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Wir dürfen hierüber nicht vergessen, daß der kleine Harry Bertram, einer der dreistesten und muntersten Knaben, nun bald fünf Jahre alt war. Ein lebhafter Hang zur Natur verleitete ihn frühzeitig zu kleinen Wanderungen, so daß er schon als Kind jeden Pfad rings um die Burg kannte und alle Plätze wußte, wo schöne Blumen blühten und die besten Nüsse wuchsen; und schon mehr als einmal hatte er sich heimlich bis zum Zigeunerdörfchen gewagt. Von da brachte ihn Meg Merrilies gewöhnlich zurück, die zwar, seit ein Neffe von ihr zum Seedienst gepreßt worden, das Schloß nicht mehr betreten wollte, aber ihren Unwillen nicht auf das Kind zu übertragen schien. Sie diente Harry vielmehr bei seinen Wanderungen gern als Führerin, sang ihm Zigeunerliedchen vor, ließ ihn auf ihren Esel reiten und steckte ihm oft ein Stück Pfefferkuchen oder einen rotwangigen Apfel in die Tasche. Sie schien, da man ihr und den Ihrigen jetzt in Ellangowan so unfreundlich begegnete, ihre Freude am Umgang mit dem Kinde zu haben, und weissagte dem jungen Herrn, daß er einst der Stolz des Geschlechtes sein werde. Als der Knabe einmal krank wurde, lag sie die ganze Nacht unter dem Fenster und sang ein Lied, das sie für ein kräftiges Mittel gegen Fieber hielt.
Solche lebhafte Zuneigung einer Zigeunerin erweckte aber Verdacht, wenn auch nicht bei dem Burgherrn, der nie voreilig Argwohn faßte, so doch bei seiner kränklichen, nervösen Frau, die in ihrer zweiten Schwangerschaft schon so weit vorgerückt war, daß sie nicht mehr ausgehen konnte; und da die Wärterin des kleinen Herrn ein junges, unbedachtsames Mädchen war, bat die besorgte Mutter den braven Magister, den Knaben auf seinen Ausflügen zu begleiten, Sampson liebte seinen Pflegling und war entzückt über dessen Fortschritte, hatte er ihn doch schon so weit gebracht, daß er dreisilbige Wörter lesen konnte.
Um diese Zeit hatte der Burgherr sich vorgenommen, die Zigeuner mit Stumpf und Stil auszurotten. Die alten Dienstboten schüttelten die Köpfe darüber, auch Sampson wagte Vorstellungen dagegen zu machen, die aber in die orakelmäßigen Worte: Ne moveas Camcrinam – gekleidet waren – und da weder Anspielung noch Sprache Bertram sympathisch war, nahmen die gegen die Zigeuner eingeleiteten Maßregeln ihren gesetzlichen Gang. Jede Haustür im Dörfchen wurde mit Kreide bestrichen zum Zeichen der förmlichen Mahnung, zum bestimmten Termin von dannen zu ziehen. Die Zigeuner schienen aber nicht weichen zu wollen. Endlich war die gesetzte Frist abgelaufen, der unglückliche Martinstag war da, und man schritt zur Gewalt. Gerichtsfrone forderten die Bewohner zum letztenmal auf, bis zum Mittage zu weichen, und als ihnen nicht gehorcht wurde, begannen sie, dem erteilten Befehle gemäß, die Dächer niederzureißen, Türen und Fenster herauszuheben, wie es noch jetzt in Irland und Schottland zahlungsunfähigen oder widerspenstigen Pächtern gegenüber Brauch ist. Die Zigeuner sahen dem Zerstörungswerk eine Zeitlang mit finsterm Schweigen zu; endlich aber sattelten und bepackten sie ihre Esel und rüsteten sich zum Aufbruche, neue Ansiedelungen unter Menschen aufzusuchen, die nicht zu den »Herren von der Gerechtigkeit« gehörten.
Eine gewisse Beklommenheit hatte es dem Burgherrn rätlich erscheinen lassen, bei der Austreibung seiner alten Freunde abwesend zu sein. Er überließ es den Fronen unter dem Befehle des Zollaufsehers Kennedy, der seit einiger Zeit im Schlosse großes Ansehen genoß, mit den Zigeunern fertig zu werden, und hatte sich für einige Zeit zu einem entfernten Bekannten begeben; aber der Zufall fügte es, daß er, trotz aller Vorsicht, den Zigeunern nicht ausweichen konnte, sondern ihrem Zug in einem Hohlweg begegnete, durch den ein steiler Pfad zu der Anhöhe führte, wo Ellangowan lag. Voran zogen vier bis fünf Männer in langen, fliegenden Röcken, die ihre hohen, schlanken Gestalten verhüllten, während die breitrandigen, niedergeschlagenen Hüte, tief auf die Stirn gedrückt, ihre wilden Züge, schwarzen Augen und verbrannten Gesichter bedeckten. Zwei davon trugen lange Jagdflinten, einer hatte ein breites Schwert ohne Scheide, und alle waren mit dem hochländischen Dolche versehen, den sie aber nicht offen zur Schau trugen. Hinter ihnen folgten beladene Esel und kleine Karren, auf denen die Schwachen und Hilflosen, Greise und Kinder der vertriebenen Gemeinde lagen. Die Weiber in roten Röcken und Strohhüten, und die ältern Kinder, barhaupt und fast nackt, führten den Wagenzug. Der schmale Weg stieg zwischen zwei Sandhügeln hinan, und Bertrams Diener, der voranritt, knallte herrisch mit der Peitsche, die Treiber mahnend, Platz für den Laird zu machen.
»Er soll seinen Teil von der Straße haben,« antwortete ein Zigeuner, ohne den Blick zu erheben: »aber mehr nicht – die Landstraße ist so frei für unsere Esel, wie für seinen Wallachen.«
Da der Ton des Mannes mürrisch, ja drohend war, hielt Herr Bertram es für das beste, seine Amtswürde zu wahren, und auf dem Wege, den man ihm frei lassen wollte, wenn er auch schmal genug war, weiter zu reiten, ohne sein besseres Recht schärfer geltend zu machen. Um seinen Verdruß über den Mangel an Respekt, den er hinnehmen mußte, unter scheinbarer Gleichgültigkeit zu verbergen, wandte er sich zu einem der Zigeuner, der, ohne ihn zu grüßen oder anzusehen, vorbei ging ... »Nun, Baillie,« fragte er, »habt Ihr schon gehört, daß es Euerm Sohn recht gut geht?« Die Frage bezog sich auf den zum Seedienst gepreßten jungen Mann.
»Wenn ich etwas anderes gehört hätte,« antwortete der Alte mit einem finstern drohenden Blicke, »so hättet Ihr auch etwas hören sollen.«
Bertram ritt weiter, ohne noch eine Frage zu wagen.
In dem Gedränge um sich her sah er überall bekannte Gesichter, die jetzt nur Haß und Verachtung aussprachen, sonst aber bei jeder Gelegenheit, wenn sie ihm nahe gekommen, Ehrerbietung ausgedrückt hatten; und als er vorbei war, konnte er nicht umhin, sein Pferd zu wenden und auf den Zug zurückzusehen. Schon hatte die Vorhut ein kleines, verkrüppeltes Dickicht am Fuße des Hügels erreicht, das die lange Reihe allmählich verbarg, bis endlich die letzten Nachzügler verschwanden. Ein schmerzliches Gefühl ergriff ihn. Das Völkchen, das er aus dem alten Zufluchtsorte vertrieben hatte, hatte freilich gar viele Untugenden an sich, aber er hatte ja nie die Hand gerührt, sie zu bessern, Sie waren ja jetzt nicht schlechter, als zu der Zeit, wo sie sich für Hörige seines Hauses halten durften. Mußte denn seine Ernennung zum Friedensrichter solche Verwandlung in seinem Verhalten gegen sie herbeiführen? Hätte er wenigstens nicht einige Besserungsversuche machen sollen, ehe er sieben Familien auf einmal in die weite Welt hinausstieß? Es mußte seinem Herzen wehe tun, von so vielen bekannten Gesichtern zu scheiden, und für solche Regungen war Bertram in seinem beschränkten Geiste besonders empfänglich. Als er sein Pferd wendete, um weiter zu ziehen, erschien Meg Merrilies, die hinter dem Zuge geblieben war, unerwartet auf einer der hohen Wände, die über den Hohlweg hingen, frei im Rahmen des klaren blauen Himmels stehend, fast in übermenschlicher Größe. In ihrem Anzuge, oder vielmehr in ihrer Art, die Kleidung zu ordnen, lag etwas von ausländischer Sitte, zu deren Annahme sie sich hauptsächlich wohl deshalb verstanden, um ihre Zaubersprüche und Wahrsagungen in wirksamem Lichte erscheinen zu lassen. Um den Kopf gewunden trug sie ein großes Stück rotes Baumwollenzeug in Gestalt eines Turbans, und mit ungewöhnlichem Feuer glänzten ihre Augen darunter hervor. Ihr langes schwarzes Haar floß in wilden Locken aus den Falten dieses seltsamen Kopfputzes. Wie eine verzückte Prophetin stand sie da, in der ausgestreckten Rechten einen jungen Baumzweig haltend, den sie gerade gepflückt zu haben schien.
»Ich will verdammt sein,« sprach der Reitknecht, »wenn sie nicht die jungen Esche im Park abgeschnitten hat.«
Der Laird antwortete nicht, sondern hielt die Blicke auf die über dem Wege stehende Gestalt gerichtet.
»Reitet Eures Weges, Laird von Ellangowan!« sprach die Zigeunerin. »Heute habt Ihr sieben rauchende Herde ausgelöscht; seht zu, ob das Feuer in Eurer eigenen Wohnung darum heller brenne. Ihr habt von sieben Hütten die Dächer abgerissen; seht zu, ob Euer eigenes Dach desto fester stehe. Ihr könnt Eure Rinder in die Hütten zu Derneleugh stellen; seht zu, daß sich der Haß nicht auf dem Herdstein von Ellangowan ein Lager bereite. Reitet Eures Wegs, Richter Bertram! Warum schaut Ihr unsern Leuten so nach? Hier sind dreißig Herzen; sie hatten eher das Brot entbehrt, als Euch einen Bissen fehlen zu lassen, und eher ihr Herzblut hingegeben, als Euch den Finger ritzen zu lassen. Ja, dreißig sind's, von dem alten Weibe von hundert Jahren bis zu dem Buben, der vor acht Tagen geboren ward, und Ihr habt sie alle aus ihren Hütten geworfen, daß sie mit den Füchsen und dem Birkhahn auf dem Moore schlafen müssen. Reitet Eures Weges, Ellangowan! Unsere Kinder hängen auf unsern müden Rücken; seht zu, daß Eure Wiege daheim besser gebettet sei. Nein, ich wünsche nichts Böses dem kleinen Harry oder dem Kindlein, das soll noch geboren werden, Gott verhüte es, und mache es freundlich gegen die Armen und besser, als sein Vater ist! Und nun reitet Eures Weges! denn dies sind die letzten Worte, die Ihr je von Meg Merrilies hören sollt, und dies ist das letzte Reis, das ich schneiden werde in den lieben Wäldern von Ellangowan.«
Mit diesen Worten zerbrach sie den Baumzweig, den sie in der Hand hielt, und warf ihn in den Weg. Der Laird wollte seine Stimme erheben und steckte die Hand in die Tasche, um ein Geldstück zu suchen; aber die Zigeunerin wartete weder auf seine Antwort noch auf seine Gabe, sondern schritt vom Hügel hinab, den Zug einzuholen, Ellangowan ritt gedankenvoll heim, und es war gewiß merkwürdig, daß er seinen Angehörigen von dieser Zusammenkunft nichts mitteilte. Der Reitknecht aber, weniger zurückhaltend, erzählte die ganze Geschichte in der Küche und schloß mit der Beteuerung, wenn je der Teufel aus einem Weibermunde geredet, so habe er an diesem heiligen Tage aus Meg Merrilies gesprochen.