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Die Gestalt Annas von Geierstein schwebte an ihrem Geliebten – an ihrem Bewunderer, wie wir ihn mindestens nennen müssen – rasch wie ein Hauch vorüber, dabei aber klar und unverkennbar. Im selben Augenblick, als der junge Engländer sich seiner Kleinmut entriß und seiner Pflicht als Schildwache gedachte, kam die Gestalt von der Brücke herüber, kreuzte Arthurs Weg, ohne ihm einen Blick zu gönnen, und ging mit raschem, doch festem Schritte dem Waldrande zu.
Obwohl Arthurs Weisung lautete, niemand anzurufen, der das Schloß verließ, sondern nur diejenigen anzuhalten, die sich der Feste näherten, so wäre es doch natürlich gewesen, sollte es auch nur aus Höflichkeit geschehen sein, wenn er das Mädchen angesprochen hätte, als es ihm über den Weg strich. Allein sie tauchte so plötzlich auf, daß ihm für den Augenblick Sprache und Bewegung genommen war.
Nicht minder natürlich wäre es gewesen, wenn Anna von Geierstein, ob auch nur flüchtig, Notiz von dem jungen Manne genommen hätte, der eine Zeitlang mit ihr unter einunddemselben Dache gewohnt hatte; doch gab sie nicht durch die geringste Gebärde zu verstehen, daß sie ihn erkenne. Ja, sie vermied sogar, ihn anzusehen, als sie vor ihm vorbeischritt, ihr Blick war dem Walde zugewendet, dem sie schnellen, festen Schrittes zueilte; und noch bevor Arthur wußte, was er tun sollte, hatten die Baumstämme sie schon seinen Blicken entzogen.
Seine erste Empfindung war Verdruß über sich selbst, daß er sie so unbefragt hatte hineilen lassen. Vielleicht war sie zu so ungewöhnlicher Stunde an einen ungewöhnlichen Ort berufen worden, und er hätte ihr dabei behilflich sein, ihr wenigstens einen Rat erteilen können. Mit diesem Gedanken eilte er der Stelle zu, wo er den Saum ihres Gewandes hatte verschwinden sehen, rief nach ihr und bat sie, zurückzukehren und ihn nur wenige Minuten lang anzuhören. Doch er erhielt keine Antwort, und als er sich im finstern Walde sah, erinnerte er sich, daß er seinen Posten verlassen und seine Reisegefährten, die seiner Wachsamkeit trauten, der Gefahr eines Ueberfalls ausgesetzt hätte. Deshalb eilte er zurück zu dem Tore der Feste. Vergebens fragte er sich, in welcher Absicht das sittsame junge Mädchen, deren Benehmen zwar so offen war, die sich jedoch stets so zart und zurückhaltend benommen hatte, um Mitternacht gleich einer umherirrenden Romanheldin, und das in einem ihr fremden Lande, und in verdächtiger Nachbarschaft, so das Weite suchen konnte. Doch als schauderte er vor einer Gotteslästerung zurück, verwarf er jegliche Deutung, bei der ein Tadel auf Anna von Geierstein hätte fallen können. Nein, dieses Mädchen war unfähig, etwas zu tun, wovor ein Freund hätte erröten können. Allein, wenn Arthur die schreckhafte Stimmung, in der er sie eben noch gesehen, mit der absonderlichen Tatsache zusammenhielt, daß sie allein, schutzlos und zu solcher Stunde die Feste verließ, so mußte er notwendigerweise daraus die Folgerung ziehen, daß irgend eine geheime, höchstwahrscheinlich unglückselige Ursache sie dazu bewogen hätte.
»Ich will ihre Rückkehr abwarten,« sagte er zu sich selbst, »und, bietet sich die Gelegenheit, ihr versichern, daß es wenigstens ein treues Herz in ihrer Nähe gibt, das aus Ehrgefühl und Dankbarkeit verpflichtet ist, jeden Tropfen seines Blutes hinzugeben, um sie vor Ungemach zu schützen. Dies ist keine törichte Romangrille, wofür der gesunde Menschenverstand mir mit Recht Vorwürfe zu machen hätte; es ist nur das, was zu tun meine Pflicht ist, sofern ich nicht für immer auf den Namen eines ehrlichen, unbescholtenen Mannes verzichten wollte.«
Doch kaum hatte der Jüngling diesen Entschluß gefaßt, als seine Gedanken abermals eine andere Richtung nahmen. Er bedachte, Anna von Geierstein könne vielleicht die nahe Stadt Basel besuchen wollen, wohin sie Tags vorher eingeladen worden war und wo ihr Ohm Befreundete hatte. Freilich war es für einen solchen Gang eine unpassende Zeit, aber Arthur wußte recht wohl, daß die Schweizermädchen weder einen einsamen Weg noch eine späte Stunde scheuten, und daß in ihren eigenen Bergen Anna bei Mondlicht, um eine kranke Freundin zu besuchen oder sonst welche Wohltat zu verrichten, noch viel weiter gegangen wäre, als die Entfernung zwischen dieser Jagdfeste und der Stadt Basel betrug. Sich unter solchen Umständen aufzudrängen, wäre unbescheiden gewesen; und da sie an ihm vorübergegangen war, ohne im mindesten auf seine Anwesenheit zu achten, so lag es am Tage, daß sie nicht beabsichtigte, ihn freiwillig in das Geheimnis zu ziehen. In solchem Falle war es daher die Pflicht eines Ehrenmannes, sie so heimkehren zu lassen, wie sie hinweggeeilt war, nämlich unangeredet und ungefragt, und es ihr selbst zu überlassen, ob sie mit ihm reden wolle oder nicht.
Ein anderer, dem Jahrhunderte, in dem er lebte, ganz entsprechender Gedanke fuhr durch seine Seele. Jene Gestalt, die so vollkommen dem Mädchen Anna von Geierstein glich, konnte ein Blendwerk oder eine jener phantastischen Erscheinungen sein, von denen so mancherlei Geschichten in allen Ländern umliefen, und an denen, wie Arthur wohl wußte, die Schweiz und Deutschland Ueberfluß hatten. Die inneren unerklärlichen Gefühle, die ihn hinderten, das Mädchen anzureden, was sonst ganz natürlich gewesen wäre, sind leicht aus der Voraussetzung zu erklären, daß sein körperliches Wesen vor der Begegnung mit einem Wesen anderer Natur und Beschaffenheit zusammenschauerte. Auch hatte jener Baseler Bevollmächtigte ja davon gesprochen, daß in den Ruinen der Feste Geister umgingen. Allein das Beispiel seines Vaters, eines Mannes von großer Unerschrockenheit und höchst aufgeklärtem Verstande, hatte ihn gelehrt, nichts blindlings aus übernatürlichen Einwirkungen erklären zu wollen, was auf gewöhnlichem Wege zu enthüllen wäre, und deswegen befreite er sich ohne Schwierigkeit von dem Gefühle abergläubischer Furcht, das ihn für einen Augenblick anwandelte. Zuletzt beschloß er, alle beunruhigenden Mutmaßungen aufzugeben und, wenn nicht mit Geduld, doch mit Festigkeit, die Rückkehr der schönen Erscheinung abzuwarten.
Beharrlich in diesem Vorsatze, schritt er, Wache haltend, auf und ab, die Blicke auf den Punkt des Waldes geheftet, wo er die geliebte Gestalt hatte verschwinden sehen, wobei er für den Augenblick vergaß, daß er noch zu anderem Zwecke Posten stand, als um die Rückkehr der Erscheinung zu erwarten. Doch aus diesem gespannten Warten schreckte ihn bald ein ferner Ton auf, der wie Waffengeklirr klang und aus dem Walde kam. Plötzlich seiner Pflicht wieder eingedenk, stellte Arthur sich auf die Notbrücke, wo er sich am besten zur Wehr setzen konnte, und spähte und lauschte aufmerksam nach der Gegend hin, von wo Gefahr im Verzug sein konnte. Das Geklirr kam näher, Fußtritte ließen sich vernehmen, Speere und Helme wurden am grünen Waldrande sichtbar und blinkten im Mondlicht. Die stattliche Gestalt Rudolfs von Donnersberg, der an der Spitze schritt, war bald zu erkennen und verkündete unserer Schildwache, daß es nur die Runde war, die heimkehrte. Als sie in das Schloß einzogen, erhielten sie Befehl, ihre Kameraden zu wecken, mit denen Rudolf die Runde aufs neue zu machen gedachte, und Arthur Philippson ablösen zu lassen, dessen Wachdienst auf der Brücke zu Ende war.
»Und nun, Kamerad,« sagte Rudolf zu dem Engländer, »haben Nachtluft und langes Wachehalten Dich schläfrig gemacht, oder hast Du noch Lust, die Runde mitzumachen?« –In Wahrheit wäre Arthur am liebsten auf dem Platz an der Brücke geblieben, um Anna von Geiersteins Rückkehr von ihrer geheimnisvollen Wanderung zu beobachten. Jedoch konnte er dazu nicht wohl einen Vorwand finden, und es sagte ihm nicht zu, den hochfahrenden Rudolf auch den leisesten Verdacht fassen zu lassen, daß er an Ausdauer oder an Kraft hinter irgendeinem der Bergbewohner, deren Genoß er für jetzt war, zurückstände. Deshalb zauderte er auch nicht einen einzigen Augenblick, sondern indem er die geliehene Partisane an Sigismund zurückgab, der gähnend und schlaftrunken einherkam, erklärte er dem von Donnersberg, daß er nach wie vor entschlossen sei, die Runde mit ihm zu machen. Unverzüglich stießen die übrigen, an denen die Reihe war, zu ihnen, darunter auch Rüdiger, der älteste Sohn des Landammannes von Unterwalden; und als sie nun, geführt vom Berner Kämpen, an den Saum des Waldes gelangt waren, befahl Rudolf dreien von ihnen, mit Rüdiger Biedermann eine besondere Patrouille zu bilden. »Du machst,« sagte der Berner, »Deinen Rundgang nach links hinüber, und ich will mich rechts halten. Auf dem ersten freien Platz treffen wir dann wieder zusammen.«
Rüdiger zog mit seinem Häuflein links weg, und Rudolf, der einen von dem bei ihm gebliebenen Mannen voraussandte und einen zweiten als Nachtrab hinterhergehen ließ, befahl dem dritten, ihm und Arthur Philippson zu folgen, der auf diese Weise das Mitteltreffen der Wachtrunde bilden half. Als der dritte Befehl erhalten hatte, soweit hinter den beiden Freunden zurückzubleiben, daß sie sich ungestört miteinander besprechen konnten, redete Rudolf den Engländer mit jener Vertraulichkeit an, die aus ihrer jüngst geschlossenen Freundschaft erwachsen war.
»Und jetzt, König Arthur,« sprach er, »wie denkt Eure Majestät von England über unsere Schweizer Jugend? Könnte sie wohl beim Lanzenstechen oder Turnier einen Preis gewinnen?« – »Was Lanzenstechen oder Turnier anbelangt,« versetzte Arthur, der seine Gedanken sammelte, um antworten zu können, »so vermag ich darüber nicht zu urteilen, da ich Euch noch nie mit eingelegter Lanze auf einem Gaul gesehen habe. Allein, wo es auf starke Gliedmaßen und hohen Mut ankommt, da möchte ich Euch Schweizerkämpen wohl den Rittern jeglichen Landes gleichstellen.« – Der Engländer weilte mit seinen Gedanken noch immer bei Anna von Geierstein, wie sie in der stillen Stunde seiner Nachtwache an ihm vorübergeglitten war. Er hatte wenig Neigung, sich in ein Gespräch einzulassen, das ihn aus seiner Träumerei reißen konnte, und gab daher nur einsilbig Antwort, so daß die Unterhaltung bald verstummte. Mittlerweile überlegte Arthur, ob er seinem Gefährten mitteilen sollte, was sein Inneres so sehr beschäftigte, und zwar in der Hoffnung, daß der Verwandte Anna von Geiersteins, der zugleich ein Freund ihres Hauses war, imstande sein möchte, ihm Aufklärung zu geben.
Allein tief in seinem Innern fühlte er eine unüberwindliche Abneigung, mit dem Schweizer über eine Angelegenheit zu reden, die Anna betraf. Daß Rudolf sich um das Mädchen bewarb, daran konnte er nicht zweifeln, und wenn auch Arthur darauf verzichten mußte, des Mädchens Liebe zu gewinnen, so konnte er doch auch nicht den Gedanken ertragen, daß ein Nebenbuhler Glück bei ihr haben könne.
Vielleicht war es dieser geheimen Reizbarkeit zuzuschreiben, daß Arthur, trotz all seiner Mühe, dieses Gefühl zu verbergen und zu unterdrücken, dennoch einen geheimen Widerwillen gegen Rudolf von Donnersberg fühlte. Freilich begegnete er der Offenheit des Berners mit gleicher Freimütigkeit; doch fühlte er sich dann und wann versucht, den überlegenen, gönnerhaften Ton, den Rudolf anzuschlagen beliebte energisch zurückzuweisen. Der Verlauf ihres Zweikampfes gab dem Schweizer jedenfalls keinen Grund zu solcher Ueberhebung, und ebensowenig fühlte Arthur sich zu der Schar der Schweizer Jünglinge gehörig, die Rudolf einstimmig zu ihrem Befehlshaber ernannt hatten. Ohne Zweifel war die Wurzel dieses verhaltenen Widerwillens gegen den von Donnersberg nichts anderes als das Gefühl, einen Nebenbuhler vor sich zu haben, wenngleich Arthur sich selbst dies nicht einzugestehen wagte.
So schritten sie eine Zeitlang schweigend weiter. Endlich, nachdem sie fast eine halbe Stunde Weges durch Feld und Wald gegangen waren, wobei sie die Ruinen von Grafenlust umschritten, stand der alte Hund, der von dem vordersten Wachthabenden an der Leine geführt ward, still und ließ ein lautes Geheul vernehmen. – »Hollah, Wolf,« rief Rudolf fortschreitend: »Was gibt's, alter Bursche? Kannst Du nicht mehr Freund von Feind unterscheiden? Komm hierher! Heißa! such besser!« – Der Hund hub die Schnauze, schnüffelte umher, als verstände er, was sein Herr ihm gesagt hatte, und schüttelte dann Kopf und Schweif, als antwortete er dem Rufe. – »Nun, da hast du's,« sprach Donnersberg, indem er dem Tiere den zottigen Rücken klopfte, »bessere Gedanken kommen hinterdrein; du siehst, daß es gut Freund war.« – Der Hund wedelte nochmals und ging dann ruhig weiter, Rudolf nahm seinen früheren Platz wieder ein, und sein Gefährte sprach zu ihm: »Wir werden, wie ich vermute, gleich auf Rüdiger und sein Häuflein stoßen, und der Hund hört Fußtritte, obwohl wir keine vernehmen.« – »Es kann kaum Rüdiger sein,« versetzte der Berner, »sein Weg um die Feste herum ist weiter als der unserige. Doch nähert sich jemand – Wolf ist wieder unruhig. Aufgepaßt nach allen Seiten hin!«
Als Rudolf seinen Begleitern diesen Befehl gab, wachsam zu sein, erreichten sie eine lichte Stelle, an welcher in bedeutender Entfernung voneinander etliche Fichten von riesigem Wuchse umherstanden, deren Stämme schwärzer und düsterer als gewöhnlich erschienen, während ihre breiten Gipfel und starren Aeste sich in das helle, weiße Mondlicht reckten. »Hier werden wir mindestens,« sagte der Schweizer, »den Vorteil haben, deutlich zu sehen, wer in der Nähe ist. Allein mich dünkt,« setzte er hinzu, nachdem er etwa eine Minute lang umhergeblickt hatte, »es ist nur ein Wolf oder ein Reh gewesen, das uns über den Weg lief, und die Witterung macht den Hund ungeduldig – Halt an! Steh! – Ja, ja, so wird's gewesen sein; der Hund geht weiter.« – Das Tier lief wirklich weiter, doch nicht ohne eine gewisse Unsicherheit, ja Aengstlichkeit. Dem Anschein nach beruhigte es sich aber und trabte wieder ruhig weiter.
»Das ist seltsam!« rief Arthur Philippson; »mir ist, als hätte ich eine Gestalt hart an jenem Dickicht dort drüben gesehen, wo, soviel ich unterscheiden kann, wenige Dornbüsche und Haselstauden die Stämme von vier oder fünf großen Bäumen umringen,« – »Seit fünf Minuten haftete mein Blick auf eben jenem Dickicht,« sprach Rudolf, »allein ich sah nichts.« – »Ei,« versetzte der junge Engländer, »aber ich sah irgend etwas dort, während Ihr Euch mit dem Hunde beschäftigtet. Und mit Eurer Erlaubnis will ich hingehen und das Dickicht durchsuchen.« – »Ständet Ihr unter meinem Befehl,« sagte der von Donnersberg, »so würde ich Euch die Weisung geben, an Eurem Platz zu bleiben. Denn gäbe es Feinde hier, so wäre es wohl nötig, daß wir uns beisammen hielten. Allein Ihr seid ein Freiwilliger bei unserer Runde, und mögt deshalb nach Gefallen handeln.« – »Ich danke Euch,« antwortete Arthur und war mit einem Sprunge auf und davon.
Er fühlte allerdings in diesem Augenblicke, daß er für sein Teil nicht besonnen, auch wohl als Kriegsmann nicht umsichtig handelte; und daß er in diesem Augenblick dem Hauptmann des Häufleins Gehorsam hätte leisten müssen. Anderseits aber schien, was er, obwohl in der Ferne und undeutlich, erblickt hatte, Aehnlichkeit mit der verschwindenden Gestalt Annas von Geierstein zu haben, wie er sie vor etwa zwei Stunden in den Wald schlüpfen sah, und seine unbezwingbare Neugierde, ob es das Mädchen wirklich wäre, überwog alle anderen Gedanken.
Bevor Rudolf ausgesprochen hatte, war Arthur schon auf halbem Wege nach dem Dickicht. Es war, wie er schon von weitem gesehen, von geringer Ausdehnung, so daß sich niemand dort hätte verbergen können, er hätte sich denn wirklich zwischen das zwerghohe Buschwerk und Unterholz niederducken müssen. Auch irgend etwas Weißes, was menschliche Gestalt und Form hätte, wäre, wie er meinte, zwischen den braunroten Stämmen und dem schwärzlichen Gebüsch, das vor ihm lag, sofort zu sehen gewesen. In diese Wahrnehmungen drängten sich andere Gedanken. Wenn es Anna von Geierstein war, die er zum zweitenmale gesehen hatte, so mußte sie den helleren Weg verlassen haben, wahrscheinlich um nicht erkannt zu werden; und welches Recht hatte er, die Runde auf sie aufmerksam zu machen? Er hatte, so dünkte ihn, bemerkt, daß im allgemeinen das Mädchen die Aufmerksamkeiten Rudolf von Donnersberg eher abweisend, als entgegenkommend aufnahm. Was also konnte ihn berechtigen, ihren geheimen Gängen nachzuspüren, die freilich zu ungewohnter Zeit, an ungewohntem Orte stattfanden, die sie aber wohl eben deswegen vor dem Manne geheim halten wollte, der ihr unangenehm war. Ja, war es nicht möglich, daß Rudolf, wenn er hinter ein Geheimnis käme, das er vor allen anderen zu verbergen trachtete, zu bevorzugterer Stellung ihr gegenüber gelangte? – Unter diesen Gedanken hielt Arthur andauernd die Blicke auf das Dickicht gerichtet, von dem er jetzt etwa dreißig Ellen entfernt war und obgleich er es mit der größten Genauigkeit untersuchte, redete ihm doch eine eindringliche Stimme zu, es sei am klügsten getan, wenn er zu seinen Genossen zurückkehrte und dem von Donnersberg berichtete, seine Augen hätten ihn betrogen.
Allein während er unentschlossen stand und erwog, ob er vorwärts gehen oder sich zurückwenden sollte, kam, was er gesehen hatte, abermals und jetzt ganz am Rande des Dickichts zum Vorschein und, wie das erste Mal in Gestalt und Kleidung genau dem Mädchen Anna von Geierstein ähnlich, gerade auf ihn zu! – An solchem Platz, zu solcher Stunde, so plötzlich auftauchend, mußte sie dem jungen Manne wirklich als ein Blendwerk oder ein Gespenst erscheinen. Die Gestalt schritt auf Speereslänge an ihm vorüber, ohne im mindesten ein Zeichen zu geben, daß sie ihn erkenne; und indem sie sich von Rudolf und dessen Begleitern nach rechts hin wendete, war sie abermals im Waldbruche und in den Gebüschen verschwunden.
Und wieder stand der Jüngling da, versunken in den unauflöslichen Zweifel, erwachte auch nicht eher aus seiner Erstarrung, als bis die Stimme des Berners ihm ins Ohr schallte: »Nun, was ist Dir denn, König Arthur, schläfst Du, oder bist Du verwundet?« – »Keins von beiden,« sagte Philippson, sich sammelnd, »nur sehr überrascht.« – »Und weswegen überrascht, mein königlicher Herr?« – »Laßt die Torheit!« rief Arthur etwas finster, »und so Ihr ein Mann seid, so gebt Antwort. Traft Ihr nicht auf sie? Saht Ihr sie nicht?« – »Treffen? Sehen? Sie? Wen denn?« sprach Rudolf. »Ich sah niemand. Und ich könnte darauf schwören, daß Ihr auch niemanden sähet, denn ich hatte Euch beständig im Auge. Und wenn Ihr etwas sähet, warum schlugt Ihr nicht Alarm?« – »Weil es nur ein Weib war!« antwortete Arthur in mattem Tone. – »Nur ein Weib!« wiederholte Rudolf mit dem Ausdruck der Verachtung, »Bei meinem Ehrenwort, König Arthur, wenn ich nicht Mannesmut an Euch wahrgenommen hätte, so wäre ich nicht übel geneigt zu glauben, daß Ihr selbst nur eines Weibes Mut besäßet. Seltsam, daß ein Schattenbild bei Nacht oder ein Abgrund bei Tage einen so wackeren Mut zu erschüttern vermag, wie Du ihn oft zeigtest.« – »Und wie ich ihn jederzeit zeigen werde,« unterbrach ihn der Engländer, wieder ganz gefaßt, »sobald die Gelegenheit es heischt. Allein, ich schwöre Euch, daß, wenn ich jetzt erschrocken bin, es nicht bloß irdische Furcht war, die meine Seele auf einen Augenblick ergriff.« – »Laßt uns unsern Gang fortsetzen,« sagte Rudolf, »wir dürfen die Sicherheit unserer Freunde nicht gefährden. Diese Erscheinung, von der Du redest, mag wohl nur ein Fallstrick sein, um uns in der Ausübung unserer Pflicht zu stören.«
Sie schritten fort beim Schimmer des Mondlichts. Nach einer minutenlangen Ueberlegung hatte der junge Philippson seine völlige Besinnung wieder, und mit ihr gelangte er zu dem peinlichen Bewußtsein, daß er eine lächerliche, unwürdige Rolle gespielt hätte.
Rasch vergegenwärtigte er sich die Beziehungen, in denen er zu Donnersberg, zum Landammann und dessen Nichte, sowie zum übrigen Teil der Familie, stand; und entgegen der Meinung, die er noch kurze Zeit zuvor gehegt hatte, erkannte er in tiefster Seele, daß es seine Schuldigkeit wäre, dem Führer, dem er sich selbst unterordnete, von der Erscheinung zu berichten, die er zweimal während einundderselben Nachtwache erblickt hatte. Es konnten Familienumstände, Leistung eines Gelübdes oder ein ähnlicher Grund obwalten, wodurch das Benehmen des jungen Mädchens ihren Verwandten erklärbar wäre. Zudem war er für den Augenblick ein Mann von der Wache, und dergleichen Geheimnisse konnten Unheil in sich tragen oder herbeiführen: in jedem Falle also waren seine Gefährten berechtigt, Kunde von dem zu erhalten, was er gesehen hatte.
Während des Engländers Betrachtungen diese Wendung nahmen, redete sein Hauptmann oder Wachgenoß nach kurzem Schweigen ihn folgendermaßen an: »Mich dünkt, mein lieber Herr Kamerad, als Euer Anführer habe ich ein Recht, von Euch Bericht über das zu erwarten, was Ihr soeben gesehen habt. Es muß etwas Wichtiges gewesen sein, sonst hätte es eine so starke Seele, wie die Eurige, nicht dermaßen aufregen können. Wenn es aber nach Eurem Dafürhalten mit der allgemeinen Sicherheit verträglich ist, erst dann, wenn wir wieder in der Feste sind, und zwar in geheimer Zwiesprache mit dem Landammann, Bericht abzustatten, so braucht Ihr mir dies nur zu sagen. Ich lasse Euch dann gern sogleich zur Feste zurückkehren.«
Diese Anrede erreichte, was einer ungestümen Forderung fehlgeschlagen wäre. Der Ton bescheidener Bitte traf genau mit den Betrachtungen des Engländers zusammen. »Ich sehe ein,« sprach er, »daß ich Euch mitteilen muß, was ich heute nacht gesehen habe; als ich es das erste Mal erblickte, hing es nicht so genau mit meiner Pflicht zusammen; jetzt aber, wo ich die nämliche Erscheinung zum zweiten Male erblickte, habe ich mich dadurch so überrascht gefühlt, daß ich kaum Worte finden kann, es auszudrücken.« – »Da ich nicht zu erraten vermag, was Ihr gesehen habt,« versetzte der Berner, »so muß ich Euch bitten, daß Ihr Euch erklärt, wir lösen nur schlecht uns gegebene Rätsel, wir dickköpfigen Schweizer.« – »Doch ist es nur ein Rätsel, was ich Euch vorzulegen habe, Rudolf von Donnersberg,« antwortete der Engländer, »und ein Rätsel, das ich ebensowenig zu lösen vermag.« Dann fuhr er, jedoch nicht ohne Zögerung, fort: »Während Ihr die erste Runde machtet, schritt eine weibliche Gestalt aus dem Schlosse, ohne ein Wort zu sagen, an meinem Posten vorüber, und verschwand im Schatten des Waldes.« – »So!« rief Rudolf von Donnersberg und erwiderte weiter nichts. – Arthur fuhr fort: »Vor etwa fünf Minuten ging diese weibliche Gestalt zum zweiten Male an mir vorüber, indem sie aus dem Dickicht, wo jene Fichten stehen, hervortrat, und dann wieder, ohne einen Laut von sich zu geben, verschwand. Erfahret ferner, daß jene Erscheinung an Gestalt, Angesicht, Bewegung und Kleidung Eurer Verwandten, Anna von Geierstein, glich.«
»Seltsam genug,« sagte Rudolf im Ton des Unglaubens. »Mich dünkt, ich darf Eure Rede nicht bestreiten, denn daran zweifeln, hieße Euch beleidigen. Doch laßt mich Euch sagen, daß ich so gut Augen habe wie Ihr, und daß ich kaum glaube, sie auch nur eine Minute von Euch gelassen zu haben. Nicht fünfzig Ellen weit waren wir von dem Platze, wo ich Euch erstarrt stehen sah. Wie also sollten wir nicht ebenfalls gesehen haben, was Ihr sahet oder doch gesehen zu haben wähnt?« – »Darauf vermag ich nicht zu antworten,« versetzte Arthur. »Vielleicht haftete in dem flüchtigen Augenblicke, in welchem ich die Gestalt sah, Euer Auge nicht auf mir – vielleicht, wie es mit gespenstischen Erscheinungen bisweilen der Fall sein soll, war sie nur einem von uns sichtbar.« – »So meint Ihr, die Erscheinung, die Ihr sähet, sei ein Hirngespinst oder ein Geist gewesen?« fragte der Berner. – »Kann ich das sagen?« war des Engländers Gegenfrage. »Die Kirche gibt es zu, daß dergleichen Dinge stattfinden, und gewiß ist es natürlicher, jene Erscheinung für eine Täuschung zu halten, als anzunehmen, daß Anna von Geierstein, eine sittige und wohlerzogene Dirne, die Wälder um diese wilde Stunde durchzieht, wo Sicherheit und Ehrbarkeit ihr so streng gebieten, in ihrer Kammer zu bleiben.« – »Es liegt viel in dem, was Ihr sagt,« sprach Rudolf, »und doch sind Geschichten im Umlauf, wiewohl man sie nicht gern nacherzählt, daß Anna von Geierstein in gewissen Punkten nicht wie andere Mädchen sei.« – »Ha!« rief Arthur, »so jung, so schön, und schon im Bündnisse mit dem Verderber der Menschen? Es ist unmöglich.« – »Das sagte ich nicht,« versetzte der Berner, »auch habe ich jetzt nicht Muße, Euch meine Ansicht deutlich zu erklären. Bei unserer Rückkehr nach Grafenlust werde ich Gelegenheit haben, Euch mehr zu erzählen. Doch ließ ich Euch hauptsächlich die Runde mitmachen, um Euch bei etlichen Freunden einzuführen, deren Bekanntschaft Euch lieb sein wird, und die Euch kennen zu lernen wünschen; und in dieser Gegend gedenke ich sie zu treffen.«
Indem er dies sagte, wendete er sich um einen Felsenvorsprung, und ein unerwarteter Auftritt stellte sich den Blicken des jungen Engländers dar. – In einer Art von Schlucht, die von dem Felsenvorsprung verdeckt war, brannte ein großes Holzfeuer, und um dasselbe her saßen, lehnten oder lagen zwölf bis fünfzehn Schweizerjungen, in ihrer Landestracht, an der Stickereien und Verbrämungen im Lichte des flackernden Feuers blitzten. Derselbe Schimmer wurde von silbernen Bechern zurückgeworfen, die nebst den Flaschen, aus denen sie gefüllt wurden, von Hand zu Hand gingen. Auch konnte Arthur die Reste eines Banketts wahrnehmen, dem man erst kürzlich schuldige Ehre erwiesen hatte.
Die Zecher fuhren freudig auf, als sie den von Donnersberg und dessen Gefährten erblickten, und begrüßten herzlich und lebhaft ihren Hauptmann, wobei sie jedoch alles Lärmen vermieden. Der Eifer deutete an, daß Rudolf höchst willkommen war, – die Vorsicht, daß er im geheimen kam und mit Rücksicht darauf empfangen werden müßte. Auf die allgemeine Begrüßung antwortete Rudolf: »Ich danke Euch, meine wackeren Kameraden. – Ist Rüdiger schon zu Euch gestoßen?« – »Du siehst, nein!« sagte einer aus der Schar; »wäre er gekommen, so hätten wir ihn bis zu Deiner Ankunft, Hauptmann, zurückgehalten.« – »Er hat gezögert auf seiner Runde,« sprach der Berner. »Auch wir wurden aufgehalten, doch sind wir eher hier als er. Ich bringe Euch, Kameraden, den braven Engländer mit, den ich Euch als wünschenswerten Genossen unseres kühnen Planes empfahl.« – »Er ist uns willkommen, höchst willkommen,« sagte ein junger Mann, dem die reichverbrämte himmelblaue Kleidung einen Anstrich von Ueberlegenheit über die anderen verlieh; »höchst willkommen, wenn er ein Herz und eine Hand zu unserm edlen Vorhaben mitbringt.« – »Für beides stehe ich ein,« sagte Rudolf. »Laßt also den Becher kreisen auf glücklichen Ausgang unseres rühmlichen Unternehmens und auf die Wohlfahrt unseres neuen Gefährten!«
Während die Lagernden die Becher mit einem Weine füllten, der jeden andern, den Arthur in diesem Lande getrunken hatte, an Güte übertraf, hielt er es für klüglich, ehe er Zusage gäbe, sich über den geheimen Zweck der Gesellschaft zu befragen, die so großes Verlangen zu tragen schien, ihn unter sich aufzunehmen. – »Solltest Du ihn hierhergebracht haben,« fügte daraufhin der Blaugekleidete zu Rudolf, »ohne zuvor Dich darüber mit ihm auseinanderzusetzen?« – »Sei deswegen unbesorgt, Lorenz,« versetzte der Berner. »Ich kenne meinen Mann. Sei es Euch denn kund, mein guter Freund,« fuhr er, zu dem Engländer gewendet, fort, »daß meine Genossen und ich entschlossen sind, die Freiheit des schweizerischen Handels zu erklären und im Notfall bis zum Tode allen gesetzlosen und bedrückenden Forderungen unserer Nachbarn Widerstand zu leisten.« – »So ich recht vernahm,« sagte Arthur Philippson, »so zieht die gegenwärtige Gesandtschaft zum Herzog von Burgund, um Vorstellungen über diesen Gegenstand zu machen.« – »Hör mich an,« erwiderte Rudolf. »Die Sache wird zu einer blutigen Entscheidung kommen, noch ehe wir des Herzogs von Burgund erhabenes und gnädiges Angesicht erblicken. Daß auf seinen Einfluß hin uns Basel verschlossen blieb, heißt uns den schlimmsten Empfang erwarten, sobald wir seine Staaten betreten. Wir haben sogar Ursache, zu glauben, daß sein Haß sich schon hier gegen uns wenden wird. Wenn man uns auch bei Nacht nicht angriff, müssen wir am Tage desto mehr auf unserer Hut sein. Zu diesem Zweck hat eine Schar der tapfersten Jünglinge von Basel, entrüstet über die Feigheit ihrer Obrigkeit, sich entschlossen, zu uns zu stoßen, um die Schmach zu tilgen, die ihre Vaterstadt mit ihrer feigherzigen Ungastlichkeit auf sich lud.« – »Und das soll geschehen, bevor die Sonne, die in zwei Stunden aufgehen wird, wieder am Abendhimmel niedersinkt,« sagte der blaue Kämpe; und ernsten Blickes stimmten die Umringenden in seine Rede ein.
»Werte Männer,« sprach Arthur, als eine Pause eingetreten war, »laßt mich Euch zu bedenken geben, daß die Gesandtschaft, die Ihr geleitet, von friedlicher Art ist, und daß daher die Geleitsmänner dieser Gesandtschaft alles vermeiden müssen, was den Zwiespalt vergrößern könnte, den zu schlichten sie sich aufgemacht hat. Ihr könnt nicht voraussetzen, in des Herzogs Landen übel aufgenommen zu werden, da die Rechte der Gesandten in allen geregelten Staaten in Ehren gehalten werden.« – »Dennoch dürfte man uns übel anlassen,« versetzte der Berner, »und zwar gerade Euret- und Eures Vaters wegen.«– »Ich verstehe Euch nicht,« antwortete Philippson. – »Ist Euer Vater nicht ein Handelsmann,« entgegnete Donnersberg, »und führt er nicht Waren von hohem Werte mit sich?« – »So ist es allerdings,« sagte Arthur, »allein was soll das?« – »Ei,« antwortete Rudolf, »daß wir aufpassen müssen, daß der Grenzhund des Burgunders nicht über Euch herfalle und sich zum Erben Eurer Seiden, Sammete und Juwelen erkläre!«
»Werte Herren,« äußerte sich Arthur nach einem Momente des Ueberlegens, »jene Waren sind meines Vaters Eigentum und an ihm, nicht an mir ist es, auszusprechen, wieviel er davon als Durchgangszoll hergeben will, um jedem Hader aus dem Wege zu gehen. Ich kann nur sagen, er hat wichtige Geschäfte am Hofe des Herzogs von Burgund und wünscht, dieses Land bald und im Frieden mit aller Welt zu erreichen. Daher wird er, um Euch nicht in Streit mit Archibald Hagenbach und der Besatzung von La Ferette zu bringen, lieber alles hergeben, was er bei sich führt. Deshalb, meine Herren, muß ich Euch um Frist bitten, um meinen Vater über diesen Punkt zu Rate zu ziehen, und versichere Euch zu gleicher Zeit, wenn es sein Wille ist, dem Burgunder die Zahlung jener Gefälle zu verweigern, so sollt ihr an mir einen Mann finden, der fest entschlossen ist, bis auf den letzten Tropfen seines Blutes zu fechten.« – »Gut, König Arthur,« sagte Rudolf. »Du bist ein pflichtgeübter Beobachter des vierten Gebotes, und Du wirst lange leben auf Erden. Wenn Dein Vater nichts dagegen hat, von Archibald von Hagenbach, dessen Schere, wie er finden wird, trefflich schneidet, seine Wolle scheren zu lassen, so würde es unnötig und unhöflich von uns sein, uns ins Mittel zu schlagen. Unterdessen habt Ihr aber auch vernommen, daß, wenn es Hagenbach auch gelüsten sollte, Euch ans Leben zu gehen, eine tüchtige und zahlreiche Mannschaft bereit ist, Euch Beistand zu leisten.« –
»Unter diesen Bedingungen,« sagte der Engländer, »will ich mit diesen Herren von Basel, oder aus welchem anderen Lande sie immer gekommen sein mögen, Bekanntschaft schließen, und ihnen in einem brüderlichen Becher fröhlich Bescheid tun!« – »Heil und Gedeihen den vereinigten Kantonen und deren Freunden!« antwortete der Blaue. »Und Tod und Verderben allen übrigen! Die Geschichte soll nacherzählen, daß die jetzt lebenden Schweizer die Freiheit zu bewahren wissen, die ihre Altvordern errangen. Setzt Eure Runde fort, ehrlicher Rudolf. Die Mannschaft wird auf jedes Zeichen, das der Hauptmann gibt, sich einstellen. – Alles bleibt beim alten, so Ihr nicht neue Befehle für uns habt.«
»Hör nur, Lorenz,« sagte Rudolf zu dem Blauen, und Arthur konnte hören, daß er leise zu ihm sprach. »Trage Sorge, Freund, daß der Rheinwein nicht vergeudet werde. Laß hierin dem Rüdiger den Willen nicht. Er ist ein Weinschlemmer geworden, seit er mit uns ist. Wir müssen zu dem, was uns morgen obliegt, Herz und Hand auf dem rechten Fleck haben.«
Darauf schritten Rudolf und sein Fähnlein wieder fürbaß, doch sie waren kaum aus dem Gesichtskreis ihrer zurückgebliebenen Genossen, als der Vorderste ein Lärmzeichen gab. Arthurs Herz wollte sich auf seine Lippen drängen. »Es ist Anna von Geierstein!« sprach es in seinem Innern. – »Die Hunde sind still,« sagte der Berner. »Es müssen unsere Wachtgefährten sein.« – Sie erkannten auch sofort Rüdiger mit seinen Begleitern, die beim Anblick ihrer Genossen Halt machten und die gewöhnlichen Zeichen abgaben und empfingen. Arthur konnte vernehmen, wie Rudolf seinen Freund Rüdiger ermahnte, nicht mehr zu dem oben beschriebenen Versammlungsort zu gehen. »Es führt nur zu einer Schmauserei,« sagte er, »und der Morgen muß uns kalt und entschlossen finden.« – »Kalt wie ein Eisklumpen, edler Hauptmann,« antwortete der Sohn des Landammanns, »und fest wie ein Felsen.« Rudolf riet ihm nochmals Mäßigkeit an, und der junge Biedermann gelobte Gehorsam. Die beiden Häuflein schritten mit freundlicher, jedoch schweigender Begrüßung aneinander vorüber; und bald lag ein bedeutender Raum zwischen ihnen.
Die Gegend, um die herum sie jetzt ihre Wachtrunde führte, war nach der Jagdfeste zu offener als diejenige, auf welche das Haupttor der Burg hinausführte. Die Waldwege waren breiter, die Bäume standen vereinzelter auf Wiesengrund, und keine Dickichte, Brüche und ähnliche Hinterhalte ließen sich wahrnehmen, so daß das Auge im hellen Mondlichte die Gegend wohl überschauen konnte.
»Mich dünkt,« sagte Arthur, »Ihr hättet Arnold Biedermann und den andern mitteilen sollen, daß Ihr einen Angriff in der Gegend von La Ferette befürchtet und Beistand von etlichen Bewohnern Basels zu hoffen habt.« – »Ei, wahrhaftig,« antwortete Donnersberg, »der Landammann würde dann einen Boten an den Herzog von Burgund schicken und freies Geleit erbitten. Dann aber wäre es mit aller Hoffnung auf Krieg vorbei.« – »Wahr,« erwiderte Arthur, »aber der Landamman würde dadurch seinen Hauptzweck und das eigentliche Ziel seiner Sendung, nämlich den Abschluß des Friedens erreichen.« – »Frieden? Frieden?« fragte der Berner hastig. »Wären es meine persönlichen Wünsche nur, so genügte meine Achtung vor Biedermann und seiner Vaterlandsliebe, daß ich auf sein Gebot mein Schwert in die Scheide stecken würde, auch wenn mein Todfeind mir gegenüber stände. Allein, mein ganzer Kanton, und mit ihm auch Solothurn, ist zum Kriege entschlossen. Durch Krieg, durch edlen Krieg entrannen unsere Väter ihrer Knechtschaft – durch Krieg, durch glücklichen und glorreichen Krieg gelangte ein Volk, das man kaum so viel geachtet hatte, wie die Ochsen, die es trieb, mit einemmale zu Freiheit und Bedeutung und wurde geachtet, weil man es fürchten mußte, so wie es vordem gering geschätzt wurde, weil es keinen Widerstand leistete.«
»Das mag alles wahr sein,« sagte der junge Engländer, »allein nach meiner Meinung ist der Zweck Eurer Sendung von Eurem Reichstag festgesetzt worden. Man hat beschlossen, Euch und andere als Friedensboten abzuordnen, Ihr aber blaset heimlich die glimmende Kohle des Krieges an und stellt Euch zum Kampfe, oder sucht doch nach Gelegenheit dazu, während die mit Euch ziehenden Alten morgen in der Erwartung einer friedlichen Reise ihren Stab weiter setzen wollen.« – »Und ist's nicht wohlgetan, daß ich so gerüstet stehe?« fragte Rudolf. »Werden wir auf burgundischem Boden friedlich aufgenommen, so ist meine Vorsicht unnütz, doch kann sie keinesfalls schaden. Ergibt es sich anders, so werde ich Mittel in Händen haben, ein großes Mißgeschick von meinen Gefährten, von meinem Vetter Arnold Biedermann, von meiner Base Anna, von Eurem Vater, von Euch selbst, kurz von uns allen, die wir fröhlich mitsammen reisen, abzuwenden.« – »Ich bin Euch sehr zu Dank verpflichtet für diese Zusicherung,« sagte der Engländer. – »Und Ihr selbst, mein Freund,« fuhr Rudolf fort, »laßt Euch dies gesagt sein: Zu einer Brautfahrt geht man nicht in Rüstung, in einem seidenen Wams nicht zum Treffen.« – »Ich will mich kleiden, als sollte ich dem Schlimmsten begegnen,« sprach Arthur, »und ein Panzerhemd von gutgeglühtem Stahl anlegen, das mich vor Speer und Pfeil schützt. Für Euren gütigen Rat habt Dank!«
Der Berner, der die Engländer nach den Handelsleuten seines eigenen Landes einschätzte, war überzeugt, sie würden, sobald sie sich stark genug zum Widerstande wüßten, gleich vor der nächsten Stadt den hohen Zoll verweigern, den man ihnen sicherlich abverlangen würde. Dies aber hätte ohne weiteres zu Feindseligkeiten führen müssen, und daher traf Rudolf auf alle Fälle Vorsichtsmaßregeln. Arthur Philippson konnte Donnersbergs Anstalten weder verstehen noch billigen, indem Rudolf, selbst ein Mitglied einer friedlichen Gesandtschaft, von dem Vorsatze beseelt zu sein schien, die erste Gelegenheit zur Entzündung der Kriegsflammen wahrzunehmen.
Mit diesen verschiedenen Erwägungen beschäftigt, schritten die Jünglinge eine Zeitlang schweigend nebeneinander hin, bis Rudolf wieder das Wort nahm: »Ist Eure Neugier, betreffs der Erscheinung Annas von Geierstein beruhigt?« – »Bei weitem nicht,« erwiderte Philippson, »ich wollte Euch nur nicht mit Fragen darüber beschwerlich fallen, weil Ihr mit den Pflichten Eurer Wachtrunde beschäftigt seid.« – »Die sind jetzt erledigt,« sprach der Berner, »denn rings umher ist kein Busch, worin ein burgundischer Schuft sich versteckt halten könnte, und wir brauchen nur dann und wann einen Blick umherzuwerfen, um uns gegen Ueberfall zu sichern. So mögt Ihr denn eine Geschichte hören, die Euch gewiß interessieren wird. Ueber Annas Vorfahren väterlicher Seite wißt Ihr Bescheid. Sie wohnten in den alten Mauern der Geiersteiner Feste am Wasserfalle, bedrückten ihre Untersassen und minder mächtigen Nachbarn, plünderten die Reisenden, ließen dann Seelenmessen für die verstorbenen Familienmitglieder lesen, beschenkten die Pfaffen und taten Gelübde und unternahmen Pilgerzüge, um für die frech und gewissenlos verübten Missetaten, Buße zu tun.« – »Das war, wie ich hörte,« versetzte der junge Engländer, »die Geschichte derer von Geierstein, bis Arnold oder dessen unmittelbare Vorfahren die Lanze mit dem Hirtenstab vertauschten.«
»Allein man erzählt,« fuhr der Berner fort, »daß die machtbegabten, reich begüterten Freiherrn von Arnheim in Schwaben, deren einziger weibliche Nachkomme das Eheweib Alberts und die Mutter des jungen Mädchens war, das die Schweizer schlechtweg Anna, die Deutschen aber Gräfin Anna von Geierstein nennen, ein adlig Geschlecht von ganz anderer Art war. Sie erblickten ihre Lebensaufgabe nicht nur darin zu sündigen und Buße zu tun, sie plünderten nicht bloß harmlose Bauern, mästeten keine dickwanstigen Pfaffen und erbauten keine Festen mit Verließen und Folterkammern. Nein! Die Freiherrn von Arnheim waren von dem Streben erfüllt, die Grenzen menschlichen Wissens zu erweitern. Sie gestalteten ihr Schloß zu einer Art von Hochschule um, worin sich mehr alte Schriften befanden, als die Mönche in der Bücherei zu St. Gallen jemals aufgeschichtet haben. Doch nicht allein in Büchern vertieften sie sich. Verschlossen in ihren geheimen Werkstätten, gelangten sie zu den geheimsten Kenntnissen der Alchimie, die sich dann vom Vater auf den Sohn weiter erbten. Der Ruf ihres hohen Wissens und ihrer Reichtümer ward oft vor die Stufen des Kaiserthrones getragen; und in den vielfältigen Zwistigkeiten, die die deutschen Herrscher mit den Päpsten hatten, sollen sie, wie es heißt, nicht nur durch Ratschläge der Freiherrn von Arnheim angefeuert, sondern auch durch deren Schätze unterstützt worden sein. Infolge dieser staatswissenschaftlichen Wirksamkeit und des damit verbundenen geheimnisvollen Studiums, dem das Geschlecht der Arnheime so lange Zeit nachging, geschah es vielleicht, daß man allgemein sie in Verdacht hielt, als würden sie in ihren übermenschlichen Forschungen durch den Einfluß höherer Wesen unterstützt. Die Pfaffen säumten natürlich nicht, dieses Gerücht im Lande zu verbreiten. Sie stellten die Arnheimer als höllische Hexenmeister hin und hetzten andere Grafen und Freiherren wider sie auf. So kam es, daß sie viel gehaßt waren.
Jedoch wie wenig hadersüchtig die Arnheimer auch waren, so zeigten sie sich doch keineswegs unkriegerisch oder abgeneigt, ihre Verteidigung ins Werk zu setzen. Ja, etliche dieses gehaßten Geschlechtes waren vielmehr als tapfere Ritter und wackere Degen ausgezeichnet. Das erfuhren diejenigen, von denen die Arnheimer befehdet wurden, und zogen sich zurück. Die Angriffe, die zur Ausführung gelangten, wurden siegreich abgeschlagen. Das gab nun wiederum zu dem Gerücht Anlaß, die von Arnheim, die jeder gegen sie beabsichtigten Gewalttat gleich auf die Spur kämen und gegen jeden Angriff gefeit wären, wendeten zu ihrem Schutze übernatürliche Mittel an, die mehr zu bewirken vermöchten als menschliche Kraft. Daraufhin blieben sie fortan unangefochten. Dieses Arnheim'sche Geschlecht erlosch mit Herrmann von Arnheim, dem Großvater der Anna von Geierstein mütterlicher Seite, Er hinterließ eine einzige Tochter, Sybilla von Arnheim, als Erbin eines großen Teiles seiner Güter. Trotzdem ihr Haus im Rufe der Zauberei stand, fanden sich unter den angesehensten Rittern und Herren im Reiche zahlreiche Bewerber bei Sybillas gesetzlichem Vormund, dem Kaiser, ein und baten um die Hand der reichen Erbin. Bei alledem erhielt Albert von Geierstein, wiewohl er ein Verbannter war, den Vorzug. Er war tapfer und hübsch, was ihn bei Sybillen empfahl, und der Kaiser, der sich damals in dem eitlen Gedanken wiegte, sein Ansehen in den Schweizergebirgen wieder herzustellen, wollte sich großmütig gegen Albert zeigen. Anna war das einzige Kind dieser Ehe, und Ihr könnt aus ihrer Abkunft entnehmen, daß Umstände, die sie betreffen, sich nicht so leicht beurteilen und erklären oder nach gewöhnlichen Vernunftsschlüssen entscheiden lassen, wie es bei alltäglichen Menschen der Fall ist.«
»Bei meinem Ehrenwort, Herr Rudolf von Donnersberg,« sagte Arthur, der sorgfältig bemüht war, seine Empfindungen zu beherrschen, »ich entnehme aus Eurer Erzählung nichts, und verstehe von derselben nichts weiter, als daß es in Deutschland wie in anderen Ländern Narren gegeben hat, für die Gelahrtheit und Wissenschaft gleichbedeutend war mit Hexerei und Zauberwerk, und daß infolgedessen Ihr geneigt seid, ein junges Mädchen, das jederzeit von allen Leuten ihrer Umgebung geehrt und geliebt wurde, als Anhängerin der schwarzen Kunst hinzustellen. Dies wundert mich um so mehr, da Ihr ein naher Verwandter des Mädchens seid und, wenn ich nicht irre, Euch mit der Hoffnung tragt, vielleicht durch ein noch innigeres Band mit Ihr verknüpft zu werden. In allen christlichen Landen ist die Beschuldigung der Hexerei die schwerste Anklage, die gegen einen Christen, gleichviel ob Mann oder Weib, vorgebracht werden kann.« – »Ich bin weit entfernt davon,« sagte Rudolf, »diese Beschuldigung gegen Anna von Geierstein zu erheben. Bei meinem guten Schwerte! Wer eine solche Anklage gegen sie ausspräche, täte besser daran, sich sein Grab graben zu lassen und für das Heil seiner Seele zu sorgen; denn er müßte mit mir auf Leben und Tod die Klinge kreuzen. Hier handelt es sich nur um die Frage, ob nicht elfenartige oder gespenstische Wesen etwa die Macht haben, Annas Gestalt anzunehmen und sich dann da zu zeigen, wo das Mädchen selber nicht gegenwärtig ist, indem Anna von einem Geschlecht stammt, das mit der Geisterwelt innigsten Verkehr gepflogen hat. Da ich aufrichtig wünsche, mir Eure Achtung zu bewahren, so bin ich nicht abgeneigt, Euch noch Näheres über Annas Geschlecht mitzuteilen, wodurch sich zugleich meine eben gemachte Aeußerung bestätigen dürfte. Allein, Ihr werdet begreifen, daß solche Umstände von der geheimsten Art sind, und daß ich deswegen auf das tiefste Schweigen von Eurer Seite rechnen muß.« – »Ich werde schweigen, Herr,« versetzte der junge Engländer, der noch immer mit unterdrückter Leidenschaft kämpfte, »schweigen über alles, was den Charakter eines Mädchens betrifft, dem ich so viele Ehrfurcht schuldig bin.«
»Sei dem so,« sprach Rudolf, »um Eurer guten Meinung willen, die ich hochschätze, und zu deutlicherer Erklärung dessen, was ich nur leichthin andeutete, will ich Euch etwas mitteilen, was ich sonst lieber unerzählt ließe.«
»Sprecht! – ich höre!« antwortete der Engländer, dessen Gemüt geteilt war zwischen dem Verlangen, alles nur mögliche zu erfahren, was Anna von Geierstein betraf, zwischen dem Widerwillen, ihren Namen so anmaßend von Donnersberg aussprechen zu hören, und zwischen dem Wiederaufleben seines ursprünglichen Mißfallens an dem riesigen Schweizer, dessen jederzeit derbes Benehmen jetzt durch Ueberlegenheit und Anmaßung, sich noch schärfer hervorhob. Dennoch horchte er der schauerlichen Erzählung des Berners, und der Anteil, den er bald an derselben nahm, überwältigte in ihm jede andere Empfindung.