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Nachdem die Wanderer den schauerlichen Schauplatz, soweit der stürmische Zustand der Atmosphäre es ihnen gestattete, überblickt hatten, bemerkte der jüngere Reisende: »Ich halte es für möglich, mein Vater, an den Zacken des Abgrundes vorwärts zu klimmen, bis ich die Wohnung zu Gesicht bekomme, von der der Bursche sprach. Gibts wirklich eine solche Wohnung, so muß doch ein Zugang zu ihr gefunden werden können; und vermag ich auch nicht den Weg dahin zu finden, so kann ich doch wenigstens denen, die in der Nähe des Geiernestes dort drüben wohnen, ein Zeichen geben und von ihnen freundliche Zurechtweisung erlangen.« – »Ich kann nicht zugeben, daß Du Dich solcher Gefahr preisgibst,« sagte der Vater. »Laß den Burschen weitergehen, so er kann und will. Er ist auf den Bergen groß geworden, und ich will ihm reichen Lohn geben.« – Allein dessen weigerte sich Antonio entschieden. »Ich bin wohl auf den Bergen groß geworden, allein ich bin kein Gemsenjäger,« sprach er, »ich habe keine Flügel, um mich einem Raben gleich, über Klippen zu schwingen. Gold wägt nicht das Leben auf.« – »Gott sei davor,« versetzte Signore Philippson, »daß ich Dich versuchen sollte, eines gegen das andere abzuwägen! So geh denn, mein Sohn, geh; ich folge Dir!«
»Nicht so, mit Eurer Erlaubnis, teuerster Herr und Vater,« entgegnete der Jüngling, »es ist genügend, wenn einer hier das Leben wagt, und das meinige, das bei weitem unwürdigere, sollte nach allen Regeln der Vernunft wie der Natur zuerst aufs Spiel gesetzt werden. Nur laßt mich allein gehen! Wenn Ihr mitgingt, würde ich stets zurückblicken müssen, um zu sehen, wie Ihr Euch auf dem Standpunkte halten würdet. Und erwägt, mein teuerster Vater, was und wieviel verloren wäre, wenn Ihr abstürztet!« – »Du hast recht, mein Kind,« sagte der Vater. »Ich besitze noch etwas, das mich an dies Leben auch dann noch knüpft, wenn ich in Dir alles verlieren sollte, was mir teuer ist. Sei gesegnet und behütet, mein Sohn! Dein Fuß ist jung, Deine Hand ist stark. Sei tapfer, aber behutsam, – bedenke, daß ein Mann lebt, der, wenn er Dich missen müßte, nur noch durch eine strenge Pflicht an diese Erde gebunden ist. Ist diese vollführt, so wird er Dir folgen.«
Der Jüngling machte sich bereit. Indem er den schweren Mantel abwarf, enthüllte er wohlgeformte Glieder, die mit einer fest an den Leib sitzenden grauen Tuchjacke bekleidet waren. Des Vaters Entschluß wankte, als der Sohn sich zu ihm wendete, um ihm Lebewohl zu sagten. Er widerrief die gegebene Erlaubnis und befahl ihm in gebieterischem Ton, innezuhalten. Doch ohne des Befehles zu achten, hatte Arthur bereits seine gefährliche Wanderung begonnen. Indem er von der Abplattung, auf der er stand, sich an den Aesten eines alten Eschenbaumes hinabließ, der aus einem Spalt des Felsens hervorragte, war der Jüngling, wiewohl mit unsäglicher Gefahr, imstande, eine schmale Steinlage, den äußersten Rand des Abhanges, zu betreten. Von hier aus hinabkriechend, hoffte er, soweit vorzudringen, daß man ihn von der von dem Führer erwähnten Wohnung aus würde sehen oder hören können. Seine Lage schien, als er dieses kühne Vorhaben auszuführen sich bemühte, so gefährlich, daß selbst der gemietete Begleiter bei dem Anblicke des Jünglings kaum Atem zu holen wagte. Das Felsband, auf dem sich Arthur bewegte, erschien immer schmäler, je weiter er sich entfernte, und wurde schließlich fast unkenntlich. Seinem Vater und dessen Begleiter erschien Arthur kaum noch als ein Mensch, sondern eher als ein Insekt, das an einer senkrechten Mauer hinkriecht. Man sieht es wohl sich weiter bewegen, kann aber nicht erkennen, auf welche Weise es sich an der Mauer festhält. Und bitterlich jammerte jetzt des Jünglings trostloser Vater, daß er nicht auf seinem Vorsatz beharrte und nicht lieber auf dem bisher zurückgelegten Wege wieder zur vorigen Nachtherberge umgekehrt sei.
Mittlerweile fühlte der Jüngling sich mächtig zur Ausführung seines gefahrvollen Unternehmens gestählt. Er legte seiner Einbildungskraft, die sonst leicht rege zu werden pflegte, die strengsten Fesseln an und versagte es sich, selbst auf Augenblicke nur, irgend einer der entsetzlichen Einflüsterungen Gehör zu geben, durch die die Phantasie nur allzugerne eine wirkliche Gefahr noch vergrößert. Männlichen Sinnes war er bemüht, alles, was ihn umgab, nach dem Maße besonnener Vernunft zu messen, wodurch wahrer Mut am kräftigsten unterstützt wird. »Diese Felsenlage,« sprach er sich selbst beurteilend vor, »ist nur schmal, doch immer noch breit genug, mich zu tragen; diese Spalten im Felsen sind klein, aber ich kann doch immer noch mit den Händen hineinfassen und mich festhalten. Meine Sicherheit hängt also durchaus von mir ab. Wenn ich mich entschlossen und festen Schrittes bewege, auch mich gehörig festhalte, so sehe ich nicht ein, was es auf sich haben kann, daß ich mich so dicht über einem Abgrund befinde.«
Indem er auf solche Weise den Umfang der Gefahr, die er lief, nach Grundsätzen der Vernunft und Wirklichkeit abmaß und sich eine gewisse Fertigkeit in Körperübungen zunutze machte, setzte der rüstige Jüngling seine staunenerregende Kletterei Schritt für Schritt fort und legte seinen Weg mit aller Vorsicht, Beharrlichkeit und Geistesgegenwart zurück, die allein ihn vor augenblicklichem Verderben bewahrten. Endlich gelangte er zu dem gefährlichsten Punkt. Der Fels hing um mehr als sechs Fuß gegen den Waldstrom über, den er in einer Tiefe von über hundert Klaftern wie unterirdischen Donner tosen hörte. Er untersuchte den Ort mit der größten Sorgfalt. Gras, Gesträuch und Baumstümpfe brachten ihn auf die Vermutung, daß dieses Felsstück das äußerste Ende des versunkenen Fußpfades sein müsse, und daß, wenn er nur den Winkel würde umgehen können, er die sichere Hoffnung hegen dürfe, die Fortsetzung des durch Naturereignisse so seltsam abgebrochenen Pfades zu erreichen. Allein der Felsenvorsprung ragte so weit vornüber, daß es ganz unmöglich schien, unter ihm hin oder um ihn herum zu klettern. Da er sich um mehrere Fuß hoch über dem Standpunkte erhob, den Arthur erreicht hatte, war es keine geringe Aufgabe, auf ihn hinaufzukommen. Dennoch wählte er dieses Mittel, denn nur so konnte er hoffen, dieses letzte Hindernis zu überwinden. Ein vorragender Baum bot ihm Gelegenheit, emporzusteigen und sich auf den Gipfel des Vorsprungs zu schwingen. Allein kaum hatte er dort Fuß gefaßt, kaum auf einen Augenblick sich Glück dazu gewünscht, daß er von hier aus, mitten in einem wilden Chaos von Fels und Wald, die düstern Ruinen des Geiersteins, aus denen Rauch aufstieg, und etwas wie eine menschliche Wohnung neben ihnen erblickte, als zu seinem Entsetzen die Klippe, auf der er stand, wankte, sich langsam vorwärts neigte und allmählich aus ihrem Lager zu sinken begann,
Getrieben vom Instinkte der Selbsterhaltung, zog Arthur sich vorsichtig von dem sinkenden Stein auf den Raum zurück, an dem er heraufgeklettert war, und starrte nun, wie von Zauber gebannt, auf den Felsblock, der in jedem Augenblick hinabstürzen mußte. Der Stein schwankte zwei oder drei Sekunden lang, als wäre er unschlüssig, nach welcher Richtung er fallen sollte; und hätte er sich seitwärts gesenkt, so würde er unseren Abenteurer an seinem Zufluchtsorte zerschmettert – oder ihn mitsamt dem Baum jählings in den Strom geschleudert haben. Aber er stürzte nach vorn zu Tal, zerschlug und zersplitterte in seinem Falle Bäume und Gebüsche und was er sonst traf, und fiel endlich in den Gießbach mit einem Krach, als wenn hundert Kanonen sich auf einmal entlüden. Das Getöse widerhallte von Ufer zu Ufer, von Abgrund zu Abgrund, mit sich selbst verschlingendem Donner.
Wer beschreibt die Angst, die sich unterdessen des bekümmerten Vaters bemächtigte, als er den schweren Felsen hinabstürzen sah, jedoch nicht wahrzunehmen vermochte, ob sein Sohn mit ihm versunken sei? Des Vaters erste Regung war, an den Rand des Abgrundes hinzustürzen, auf dem Arthur entlang gekrochen war; Antonio, der Schweizerbube, hielt ihn zurück, und der Reisende suchte mit der Wut eines grimmigen Bären, dem man die Jungen raubt, sich loszureißen. Da plötzlich erklang von der verhängnisvollen Klippe herüber, von der sich durch Arthurs kühnen Aufschwung die ungeheure Steinmasse losgerissen hatte, der gellende Ton eines der großen Hörner, die man von dem Stier oder Bullen des Schweizerlandes als Beute gewinnt – in uralter Zeit das einzige Musikinstrument dieser Bergbewohner.
»Haltet, Herr, haltet!« rief der Graubündner; »von drüben her ist das Zeichen vom Geierstein herabgegeben. Es wird bald jemand uns zu Hilfe kommen, um uns einen sicheren Weg zu zeigen, auf dem wir Euern Sohn suchen können. – Und seht nur, da drüben über jenem Busche, der durch den Nebel schimmert – heiliger Antonius beschütze mich! – dort erblicke ich ein weißes Tuch! Wie es flattert! und gerade über dem Punkte, wo der Felsklump niederstürzte!« – Der Vater strengte sich an, seine Blicke auf den bezeichneten Ort zu heften, allein seine Augen schwammen so in Tränen, daß sie nichts unterscheiden konnten. »Es ist alles umsonst,« sagte er, indem er sich die Tränen aus den Augen wischte. »Ich werde nur noch seine leblosen Gebeine sehen,« – »Ihr werdet ihn lebendig wiedersehen,« sprach der Graubündner, »Sankt-Antonius will es so; seht nur, das weiße Tüchlein hängt nicht locker an einem Ast – ich kann deutlich sehen, wie es an eine Stange gebunden ist und absichtlich hin und her geschwenkt wird. Euer Sohn gibt ein Zeichen, daß er frisch und wohlauf ist.« – »Und ist dem so,« sprach der Reisende, indem er die Hände zusammenschlug, »so seien gesegnet die Augen, die es sahen, und die Zunge, die es mir sagte! Wenn wir meinen Sohn finden, und am Leben finden, so soll dieser Tag auch für Dich ein Tag des Glückes sein.« –
Endlich erkannte auch er, daß das Zeichen wirklich von einer Menschenhand gegeben wurde; und ebenso empfänglich für den Schimmer wiederauflebender Hoffnung, wie früher für die Einwirkung des verzweiflungsvollen Kummers, machte er abermals den Versuch, zu seinem Sohne hinzueilen, um diesem womöglich in Aufsuchung einer sichereren Herberge beizustehen. Allein die dringenden Bitten und wiederholten Zusicherungen seines Führers veranlaßten ihn, inne zu halten. – »Bleibt ruhig hier!« sagte dieser, »bis Hilfe kommt. An dem Schall glaube ich das Horn des Wächters vom Geierstein, des ehrlichen Arnold Biedermann, zu erkennen. Er hat Eures Sohnes Gefahr wahrgenommen und sorgt schon jetzt für unsere Sicherheit.«
»Aber wenn jener Hörnerschall wirklich ein Zeichen war,« sprach der Reisende: »wie kommt es, daß mein Sohn nicht darauf antwortete?« – »Höchstwahrscheinlich hat er es auch getan,« versetzte der Graubündner, »wie sollten wir es aber gehört haben? Das Alphorn von Uri selbst ertönt bei diesem Geheul des Wassers und Sturmwindes nicht lauter, als die Rohrpfeife des Hirtenknaben; wie sollen wir da den Ruf eines Menschen vernehmen können?« – »Doch dünkt mich,« sagte Signore Philippson, »als höre ich etwas wie eine Menschenstimme; allein Arthurs Stimme ist es nicht.« – »Freilich nicht,« versetzte der Graubündner, »denn die Stimme ist eine weibliche. Die Dirnen sprechen zueinander von Klippe zu Klippe, durch Sturm und Wetter, läg' auch eine Halbstunde Weges zwischen ihnen.«
»Nun, der Himmel sei gelobt, daß er uns Hilfe schickt!« sprach Signore Philippson; »ich hoffe, daß dieser fürchterliche Tag noch ein glückliches Ende nimmt!«
Inzwischen befand der Sohn sich noch immer in höchst gefährlicher Lage. Der Anblick des dicht unter ihm in grausigem Sturze niederdonnernden und unter Staub- und Dunstwolken zersplitternden Felsblockes hatte ihm allen Mut und alle Kraft geraubt. Schwindel ergriff ihn, und die Glieder, die ihm bisher so trefflich gedient hatten, versagten ihm plötzlich den Dienst; seine Arme und Hände hingen jetzt, als wären sie nicht mehr die seinigen, in krampfhafter Umklammerung an den Aesten des Baumes und zitterten in so völliger Erschlaffung der Nerven, daß der Jüngling fürchten mußte, er würde sich nicht lange mehr halten können.
Ein Umstand, der an sich selbst zwar unbedeutend war, erhöhte die Not, in die Arthur durch das Schwinden seiner Kräfte sich versetzt fühlte. Jegliches lebendige Geschöpf in der Nähe war durch den grausen Felssturz in Schrecken gesetzt worden. Scharen von Eulen, Fledermäusen und andern Nachtvögeln hatten sich in die Schluchten und Ritzen der umherliegenden Felsen geflüchtet. Unter diesen Vögeln, die der Aberglaube für Unglücksboten ansieht, befand sich auch ein Lämmergeier, ein Vogel, der an Größe und Raubgier den Adler übertrifft, und Arthur sah ein solches Tier jetzt zum erstenmal in solcher Nähe. Ihrem Instinkt gemäß, suchten diese Vögel, wenn sie sich genügend voll gefressen haben, eine unerklimmbare Berghöhe auf, wo sie still und bewegungslos sitzen bleiben, bis das Verdauungswerk vollendet ist und neue Freßlust sie wieder neu belebt. Gestört in solchem Zustande der Ruhe, hatte sich einer dieser entsetzlichen Vögel von dem Gemäuer erhoben, das nach ihm den Namen führt, war mit gespenstischem Geschrei und klatschenden Flügeln im Kreise herumgeflogen und hatte sich in einer Entfernung von wenigen Ellen von dem Baume, an welchem Arthur in gefahrvoller Stellung sich angeklammert hielt, auf der Spitze eines Felsenvorsprunges niedergelassen.
Bemüht, sich zu ermannen und die Betäubung von sich zu schütteln, schlug Arthur die Augen auf, um vorsichtig umherzuschauen, und begegnete nun dem starren Blick des gefräßigen, schauerlichen Vogels, der durch seinen federentkleideten Kopf und Hals, seine schwarzgelb geränderten Augen und seine mehr liegende, als aufgerichtete Stellung sich von der edlen Haltung und dem regelmäßigeren Bau des Adlers ebenso unterschied, wie in der Reihe der Vierfüßler der Löwe erhaben ist über den tückischen, räuberischen, gräßlichen und dennoch feigherzigen Wolf.
Wie durch einen Zauber gebannt, hefteten sich die Blicke des jungen Philippson auf diesen gräßlichen Vogel, und die Furcht vor eingebildeten wie wirklichen Gefahren lastete auf seiner durch die Trübseligkeit seiner Lage fast ganz entmutigten Seele. Warum starrte der Vogel ihn so ernst an? warum beugte er seine Mißgestalt so vornüber, als wäre er bereit, über ihn herzufallen? War dieser Raubvogel der Dämon des Ortes, dem er seinen Namen lieh? Und war er gekommen, sich daran zu ergötzen, daß ein Mensch, der zu diesem ungangbaren Geklüft kam, sich jetzt von Gefahren umringt und ohne alle Hoffnung sah, je daraus erlöst zu werden? Oder war er ein auf diesem Felsen horstender Geier, der in diesem kühnen Wanderer eine willkommene Beute begrüßte? Wartete er nur auf den Tod dieses Unglücklichen, um sein grauses Mahl zu beginnen, oder war es das furchtbare Los des Jünglings, den Schnabel und die Krallen des Vogels in seinem Fleische zu fühlen, bevor noch sein Herz aufgehört hätte zu schlagen?
Dergleichen schreckliche Vorstellungen halfen mehr dazu, als alle Vernunftgründe es bewirken konnten, die Spannkraft des Jünglings neu zu beleben. Indem er sein Schnupftuch schwenkte, wobei er jedoch die größte Vorsicht in seinen Bewegungen machte, glückte es ihm den Geier aus seiner Nähe zu verscheuchen. Dieser erhob sich von seinem Ruheplatze, stieß ein Kreischen aus und segelte mit ausgespreizten Schwingen fort, um einen ruhigeren Ort zu suchen.
Mit mehr Besonnenheit strebte nun der Jüngling, der von seinem Standpunkte aus einen Teil der Abplattung sehen konnte, die er verlassen hatte, seinem Vater von seinem Wohlbefinden dadurch Kunde zu erteilen, daß er so hoch wie möglich, das Fähnlein flattern ließ, durch welches er den Geier verjagt hatte. Gleich seinen beiden Reisegefährten vernahm auch er, doch aus geringerer Entfernung, den Schall des großen Alphorns, das ihm nahe Hilfe zu verheißen schien. Er antwortete durch lautes Rufen und Schwenken seiner Flagge, um den Beistand zu derjenigen Stelle zu locken, wo die Gefahr am dringensten war.
Als frommer Katholik empfahl er im eifrigen Gebet sich Unserer lieben Frau von Einsiedeln und flehte sie unter Gelübden an, sie möchte ihn aus diesem fürchterlichen Zustande erlösen. »O gnädige Mutter!« rief er am Schlusse seines Gebetes aus: »Wenn ich verurteilt bin, mein Leben, gleich einem gejagten Fuchse in dieser Wildnis voll wankender Felskuppen zu enden, so gib mir mindestens meine ehemalige Geduld und meinen sonstigen Mut zurück und laß den, der wie ein Mann, wenn auch wie ein sündiger Mensch lebte, nicht gleich einem scheuen Hasen den Tod hier finden!«
Hierauf spähte er umher, ob sich nicht ein Mittel böte, den festen Boden wiederzugewinnen. Allein er verspürte, daß ihm noch alle Nerven zuckten, und sein Herz schlug, als wollte es zerspringen. So sehr er sich anstrengte, so vermochte er doch nicht, seine starren und schwindelnden Blicke ringsum schweifen zu lassen; ihm war, als drehten sich seine Augen in ihren Höhlen, so daß die Landschaft um ihn her tanzte und das wirre Chaos von Wald und Felsengeklüft in solchem Wirbel sich wälzte, daß er um nicht vom Baum herabzuspringen und an dem wilden Tanze teilzunehmen, sich wieder und wieder vorhalten mußte, nur seine gänzliche Ermattung erzeuge dieses Gaukelspiel. – »Der Himmel beschütze mich!« seufzte der unglückliche Jüngling. »Meine Sinne verlassen mich!«
Dies erschien ihm um so gewisser, als er jetzt gar eine weibliche Stimme zu vernehmen meinte, die in überaus hohem, doch lieblichem Tone aus geringer Entfernung ihm zuzurufen schien. Arthur öffnete noch einmal die Augen, erhob sein Haupt und blickte nach dem Orte, von wannen der rufende Ton kam. Und nun erschien ihm gar eine Gestalt, die ihn vollends in der Meinung bestärken mußte, daß seine Seele wirklich erkrankt sei und seine Sinne versagten.
Auf der höchsten Spitze eines wie eine Pyramide geformten Felsens, der aus der Tiefe des Tales emporstieg, stand ein weibliches Wesen, jedoch so von Nebel umhüllt, daß nur die Umrisse sichtbar wurden. Die vom Abendhimmel sich abhebende Gestalt schien eher ein geisterhafter Schemen als der Körper eines sterblichen Mädchens zu sein; denn ihre Person zeigte sich ebenso verschwommen, wie die dünne Wolke, von der der Fels, auf welchem sie stand, umhüllt war. Der erste Gedanke, der sich dem Hilfebedürftigen aufdrängte, war, daß die heilige Jungfrau sein Gelübde erhört hätte und in eigener Person zu seiner Rettung herniedergeschwebt wäre; und schon wollte er sein Ave Maria herbeten, als die Stimme nochmals den seltsam schrillen Ton eines sogenannten Jodlers erschallen ließ.
Während Arthur versuchte, diese unerwartete Erscheinung anzureden, entschwand sie von der Kuppe, auf der sie zuerst sichtbar geworden war, und zeigte sich sofort wieder auf der Klippe unmittelbar über dem Baum, auf welchem der Jüngling eine Zuflucht gefunden hatte. Ihre Erscheinung und Kleidung kennzeichneten sie als ein Kind dieser Berge, das mit den gefährlichsten Gebirgspässen vertraut war. Arthur sah ein junges, schönes Mädchen vor sich stehen, das ihn mit einer Mischung von Mitleid und Bewunderung betrachtete. – »Fremdling,« sprach endlich das Mädchen, »wer seid Ihr, von wannen kommt Ihr?« – »Fremdling bin ich, und mit Recht nennt Ihr mich so,« versetzte der Jüngling, indem er sich aufrichtete, so gut er es vermochte: »Ich reiste diesen Morgen von Luzern in Begleitung meines Vaters und eines Führers ab. Ich verließ beide ein kurzes Stück von hier. Möchtest Du so gut sein, liebliches Mädchen, ihnen mein Wohlbefinden kundzutun; denn ich weiß, daß mein Vater meinetwegen in Verzweiflung sein wird.« – »Herzlich gern,« sprach das Mädchen, »allein mich dünkt, mein Ohm oder einer meiner Vettern müsse sie schon gefunden und ihnen als treuer Führer gedient haben. Kann ich Euch nicht beistehen? Seid Ihr verwundet? Fühlt Ihr Euch verletzt? Wir wurden aufgeschreckt durch den Sturz des Felsstückes. Da drunten liegt's.«
Indem das Schweizerdirnlein also redete, trat es ganz nahe an den Rand des Abgrundes und blickte gelassen in den Schlund hinab. – »Seid Ihr krank?« fragte das Mädchen, gleich darauf, als es Arthur erbleichen sah. – »Nein, liebes Mädchen, nur mein Kopf schwindelt, und mein Herz schlagt ängstlich, wenn ich Euch so nahe am Rande der Klippe stehen sehe.« – »Ist das alles?« entgegnete die Schweizerin. »Wisset, Fremdling, daß ich am Herd meines Oheims nicht sicherer stehen könnte, als ich an Abgründen stand, gegen welche dieser Schlund ein Kinderspiel ist.« –
»Vor einer halben Stunde bin ich auch furchtlos hier entlang geklettert,« antwortete Arthur; »doch nun –« – »Seid darob nicht trostlos,« sprach das Mädchen begütigend, »denn ein vorübergehender Dunst mag wohl zuzeiten den Geist umnebeln und auch die Sehkraft des Tapfersten und Erfahrensten blenden. Ersteigt den Stamm des Baumes und betrachtet die Stelle genau. Leicht wird es Euch, sobald Ihr die Krone des Baumstammes erreicht habt, durch einen kühnen Schritt den festen Felsen zu erklimmen, wo ich stehe, und alsdann ist weder Gefahr noch Schwierigkeit für einen jungen Mann vorhanden, dessen Glieder gesund und dessen Mut rüstig ist.«
»Meine Glieder sind freilich gesund,« erwiderte der Jüngling, »allein ich schäme mich darüber, wie sehr mein Mut gesunken ist. Doch will ich die Teilnahme, die Ihr für einen unglücklichen Wanderer zeigt, nicht dadurch verscherzen, daß ich länger den feigen Einflüsterungen eines Gefühles Gehör gebe, das bis zu diesem Tage meinem Busen ein Fremdling war.«
Das Mädchen blickte zaghaft und mit reger Teilnahme zu ihm herüber, als er sich vorsichtig erhob und den Baumstamm entlangrutschte, der fast in wagerrechter Lage aus dem Felsen hervorragte und sich unter der Last zu beugen schien. Bald stand der Jüngling aufrecht, und zwar von der Klippe, auf der das Mädchen sich befand, nur soweit entfernt, daß auf ebener Erde es nur eines tüchtigen Schrittes bedurft hätte, hinüberzukommcn. Allein statt eines solchen Schrittes auf ebenem Boden war hier ein Sprung über einen finsteren Abgrund nötig, in dessen Tiefe ein Waldstrom mit unbeschreiblichem Wüten brauste und aufkochte. Arthurs Kniee schlotterten, seine Füße wurden ihm bleischwer und schienen ihn nicht mehr tragen zu wollen. In höherem Grade als je erfuhr er jenen entnervenden Einfluß, den diejenigen nie vergessen können, die von ihm in ähnlicher Gefahr überwältigt wurden.
Das Mädchen gewahrte des Jünglings innere Bewegung und sah deren wahrscheinliche Folgen vorher. Sie versuchte das einzige noch mögliche Mittel, sein Selbstvertrauen wieder herzustellen. Leichten Fußes sprang sie von dem Felsen auf den Baumstamm, auf dem sie sich mit der Leichtigkeit und Sicherheit eines Vogels wiegte, und kehrte dann schnell ebenso zur Klippe zurück. Dann streckte sie die Hand aus, indem sie sagte: »Mein Arm ist nur ein schwaches Geländer; doch schreitet nur mit Entschlossenheit vorwärts, so werdet Ihr Euch ebenso sicher fühlen, wie auf den Berner Verschanzungen.«
Nun aber siegte in Arthur die Scham über die Furcht, so daß er den Beistand des Mädchens ausschlug, sich ein Herz faßte und glücklich den furchtbaren Sprung vollführte, der ihn auf eben die Klippe brachte, auf der sich seine gütige Helferin befand.
Des Mädchens Hand zu ergreifen und sie zu rührendem Beweise seiner Dankbarkeit und Hochachtung an die Lippen zu drücken, war natürlich das erste, was der Jüngling tat; auch war es der Schweizerin nicht möglich, ihn daran zu hindern, ohne eine ihrem Gemüte fremdartige Sprödigkeit anzunehmen. Wer hätte auf einer Felsengruppe von kaum fünf Fuß Breite und drei Fuß Länge einen galanten Höflichkeitszwist anfangen mögen?