Annemarie Schwarzenbach
Bei diesem Regen
Annemarie Schwarzenbach

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Sehr viel Geduld ...

Doktor Rieti reiste mit seinen Tieren zusammen. Man hatte sie in Triest an Bord eines langsamen Dampfers gebracht, der Triest am Mittwoch verliess und erst am darauffolgenden Dienstag Beirut erreichen sollte. Rieti hätte lieber ein anderes Schiff benutzt, welches die Häfen Griechenlands anlief oder in Ägypten Halt machte. Er hätte gern Piräus gesehen und einen Ausflug zu den Pyramiden gemacht. Aber er konnte seine Versuchstiere nicht allein lassen, es hatte genug Mühe gekostet, sie heil bis auf das Schiff zu bringen, wo sie nun auf dem Vorderdeck angebunden standen: die Schafe aus dem Piemont, die Gebirgsziegen, die Rinder von den Schweizer Alpen und die beiden jungen Stiere, die man in Holstein angekauft und von ihren fetten Weiden quer durch halb Europa bis in den Auswandererhafen Triest transportiert hatte. Es hatte sehr viel Geduld gebraucht, und Rieti war sich klar darüber, dass erst jetzt alle Schwierigkeiten beginnen würden. Er kannte die Route und ihre Stationen auswendig: Beirut, wo jetzt, Ende April, schon eine ungesunde, feuchte Hitze herrschen sollte, die Fahrt durch die Wüste in grossen Camions, die von der Nairn-Compagnie gestellt wurden, ein kurzer 98 Aufenthalt in Bagdad – und endlich die grosse Reise über die Gebirge nach Persien. Und dort – dort würde erst die eigentliche Aufgabe ihn erwarten. Wenn er nur die Geduld aufbrachte ...

Am fünften Tag erreichte das Schiff Zypern. Rieti stand mit den anderen Passagieren der ersten Klasse auf dem Deck und sah die hügelige Küste der Insel vorüberziehen. Er sah einige vulkanähnliche Gebirge im Inneren und viele waldreiche Täler, die tief in das kahle Land einschnitten. Dann tauchte Larnaka auf: eine kleine Stadt, einige neue, wellblechgedeckte Gebäude am Hafen, und zwischen den Dächern der plumpe Turm einer türkischen Moschee. Man konnte nicht in den Hafen einfahren, das Schiff lag draussen vor Anker, leise schaukelnd. Vom Ufer löste sich eine Flotille von Booten, rostbraune Segel wurden aufgezogen, flatterten und spannten sich, junge Zyprioten standen an den hohen Steuern. Abseits von den anderen flog ein Boot heran, ein alter Neger mit grauem Schnurrbart stand aufrecht unter dem rostbraunen Segel, er trug zypriotische Tracht, einen breiten roten Gürtel, einen weissen Turban. Hinter ihm, am Steuer, sass ein Knabe, die Augen auf den Dampfer gerichtet. Das Boot flog über blaue Wogen und weisse Schaumkämme und erreichte als erstes das Fallreep. Der Junge liess das Steuer fahren, schon stand er auf dem Deck, einen Korb mit bunten Muscheln am Arm. Herausfordernd ging er die Reihe der Gäste entlang und begann sein Geschäft. 99 Hinter ihm folgten bald andere, man bot Orangen, Muscheln, Stickereien feil, bunt leuchteten zwischen den Passagieren die roten Gürtel und hellen Turbane der Händler. Rieti folgte dem ersten, dem zypriotischen Knaben, der jetzt an der Reeling stand, die Arme auf das Geländer gestützt. Er sah in das Gewühl, als ginge es ihn nichts an. Schöne Menschen, dachte Rieti, den Blick auf den Knaben gerichtet. Dessen Blick war düster, fast höhnisch, doch dehnte er dabei lässig seinen Körper, streckte sich in den schmalen Hüften wie im Übermut.

Gleich darauf wurde Rieti von einem Matrosen weggerufen, er ging, ein wenig zu eilig, an dem Knaben vorbei.

Es betraf die Tiere. Am Vorderdeck lag ein Boot mit sechs Ruderpaaren, ein Kran senkte sich vom Dampfer hinab, unten standen aneinandergedrängt Esel und Maultiere, denen man, einem nach dem anderen, Traggurte umschnallte, sie am eisernen Griff des Krans befestigte und in die Höhe hob. Das ging mit mechanischer Geschwindigkeit vor sich, die Tiere schwebten, erstarrt vor Angst, mit hilflos baumelnden Hufen, zwischen Himmel und Wasser, ein Matrose drehte den Kran, liess das Tier auf dem Deck landen und sandte den leeren Traggurt in die Tiefe zurück.

Rieti erkannte rasch die Gefahr: Schon hatte man ein Dutzend Esel neben seinen Versuchstieren angebunden – waren sie krank, so war eine Ansteckung beinahe unvermeidlich. Er liess den 100 Kommissar rufen, befahl den Matrosen, die Esel auf die andere Seite des Decks zu bringen, inzwischen fuhr der grosse Arm des Krans unaufhörlich auf und nieder, das Deck füllte sich mit Tieren, die Ruderer schimpften auf türkisch. Als endlich die Ordnung wiederhergestellt und die Tiere getrennt waren, lichtete das Schiff schon die Anker. Rieti sah die Flotille der braunroten Segel dem Hafen zustreben, dann setzte das weiche Rauschen des Wassers ein, das der Schiffskiel regelmässig durchschnitt.

In Beirut war es heiss, und Rieti hatte vielerlei Sorgen. Er ärgerte sich über die Hafenpolizei und die Sanitätskommission, manchmal verliess ihn die Geduld, er sah voraus, dass die Versuchstiere nicht heil bis nach Persien kommen würden, und war bereit, alles aufzugeben. Er war froh, als die Tiere verladen waren; am gleichen Abend fuhr er im Auto durch den Libanon, und nach dem heissen, feuchten Beirut und nach all den Sorgen, die er dort gehabt hatte, erschien ihm Damaskus mit seinen Gärten und Brunnen frisch und angenehm. Die Wüstenfahrt war anstrengend, aber Rieti erinnerte sich daran, dass man noch vor wenigen Jahren mit Kamelkarawanen reisen musste und etwa zwanzig Tage gebraucht hatte. Damit tröstete er sich, und die zwanzig Stunden kamen ihm nicht so lang vor.

Seine Tiere fand er wohlbehalten in den Stallungen des englischen Fliegerlagers von Hinaidi. Die irakischen Behörden machten ihm keinerlei 101 Schwierigkeiten, er beeilte sich, Wagen und Chauffeure für die Fahrt nach Teheran zu mieten. Bagdad war unerträglich heiss. Rieti verbrachte einen Abend im Alluyah-Club mit einigen englischen Fliegern, die trotz der Hitze, die auch nachts nicht abnahm, sehr viel Whisky tranken und ihre gute Haltung nicht verloren. Sie brachten Rieti in sein Hotel, und fuhren dann in guter Haltung in ihre Quartiere von Hinaidi zurück.

Rieti war froh, Bagdad hinter sich zu lassen. In Khanikin, der persischen Grenzstation, litten die Tiere sehr unter der Hitze. Die Beamten brauchten eine Unmenge Zeit, um Rietis Papiere zu lesen, es gab Komplikationen, die er nicht verstand und die auch offenbar erfunden waren, um ihn aufzuhalten – aber endlich fuhr man weiter, und nun war man in Persien, fast schon am Ziel. Rieti fühlte sich glücklich, zum ersten Mal, seitdem er auf dieser Reise war. Er dachte an seine Aufgabe, an das Geld, das er verdienen würde, und an alles Unbekannte, das ihn erwartete. Alles würde gut gehen, ebensogut wie in Afrika. Er war zwei Jahre am Tropeninstitut in Nairobi gewesen, eine lange Zeit, die er zuerst als Verbannung empfunden hatte – und dann waren es die glücklichsten Jahre seines Lebens geworden. Er dachte damals selten an Italien, selten an seinen Vater, ganz selten an seinen Freund Mario. Mario lebte in der wirklichen, der unwiderruflichen Verbannung: Er hatte, als Revolutionär, seine Heimat verlassen, hungerte mit 102 Gleichgesinnten in Paris und trug es ihm, Rieti, bitter nach, dass er einen anderen und leichteren Ausweg gesucht hatte. Nairobi! Er hatte es auf diese Weise vermieden, seinen Vater zu enttäuschen, der an Mussolini glaubte und sich mit dem Faschismus abgefunden hatte. Er hatte es vermieden, Italien zu verlieren. Aber allerdings, was bedeutete ihm Italien seither? Er dachte mit Heimweh an Nairobi, den geliebten Ort. Er hatte sein Haus gern gehabt und das breite, mit Laub und Grün ganz überfüllte Tal, welches »The happy valley« hiess. Er hatte seine Arbeit gern gehabt und in Nairobi einen Freund zurückgelassen. Einen Negerjungen, dachte Rieti, mein Freund Charles war nichts als ein Negerjunge, und sein christlicher Name stammte von den Missionaren. Aber er war ein rührendes und schönes Kind, ich möchte, er wäre jetzt bei mir.

Seit seiner Reise dachte Rieti selten an Charles, es hatte zu viel zu tun und zu bedenken gegeben, aber jetzt, während man den Peitak-Pass hinauffuhr und das grosse Persien vor ihm lag, erinnerte er sich an den Negerknaben, und fühlte sich plötzlich einsam. Er erinnerte sich, wie sie um diese Stunde, abends, vor dem Haus lagen, die Liegestühle nahe nebeneinander gerückt – ja, damals war neben ihm, in der Dämmerung, Charles' schmaler, weit nach hinten geneigter Kopf gewesen, und seine Stimme hatte gesungen.

Das Gefühl seiner Einsamkeit überfiel Rieti zum 103 ersten Mal, aber er schüttelte es ab, und gleich darauf freute er sich wieder auf Persien. Sie kamen am Abend auf die Passhöhe und sahen zu ihren Füssen das gewaltige Hochland ausgebreitet. Und von nun an würde es immer so sein: gewaltige Ausblicke, von Gebirge zu Gebirge, gewaltige Täler und breite Flüsse, Halbwüsten, mit grünen Oasen am Fusse namenloser Berge.

Die erste persische Stadt, die sie erreichten, war Kermanschah. Es war eine Bettlerstadt, selbst in Afrika, so schien es Rieti, hatte er nicht so viele Krüppel, halbbekleidete Kinder und ausgestreckte Hände von Blinden und aussätzigen Greisinnen gesehen. Die Polizei machte ihm Schwierigkeiten, sie war von der Hauptstadt nicht benachrichtigt worden. Rieti musste seine Tiere vor der Stadt, in der Nähe eines Kurdenlagers, übernachten lassen. Einer der Stiere hatte am nächsten Tag eine Kolik, am Abend musste man ihn erschiessen. Die Hälfte der Schafe kam abhanden, man fand sie wieder, vermischt mit einer einheimischen Herde. Rieti besah sich die Fettschwänze aus der Nähe: sie waren räudig. Er entschloss sich, die angesteckten Tiere zu opfern.

Als er, nach zehn Tagen voller Hindernisse, in Teheran ankam, besass er noch drei Rinder, einige Ziegen und den zweiten Stier. Der Stier zeigte Symptome einer Tropenkrankheit, die Rieti bisher nur in Afrika beobachtet hatte. Trotzdem war Rieti nicht ganz entmutigt, er würde seine Versuche mit 104 den wenigen Tieren beginnen, die ihm übriggeblieben waren, inzwischen würde das Ministerium neue Tiere nachkommen lassen. Nein, der Verlust von ein paar Rindern und Schafen war nicht das Schlimmste; wenn man nur endlich in das Ministerium vordringen, den Minister selbst sprechen könnte! Rietis Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Seine Tiere standen in ungesunden Baracken, ein Beamter versprach ihm täglich, dass er auf die Farm übersiedeln dürfe, die Rieti als »Mustergut« zugewiesen war. Auf der Gesandtschaft tröstete man ihn, in diesem Land lasse sich nichts erledigen ohne Geduld.

Rieti verbrachte seine Zeit zwischen dem Ministerium, der Gesandtschaft und den Baracken, in denen seine letzten Tiere krank wurden und das Futter verweigerten. Abends sass er allein im Garten einer der Bars von Teheran und sah Tänzerinnen aus Ungarn und Rumänien, die auf einem grellbeleuchteten Podium zwischen verstaubten Büschen auftauchten. Auch eine italienische Sängerin war dabei, sie war nicht mehr ganz jung, vielleicht war sie früher Opernsängerin gewesen, ihre Gesten liessen es vermuten. Sie trug, trotz der grossen Hitze, ein rotes Samtkleid und zeigte, wenn sie das Podium verliess, einen etwas schweren, nackten, mattweissen Rücken. Sie sang Arien, die das Publikum langweilten, und französische Chansons, wobei sie Kusshände ausschickte. Die Chansons kannte man von den Platten der berühmten 105 französischen Diseusen, das war nicht günstig für die arme Italienerin. Sie schielte ein wenig, aber das war beinahe ein Reiz, es gab ihrem müden und flachen Gesicht einen Ausdruck von trauriger Schalkhaftigkeit.

Rieti hörte sich die Sängerin mehrmals an. Es machte ihm gewiss kein Vergnügen, ja, es kränkte und empörte ihn, dass sie vor diesen Leuten, jungen Persern, europäischen Friseuren und Ladenbesitzern, singen musste. Er empörte sich für Italien – es war ein neues Gefühl –, und die Sängerin tat ihm leid. Sie war doch immerhin seine Landsmännin, auch der Wirt wusste es, der sie am dritten Abend an seinen Tisch brachte. Es war Rieti nicht angenehm, mit ihr zwischen den staubigen Kulissen-Büschen zu sitzen, er wusste nicht, über was er mit ihr sprechen sollte, sein eben noch leicht gerührtes Gefühl wurde beinahe feindlich. Was hatte sie im Orient zu suchen? Ihre Rührung hingegen war stark und echt. Sie sprach italienisch, und schon füllten sich ihre Augen mit Tränen. Auch noch Tränen, dachte Rieti, angewidert von so viel Weiblichkeit. »Warum sind Sie hierhergekommen?« fragte er, ein wenig streng, »was haben Sie sich davon versprochen?« Gleich erzählte sie, es war eine komplizierte Klage, denn schon in Italien hatte ein Agent sie belogen, sie nach Jugoslawien geschickt, dann kam Konstantinopel – ein Aufstieg, eine Weltstadt, beeilte sie sich hinzuzufügen –, aber Konstantinopel war der Anfang ihres 106 Unglücks gewesen, oh, sie war den Schlichen der orientalischen Agenten nicht gewachsen, sie war nur eine Künstlerin, nur auf ihre Kunst bedacht gewesen, jene aber waren Lügner, waren nicht besser als Mädchenhändler. Und der Kontrakt mit dem Lokal in Teheran, der sich so gut ausgenommen hatte – »nichts als eine Falle«, klagte sie heftig, »um mich diesem Wirt, diesem entsetzlichen Menschen, auszuliefern!«

Sie verstummte, als sie merken musste, dass Rieti ihr nur halb zuhörte, und, nach vorn geneigt, sagte sie: »Warum sind Sie denn hier?« Man wusste nicht, war es eine ernst gemeinte Frage oder nur ein kosender Ausruf: Warum habe ich dich hier finden dürfen, junger Landsmann? Rieti schwieg. Nie hatte er sich, in Nairobi, dergleichen gefragt, nie hätte Charles ihn darnach gefragt. Dort war alles selbstverständlich gewesen, selbst das Glück.

Die Sängerin griff nach seiner Hand, es war zu spät, sie zurückzuziehen. »Junge Männer wie Sie verderben so leicht in diesen Ländern«, flüsterte sie beinahe mütterlich, »ach, auch wir haben es nicht leicht! Aber jetzt –«, und sie beugte sich überraschend schnell über die Hand, wie um sie zu küssen, »– jetzt ist alles verändert. Ich habe einen Landsmann gefunden, ich darf doch sagen, einen Freund?« Und schwärmerisch, die Augen zu ihm aufgeschlagen, fügte sie hinzu: »Lügen Sie nicht, mein Freund, auch Sie waren bisher allein, unter Fremden. Aber ich werde für Sie sorgen, ich werde 107 nur für Sie da sein, ich werde Sie zu trösten wissen!«

Er war verwirrt, wenn auch auf andere Weise, als sie es glauben mochte. Entsetzlich erinnerten ihn ihre Worte an Worte Marios, der ihm, beim Abschied, gesagt hatte: »Lüge nicht, Rieti, gib doch endlich das Lügen auf« – und dann, als er schon im Zug sass, der ihn in die Verbannung führen sollte: »Auch du bist allein, mein Freund, unter Fremden. Aber eines Tages wird alles verändert sein, dann will ich dich wiederfinden.« Leidenschaftliche Strenge in der Stimme, und seine so sehr geliebten Augen ganz erfüllt von leidenschaftlicher Forderung und einer Trauer, die nur Zweifel bedeuten konnte ...

»Ich bin geflohen«, sagte Rieti zu der fremden Frau, so unvermittelt, dass sie, aus sanfteren Träumen gerissen, ihn erschrocken ansah. »Ich bin ein feiger Mensch und habe einen Ausweg gesucht, um meinen Freunden zu entgehen. Jetzt bin ich allein und ungeduldig, denn ich möchte zurückkehren, um alles wiedergutzumachen.«

»Zurück nach Italien?« fragte sie verständnislos, »in unser herrliches Italien?«

»Es geht bergab im herrlichen Italien«, herrschte er sie an, aber gleich schämte er sich – woher nahm er das Recht? Sie hatte ihre Chance schnell begriffen.

»Du hast Heimweh, mein Kleiner«, flüsterte sie, »aber ich werde dich zu trösten wissen.« Und er 108 folgte ihr, als sie den falschen Hermelinkragen um die Schultern legte und grusslos, in seligem Stolz, am Wirt vorbei zum Ausgang ging.

War dies der Anfang der grossen Geduld, die man hier von Rieti noch verlangen würde? Diese schreckliche Nacht, die er nicht gewollt hatte, dieses schreckliche Aufwachen neben dem schweren, zu weissen Körper, nach dem ihn nicht verlangte? Fing es mit Ekel an und mit Dingen, die er gegen seinen Willen tun musste? Ja, es war wohl der Anfang einer viel schlimmeren, viel gefährlicheren Erniedrigung, denn Rieti begriff schnell, dass Geduld in diesem Lande nicht Ausdauer, Sammlung, Ernst bedeutete, sondern Unterwerfung und bald Abstumpfung. Eifriger als bisher vertrat er seine Sache, er gewann den Gesandten, der ihn beim Ministerium unterstützte; man empfing ihn jetzt höflich, man ehrte ihn, versprach, alle seine Forderungen zu erfüllen. Nur rascher, dachte Rieti, nur so rasch, dass ich bald abreisen kann. Aber er wusste, dass es erst der Anfang war.

Endlich reiste er auf das »Mustergut«, ein junger Assistent begleitete ihn, draussen begannen sie gleich zu arbeiten. Die Tiere aus Europa wurden in gesonderten Ställen untergebracht, persische Schafe und Ziegen, gesunde und kranke, wurden untersucht, geimpft und beobachtet. Rieti fühlte sich leichter, jetzt war auch die Sängerin nicht mehr da, sie konnte nicht einfach hier herauskommen, mit ihrer abstossenden Zärtlichkeit, ihrer intriganten, 109 traurigen Liebe, ihren Tränen. Hier draussen gab es überhaupt keine Frauen, auch keine Europäer, man war allein. Die Bäume im Garten des Wohnhauses waren so dicht, dass Rieti nicht einmal das Gebirge sehen konnte; er begann, seine Einsamkeit zu pflegen und zu lieben. Wenn er das Tor am Abend verliess, um einen Spaziergang zu machen, dann hatte er die Ebene vor sich, die gelbe, verbrannte Halbwüste, und die allzu kleinen, hellgrünen Felder, die darin verstreut lagen. Er sah die Ebene an ihrem Rand bläulich werden und im Dunst mit dem Himmel zusammenfliessen, und er sah sie braun werden, wo sie sich dem Gebirge näherte. Es gab ringsum Berge, graue in der äussersten Ferne, die wie gestrandete Schiffe aussahen, und nackte, glatte, gelbe, die im Abendlicht einen wunderbaren Glanz bekamen und glatten Tierrücken glichen. Aber dicht vor dem Garten stieg der Tauschal empor, ein steiler Felskamm mit Schneebändern in den höchsten Mulden und dunklen, kahlen Vorhügeln. Dort ging Rieti am liebsten spazieren und kam bis zu den aufwärts steigenden Schluchten, in deren Schatten sich ein wenig Grün fand und in deren Schutz die Schafherden nächtigten. Bevor er zurückging, machte Rieti einen Gang durch die Ställe. Sie lagen ausserhalb des Gartens, neben dem armenischen Dorf. Dort sassen die Wärter mit den Dorfleuten unter einem alten Baum, in dessen mächtigem Stamm eine Petroleumlampe brannte. Neben ihnen, in einem 110 unterirdischen Kanal, hörte man das nächtliche Brausen des Wassers, Kühle stieg geheimnisvoll auf und bewegte die Zweige. Rieti ging in seinen Garten zurück, wo sein Assistent ihn erwartete.

Nach zwei Monaten erhielt er die Nachricht, dass das Ministerium seine Forderung abgelehnt habe, neue, gesunde Tiere aus Italien kommen zu lassen. Es wäre auch eine teure Sache gewesen, dachte Rieti, und ein grosser Umstand. Er hatte sich hier eingearbeitet, so gut es ging. Der Assistent sah ihn zweifelnd an.

»Es wäre doch wichtig, neue Tiere zu bekommen«, sagte er bescheiden.

Rieti nickte ihm zu. »Wichtig, gewiss«, sagte er, »aber wir müssen uns eben einrichten. Wir müssen tun, was wir können.«

»Sie sind zu geduldig«, sagte der Assistent.

»Das finden Sie also?« fragte Rieti böse, »ich sei zu geduldig?«

»Geduld ist nicht schlecht«, sagte der Assistent, »aber zu viel Geduld – in diesem Land führt das zu gar nichts.«

Ein Armenier, dachte Rieti, einer von den Tüchtigen, den Revolutionären, einer, der sich nicht abfinden will. »Von wo stammen Sie her?« fragte er ihn unvermittelt.

Höflich antwortete der junge Mann: »Von Urmia, meine Eltern und Geschwister sind während des Kriegs von den Türken ermordet worden. Mich haben die barmherzigen Schwestern gerettet und nach Teheran gebracht.«

111 »Können Sie sich daran erinnern? Ich meine: an den Krieg?«

»Ich habe vieles vergessen, ich war ja noch sehr klein. Aber es gibt Dinge –«

»Fast alle Christen wurden erschlagen?«

»Fast alle, im Lauf der Zeit. Es kamen immer neue Armeen, um die Stadt aus den Händen der vorigen zu befreien. Und jedes Mal gab es blutige Strafgerichte. Man hörte die Leute nachts schreien, die aufgehängt wurden, und am Tag trieb man ganze Haufen junger Chaldäer und Armenier durch die Strassen und erschoss sie draussen auf dem Judenhügel. Einmal hielt ein Chaldäer, Agha Petrus, die Stadt sechs Monate lang. Er musste mit seinen Reitern abziehen, als ihnen die Munition ausgegangen war. Drei Tage später kamen die Türken, man sah sie von weitem heranrücken, auf der Strasse von Täbris, und man öffnete ihnen die Tore. Damals wurden allein in der Missionskirche über tausend Menschen erschlagen. Man warf sie in die Brunnen.«

»Hassen Sie die Mohammedaner?«

Der Assistent antwortete nicht. »Man sagt, die Chaldäer und Christen seien feig gewesen«, sagte er, »und trotzdem war Agha Petrus ein Held. Man verfolgt uns seit Jahrhunderten, daraus haben die meisten von uns zu viel Geduld gelernt.«

»Und wenn die Christen obenauf waren? Haben sie sich nicht gerächt? Haben sie es nicht genauso getrieben?«

112 »Doch«, sagte der Armenier, »sie haben es genauso getrieben. Aber sie waren nicht die ersten, sie haben nicht damit angefangen.«

»Sie meinen, man könne, im Krieg, überhaupt von Schuld sprechen?«

Der Armenier errötete schnell und tief. »Es gibt doch einen Angreifer –«, sagte er.

»– und jetzt raten Sie mir, ich solle die persische Regierung angreifen, weil man mir keine neuen Ziegen und Kälber kauft!« Rieti begann zu lachen. »Wissen Sie«, verriet er, »ich habe auch keine Geduld mehr. Ich bin schon lange fertig mit diesem Land ...«

Sie unterhielten sich an diesem Abend zum ersten Mal über persönliche Dinge. Sie tranken Whisky und blieben sehr lange auf der Terrasse sitzen. Der Abend war kühl, die Müdigkeit, der Alpdruck des Tages wichen – man war auf angenehme Weise ein Mensch.

»Sie möchten nach Italien zurück?« fragte der Armenier.

»Wenn man hier weg könnte!« Nach Italien, dachte Rieti, als ob ich dort etwas zu suchen hätte. Als ob es das glückliche Italien meiner Kindheit noch gäbe! Auch habe ich Heimweh nach Nairobi, aber auch dort habe ich nichts mehr zu suchen als meinen Knaben Charles. Wohin also? Freiwillig nach Abessinien etwa? Aber es wird noch lange keinen Krieg geben, vielleicht überhaupt keinen. Der Armenier trank still. »Ein Glück, dass man mir 113 keinen Mohammedaner als Assistenten mitgegeben hat«, sagte Rieti, »die sind ganz und gar unbrauchbar. Die dürfen nicht einmal Alkohol trinken!«

Er hatte am Morgen in einem Artikel in der Teheraner Zeitung gelesen, dass Italien die mohammedanische Religion in Afrika verteidigen werde. Mein Vater würde sich vielleicht freuen, wenn ich mich als Freiwilliger melden würde, dachte er, es wäre vielleicht eine Rehabilitierung, in seinen Augen. Aber er traut mir wohl nichts mehr zu, er hält mich für einen Feigling. Und wahrscheinlich wird es überhaupt keinen Krieg geben. – Was wohl Mario davon hält?

Endlich gingen sie schlafen – und der abessinische Krieg brach erst viele Monate später aus, im Herbst.

 

»Sie wollen wohl so bald als möglich nach Italien zurück?« fragte der Gesandte. Rieti zögerte einen Augenblick.

»Ich bin nicht deswegen gekommen«, sagte er.

Der Gesandte war noch jung, seine Schultern fielen nach vorne, daran änderte auch der übertrieben auf Taille gearbeitete, etwas zu elegante, fast schon geschmacklos wirkende helle Sakkoanzug nichts. Der Blick des Gesandten wich Rieti aus. Ein Auge verbarg sich hinter dem Monokel, das andere erschien müde, war erfüllt von einer feuchten, nicht recht fassbaren Sentimentalität. Der 114 Gesandte war Napolitaner. »Also nicht nach Italien«, sagte er, »ich verstehe das nicht ganz! Man würde Ihnen doch alles erleichtern. Man würde erwirken, dass Ihr Vertrag anstandslos gelöst wird. Anstandslos. Sie haben sich doch oft über Ihren hiesigen Aufenthalt beklagt?«

»Ich bin jetzt eingearbeitet«, sagte Rieti, »ich kann eine einmal übernommene Pflicht nicht einfach vernachlässigen. Ich kann jetzt nicht abreisen.«

»Und Ihre Pflicht gegenüber Italien?« fragte der Gesandte.

»Nein«, sagte Rieti, fast ungeduldig, »Italien braucht mich nicht.« Er dachte an seinen Vater. »Ausserdem bin ich kein Soldat«, fügte er schroff hinzu.

Der Gesandte sah ihn zerstreut an. Er sagte: »Natürlich, Sie sind zu gar nichts verpflichtet. Ich hielt es nur für selbstverständlich – bei Ihrer ungeduldigen Art. Ich hielt Ihre Ungeduld für ein Symptom – ich war auch manchmal ungeduldig, wenn es mit meiner Arbeit nicht recht weitergehen wollte. Ich hielt es für ein Symptom Ihrer Sehnsucht nach Italien. Wer Italien liebt, kann es heute beweisen. Ich hielt es nur für natürlich ...«

Sie schwiegen beide, sehr feindlich.

Dann fragte der junge Gesandte, in einem anderen, leichteren Ton: »Man sagt, dass Sie antifaschistische Freunde haben und mit ihnen in Korrespondenz stehen?«

115 Rieti hörte sich antworten: »Ich hatte einen Schulkameraden, der später Kommunist wurde und nach Paris in die Emigration floh. Ich korrespondiere nicht mit ihm. Übrigens hatte ich viele Schulkameraden, wir waren allein dreissig in derselben Klasse.«

»Sie stehen also nicht in Verbindung mit jenem Vaterlandsverräter?«

Rieti sagte: »Wenn ich verantwortlich sein müsste für alles, was aus meinen dreissig Klassenkameraden geworden ist!«

»Also«, sagte der Gesandte, »Sie wollen jedenfalls hier bleiben.«

»So lange, bis mein Vertrag abläuft.«

»So lange, bis Sie Ihre Aufgabe gelöst haben«, verbesserte der Gesandte.

Rieti fühlte sich plötzlich furchtbar verlassen. Diese Aufgabe, dachte er, wird doch niemals gelöst sein. Nur der Vertrag läuft ab, aber damit ist noch keine Lösung gefunden, davon versteht dieser olivenfarbige Napolitaner ja gar nichts. Wenn aber der Vertrag abläuft, fahre ich zu Mario. Ich habe ihn heute verraten, und auch meinen Vater habe ich verraten und bitter gekränkt. Übrigens macht das nichts, sie trauen mir ja ohnedies nicht, auf beiden Seiten traut man mir nicht, weder Mario noch dieser Olivenfarbige. Aber Mario am allerwenigsten, und nun habe ich ihn ja auch verraten. Ich brauche nur noch seinen Namen zu nennen, dann bin ich reingewaschen, wenigstens vor diesem hier, und 116 darf mich als Freiwilliger nach Abessinien melden. Das bleibt mir dann noch übrig. Er fühlte sich grenzenlos verlassen.

Der Gesandte sagte, ein wenig höhnisch: »Es ist schön, dass Sie so an Ihrem Beruf hängen. Auch hier können Sie Italiens Ruhm nützlich sein.«

Dafür also, dachte Rieti erbittert. Wenn er wüsste, dass mir nichts an meinem Beruf liegt, nichts an meiner Aufgabe, vor allem nichts an diesem fremden Land. Wenn er wüsste, dass dies alles nur eine armselige, unselige Flucht war. Aber er weiss es ja, und jetzt wächst es über meinen Willen hinaus, jetzt bin ich erst wirklich ein Gefangener.

Der Gesandte fragte: »Sie sind sich natürlich klar darüber, dass Sie, bis Ihre Versuche zu einem befriedigenden Resultat führen werden, mit viel Zeit, vielleicht noch mit Jahren rechnen müssen. Sie müssen mit der Langsamkeit, Entschlussunfähigkeit, ja mit dem Widerstand der unaufgeklärten Behörden hier rechnen.«

»Aber ich darf auf Ihre Unterstützung zählen?« fragte Rieti matt.

»Gewiss«, sagte der Gesandte, »aber natürlich habe ich jetzt andere, dringendere Aufgaben, ich habe alle Hände voll zu tun.« Rieti schwieg. Der Gesandte fügte nachsichtig hinzu: »Jedenfalls brauchen Sie noch sehr viel Geduld ...« 117

 


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