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Fünfzehntes Kapitel.

Und diesen Ort erbauten unsere Väter
Für Menschen!

Altes Schauspiel.

Das Verließ, in welches der jüngere Philipson eingesperrt wurde, war eine der düsteren Höhlen, welche Schmach rufen über die Unmenschlichkeit unserer Vorfahren. Sie schienen fast ganz unempfindlich für den Unterschied von Schuld und Unschuld gewesen zu sein, denn die Folgen einer bloßen Anklage waren weit ernsthafter, als in unseren eigenen Tagen die Einsperrung, welche als verschärfte Strafe für Verbrechen ertheilt wird.

Der Kerker Arthur Philipson's hatte eine beträchtliche Länge, war aber schmal und finster und in den Felsen gehauen, auf welchem der Thurm stand. Eine kleine Lampe ward ihm, wiewohl nicht ohne Murren, bewilligt, aber seine Arme blieben noch immer gefesselt; und als er um einen Trunk Wasser bat, gab einer der schrecklichen Trabanten, von denen er in seine Zelle hineingestoßen wurde, mürrisch zur Antwort, er werde seinen Durst wohl so lange aushalten können, als sein Leben noch dauern würde – eine traurige Erwiderung, welche muthmaßen ließ, seine Entbehrungen werden so lange währen als sein Leben, keines von beiden werde aber lange dauern. Mit Hülfe der dämmernden Lampe hatte er sich zu einer Bank oder einem rauhen, in den Felsen gehauenen Sitz hingefunden; und als sich seine Augen nach und nach an die Dunkelheit des Ortes gewöhnten, in welchen er eingeschlossen war, gewahrte er eine schreckliche Spalte im Boden des Verließes, die einigermaßen der Oeffnung eines Ziehbrunnens glich, aber von unregelmäßiger Gestalt und augenscheinlich die Mündung eines durch die Natur gebildeten Schlundes war, dessen Bildung menschliche Arbeit und Kunst in etwas unterstützt hatte.

»Hier also ist mein Todesbett,« sagte er, »und dieser Schlund vielleicht das Grab, welches meinen Ueberresten entgegengähnt! Ich habe von Gefangenen gehört, die in solche furchtbare Abgründe lebendig hinuntergeworfen wurden; da mußten sie langsam verenden, von Wunden gepeinigt und Niemand vernahm ihre Seufzer, Niemand beweinte ihren Tod!«

Er näherte seinen Kopf der entsetzlichen Aushöhlung und hörte, wie in großer Tiefe, den Ton eines dunkeln und wie es schien unterirdischen Stromes. Die lichtlosen Wellen schienen murrend ihr Opfer zu fordern. Der Tod ist furchtbar in jedem Lebensalter, aber in der ersten Springfluth der Jugend, wenn alle Gefühle der Freude lustig sich wiegen und nach Genuß streben, mit Gewalt von dem Mahle weggeführt zu werden, zu welchem man sich kaum erst niedergesetzt hat, ist besonders und selbst dann abschreckend, wenn ein solches Ereigniß im gewöhnlichen Gang der Natur eintritt. Aber wie der junge Philipson am Rande der unterirdischen Tiefe zu sitzen und in schrecklichen Zweifeln über die Art, in welcher der Tod hereinbrechen wird, zu grübeln, war eine Lage, welche den kühnsten Geist gebrochen haben würde. Der unglückliche Gefangene war gänzlich unfähig, die Thränen zurückzuhalten, die in Strömen aus seinen Augen flossen, und welche ihm seine gebundenen Arme nicht abzuwischen verstatteten. Wir haben bereits bemerkt, daß der Jüngling, obgleich tapfer in Gefahren, denen man in's Gesicht sehen und die man mit Thätigkeit und Anstrengung besiegen konnte, von lebhafter Einbildungskraft und außerordentlich zugänglich für alle die Uebertreibungen war, welche in einem Zustand hülfloser Ungewißheit die Phantasie schafft, um die Seele dessen zu zerrütten, welcher unthätig ein heranziehendes Unglück erwarten muß.

Doch waren die Gedanken Arthur Philipsons nicht selbstisch. Sie kehrten zu seinem Vater zurück, dessen gerechte und edle Gemüthsart eben so sehr geeignet war, Verehrung hervorzurufen, als seine unaufhörliche väterliche Sorge und Zuneigung, Liebe und Dankbarkeit erwecken mußte. Und er war in den Händen gewissenloser Schurken, die den Entschluß gefaßt hatten, ihre Räuberei durch einen heimlichen Mord zu verbergen. So viele Gefahren hatten ihn nicht entmuthigt, so vielen Kämpfen war er entschlossen entgegen getreten, und jetzt lag er gebunden und wehrlos dem Dolche des niedrigsten Meuchelmörders ausgesetzt. Arthur dachte wieder an die wankende Spitze des Felsens bei Geierstein und den abscheulichen Geier, welcher sich auf ihn, als auf seine Beute, stürzen wollte. Hier war kein Engel, der aus dem Nebel hervortrat und ihn auf einen sichern Weg leitete, hier war die Finsterniß unterirdisch und ewig, bis der Gefangene das Messer des Mörders gegen die Lampe blitzen sah, welche ihm Licht gab, um den verhängnißvollen Streich zu führen. Diese Seelenangst dauerte fort, bis die Gefühle des unglücklichen Gefangenen sich zur Raserei steigerten. Er fuhr auf und strengte sich so sehr an, sich von seinen Banden zu befreien, daß es schien, sie hätten sollen von ihm abfallen, wie von den Armen des mächtigen Nazareners. Aber die Stricke waren von zu starkem Gewebe, und nach einer heftigen und vergeblichen Bemühung, bei welcher die Fesseln ihm in's Fleisch zu dringen schienen, verlor der Gefangene das Gleichgewicht. Der Gedanke durchschauderte ihn, er werde rückwärts in die unterirdische Tiefe stürzen, und er fiel mit großer Gewalt auf den Boden.

Zum Glück entging er der Gefahr, welche er in seiner Seelenangst befürchtet, aber mit so genauer Noth, daß er mit dem Kopf gegen die niedrige und zerbrochene Schutzmauer stieß, welche die Mündung der gräßlichen Höhle theilweise umgab. Hier lag er betäubt und ohne Bewegung, und, da die Lampe durch seinen Fall erloschen war, in völlige Finsterniß versenkt. Ein knarrender Ton rief ihn zur Empfindung zurück.

»Sie kommen – sie kommen – die Mörder! Oh, Mutter der Gnaden! und oh, gütiger Himmel, vergib meine Uebertretungen!«

Er blickte auf und nahm mit geblendeten Augen wahr, daß eine finstere Gestalt sich ihm mit einem Messer in der einen, mit einer Fackel in der andern Hand näherte. Es hätte wohl der Mann sein können, dem es oblag, das letzte Geschäft an dem unglücklichen Gefangenen zu verrichten, wenn er allein gekommen wäre. Aber er kam nicht allein – seine Fackel beleuchtete das weiße Gewand eines Frauenzimmers, und es wurde dadurch so erhellt, daß Arthur eine Gestalt entdecken und selbst einen Schimmer von Zügen erhaschen konnte, die er nie zu vergessen vermochte, obgleich er sie jetzt unter Umständen erblickte, wie er es am wenigsten hätte erwarten können. Des Gefangenen unaussprechliches Erstaunen bewirkte in ihm eine solche Ehrfurcht, daß sie seinen persönlichen Schrecken überwältigte. – »Kann es sein?« murmelte er; »hat sie wirklich die Gewalt eines Elementargeistes? Hat sie diesen menschenähnlichen und dunklen Geist heraufbeschworen, um mit ihr für meine Befreiung zu wirken?«

Es schien, als ob seine Vermuthung richtig wäre, denn die Person in Schwarz gab das Licht Anna von Geierstein oder wenigstens der Gestalt, die mit dieser vollkommene Aehnlichkeit besaß, beugte sich über den Gefangenen und schnitt den Strick, der seine Arme gefesselt hielt, mit solcher Geschwindigkeit durch, daß man hätte meinen können, er falle durch ihre Berührung von ihm ab. Arthurs erster Versuch, aufzustehen, war ohne Erfolg, und zum zweiten Male war es die Hand Anna's von Geierstein – die Hand einer Lebenden, dem Gefühl und dem Gesicht bemerklich – die ihm aufstehen half und ihn stützte, wie sie es früher gethan, als die Gewässer des Waldstroms zu ihren Füßen donnerten. Ihre Berührung brachte eine Wirkung hervor, die weit über den leichten Beistand hinausging, welchen die Stärke des Mädchens hätte gewähren können. Der Muth kehrte in sein Herz, Kraft und Leben in seine erstarrten und zerschlagenen Glieder zurück, solchen Einfluß hat der menschliche Geist, wenn er zur Thätigkeit aufgeregt wird, auf die Schwächen des menschlichen Körpers. Er wollte eben Anna mit dem Ausdruck der innigsten Dankbarkeit anreden, aber die Worte erstarben ihm auf der Zunge, als das geheimnißvolle Frauenzimmer den Finger an die Lippen legte, ihm ein Zeichen zu schweigen machte und ihm winkte, ihr zu folgen. Er gehorchte in schweigendem Staunen. Sie traten durch den Eingang des düsteren Kerkers und dann durch einen oder zwei kurze aber verworrene Gänge, die an einigen Stellen in den Felsen gehauen, an anderen aus behauenen Steinen aufgebaut waren und wahrscheinlich zu ähnlichen Behältnissen führten, wie das, in welchem Arthur kürzlich gefangen gesessen hatte.

Die Erinnerung daran, daß sein Vater auch in einer so greulichen Zelle eingesperrt sei, als er eben verlassen, veranlaßte Arthur still zu stehen, als sie unten an einer kleinen Wendeltreppe angelangt waren, die augenscheinlich aus diesem Theile des Gebäudes herausführte.

»Kommt,« sagte er, »theuerste Anna, leitet mich zu seiner Befreiung. Ich darf meinen Vater nicht verlassen.«

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf und winkte ihm, weiter zu gehen.

»Wenn sich Eure Macht nicht so weit erstreckt, daß Ihr meines Vaters Leben retten könnt, so will ich zurückbleiben und ihn retten oder sterben! Anna, theuerste Anna – –«

Sie gab keine Antwort, aber ihr Begleiter erwiderte in tiefem, seinem Aeußeren nicht angemessenen Tone: »Sprich, junger Mann, mit denen, die dir antworten dürfen; oder besser, sei still und horch' auf meine Anweisungen; sie führen zu dem einzigen Weg, der deinen Vater in Freiheit und Sicherheit bringen kann.«

Sie stiegen die Treppe hinan und Anna von Geierstein ging voraus. Arthur, der dicht hinter ihr kam, konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß von ihrer Gestalt ein Theil des Lichtes ausgehe, welches die Fackel auf ihr Gewand strahlte. Es war dies ohne Zweifel die Wirkung der abergläubischen Meinung, welche Rudolphs Erzählung von ihrer Mutter in seinem Geist hervorgerufen hatte. Diese wurde noch befestigt durch ihr plötzliches Erscheinen an einem Ort und unter Verhältnissen, in denen man sie so wenig erwarten konnte. Es blieb ihm indessen nicht viel Zeit, um über ihr Aussehen oder ihr Betragen nachzusinnen, denn sie stieg die Treppe leichteren Schrittes hinauf, als daß er ihr in diesem Augenblick auf der Ferse hätte folgen können, und war nicht mehr zu sehen, als er den Absatz erreichte. Ob sie aber in die Luft zerschmolzen oder sich seitwärts in einen anderen Gang gewendet hatte, ward ihm nicht ein Augenblick zu untersuchen Muße gelassen.

»Hier ist Euer Weg,« sprach sein schwarzer Führer. Zugleich löschte er das Licht aus, ergriff Philipson am Arm und führte ihn durch einen dunklen Gang von beträchtlicher Länge. Der junge Mann war einen Augenblick nicht ohne schlimme Ahnungen, denn er dachte an die Unheil weissagenden Blicke seines Führers, und daß derselbe mit einem Dolch oder Messer bewaffnet war, den er ihm auf einmal in's Herz stoßen konnte. Aber er vermochte es doch nicht über sich, Verrath von einem zu fürchten, den er in der Gesellschaft Anna's von Geierstein gesehen. Er bat ihr in seinem Herzen die Furcht ab, welche darüber hingezogen war, und unterwarf sich der Leitung seines Begleiters, der mit hastigen, aber leichten Schritten weiter ging, und ihm zuflüsterte, dasselbe zu thun. »Hier ist unser Weg zu Ende,« sagte er endlich.

Als er dies sagte, ging eine Thüre auf, und sie traten in ein düsteres, gothisches Gemach, in welchem große, eichene Schränke, augenscheinlich mit Büchern und Handschriften gefüllt, standen. Als Arthur um sich blickte, die Augen geblendet durch den plötzlichen Schimmer des Tageslichts, von welchem er einige Zeit ausgeschlossen gewesen war, verschwand die Thüre, durch welche sie eingetreten waren. Dies überraschte ihn jedoch nicht so sehr, denn er begriff, daß sie, wenn sie zugemacht war, nicht von den Schränken unterschieden werden konnte, da ihr Aeußeres mit dem der letzteren übereinstimmte, und diese um den Eingang herstanden, dessen sie sich bedient hatten, eine Einrichtung, die damals manchmal angewendet wurde, und heutzutage sehr häufig zu sehen ist. Jetzt hatte er den vollständigen Anblick seines Befreiers. Derselbe trug blos die Gewänder und Züge eines Geistlichen, ohne den Ausdruck übernatürlicher Schauerlichkeit, welchen ihm die unvollständige Beleuchtung, in Verbindung mit dem düsteren Aussehen von Allem in dem Verließ, verliehen hatte.

Der junge Philipson athmete wieder freier, und wie einer, den man aus einem häßlichen Traume erweckt; die übernatürlichen Eigenschaften, mit welchen seine Einbildungskraft Anna von Geierstein ausgestattet hatte, fingen an zu verschwinden, und er redete seinen Befreier also an:

»Damit ich meinen Dank aussprechen kann, ehrwürdiger Vater, wo ich so besonders Veranlassung dazu habe, laßt mich Euch fragen, ob Anna von Geierstein – –«

»Sprich von dem, was dein Haus und deine Familie betrifft,« antwortete der Priester so kurz, wie früher. »Hast du deines Vaters Gefahr so bald vergessen?«

»Beim Himmel, nein!« versetzte der Jüngling; »sagt mir nur, was ich für seine Befreiung zu thun habe, und Ihr sollt sehen, wie ein Sohn für seinen Vater streiten kann.«

»Das ist gut, denn es ist nothwendig,« sagte der Priester; »ziehe diese Kleider an und folge mir.«

Damit reichte er ihm die Kutte und Kappe der Novizen, und fuhr fort:

»Zieh' die Kappe über dein Gesicht und gib Niemand eine Antwort, wer dir begegnet. Ich werde sagen, du stehest unter einem Gelübde. Möge der Himmel dem nichtswürdigen Tyrannen vergeben, der uns in die Nothwendigkeit versetzt, zu solcher Verstellung unsere Zuflucht zu nehmen. Folge mir ganz nahe, und hüte dich zu sprechen!«

Die Verkleidung war bald vollendet, der Pfarrer von St. Paul, denn dieser war es, ging voran, und Arthur folgte ein oder zwei Schritte hinter ihm. Dabei nahm er, so gut er konnte, den bescheidenen Gang und das demüthige Wesen eines geistlichen Novizen an. Sie verließen die Bibliothek oder das Studirzimmer, stiegen eine kurze Treppe hinunter, und standen auf der Straße von La Ferrette. Der junge Mann konnte der Versuchung, zurückzuschauen, nicht widerstehen, hatte jedoch blos Zeit zu sehen, daß das Haus, welches sie verlassen, ein sehr kleines Gebäude in gothischem Geschmack war. Auf der einen Seite desselben erhob sich die St. Paulskirche, und auf der andern das finstere, schwarze Thorgebäude oder der Eingangsthurm.

»Folge mir, Melchior,« sprach der Priester mit seiner tiefen Stimme, und seine durchdringenden Augen hafteten dabei auf dem unterschobenen Novizen mit einem Ausdruck, der diesen augenblicklich wieder zum Gefühl seiner Pflicht zurückbrachte.

Sie gingen weiter, und Niemand achtete auf sie, außer daß man den Priester mit schweigender Verbeugung grüßte oder Worte der Begrüßung murmelte, bis der Führer, als sie nahezu die Mitte des Städtchens erreicht, auf einmal von der Straße ablenkte, und nordwärts durch ein kurzes Gäßchen schritt. Hier kamen sie an eine Treppenflucht, welche, wie in befestigten Städten, gewöhnlich zu einem Spaziergang hinter der Brustwehr leitete. Diese war von der alten, gothischen Art, und in regelmäßigen Zwischenräumen mit Thürmen von mancherlei Gestalt und Höhe in verschiedenen Winkeln besetzt.

Es waren Schildwachen auf den Mauern, aber die Wache wurde, wie es schien, nicht von regelmäßigen Soldaten, sondern von Bürgern versehen, die Spieße oder Schwerter in der Hand hatten. Der erste, an dem sie vorüberkamen, sagte zu dem Priester in halb flüsterndem Tone: »Geht's mit unserem Vorhaben?«

»Ja,« versetzte der Priester. – » Benedicite!«

» Deo gratias!« entgegnete der bewaffnete Bürger, und setzte seinen Gang auf den Mauerzinnen fort.

Die anderen Schildwachen schienen sie zu vermeiden; denn sie verschwanden als sie näher kamen, oder gingen an ihnen vorbei, ohne sie anzusehen, oder stellten sich, als bemerkten sie nichts von ihnen. Endlich brachte sie ihr Weg an ein altes Thürmchen, welches seine Spitze über die Mauer emporhob, und in das eine kleine Thüre von den Mauerzinnen aus sich öffnete. Es war in einer Ecke gesondert, und nicht beherrscht von einem der Winkel der Befestigungswerke. In einer wohlbewachten Veste hätte ein solcher Punkt eine Schildwache für sich haben müssen, aber hier war Niemand, der diese Pflicht versah.

»Nun höre mich wohl an,« sagte der Priester, »denn deines Vaters, und es könnte sein, auch manches anderen Mannes Leben hängt von deiner Aufmerksamkeit und Geschwindigkeit ab. Du kannst laufen? Du kannst springen?«

»Ich fühle keine Müdigkeit, Vater, seit Ihr mich befreit,« antwortete Arthur; »und das Rothwild, das ich oft gejagt, soll mir's, wenn solches auf dem Spiele steht, nicht zuvorthun.«

»Merke dir also,« versetzte der Pfarrherr von St. Paul, »dies Thürmchen enthält eine Treppe, die zu einer kleinen Ausfallpforte führt. Ich werde dich hineinlassen. Das Ausfallpförtchen ist innen verriegelt, aber nicht geschlossen. Es wird dir den Zugang zu dem Graben möglich machen, und dieser ist fast ganz trocken. Hast du denselben überschritten, so befindest du dich im Umfang der äußeren Verschanzungen. Du kannst Schildwachen wahrnehmen, aber sie werden dich nicht sehen – sprich nicht mit ihnen, sondern suche deinen Weg über das Pfahlwerk so gut du kannst. Ich hoffe, du kannst über einen unvertheidigten Wall klettern?«

»Ich habe einen vertheidigten überstiegen,« sagte Arthur. »Was ist mein nächstes Geschäft? – Alles das ist leicht.«

»Du wirst ein Dickicht oder eine Strecke niederen Gebüsches erblicken – mach' daß du in aller Geschwindigkeit dahin kommst. Wenn du dort bist, so wende dich ostwärts; aber gib Acht, daß du bei Einhaltung dieser Richtung nicht von den burgundischen Freischärlern gesehen wirst, die an diesem Theil der Mauern auf der Wache sind. Eine Ladung Pfeile und der Ausfall einer Reiterabtheilung, dich zu verfolgen, würde die Folge davon sein, wenn sie dich zu Gesicht bekämen; und ihre Augen sind die des Adlers, der in weiter Ferne das Aas erspäht.«

»Ich werde vorsichtig sein,« sagte der junge Engländer.

»Außen an dem Dickicht,« fuhr der Priester fort, »wirst du einen Fußweg finden, oder vielmehr einen Pfad, der nur von Schafen begangen wird; er zieht sich in einiger Entfernung von den Mauern hin, und wird dich auf die Straße leiten, die von La Ferrette nach Basel führt. Eile auf dieser fort, bis du auf die herankommenden Schweizer stoßest. Sag' ihnen, daß deines Vaters Stunden gezählt sind, und daß sie schnell sein müssen, wenn sie ihn retten wollen. Sag' Rudolph Donnerhügel insbesondere, der schwarze Mönch von der St. Paulskirche erwarte, ihm an der nördlichen Ausfallpforte seinen Segen ertheilen zu können. Verstehst du mich?«

»Vollkommen,« antwortete der junge Mann.

Der Pfarrer von der St. Paulskirche stieß nun die niedrige Pforte des Thürmchens auf, und Arthur war im Begriff die Treppe hinunterzulaufen, die er vor sich sah.

»Warte noch einen Augenblick,« sprach da der Priester, »und zieh' die Tracht des Novizen aus, die dir blos hinderlich sein kann.«

Arthur hatte sie in einem Nu abgeworfen, und wollte abermals davoneilen.

»Halt, noch einen Augenblick,« fuhr der schwarze Priester fort, »dieses Gewand könnte die Geschichte verrathen. – Warte also und hilf mir mein Oberkleid ausziehen.«

Arthur brannte vor Ungeduld, begriff aber doch die Nothwendigkeit, seinem Führer zu gehorchen. Als er dem alten Mann das lange und weite Obergewand abgestreift, stand derselbe in einem Leibrock von schwarzer Serche vor ihm, wie er für seinen Stand und Beruf paßte. Dieser war aber nicht mit einer Leibbinde umgürtet, wie sie die Geistlichen tragen, sondern mit einem aller Kirchenordnung zuwiderlaufenden, büffelledernen Gehenk, an welchem ein auf Hieb und Stoß berechnetes, kurzes, zweischneidiges Schwert hing.

»Gib mir jetzt den Novizen-Anzug,« sprach der ehrwürdige Vater, »und darunter will ich die Priestertracht anlegen. Da ich für jetzt einige Zeichen eines Laien an mir trage, so geziemt es sich, daß ich sie mit einem doppelten geistlichen Gewands bedecke.«

Dieses sagte er mit einem unheimlichen Lächeln, welches sogar noch mehr geeignet war zu erschrecken und einzuschüchtern, als das ernste Stirnrunzeln, was besser zu seinen Zügen paßte und der gewöhnliche Ausdruck derselben war.

»Und nun,« sagte er, »was zaudert der Narr, wenn Leben und Tod an seiner Eile hängt?«

Der junge Botschafter wartete keinen zweiten Wink ab, sondern stieg alsbald die Treppe hinunter, als ob es nur eine einzelne Stufe gewesen wäre. Er fand das Thor, wie der Priester gesagt hatte, blos inwendig durch Riegel gesperrt, welche wenig Widerstand darboten; nur machte es ihr rostiger Zustand schwierig, sie aufzuziehen. Dies gelang Arthur indessen, und bald befand er sich neben dem Graben, der ein grünes und sumpfiges Aussehen darbot. Ohne sich mit einer Untersuchung aufzuhalten, ob er tief oder seicht wäre, und fast ohne von der Klebrigkeit des Morastes etwas zu merken, erzwang sich der junge Engländer einen Weg durch denselben. Er erreichte die entgegengesetzte Seite, ohne die Aufmerksamkeit zweier würdiger Bürger von La Ferrette zu erregen, die als Wächter an den Verschanzungen standen. Der eine von ihnen war eifrig mit dem Durchlesen einer weltlichen Chronik oder religiösen Legende beschäftigt; der andere prüfte ebenso ängstlich den Rand des Grabens, vielleicht um Aale oder Frösche zu fangen, denn er trug einen Beutel auf der Schulter, um derartige Beute aufzubewahren.

Als Arthur dieses sah, hatte er, wie der Priester vorausgesagt, nichts von der Wachsamkeit der Schildwachen zu besorgen, und sprang an dem Pfahlwerk hinauf, in der Hoffnung, sich an der Spitze desselben festhalten und sie mit einem kühnen Sprung erreichen zu können. Er hatte indessen seine Kräfte überschätzt, oder sie waren durch seine Fesseln und Einsperrung geschwächt worden. Er fiel leicht zurück auf den Boden, und als er wieder auf die Füße kam, sah er einen Diener in Gelb und Blau vor sich, die Kleidung der Diener Hagenbachs. Derselbe kam gegen ihn hergelaufen, und schrie den trägen und unaufmerksamen Schildwachen zu: »Auf! – Auf! Ihr faulen Schweine! Haltet den Hund an, oder ihr seid beide des Todes!«

Der Fischer, der auf der anderen Seite stand, legte seinen Aalstecher nieder, zog sein Schwert, schwang es über seinem Kopf und schritt nicht eben in großer Eile auf Philipson zu. Der Student machte seine Sache noch ungeschickter. Denn in seiner Eile, das Buch zuzumachen und seinen Obliegenheiten nachzugehen, gerieth er (ohne Zweifel aus Unachtsamkeit) gerade dem Soldaten in den Weg. Der Letztere, der mit der größten Eile daherlief, stieß mit dem Bürger so derb zusammen, daß sie beide zu Boden fielen. Der Bürger war jedoch ein ansehnlicher und starker Mann, und lag noch da, wohin er gefallen, während der Andere, weniger schwer und wahrscheinlich auf das Zusammentreffen weniger gefaßt, das Gleichgewicht und die Herrschaft über seine Glieder zugleich verlor, über den Rand des Grabens rollte, und in den Schlamm und Morast versank. Der Fischer und der Student sprangen mit bedächtiger Eile dem unerwarteten und unwillkommenen Theilhaber an ihrer Wache zu Hülfe. Arthur aber, gestachelt durch das Gefühl der drohenden Gefahr, sprang mit mehr Gewandtheit und Kraft an den Verschanzungen empor, als früher; sein Schwung glückte, und er eilte jetzt, wie er geheißen worden, mit der äußersten Geschwindigkeit dem Schutze der nahen Gebüsche zu. Auch erreichte er sie ohne irgend welchen Lärm von den Mauern zu hören. Er wußte aber, daß seine Lage äußerst unsicher geworden war, seit wenigstens ein Mensch von seinem Entweichen aus der Stadt wußte, und daß dieser nicht unterlassen würde, Lärm zu machen, wenn er im Stande war, sich aus dem Morast herauszuarbeiten. Indessen wollte es Arthur bedünken, als würden die bewaffneten Bürger wahrscheinlich sich dabei mehr als scheinbare, denn als wirkliche Helfer erweisen. Während solche Gedanken ihm durch den Kopf schossen, vermehrten sie noch die natürliche Schnelligkeit seiner Füße, und so erreichte er in weniger Zeit, als man es hätte für möglich halten sollen, das lichtere Ende des Dickichts, von wo aus er, wie der Priester angedeutet, den östlichen Thurm und die nahen Mauerzinnen der Stadt sehen konnte. –

»Von Feinden angefüllt und wilden Waffen.«

Es erforderte einige Geschicklichkeit von Seiten des Flüchtlings, sich so weit gedeckt zu halten, daß er auf seinem Gang nicht von denen gesehen wurde, die er so deutlich erblickte. Er erwartete deshalb jeden Augenblick einen Hornstoß zu vernehmen, oder die Unruhe und Bewegung unter den Vertheidigern wahrzunehmen, die einen Ausfall vermuthen ließen. Keines von Beiden fand indessen statt. Der junge Philipson gab genau auf den Fußpfad Acht, den ihm der Priester bezeichnet, und brachte sich außerhalb des Gesichtskreises der bewachten Thürme; dann wandte er sich der besuchten Heerstraße zu, auf welcher er sich am Morgen mit seinem Vater der Stadt genähert, und hatte das Glück, an dem Staub und Glanz der Waffen eine kleine Abtheilung bewaffneter Männer zu erblicken, die gegen La Ferrette sich hinzogen, und die er mit Recht für den Vortrab der Schweizer Gesandtschaft hielt.

Bald stieß er mit der Abtheilung zusammen, welche aus etwa zehn Mann, mit Rudolph Donnerhügel an ihrer Spitze, bestand. Die mit Koth überzogene und an einigen Stellen mit Blut befleckte Gestalt Philipsons (denn bei seinem Fall in dem Verließ hatte er sich eine leichte Wunde zugezogen), erregte die Verwunderung eines Jeden, der sich zur Anhörung der Neuigkeiten näher drängte. Rudolph allein schien ungerührt. Wie das Gesicht der alten Bildsäule des Herkules war das Antlitz des gewaltigen Berners breit und derb, und zeigte eine Miene von gleichgültiger und fast starrer Ruhe, welche sich blos in Augenblicken der wildesten Erregung veränderte.

Er hörte ohne Bewegung der athemlosen Erzählung Arthur Philipsons zu, daß sein Vater im Gefängniß und zum Tod verurtheilt sei.

»Und was habt Ihr sonst erwartet?« fragte der Berner kalt. »Hat man Euch nicht gewarnt? Es war leicht, das Unglück vorauszusehen, aber es dürfte unmöglich sein, ihm jetzt noch zuvorzukommen.«

»Ich gestehe – ich gestehe,« sagte Arthur, »daß Ihr klug waret und wir Thoren. – Aber ach! denkt nicht an unsere Thorheit im Augenblick, wo es mit uns auf's Aeußerste gekommen ist! Seid der wackere und edelmüthige Kämpe, für den Euch Eure Kantone erklären – gewährt uns Eure Hülfe in dieser Todesnoth!«

»Wie aber, und auf welche Art?« sagte Rudolph noch unschlüssig. »Wir haben die Basler entlassen, die uns gerne Beistand geleistet hätten. So viel Gewicht hat das Beispiel Eures Gehorsams über uns gehabt. Jetzt sind wir kaum zwanzig Mann stark – wie könnt Ihr von uns verlangen, eine besetzte Stadt anzugreifen, die von Festungswerken unterstützt wird, und mehr als sechsmal so viel Leute enthält, als wir sind?«

»Ihr habt Freunde in der Festung,« entgegnete Arthur, »ich bin davon überzeugt. Horcht, was ich Euch insgeheim zu sagen habe – der schwarze Mönch thut Euch zu wissen – Euch Rudolph Donnerhügel von Bern – daß er Euch seinen Segen an der nördlichen Ausfallpforte zu geben erwartet.«

»Ja, ohne Zweifel,« fuhr Rudolph fort, und entzog sich Arthurs Versuch, ihn in ein vertrautes Gespräch zu verflechten, dadurch, daß er laut genug sprach, um von Allen ringsum gehört werden zu können. »Es ist kaum daran zu zweifeln, ich werde an dem nördlichen Ausfallthore einen Priester finden, der mich beichten läßt und mich losspricht, und einen Block, ein Beil und einen Nachrichter, um mir den Hals abzuschlagen, wenn Jener fertig ist. Aber ich werde den Hals des Sohnes meines Vaters schwerlich in eine solche Gefahr bringen. Wenn sie einen englischen Krämer ermorden, der sie nicht beleidigt hat, was werden sie mit dem Bären von Bern anfangen, dessen Fanger und Tatzen Archibald von Hagenbach zuvor schon gefühlt hat?«

Bei diesen Worten faltete der junge Philipson die Hände und hob sie zum Himmel hinauf, wie einer, der nur noch von dort Hülfe erwartet. Die Thränen schossen ihm in die Augen, er ballte die Hände, knirschte mit den Zähnen und drehte dem Schweizer den Rücken zu.

»Was soll diese Heftigkeit?« sagte Rudolph, »wohin wollt Ihr jetzt?«

»Meinen Vater erretten oder mit ihm zu Grunde gehen!« rief Arthur, und war im Begriff, schnellen Laufes nach La Ferrette zurückzueilen, als ein derber, aber gut gemeinter Griff ihn festhielt.

»Wartet ein wenig, bis ich mein Strumpfband geknüpft habe,« sagte Siegmund Biedermann, »aber ich will mit Euch gehen, König Arthur.«

»Du?« rief Rudolph, »du? – und ohne Befehl?«

»Warum, siehst du, Vetter Rudolph,« sagte der Jüngling, und fuhr mit großer Ruhe fort, sein Strumpfband fest zu machen, welches, nach der Sitte der Zeit, in etwas verwickelter Weise angebracht war. »Du sagst uns immer, wir seien Schweizer und freie Leute; und was bringt es denn für einen Vortheil, ein freier Mann zu sein, wenn einem nicht freisteht zu thun, was er im Sinn hat? Du bist mein Hauptmann, so lang es mir gefüllt und nicht länger.«

»Und warum solltest du mich jetzt verlassen, du Narr? Warum unter allen Minuten im Jahr gerade in dieser?« fragte der Berner.

»Siehst du,« versetzte der widerspenstige Bergbewohner, »ich habe den verwichenen Monat mit Arthur gejagt, und ich habe ihn gern – er hat mich nur einen Narren oder Simpel genannt, weil mir die Gedanken langsamer und kann sein, etwas schwerfälliger kommen, als anderen Leuten. Und ich habe seinen Vater gern – der alte Mann hat mir diesen Gürtel und dies Horn geschenkt, und ich stehe dafür, es kostet manchen Kreuzer. Er hat mir auch gesagt, ich sollte nicht muthlos sein, denn es wäre besser, richtig zu denken, als schnell, und ich habe Verstand genug zum einen, wenn auch nicht zum andern. Und der gute, alte Mann ist nun in Archibalds Schlachthaus! – Aber wir werden ihn befreien, Arthur, wenn zwei Männer es vermögen. Du sollst mich fechten sehen, so lang eine Stahlklinge und ein eschener Schaft zusammenhalten.«

Bei diesen Worten schwang er seine ungeheure Partisane, daß sie unter seiner Faust wie eine Weidenruthe schwankte. Wahrlich, wenn es gegolten hätte, die Ungerechtigkeit wie einen Ochsen niederzuschlagen, so wäre in der ganzen auserlesenen Gesellschaft Keiner gewesen, der dieses Geschäft so gut vollbracht haben würde, als Siegmund; denn obschon etwas kürzer von Gestalt als seine Brüder, und von weniger lebhaftem Geist, besaß er doch eine ungeheure Breite der Schultern und Kraft der Muskeln. War er völlig aufgelegt und zum Kampf gereizt – ein Fall, der selten eintrat – so dürfte es vielleicht Rudolph selbst, so weit es sich von bloßer Stärke handelte, schwierig gefunden haben, ihm die Stange zu halten.

Redlichkeit der Gesinnung und Kraft des Ausdrucks bringen stets eine Wirkung auf unverdorbene und edle Gemüther hervor. Mehrere von den jungen Leuten umher riefen, Siegmund habe wohl gesprochen; wenn der alte Mann sich selbst in Gefahr gebracht habe, so sei es geschehen, weil er mehr an den Erfolg ihres Geschäfts, als an seine eigene Sicherheit gedacht, und sich lieber ihrem Schutze habe entziehen, als sie seinetwegen in Streitigkeiten habe verwickeln wollen. »Um so mehr,« sagten sie, »sind wir verpflichtet, ihn vor Schaden zu bewahren; und dies wollen wir auch thun.«

»Schweigt! Ihr altklugen Leute!« sagte Rudolph, und blickte mit einer Miene der Überlegenheit um sich, »und Ihr, Arthur von England, geht zu dem Landammann, der dicht hinter uns ist; Ihr wisset, er ist unser Oberanführer, er ist eben so Eures Vaters aufrichtiger Freund, und was er immer zu Eures Vaters Gunsten beschließen mag, Ihr werdet an uns Allen die bereitwilligsten Vollstrecker seines Willens finden.«

Seine Gefährten schienen mit diesem Vorschlag einverstanden, und der junge Philipson sah, daß er nothwendiger Weise sich in das fügen müsse, was man ihm anempfohlen hatte. Er hegte zwar noch immer die Ansicht, der Berner könnte ihn vermögen, seine mannigfaltigen Verbindungen, sowohl mit den jungen Leuten aus der Schweiz, als aus Basel, und selbst aus der Stadt La Ferrette, wie sie aus den Aeußerungen des Pfarrers an der St. Paulskirche hergeleitet werden könnten, unter solchen Umständen am kräftigsten zu unterstützen; aber er setzte mehr Vertrauen in die offene Biederkeit und die unwandelbare Treue Arnold Biedermanns, und eilte vorwärts, ihm seine traurige Erzählung vorzutragen, und ihn um seinen Beistand anzugehen.

Von der Spitze einer Anhöhe, welche er ein paar Minuten nach seinem Weggang von Rudolph und der Vorwache erreichte, erblickte er unter sich den ehrwürdigen Landammann und seine Genossen. Sie waren von ein paar jungen Leuten begleitet, die sich nicht länger auf der Seite der Gesellschaft zerstreuten, sondern ihnen auf dem Fuß und in militärischer Ordnung als Männer nachfolgten, die einen plötzlichen Angriff zurückzutreiben bereit waren.

Hinter ihnen kam ein Maulthier oder zwei mit dem Gepäck, und die Thiere, welche beim gewöhnlichen Gang ihrer Reise Anna von Geierstein und ihre Dienerin trugen. Beide waren von weiblichen Gestalten besetzt, wie gewöhnlich, und so weit Arthurs Gesicht reichte, trug die vorderste den wohlbekannten Anzug Anna's, von dem grauen Mantel bis auf die kleine Reiherfeder herab, welche sie seit ihrem Eintritt in Deutschland, der Sitte des Landes gemäß, als Zeugniß für ihren Rang als Mädchen von ausgezeichneter Geburt getragen hatte. Und doch, wenn des Jünglings Augen ihn jetzt recht berichteten, wie war zu verstehen, was sie ihm früher kund gethan, als sie vor kaum mehr als einer halben Stunde in dem unterirdischen Verließ von La Ferrette unter so ganz verschiedenen Umständen dieselbe Gestalt erblickt hatten? Das Gefühl, welches dieser Gedanke in ihm erregte, war mächtig, aber vorübergehend wie der Blitz, der durch den mitternächtlichen Himmel flammt, und welcher kaum wahrnehmbar wird, ehe er wieder in der Dunkelheit verschwindet. Oder vielmehr die Verwunderung, welche dieser wunderbare Anblick erregte, faßte in seiner Seele blos Grund in Verbindung mit der Angst um die Rettung seines Vaters, welche ihn vorherrschend beschäftigte.

»Wenn es wirklich ein Geist ist,« sagte er, »der diese schöne Gestalt trägt, so muß er so wohlthätig sein, als er liebenswürdig ist, und wird den Schutz, welchen der Sohn zweimal erfahren, noch eher auf den desselben würdigeren Vater ausdehnen.«

Ehe er jedoch Zeit hatte, einen solchen Gedanken weiter zu verfolgen, war er auf den Landammann und seine Gesellschaft gestoßen. Bei dieser erregte seine Erscheinung und sein Zustand dieselbe Ueberraschung, welche sie früher bei Rudolph und dem Vortrab veranlaßt hatten. Auf die wiederholten Fragen des Landammanns gab er einen kurzen Bericht von seiner eigenen Einkerkerung und Flucht. Den ganzen Ruhm der letzteren ließ er dem schwarzen Pfarrherrn an der St. Paulskirche, und erwähnte mit keinem Wort der anziehenderen weiblichen Erscheinung, von welcher dieser bei der wohlthätigen Handlung begleitet und unterstützt worden war. Auch einen andern Punkt verschwieg Arthur. Er hielt es nicht für passend, Arnold Biedermann den Auftrag mitzutheilen, den der Priester für Rudolph's Ohr allein bestimmt hatte. Ob Gutes daraus hervorging oder nicht, er hielt die Verpflichtung zu schweigen für heilig, die ihm ein Mann auferlegt, von welchem er so eben erst den gewichtigsten Beistand erhalten.

Der Landammann verstummte einen Augenblick vor Betrübniß und Ueberraschung über die Neuigkeiten, die er vernahm. Der alte Philipson hatte sich seine Achtung gewonnen sowohl durch die Lauterkeit und Festigkeit der Grundsätze, welche er aussprach, als durch den Umfang und die Tiefe seiner Kenntnisse; dies war besonders werthvoll und anziehend für den Schweizer, und sein bewundernswürdiger Verstand war hauptsächlich so gefesselt, weil es ihm an der Kenntniß der Länder, Zeiten und Sitten fehlte, mit welcher ihm sein englischer Freund öfters auszuhelfen im Stande war.

»Wir wollen vorwärts eilen,« sagte er zu dem Bannerträger von Bern und den übrigen Gesandten, »und unsere Vermittlung anbieten zwischen dem Tyrannen Hagenbach und unserem Freund, dessen Leben in Gefahr schwebt. Er muß auf uns hören, denn ich weiß, sein Herr erwartet diesen Philipson an seinem Hofe zu sehen. Der alte Mann hat mir manchen Wink darüber gegeben. Da wir im Besitz eines solchen Geheimnisses sind, wird es Archibald von Hagenbach nicht wagen, unsern Wunsch zu verweigern, denn wir könnten leicht dem Herzog Karl Nachricht davon geben, wie der Statthalter in La Ferrette seine Gewalt in Dingen mißbraucht, bei denen nicht allein die Schweizer, sondern der Herzog selbst betheiligt ist.«

»Mit Vergunst, mein verehrungswürdiger und werther Herr,« gab der Bannerherr von Bern zur Antwort, »wir sind die Abgeordneten der Schweizer und wollen blos die Beschwerden der Schweiz vortragen. Wenn wir uns in die Streitigkeiten von Fremden einlassen, so werden wir es schwieriger finden, die unseres Vaterlandes mit Vortheil für dasselbe beizulegen; und wenn der Herzog durch diese an englischen Kaufleuten verübte Niederträchtigkeit den Unwillen des englischen Monarchen auf sich laden sollte, so wird ein Bruch zwischen Beiden den Abschluß eines für die Schweizer Kantone vortheilhaften Vertrags für ihn nur um so dringender nothwendig machen.«

Es lag so viel Weltkluges in diesem Rath, daß Adam Zimmermann von Solothurn sogleich seine Zustimmung dazu aussprach. Er fügte hinzu, daß ihr Bruder Biedermann ihnen kaum zwei Stunden früher gesagt hätte, wie die englischen Kaufleute auf seinen Rath und nach ihrem eigenen freien Wunsche sich von ihrer Gesellschaft diesen Morgen getrennt hätten, um die Abgeordneten nicht in die Streitigkeiten zu verflechten, welche durch des Statthalters Erpressungen sich über ihre Waaren erheben könnten.

»Welchen Vortheil,« fuhr er fort, »würden wir nun daraus ziehen, daß sie sich von uns losgesagt haben, wenn wir, wie mein Bruder verlangen zu wollen scheint, das, was den Engländer angeht, noch so betrachten, als wäre er unser Reisegefährte, und als stünde er unter unserem besonderen Schutz?«

Dieser selbstsüchtige Schluß traf den Landammann etwas hart, denn er hatte nur kurz zuvor von dem Edelmuth des älteren Philipson gesprochen, der sich von selbst eher einer Gefahr bloßgestellt, um durch sein Verweilen bei ihrer Gesellschaft ihre Unterhandlungen nicht zu verwickeln. Er erschütterte völlig die Anhänglichkeit des rußbärtigen Nikolaus Bonstetten, und seine Augen wanderten von Zimmermann, dessen Gesicht ein triumphirendes Vertrauen auf seinen Schluß aussprach, auf seinen Freund, den Landammann, der in größerer Verlegenheit war, als je.

»Bruder,« sprach dieser zuletzt mit Festigkeit und Feuer, »ich habe mich geirrt, als ich auf die Weltklugheit stolz war, die ich Euch diesen Morgen lehrte. Der Mann ist allerdings nicht aus unserm Lande, aber er ist von unserm Blut, ein Abdruck des Bildes unseres gemeinschaftlichen Schöpfers, – und verdient um so mehr diesen Namen, als er ein Mann von Rechtschaffenheit und Verdienst ist. Ohne schwere Sünde könnten wir an einer solchen Person, wenn sie in Gefahr wäre, nicht vorübergehen, ohne ihr Erleichterung zu verschaffen, wenn sie auch nur neben unserem Wege läge; viel weniger noch dürfen wir sie verlassen, wenn sie sich um unsertwillen in Gefahr begeben hat, und damit wir dem Netze entgingen, in welchem sie sich gefangen. Seid darum nicht niedergeschlagen. Wir thun Gottes Willen, wenn wir einem gedrückten Manne beispringen. Erreichen wir unsere Absicht auf gütlichem Wege, wie ich es hoffe und glaube, so verrichten wir eine gute Handlung, ohne daß sie uns viel kostet; – wenn nicht, so kann Gott die Sache der Menschlichkeit durch die Hand Weniger so gut vertheidigen, als durch die Hand Vieler.«

»Wenn das Eure Meinung ist,« sagte der Bannerherr von Bern, »so wird kein Mann hier Euch im Stiche lassen. Was mich betrifft, so habe ich gegen meine eigene Neigung gesprochen, als ich Euch rieth, einen Bruch mit dem Burgunder zu vermeiden. Aber als Soldat muß ich nothwendig sagen, daß ich lieber mit der Besatzung im offenen Felde fechten wollte, und wäre sie doppelt so stark, als man sagt, denn einen Sturm auf ihre Werke unternehmen.«

»Nun,« sagte der Landammann, »ich hege die aufrichtige Hoffnung, daß wir in die Stadt La Ferrette einziehen und dieselbe verlassen werden, ohne von dem friedlichen Charakter abzuweichen, mit welchem uns unsere Sendung von der Tagsatzung bekleidet.«



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