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Am Morgen kam ein Trupp Soldaten in die Mission. Ein Offizier in türkischer Uniform verlas mit lauter Stimme ein Schriftstück. Während er las, kamen die Flüchtlinge aus dem Keller in den Hof, um zuzuhören. Sie hörten, dass die Truppen, die gestern in Urmia eingezogen waren, zur regulären türkischen Armee gehörten, dass die Stadt von ihnen besetzt worden sei, und dass die Bevölkerung fortan ihrem Schutz unterstellt sei. Dann hörten sie, dass sich alle erwachsenen Männer, verheiratet oder nicht, am gleichen Tag in der Kaserne von Urmia stellen sollten, um ihre Personalien anzugeben. Die Flüchtlinge standen zusammengedrängt hinter den drei Vätern und rührten sich nicht. Sie standen den Soldaten gegenüber, und der Offizier, der das Schriftstück vorgelesen hatte, stand zwischen ihnen auf den heissen Steinplatten des Hofs. Vater François ging auf ihn zu und sagte etwas zu ihm. Der Offizier schüttelte den Kopf und rief, immer mit der gleichen trockenen, nicht sehr lauten Stimme, dass die Männer, die sich in der Mission aufhielten, unverzüglich ihm und seinen Leuten zu folgen hätten. Vater François zuckte mit den Achseln, drehte sich um und wiederholte den 118 Flüchtlingen auf chaldäisch, was der Offizier gesagt hatte. Die Männer blieben ganz still. Aber unten im Keller hörte man ein Gemurmel, welches schnell stärker wurde, und dann schrien alle Frauen und drängten schreiend die Treppe hinauf, die in den Hof führte, und stürzten von hinten auf ihre Männer, die schweigend standen und sich nicht nach ihnen umwandten. Man hörte das durchdringende Weinen der Kinder, die im Keller zurückgeblieben waren.
Der Offizier richtete sich plötzlich aus seiner nachlässigen Haltung auf. »Vorwärts«, schrie er, und die Soldaten verteilten sich nach beiden Seiten des Hofs und schlossen die Herde der Männer ein. Das Schreien der Frauen schwoll an.
Vater François hob die Arme, und die beiden jüngeren Väter stellten sich neben ihn, und alle drei machten mit erhobenen Armen ein paar Schritte auf ihre Schützlinge zu. »Beruhigt euch«, rief Vater François auf chaldäisch, »euren Männern und Vätern wird nichts geschehen. Man wird ihre Namen aufschreiben, das ist alles, und morgen oder vielleicht heute abend schon werden sie wieder bei euch sein.«
Immer mehr Frauen drängten aus dem Keller in den Hof hinaus. »Man wird unsere Männer ermorden«, schrien sie. Man sah einige, die sich die Haare rauften und mit den Fäusten auf die Brust schlugen.
Die Soldaten setzten sich in Marsch. Die 119 Männer, vorwärts gestossen, gingen langsam zum Hoftor hinaus, es gab einen Stau, dann bogen sie in die Gasse ein. Die Väter schlossen sorgfältig das Tor. Den ganzen Tag hörte man das Jammern der verlassenen Frauen und Kinder, die im Keller auf Strohbündeln, auf Teppichen oder auf der nackten Erde kampierten. Sie waren in die Mission geflohen, nachdem der tapfere Agha Petrus mit seinen chaldäischen Reitern die Stadt verlassen hatte, um die Munitionslager zu finden, die ihm von den Engländern versprochen worden waren. Ein englischer Flieger hatte über dem belagerten Urmia gekreist und die Botschaft für Agha Petrus abgeworfen, dass er westwärts, auf Khana zu, Munition finden werde. Seither war die Stadt den Strassenkämpfen und den Angriffen der Türken preisgegeben ... Etwa dreihundert christliche Familien, Armenier und Chaldäer, waren in die Mission geflohen. Um dreihundertfünfzig Männer und Jünglinge hatte man am Morgen weggeführt.
Man hörte drei Tage lang nichts von ihnen. Die Väter trösteten die Frauen. Sie versicherten ihnen, dass Gott ihre Männer schützen und sie zu ihnen zurückführen werde.
Am Morgen des vierten Tages schlich ein Mann in die Mission, der wie ein Toter ganz in Tücher gehüllt war. Er war schwer verwundet. Eine Frau sah ihn und stürzte schreiend über den Hof in den Keller, und unten erhob sich ein entsetzliches Schreien und Jammern, noch bevor der Mann Zeit 120 gefunden hatte, von der Katastrophe zu berichten.
Die Männer waren alle tot.
Man hatte sie drei Tage lang in der Kaserne hingehalten, und am vierten Tag hatte man sie frühmorgens aus der Stadt und bis auf den Judenhügel geführt. Dort hatte man sie alle aufgestellt, und die Soldaten hatten angefangen zu schiessen und so lange in sie hineingeschossen, bis keiner mehr aufrecht stand.
Viele waren nur verwundet, aber man hatte sie mit den Toten liegen lassen. Dem Mann war es gelungen, seine Fesseln mit den Zähnen abzureissen, er war auf dem Bauch bis zum ersten Garten gekrochen und hatte sich bis zur Mission geschlichen. Als er sie erreichte, war er schon fast verblutet.
Einer der jüngeren Väter stürzte in den Stall und zog ein Pferd heraus, um so schnell als möglich zum Judenhügel zu reiten und zu schauen, ob man noch einige der Verwundeten retten könne. Vater François stieg auf das Dach des Seminars. Er sah den Jungen zwischen den Gärten verschwinden und drüben auf dem Feldweg, der zum Hügel führte, wieder auftauchen. Dann sah er etwas Entsetzliches: Durch die Gassen der Stadt wälzten sich lärmende Menschenhaufen, er erblickte Gewehrkolben, Keulen, Messer über ihren Köpfen und sah, wie sie sich von allen Seiten dem Osttor zuwälzten. Dann waren sie zwischen den Gärten – ihr wildes Geschrei drang an seine Ohren – und 121 danach wieder im Freien, wo sie sich verteilten und alle schreiend dem Judenhügel zuliefen. Er begriff, dass sie zu der Mordstätte liefen, um sich an dem Anblick der Erschossenen zu weiden und um den Verwundeten den Rest zu geben.
Der junge Vater kam zu Fuss zurück. Er war bis zum Hügel gekommen und hatte den Haufen der Toten gesehen, aber Gendarmen hatten ihn weggewiesen. Dann hatte er die anstürmende Menge der Muselmänner erblickt und war zu den Gärten gelaufen, und hatte sich auf diese Weise gerettet.
Er bekam zwei Wochen später Typhus. Er phantasierte im Fieber und schrie, dass man ihm Totenköpfe zu essen gebe. Und bis zu seinem Ende gelang es Vater François nicht, den Unglücklichen zu beruhigen und von seiner entsetzlichen Erinnerung zu befreien.
Der Konsul von Täbris forderte Vater François in einem Brief auf, mit allen Vätern und Nonnen die Mission zu verlassen und nach Täbris zu kommen, da der Konsul für ihre Sicherheit in Urmia nicht mehr einstehen könne. Die Nonnen brachen am nächsten Tag auf: Sie nahmen ein blindes Mädchen und ein typhuskrankes Kind mit sich. Das Kind war schon so schwach, dass die Schwester Oberin Leichentücher einpackte, um es unterwegs begraben zu können, aber durch ein Wunder überstand es die Strapazen der Reise und wurde später, bei den Schwestern in Täbris, gesund gepflegt.
Die Nonnen von Urmia reisten in Droschken, 122 die mit halb verhungerten Pferden bespannt waren und mit ihren hohen, schwachen Rädern den schlechten und steinigen Gebirgswegen kaum widerstehen konnten.
Es war im Juni. Die Hitze war unerträglich. Manchmal konnte man kein Wasser finden, und wenn man Glück hatte, bekam man als Nahrung in den Dörfern ein paar Brocken Brot, welches aus Stroh und Holzspänen und sehr wenig Mehl gebacken war. Die Dörfer waren halb zerstört, rauchende Trümmerhaufen, oft von Seuchen heimgesucht, oft ausgeraubt, von Türken, Kurden, Chaldäern, Soldaten und Räubern.
Die Pferde waren so schwach, dass man an steilen Wegpartien die Wagen entladen musste, um sie überhaupt noch von der Stelle zu bewegen. Dann trugen die Nonnen das Gepäck, Handtaschen, Ballen, Bettzeug und Gebetbücher, Stück für Stück den Berg hinauf ...
In Urmia vergingen einige ruhige Wochen. Vater François nahm die Zöglinge der Nonnen auf, fünfzig Waisenkinder, die sie zurückgelassen hatten. Und ebenso behielt er in der Mission die Kinder der erschlagenen Christen. Niemand erhob dagegen Einsprache. Der Vater war seit fünfzehn Jahren in Urmia, und nicht nur die Christen liebten ihn, auch die Muselmänner, die Städter und die Kurden aus dem Gebirge. Er fühlte sich sicher. Niemand würde ihm etwas tun. Das Tor der Mission stand wieder offen, man las die Messe, am 123 Abend hörte man über den Dächern und Gärten das helle Gebimmel der Missionsglocke.
Eines Tages verbreitete sich unter den Christen das Gerücht, die Russen seien im Anzug. Eine Armee marschiere von Norden her auf Urmia, noch ein Tag, und die Stadt werde von den Türken befreit sein. Während der Nacht blieb das Gerücht in Umlauf; die Christen, Armenier und Chaldäer gerieten in einen Zustand gespannter Erwartung und wilder Freude, und am frühen Morgen zogen sie haufenweise zum Nordtor, um die Russen zu empfangen.
Vater François versuchte, die Leute, die in der Mission hausten, zurückzuhalten. Es nützte nichts. Sie stürzten, vom allgemeinen Freudentaumel erfasst, hinaus.
Von den russischen Truppen war nichts zu sehen. Aber in den Gassen der Stadt rotteten sich die Muselmänner zusammen, sie näherten sich dem Nordtor von allen Seiten, verstopften alle Zugänge mit Bewaffneten und begannen zu schiessen. Ein furchtbares Geschrei erhob sich. Die Christen, gefangen und von Panik erfasst, wurden erschlagen wie Hasen. Man hörte ihr Schreien bis ins Innere der Stadt, bis in die Mission, und hinter dem Geschrei folgten die Fliehenden und Kämpfenden. An diesem Tag floss kein Wasser mehr durch die Kanäle, die aus der Stadt in den Missions-Garten kamen, sondern Blut.
Am Nachmittag brandete der Strassenkampf an 124 das Tor der Mission, und das Tor gab nach und öffnete seine Flügel. Und nun starben alle, Männer und Frauen und Jünglinge und Kinder. Vater François eilte in die Kirche hinüber und rief denen, die sich fliehend hineindrängten, entgegen, dass sie Mut fassen sollten. Und das Morden setzte sich in der Kirche fort. Der Vater wurde erschossen, während er den Leuten mit erhobenen Armen Mut zurief. 125