Rang war für ihn die Folter auf dem Rade. Er betrachtete das Gelächter des gemeinen Volkes, dem er auf der Straße begegnete, sowie das unterdrückte Kichern, und den noch anstößigeren Schauder junger Mädchen, denen er in Gesellschaft vorgestellt wurde, als Beweise der wirklichen Gefühle, welche die Welt über ihn hege; er hielt sich selbst für ein ungewöhnliches Geschöpf, welches unter den Menschen nicht mit den gewöhnlichen Bedingungen der Gesellschaft aufgenommen werden könne; er glaubte die Weisheit seiner Absicht, sich von den Menschen zurückzuziehen, werde dadurch gerechtfertigt. Er schien sich nur auf die Treue und Aufrichtigkeit zweier Personen unbedingt zu verlassen – auf diejenige seiner verlobten Braut und eines in äußeren Gaben ausgezeichneten Freundes, welcher aufrichtige Anhänglichkeit gegen ihn zu haben schien und wahrscheinlich auch hegte. Er hätte wenigstens dieselbe hegen sollen, denn er ward im buchstäblichen Sinne des Wortes mit Wohlthaten von demjenigen überschüttet, den Ihr jetzt zu besuchen im Begriffe steht. Die Eltern des Herrn, von welchem meine Geschichte handelt, starben in kurzer Zeit nach einander. Ihr Tod verzögerte die Verheirathung, für welche der Tag schon festgesetzt war. Die Dame schien den Verzug nicht sehr zu bedauern – vielleicht war dieß nicht zu erwarten; sie gab jedoch keine Aeußerung, daß sie ihre Absicht geändert habe, als ein zweiter Tag nach einem passenden Zeitraume für die Verbindung festgesetzt wurde. Der Freund, von welchem ich rede, lebte fortwährend im Schlosse; zu böser Stunde schlossen sich Beide, der Herr, von welchem ich rede, auf das ernstliche Gesuch und die Bitten seines Freundes einer allgemeinen Gesellschaft an, worin Männer von verschiedenen politischen Parteien sich einfanden und wo viel getrunken wurde. Es folgte ein Streit; der Freund des Klausners zog nebst Andern den Degen, wurde von einem stärkeren Gegner zu Boden geworfen und entwaffnet. Beide fielen im Ringen zu den Füßen des Klausners nieder, welcher, so verstellt und krüppelhaft seine Gestalt erscheinen mag, dennoch ebenso große Körperkraft, wie heftige Leidenschaften besitzt. Er griff ein Schwert auf, durchstieß dem Gegner seines Freundes das Herz, und ward vor Gericht gestellt. Sein Leben wurde mit Schwierigkeit der Gerechtigkeit entzogen und er erlitt die Strafe des Todschlags in einem Jahre strengen Gefängnisses. Der Gegenstand ergriff ihn tief, um so mehr, da der Getödtete ein Mann von ausgezeichnetem Charakter war und grobe Beschimpfung erlitten hatte, bevor er den Degen zog. Von dem Augenblick glaubte ich zu bemerken, ich bitte um Verzeihung – die Anfälle krankhafter Empfindlichkeit, welche diesen unglücklichen Herrn gequält hatten, wurden von jetzt an um so heftiger durch Gewissensvorwürfe, die er unter allen Menschen am wenigsten fähig war, sich aufzubürden oder zu ertragen, wenn sie ihm durch sein unglückliches Loos anheimfielen. Seine heftigen Anfälle der Zerknirschung konnten der Dame nicht verborgen bleiben, mit welcher er verlobt war; auch muß man gestehen, daß sie von erschreckender und furchtbarer Natur waren. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß er nach dem Verlauf seines Gefängnisses mit seiner Frau und seinem Freunde eine Gesellschaft bilden könne, in deren Umgebung sich die ausgedehntere Verbindung mit der Welt entbehren lasse. Er ward getäuscht; bevor die Zeit verlief, war sein Freund und seine Verlobte Mann und Weib. Die Wirkung eines so furchtbaren Schlages auf ein so glühendes Temperament, auf einen durch heftige Gewissensbisse schon verbitterten Charakter, welcher ohnedem dadurch aus den Fugen gerathen war, daß jener Mann sich einer finsteren Einbildungskraft von anderen Menschen abgesondert überließ – diese Wirkung kann ich Euch nicht beschreiben; es schien, als ob das letzte Tau, woran das Schiff noch hing, plötzlich abgerissen sei, so daß letzteres aller wilden Wuth des Sturmes überlassen wurde. Er ward unter ärztliche Aufsicht gestellt. Diese Maßregel wäre, auf einige Zeit getroffen, zu rechtfertigen gewesen, allein sein hartherziger Freund, welcher in Folge seiner Ehe jetzt sein nächster Verwandter war, verlängerte seine Einsperrung, um die Einkünfte seiner ungeheuren Güter um so länger zu genießen. Nur ein Mann war noch übrig, welcher Alles dem Leidenden verdankte, ein demüthiger, aber dankbarer und treuer Freund. Diesem gelang es zuletzt, durch unaufhörliche Bemühung und wiederholte Berufung auf Gerechtigkeit die Freiheit und Wiedereinsetzung seines Beschützers in die Verwaltung seines Vermögens zu erlangen; zu letzterem kam noch bald dasjenige der für ihn früher bestimmten Braut; da diese ohne männliche Nachkommenschaft starb, so fielen ihm die Güter als Erben anheim. Das Gleichgewicht seiner Seele ließ sich jedoch nicht durch Freiheit und Reichthum wiederherstellen; gegen die erstere war er gleichgültig wegen seines Grams; der letztere diente ihm nur insoweit, als er ihm die Mittel gewährte, seinen sonderbaren und launischen Einfällen zu dienen. Er hatte den katholischen Glauben abgeschworen; vielleicht aber übten einige seiner Lehren noch fortwährend Einfluß auf eine Seele, über welche Gewissensvorwurf und Menschenhaß von jetzt an eine unbegrenzte Herrschaft einnahm. Sein Leben war jetzt abwechselnd das eines Einsiedlers und Pilgers; er erlitt die strengsten Entbehrungen, nicht in ascetischer Andacht, sondern im Abscheu der Menschen. Dennoch haben die Worte und Handlungen eines Menschen niemals einen so weiten Unterschied geboten, noch war ein elender Heuchler jemals sinnreicher, um gute Beweggründe schlechten Handlungen unterzuschieben, wie dieser unglückliche Mann, um ein Verfahren, welches aus natürlicher Großmuth und mildem Gefühle entspringt, mit den abstrakten Grundsätzen des Menschenhasses in Einklang zu bringen.«
»Dennoch, Herr Ratcliffe, beschreiben Sie mir die Widersprüche, die Unbeständigkeiten eines Wahnsinnigen.«
»Durchaus nicht,« erwiderte Ratcliffe, »ich beabsichtige nicht zu bestreiten, daß die Einbildungskraft dieses Herrn verstört ist; ich habe Euch schon gesagt, daß sie bisweilen in heftige Anfälle ausbricht, welche der wirklichen Geistesverwirrung nahe kommen. Ich rede jedoch nur von seinem gewöhnlichen Geisteszustand; derselbe zeigt Unordnung, aber keine Verstörung; die Schattirungen zwischen beiden sind allmälige, wie solche, welche das Licht des Mittags von der Mitternacht trennen. Der Höfling, welcher sein Vermögen zu Grunde richtet, um einen Titel zu erlangen, der ihm keinen Nutzen oder keine Gewalt einbringt, wovon er keinen passenden oder achtbaren Gebrauch machen kann – der Geizhals, welcher nutzlosen Reichthum aufhäuft, und der Verschwender, der ihn wegwirft – sie haben Alle eine gewisse Schattirung des Wahnsinns. Dieselbe Bemerkung läßt sich auf Verbrecher anwenden, welche Scheußlichkeiten begangen haben, während die Versuchung zu denselben nach der Erkenntniß einer klardenkenden Seele nicht im Verhältniß zu dem Schauder der Handlung, oder der Wahrscheinlichkeit der Entdeckung und Bestrafung steht; jede heftige Leidenschaft läßt sich ebenso wie der Zorn als ein kurzer Wahnsinn bezeichnen.«
»Dieß mag sehr gute Philosophie sein, Herr Ratcliffe,« erwiderte Miß Vere, »allein entschuldigt mich, es gibt mir noch keinen Grund zur Kühnheit, um in dieser späten Stunde eine Person zu besuchen, deren ausschweifende Einbildungskraft Ihr nur beschönigen könnt.«
»So empfangt vielmehr,« sagte Ratcliffe, »meine feierlichen Versicherungen, daß Ihr Euch nicht in die geringste Gefahr begebt. Was ich aber bisher nicht erwähnen mochte, aus Furcht, Euch zu erschrecken, kann ich Euch jetzt, da wir seinen Zufluchtsort sehen können, nicht länger verbergen, denn ich kann denselben im Zwielichte entdecken. Ich darf Euch nicht weiter begleiten, Ihr müßt allein vorwärts gehen.«
»Allein? ich wage es nicht.«
»Ihr müßt,« fuhr Ratcliffe fort, »ich will hier bleiben und Euch erwarten.«
»Ihr wollt also nicht weiter,« sagte Miß Vere, »die Entfernung ist aber so groß, Ihr würdet mich nicht hören können, wenn ich um Hülfe rufen sollte.«
»Fürchtet nichts, sagte ihr Führer, »aber habt wenigstens Acht, jeden Ausdruck der Furchtsamkeit zu unterdrücken. Bedenkt, seine vorherrschende und ihn vorzugsweise quälende Besorgniß entspringt aus dem Bewußtsein seiner Häßlichkeit. Euer Pfad führt in gerader Linie jenseits jener halb gefallenen Weide, haltet Euch links von derselben, rechts liegt der Sumpf. Lebt wohl auf einige Zeit, gedenkt des Unglücks, womit Ihr bedroht seid; es muß zugleich Eure Furcht und Eure Bedenklichkeit überwinden.«
»Herr Ratcliffe,« sagte Isabelle, »lebt wohl; wenn Ihr eine so unglückliche Dame, wie mich, getäuscht habt, so ist der schöne Charakter der Rechtlichkeit und Ehre, dem ich vertraute, auf immer verwirkt.«
»Bei meinem Leben, bei meiner Seele,« rief Ihr Ratcliffe mit lauter Stimme zu, als die Entfernung zwischen Beiden sich mehrte, »Ihr seid in vollkommener Sicherheit.«