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1817
Die Jahre 1816 und 1817 sind die unergiebigsten in des Meisters Leben. Europa stöhnt unter Metternichs Politik, überall, zumal in Deutschland, Osterreich und Italien, triumphiert die Reaktion. 1817 ist aber auch das Jahr der Wartburgfeier, in dem fünfhundert deutsche Studenten, Blüte der Jugend deutscher Stämme, die Sinnbilder der Not des Reiches auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Zwei Jahre später wird Kotzebue erdolcht als elender Skribent und Denunziant. Was nützt's? Mächtigere hätten fallen müssen. Und das Freiheitsfieber verglüht ohne fruchtbare Taten.
Auch Beethoven vermag sich nicht zu erlösen. Dumpf lebt er dahin. Das Ergebnis dieses Jahres: das Quintett (op. 104), Bearbeitung eines Frühwerks, und ein einziges wunderschönes Lied, Ausdruck schwermütiger Resignation, zu einem Gedichte vom Grafen Paul Haugwitz:
Lisch aus, mein Licht!
Was dir gebricht,
das ist nun fort.
An diesem Ort
kannst du's nicht wiederfinden.
Du mußt nun los dich binden.
Sonst hast du lustig hochgebrannt,
jetzt hat man dir die Luft entwandt.
Wenn diese fortgewehet,
die Flamme irre gehet,
sucht, findet nicht ...
Lisch aus, mein Licht!
Nach der schweren seelischen Erschütterung im Frühjahre 1816 war dem Meister der Körper ungehorsam wie seit langem nicht. Es galt, nach der Krise der Wechseljahre sich zur Anabasis ins dritte Mannesalter emporzuführen, als Gralsritter ins letzte heilige Jahrzehnt der Arbeit einzureiten. Bettlägerig hatte er sich nach neuer Sonne gesehnt wie nie jemals im Leben. Nur noch nicht sterben! Noch ist seine Mission als Künstler wie als Mensch nicht vollbracht.
Mißmutig wechselt der kranke Hypochonder den Arzt. Malfatti wendet sich beleidigt von ihm ab. Dr. med. Jakob Staudenheim, ein Rheinländer, wird wie schon einmal sein Leibarzt; er schickt ihn Mitte Mai auf vier, fünf Wochen nach Heiligenstadt, die warmen Quellen zu gebrauchen. Die Therme ist von nur schwacher Heilkraft, aber der Ort ist dem Meister lieb und wert, aus halbvergessenen Erinnerungen. Und so wirkt die Kur. Da er nicht arbeiten will und es auch gar nicht könnte, plagt ihn oft die Melancholie.
Gegen Ende Juni sucht Beethoven Nußdorf auf, wo er bis zum 14. Oktober bleibt, damals ein idyllisches Dorf noch weit vor der Stadt, nahe der Donau. Wiederum quälen den langsam Genesenden Schwermut und Einsamkeit, ihn, der das Alleinsein sonst so liebt, um seiner Ideenwelt nicht durch Unheilige entrissen zu werden.
An einem wundervoll klaren Septembermorgen ist der Meister wie alle Tage schon vor sechs Uhr früh aus den Beinen. Gegen frühere Gewohnheit hat er diesmal weder Diener noch Wirtschafterin noch Magd mit aufs Land genommen. Wenzel, dem letzten Domestiken, hat er im Mai den Laufpaß gegeben.
Beethoven bereitet sich den Kaffee selber, in der Küche der Madame Greiner, die noch schläft. Er trinkt ihn in der buschigen Laube am Straßenzaun, raucht behaglich seine Zigarre dabei, streichelt die große dreifarbige Hauskatze, die sich schnurrend zu ihm, dem zärtlichen Tierfreunde, gesetzt hat, und schaut den Bienen zu, die im Vorgarten um hohe Malven kreisen. Sie summen, doch ihr Beobachter vernimmt es nicht; seit der Krankheit im vorigen Herbst und im heurigen Frühjahr ist die Ertaubung erschrecklich vorgeschritten.
Kaffee macht den Meister immer unternehmungslustig, und so beginnt er das Programm des Tages zu schmieden.
Soll ich lesen, studieren, arbeiten? Oder lieber angeln? Noch fühle ich mich nicht wieder unter dem ersehnten Sterne der Schöpferkraft ... Mein neues Angelzeug probieren? Am Forellenbach oder am Strom? Ich glaube die Donau hat Hochwasser. Die verfluchten Regentage neulich! Und abends den braven Kuffner einladen? Wenn ich selber nichts fange, im Fischerhäusel gibt's immer frische Schleien ...
Kuffner ist ein guter Freund, der zufällig im nämlichen Sommer in Nußdorf seine Sommerfrische abhält, Hofsekretär, Philosoph, Geiger und Dichter, auch Plautus-Übersetzer, Wiener und sieben Jahre jünger als Beethoven. Der Text zur Chorphantasie (1808) stammt von ihm, und Beethoven hat ihm 1813 die Ouvertüre zu seinem Drama Tarpeja geschrieben. Die langen ländlichen Abende mit dem vielseitigen, gütigen, klugen Menschen zu verplaudern, ist dem Einsamen Genuß und oft Bedürfnis.
Gut! Abends den Kuffner. Er soll mir den Manfred weiter verdeutschen. Englisch kann ich leider nicht. Hätte ich in meiner Jugend geahnt, daß es einmal einen Lord Byron geben werde, so hätte ich's gelernt ...
Beethovens Blick fällt auf die Berge im Nordwesten. Vom Kahlenberg her blinkt goldrot eine Fensterscheibe in der Morgensonne.
»Das Schicksal winkt!« ruft der Meister. »Ich muß auf meinen Montblanc da hinauf.«
Gesagt, getan. Er erhebt sich, steckt für alle Fälle Merkbüchel und Skizzenheft in die weitgebaute Rocktasche und marschiert los, ohne Hut auf dem silbergrauen Kopfe, über der Schulter einen festen Stock, nur dazu da, den alsbald ausgezogenen lästigen Rock zu tragen.
Eine Stunde später ist der grüne Hang erreicht und dann der Gipfel, der mit vierhundert Meter Höhe keine Anstrengung erheischt. Oben den Rundblick liebt Beethoven, zumal bei so kristallener Verklärung der Luft.
Er schaut und schaut, sagt sich die Namen auf der Türme, Hügel, Wälder, Dörfer, Gewässer ...
Drüben auf dem linken Stromufer Park und Schloßturm von Jedlesee ... Die erlebnisvollen Ostertage von 1802 tauchen ihm aus der Tiefe der Erinnerungen auf ... Mein Gott, daß mich Arbeitsmenschen die Weiber immer wieder aus dem Geleise gelockt haben! Ehedem; jetzt ist's gottlob vorüber. Bei einer göttlichen Kirke wie der Guicciardi verstehe ich es noch heute. Einer Julia begegnet man einmal und nie wieder ... Aber die Erdödy? Mondenschein nach Tropensonne. Statt den Gallenberg zum ewig lächerlichen Hahnrei der Magdalena zu machen, laufe ich zu Maria und lasse mich mit Milch und Honig trösten. Am ersten Abend in ihrem Schlosse dort drüben spiele ich Tor ihr die Fantasia in Cis-Moll vor, innerlich heulend um die Andre, die Teufelin. Und mitten in der Nacht jagt mich die alte Leidenschaft aus dem warmen Neste der Nausikaa hinaus in die kalte Sternennacht ... Das blöde Gesicht des Magisters Brauchle, als er mich am übernächsten Tage hinten im Park, im Waldhause, halbverhungert entdeckt! Man dachte, ich sei nach Wien abgerückt. Der Filou! Damals war er noch nicht Hahn im Korbe, und sie ließ sich noch nicht von jedem Mannsbilde berücken ...
Dort Hetzendorf, das umwipfelte! Zwölf Sommer ist das nun schon her. Wie mag's meiner Josephine ergehen?
Penzing ... Schönbrunn!
Heiligenstadt ...
Dort Mödling! Da ein Haus haben, einen Garten? Immer noch habe ich dies Herbstglück nicht ...
Alter Gewohnheit folgend will Beethoven ein paar Worte ins Merkbuch kritzeln. Sein Auge fällt auf eine ältere Niederschrift, gemacht im Februar des nämlichen Jahres: Etwas muß geschehen. Entweder eine Reise und zu dieser die nötigen Werke schreiben. Oder eine Oper. Solltest du den künftigen Sommer noch hier in Österreich sitzen, so wäre die Oper vorzuziehen im Falle nur leidlicher Bedingungen. Ist der Sommeraufenthalt hier, so muß schon jetzt beschlossen werden: Wie? Wo?
Auf einem andern Blatte steht: Über den Sommer arbeiten zum Reisen. Dadurch nur kannst du das große Werk für deinen armen Neffen vollführen. Später Italien, Sizilien durchwandern mit einigen Künstlern. Mache Pläne und sei getrost für Karl!
Und wiederum: Dich zu retten, ist kein ander Mittel als: Fort von hier! Nur dadurch kannst du wieder zu den Höhen deiner Kunst entschweben, während du hier in Gemeinheit versinkst. Nur eine Sinfonie – und dann: fort! fort! fort!
Das war im Februar – und nun?
Der Lungenkatarrh vom April hat alles gewendet. Und habe ich arbeiten können? Wann kommt die Neunte Sinfonie?
Karl, der Neffe, ist seit Februar 1816 in der Erziehungsanstalt eines gewissen Giannatasio del Rio, eines irgendwo gestrandeten Pädagogen. Was liegt Schulmeistern an der Zukunft eines einzelnen Zöglings? Arbeiten sie für die Menschheit? Unsinn! Sie ringen, für sich und die Ihren, mühselig ums tägliche Brot ...
Auf dem Wege durch hohen Buchenwald kritzelt Beethoven in sein Merkbüchel:
Allmächtiger,
im Walde bin ich selig,
glücklich im Walde.
Jeder Baum spricht durch Dich.
O Gott, welche Herrlichkeit!
In den Höhen ist Ruhe,
Ruhe, Dir zu dienen.
Im Weitergange grübelt er über einer heroischen Opernszene, die ihm plötzlich einfällt. Deutlich hört er das volle Orchester; ein Bühnenbild steht im Moment vor ihm ...
Er setzt sich unter eine Eiche und zieht das Skizzenheft aus der Tasche.
Das lange Adagio einer Sonate erklingt in ihm ...
Mit einem Male fühlt er es: seine gute alte Schöpferkraft ist erwacht nach so vielen Brachmonaten.
Glückselig notiert er ...
Es ist die erste Skizze zu den einhundertachtundfünfzig Takten des Adagio der Klavier-Sonate op. 106, das Erdenfernste, was er je geschrieben.
Stunden vergehen. Schon dunkelt es, als Beethoven in fieberndem Zustande vor Kuffners Hause steht.
Arm in Arm wandern die Freunde nach dem Fischerhause. Beim Abendessen auf dem Altane des kleinen Gasthofes ist Beethoven schweigsam, aber wie der helle Mond über den Wiesen aufsteigt, öffnet sich sein Herz.
»Kuffner, was sagen Sie? Heut hab ich endlich einmal wieder gute Gedanken gehabt.«
»Oper, Oratorium, Sinfonie?« fragt der Freund.
Neue große Sonate. Aber merkwürdig, der Ton in mir ist ein andrer. Mein Stil wird herbstlich. Die alte Geige ist trocken geworden.«
Kuffner: »Sie meinen das gute alte Holz der Stradivari!«
Beethoven: »Mit der Sinfonie hat es gute Weile.«
Kuffner: »Welche der acht vorhandenen ist die Ihnen liebste?«
Beethoven, lachend: »Die Eroica!«
Kuffner: »Hätte gedacht, die C-Moll.«
Beethoven: »Nein, die Eroica.«
Kuffner: »Im Andenken an vergangene größere Zeit? Inzwischen ist es Abend geworden über Osterreich. Was?«
Beethoven: »Der Geist der Welt läßt sich durch nichts hemmen. Wenn ringsum Licht sein wird, kann keiner befehlen: Hier auf dem Flecke soll es Nacht bleiben. Auch eine Chinesische Mauer würde da nichts helfen. Der liebe Gott hat in der Urzeit gesagt: Es werde Licht! Und es ward Licht, und es kann nie mehr ganz Nacht werden auf Erden. Amen!«
Kuffner: »Wir sind sehr klein geworden. Mächtige Zeiten verraten sich zuvor durch denkwürdige Anzeichen. Ich aber sehe weder in den Galerien noch auf den Bühnen einen Schwur der Horatier.«
Beethoven: »Die Geschichte der Alten ist unerschöpflich. Es ließe sich daraus noch viel Erhabenes tragen. Aber Sie haben recht. Unsre Zeit ist klein, und Kleines liebt nicht Großes.«
Kuffner: »Und unsre Helden?«
Beethoven: »Die Dichter dazu sind noch nicht geboren. Auch ich muß mich an das Vorhandene halten. Wenn ich einmal wirtschaftlich soweit sein werde, so hoffe ich endlich zu schreiben, was mir – und jedem Deutschen – das Höchste ist: Faust.«
Acht Jahre später plaudert Christoph Kuffner an einem Wintertage beim Meister im Schwarzspanierhause. Im zufällig erhaltenen Gesprächshefte steht in des heute längst vergessenen Dichters Handschrift:
Erinnern Sie sich an das Fischerhaus bei Nußdorf, wo wir an einem warmen Septemberabend bis gegen Zwölf im Vollmond auf dem Altan saßen, vor uns das Brausen der Auen und der hochgeschwollenen Donau?