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Um die Mitte des Juli 1796 trifft Ludwig van Beethoven, von Leipzig kommend, wo er niemanden aufgesucht hat, in Nürnberg ein, niedergeschlagen und krank. Im Jahre zuvor, am Palmsonntage, war er zum erstenmal öffentlich als Pianist aufgetreten, im Burgtheater bei einem Wohltätigkeitskonzert, und im Oktober 1795 war sein Opus 1 erschienen: Drei Trios für Klavier, Violine und Cello, gewidmet seinem ersten Wiener Gönner, dem Fürsten Karl Lichnowsky. Damit hatte sich der selbstkritische junge Künstler auf zwei Gebieten für reif erklärt, im fünfundzwanzigsten Lebensjahre. Eine große Reise: Wien – Prag – Dresden – Leipzig – Berlin mit dem geheimgehaltenen Endziele London schloß sich an; aber sie verlief anders als sie sich der junge Meister ausgedacht. Er wollte seinen Wirkungskreis eigenmächtig erweitern, Ruhm und Reichtum ernten, offenbar zu früh, denn die höhere Macht versagte ihre glückliche Führung.
Nun leidet der Enttäuschte an einer Art Ruhr, verursacht durch unvorsichtigen Wassergenuß in Leipzig, dazu an einer anderen verhängnisvollen Krankheit, die eine leichtsinnige Stunde ihm in Berlin aufgebürdet hat. Die Lust, weiter zu reisen, war ihm vergangen. Zwar ahnt Beethoven nicht, daß ihn die Folgen beider Übel lebenslang plagen werden, aber sein gegenwärtiger elender Zustand macht ihn mißmutig und grüblerisch genug. Nie je im ferneren Leben überschreitet er wieder Österreichs Grenzen.
Hier in der Dürerstadt will er mit seinen Jugendfreunden Franz Wegeler und Christoph v. Breuning zum Abschied zusammenkommen. Wegeler, Professor der Medizin an der Bonner Universität, hat sich, von den Franzosen vertrieben, seit dem November 1794 in Wien aufgehalten, die Verbannung zu neuen Studien benutzend. Jetzt reist er nach der rheinischen Heimat zurück; Christoph v. Breuning begleitet ihn in gleicher Absicht. Seine beiden Brüder Stephan und Lorenz bleiben zunächst in der Donaustadt; Steffen ist Regierungsreferendar, Lenz Student der Medizin.
Am Ankunftstage nach Tisch, ehe die Freunde von Linz her eintreffen, wandert Beethoven durch die schöne alte Stadt, besucht unter anderm die Lorenzkirche und droben in der Burgkapelle den Engelsgruß von Veit Stoß, den ihm der Küster von Sankt Lorenz besonders gerühmt hat.
Sinnend steht der Musiker lange vor dem Meisterstücke der Holzbildnerei. Die Engel, die in stummem Rhythmus den Erzengel Gabriel und die Muttergottes umschweben, rühren ihn in seiner Bange vor Ungemach und Leid. Es ist ihm als sei er selber der Erzengel, mit einer heiligen Mission zur Erde herniedergesandt, und Maria beschwichtige ihm mit beteuernder Gebärde seinen herzzerreißenden Zweifel.
An sich als Werk der Plastik macht der Englische Gruß keinen Eindruck auf Beethoven. Die bildenden Künste bleiben ihm lebenslang verschlossenes Land. Klopstocks Messias dagegen, in dem er, wie schon unzählige Male, unterwegs in der Postkutsche voll Andacht gelesen, ergreift ihn immer von neuem mit stets gleicher Macht.
Und doch verfällt auch er Dürers Magie. Bei einem Besuche der Frauenholzischen Buchhandlung sieht er die jedem Deutschen lieb und werten Stiche: Melancolia, – Hieronymus im Gehäuse, – Ritter, Tod und Teufel. Beethoven kennt diese drei Symbole des deutschen Geistes noch nicht; im frommen Bonn sah man nur Heiligenbilder, und wer im oberflächlichen Wien von 1795 hätte Sinn für Dürer? Verwundert entdeckt der junge Musiker im Ideenwunder dieser Blätter seine Wahlverwandtschaft mit dem alten Maler. Er kauft den Ritter; mit der Melancholie – so denkt er in einem Anfluge stiller Heiterkeit – hat es noch Zeit trotz allem Mißgeschick. Mit Tod und Teufel aber werde ich Ritter der streitbaren Musik mein Lebtag sattsam zu tun haben ...
Am Abend, nach einem glücklich überstandenen Abenteuer in Linz, sind auch Franz und Christoph in Nürnberg. Johann van Beethoven, seit dem vergangenen Sommer in Wien, Provisor in der Apotheke Zum heiligen Geist, war nach Linz mitgefahren, guter Bekannter wegen. Er besaß aber keinen Ausweis, weshalb man ihn festnahm und zur Polizei brachte. Erst nach eingeholter Erkundigung in Wien ward er freigelassen.
Auf die endlosen Fragen der wißbegierigen Freunde gibt Beethoven nur kargen Bescheid. In Berlin hat er die Ehre gehabt, vor Friedrich Wilhelm II., dem unwürdigen Nachfolger des großen Königs, zu spielen. Der Gewinn des Abends war Beethovens Bekanntschaft mit dem jungen Fürsten Anton v. Radziwill und dem ihm beinahe gleichaltrigen Prinzen Louis Ferdinand von Preußen. Beide sind Musiker und Musikfreunde. Der Fürst behält Beethoven seitdem im Gedächtnisse; und im Jahre 1825 widmet ihm der Meister die Ouvertüre Opus 115. Der Prinz sucht Beethoven im Herbst 1804 in Wien auf; kurz darauf wird ihm das Klavierkonzert in C-Moll mit dem merkwürdigen Largo in E-Dur (op. 37) zugeeignet.
Des weiteren erzählt Beethoven von seinen Begegnungen in Berlin mit Pierre Duport, Karl Friedrich Zelter, Heinrich Himmel.
Breuning fragt: »Von Berlin aus wolltest du doch nach London gehen?«
»Tod und Teufel« – erwidert der Gefragte – »haben mir den Weg dahin verlegt.«
Und um das ihm verräterisch werdende Gespräch abzulenken, bringt er den Dürerschen Stich hervor.
Wenige Tage später, wieder in Wien, sehen sich Beethoven und Stephan v. Breuning. Bald aber muß sich Ludwig auch von diesem alten Freunde verabschieden. Breuning wird nach Mergentheim versetzt.
Im November schreibt Stephan von dort nach Bonn: Ich weiß nicht, ob Lenz Euch etwas von Beethoven geschrieben hat. Meinem Urteile nach, was auch Lenz bestätigt, ist er durch seine Reise etwas solider und eigentlich mehr Kenner der Menschen und überzeugt von der Seltenheit und dem Werte guter Freunde geworden. Er wünscht Sie, lieber Wegeler, wohl hundertmal zurück und bedauert nichts so sehr als so viele Ihrer Ratschläge nicht befolgt zu haben.
Lorenz v. Breuning geht im Oktober 1797 totkrank zurück nach Bonn, wo er im Jahre darauf an seiner Lungenkrankheit stirbt. Beethoven hält diese Novalis-Natur immerdar für den besten Freund seines ganzen Lebens. Mit seinem Weggange beginnt des Meisters große innere Verlassenheit. Zwei mächtige Unabänderlichkeiten prägen fortan den Menschen und den Künstler Beethoven: Krankheit und Einsamkeit – Tod und Dämon.
Stephan v. Breuning hatte richtig erkannt, daß der Freund tiefer Wandlung unterworfen war. Sein schweres körperliches Leid verheimlicht ihm Beethoven, ihm ebenso wie allen andern Freunden und Bekannten. Er verzichtet auf nutzlosen Zuspruch. Zum Arzt wählt er sich den Doktor Peter Frank, damals Direktor des Allgemeinen Krankenhauses zu Wien. Ihm bleibt er fünf Jahre treu. Seiner Weisung folgend, sucht er im August-September 1796 und in den folgenden Jahren wiederholt Heilung an den Schwefelquellen des ungarischen Modebades Pöstyen.