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Mutter,« sagte Marili, »hier ist ein eingeschriebener Brief an meine Adresse gekommen, und ich kenne den Absender gar nicht. Bitte, mach du ihn für mich auf – mir ist es so beängstigend.«
»Also gib her, du kleiner Furchthase; laß sehen.«
Marili hielt ihren Brief noch in der Hand und zögerte damit und wendete ihn immer noch einmal. »Am Ende ist es – nein, das kann doch nicht sein! – Meinst du, Mutter, daß sich Carry schon mit – mit irgend einem verlobt haben könnte?«
»Kind, ich verstehe nicht. Ihr grünen Gänschen sollt an solchen Unsinn noch gar nicht denken.«
»Verzeih, Mutter; aber ganz gewiß, geradezu Unsinn ist es doch nicht.«
»Aber, Marili! Vielleicht später einmal, das könnte ich mir ja allerdings denken. Seit wann bist du hellsehend?«
»Das bin ich gar nicht, ich habe nur so meine Erfahrungen. Ganz gewiß, Mutter. – Karl zum Beispiel mag Carry riesig gern, das weiß ich bestimmt.«
»So – jetzt gib mir einmal den Brieföffner herüber, da, im Fenster liegt er, und verlobe du niemanden auf eigene Faust. Ich habe eine Ahnung; gib acht –«
Marili drückte sich gegen die Fensterbank und blickte starr in die liebliche Landschaft hinaus, über die der Wind hinpfiff und der erste Regentag seit sechs Wochen seine grauen Schleier zog. Meer, Klippen, Parkbäume und Weingang: alles farblos und gepeitscht von Sturm und Wassersträhnen.
Plötzlich ein kleiner Freudenruf von der Ecke her, wo die Mutter im tiefen Lehnsessel saß: »Kind, hier, dies ist etwas für dich.«
»Für mich?«
Sie trat vom Fenster fort und kam ganz zaghaft näher. Dann lief helles Rot über ihr Gesicht hin, und es schoß ihr heiß in die Augen; kaum wagte sie den braunen Geldschein anzunehmen, den die Mutter ihr hinhielt.
»Fünfzig Mark für mich? Fünfzig?«
»Nimm doch –«
»Aber das hab' ich ja gar nicht verdient!«
»Kleiner Narr; du siehst, daß die Redaktion andrer Meinung ist.«
»O Mutter! ganz gewiß, du bist so engelsgut gewesen und hast die Hand im Spiel gehabt.«
»Kind, was denkst du dir? Ich sollte der Redaktion schreiben: ›Mein kleines Mädchen möchte so gern Geld verdienen, seien Sie doch so freundlich und schicken ihr fünfzig Mark für ihre Gedichte und die Prosaskizze aus dem Englischen.‹ Das wäre noch schöner! – Nein, dem Verdienste seine Krone.«
»Ach, doch nur ein winziges Krönchen. Du hast mir so wunderschön geholfen, und eigentlich gehört die Hälfte dir.«
Sie fiel der Mutter um den Hals, drückte und küßte sie, fing an zu lachen und hätte um ein Haar auch den knitternden Papierfetzen geküßt, der sie mit einemmal reich gemacht hatte. Es war eine ganz neue Banknote und der Begleitbrief sehr höflich und liebenswürdig gefaßt:
»Wir gestatten uns, das Honorar für die ansprechenden, kleinen Arbeiten gleich beizuschließen und bitten um gelegentliche Einsendung fernerer ähnlicher Beiträge, die wir sehr gern zwischen die längeren Artikel unsrer Zeitschrift: ›Aus fernen Landen‹ einschieben werden.«
Marili nahm den Brief und legte ihn gegen ihre Wange vor lauter Glückseligkeit: »Wie betrunken bin ich, Mutter! Schilt nicht, sieh mich lieber gar nicht an. O, wenn dein Beruf nun auch meiner wäre!«
»Nicht so stürmisch, Herzenskind. Steigst du gleich in die Lüfte, und dein Ballon purzelt dann, so ist es sehr schmerzhaft und entmutigend. Bleib du lieber auf der Erde, Kind; sieh, ich bin fünfzig Jahre alt und habe lange, lange gebraucht, ehe ich die Arbeit, die mir Freude und innere Notwendigkeit war, als ›Beruf‹ erkannt und als ›Glück‹ genossen habe. Freue dich erst einmal an der Gewißheit, daß du bei Fleiß und Liebe zur Sache nutzbringend ›arbeiten‹ kannst. Pflege und treibe dein Englisch weiter, und nach und nach werden wir sehen, ob der rechte ›Beruf‹ daraus wird.«
»Ach – nun drücken mich meine fünfzig Mark schon wieder zu Boden –«
»Liebling, sei verständig, nimm sie und freue dich daran, und laß dir zum ersten Arbeitserfolg von deinem Mutting gratulieren.«
Für ein paar Minuten lag der alte schmerzliche Ausdruck wieder auf dem schmalen Gesichte, dessen Gepräge sich in diesen englischen Wochen merkwürdig zum Vorteil verändert hatte. Dann jedoch brach der halb erloschene Freudenstrahl wieder aus den Augen hervor und verklärte das Ganze: »Mutter, ich sehe es ein. Ob es nun bloß Arbeitslohn ist oder –? wie sage ich das, Mutter?«
»– oder das erste Lorbeerblatt –«
»Ja, das meine ich. Jedenfalls will ich mich jetzt furchtbar über meine fünfzig Mark freuen.«
»Bravo, mein Herz!«
»Und darf ich damit anfangen, was ich will?«
»Natürlich.«
»Also sieh, meinen ersten Verdienst möchte ich so gern nur zum Freudemachen verwenden. – Ich möchte nämlich erstens Kitty und Karl über alles gern auf einen Tag nach Freyenthal einladen, wenn wir wieder da sind, und dann (oder fändest du das unschicklich, Mutter?), dann schenkte ich den Doktoren vielleicht etwas Hübsches.«
»Liebling, deine Banknote ist nicht von Gummi.« Die Mutter lächelte ob der Naivetät ihres Kindes. »Kitty ist nicht frei und darf nicht reisen vor nächstem Jahre. Der machst du mit langen Briefen und getrockneten Blumen die größte Freude. Für Doktor Klenau arbeitest du ja schon das schöne Monogramm auf mein Kissen, und die jungen Assistenzärzte besticken und beschenken junge Patientinnen nur in Ausnahmefällen. Was Karl betrifft –«
»Findest du denn die Idee mit ihm nicht wenigstens hübsch, Mutter?«
»Und wie, liebstes Kind. Aber das Retourbillet nach Freyenthal kostet von daheim aus mehr als dein Schein.«
»Ich will es ihm doch schenken. Das Ganze. So rührend hat er mich nach Freyenthal gebracht, und zu schön fände ich's, wenn wir zusammen zurückreisten. Aber nein – das wäre denn doch ungerecht gegen Kitty. Kitty hat mich gepflegt, als ich schon beinahe tot war. – Und du, Mutter, du? Was tu' ich dir und unsern Besten, Geliebten hier in der Cottage?«
»Siehst du – die fünfzig Mark müßten wirklich dehnbar sein. Ich brauche keine Geschenke, mein Marili, deine Gesundheit ist mein Geschenk und mein Glück, und für die Lieben hier ist es deine Freude an ihres Vaters schönen Dichtungen. Lege du das Geld zu Haus auf die Sparkasse; dann hast du immer einen Not- und Hilfsgroschen und einen zum Geben, wo gerade einmal eine Gabe am rechten Platz ist.«
»Ich möchte Karl so sehr gern dorthin haben!«
»Gut – darin bist du dein eigener Herr.«
Dabei blieb es nun, und während die grauen Regenwolken sich auflösten, um der lieben Sonne wieder Platz zu machen, ward ein langer, langer Brief in der verbesserten lateinischen Handschrift verfaßt, die fünfzig Mark gleich wieder ins Couvert gelegt, Sixpence in Briefmarken darauf geklebt, und dann mußte, in Abwesenheit der Mutter, Shanny noch einmal Teiler der Freude sein.
* * *
Die Mutter ging unten im Sonnenregen spazieren und erzählte den Freundinnen ihres Töchterchens Glück.
Bei Tisch gab's dann eine ganze Feier. Rosen um Marilis Teller und das fertige Bild in Goldrahmen obendrein und ein paar hübsche Bücher. – Genau wie Geburtstag. Marili kam sich ganz bedeutend vor, und als nachmittags die Post einen richtigen »Unsinn- und Ulkbrief« von der vereinten Geschlossenen brachte, las sie ihn mit einem todesernsten Gesichte, die Lippen zusammengekniffen.
Carry hatte bereits wieder einen neuen Schwarm: »Der gute, kleine Doktor ist doch, ehrlich gestanden, reichlich dick für meinen Geschmack, und eigentlich finde ich auch Marine am allerwonnigsten. Wir sind nämlich mit Papa auf drei Tage in Kiel gewesen, und ich schwöre dir, wenn ich nicht die grausige Angst vor der Seekrankheit hätte, ich möchte immerzu auf Kriegsschiffen leben. Aenne findet mich selbstredend flatterhaft und predigt hehre Tugend.«
»Aenne sehnt sich nach ihrem dear English girl,« stand darunter, und das war der einzige vernünftige Satz im ganzen Machwerk der drei. Denn Nelle hatte ein Zettelchen extra eingelegt, so dick verklebt, daß es kaum zu öffnen war, und das kleine Stück Papier war eng, eng bekritzelt.
»Laß Carry sagen, was sie will, ich weiß doch, daß Dir das bißchen Dickigkeit nichts ausmacht. Wer einem das Leben gerettet hat, der kann ja aussehen wie er will, er ist gewiß immer das Ideal des Geretteten, nicht? Ueberhaupt: – – Du verstehst mich gewiß. – Dein Bruder hat gestern mit uns unvollständigem Kleeblatt zusammen und mit Carrys Mariniertem bei Tante Klärchen und Herrn Hellwig zu Mittag gegessen. Ich habe neben ihm gesessen, und wie er über Dich sprach: o, glaube Du nie wieder, daß er Dich nicht ebenso lieb hat wie Eure Kitty. Immer nur Schwärmen und Himmeln, das ist auch nicht die rechte Liebe. – Sehr ernste Sachen habe ich mit Deinem Bruder gesprochen, er ist überhaupt anders als die andern; eben Dein Bruder. Laß Du Dich nur nicht von Carry beirren, bitte. Carry ist der Sonnenkäfer und wir sind die simplen Tierchen: Bienen und Mücken. Aenne ist oft so traurig und sagt, daß sie neben ihrer hübschen Schwester auch nur eine Unterfutternatur ist, wie Du immer von Dir behauptest.
»Ach, geliebtes Marili, das ist doch eine gefährliche Bequemlichkeitsrede mit der Unterfutternatur. Bitte, verzeih, daß ich's offen sage. Dein Bruder findet es aber auch, und so nett hat er Aenne vorgeschlagen, daß sie sich frisch auffärben soll, und dann wäre sie Ueberstoff. Dich färbt nun England auf; es wäre eine Schande, wenn Du mit der alten Redensart kämst. Wahnsinnig freut sich auf Dich Deine Nelle.«
Marili überlegte lange und ernstlich, während sie im Zelte auf dem großen Rasen, das einen Blick auf das herrlich blaue Meer bot, ihr Monogramm auf Doktor Klenaus Kissen förderte, ob sie Nelles liebes Zettelchen der Mutter zeigen solle. Allein sie unterließ es schließlich dennoch.
Es war ein verräterisches Zettelchen. Sie sah Nelle neben Karl sitzen und hörte in Gedanken ihren heiteren Bruder ernste Dinge mit der Freundin reden. Nein, das, was sie zwischen den enggeschriebenen Zeilen las, war nicht ihr eigenes Geheimnis, sondern Nelles. Sie schuldete es auch ihrer liebsten Mutter nicht, und das fühlte sie, vielleicht zum erstenmal, als ihre feste und begründete Meinung. Jetzt, wo sie gesund war und ihren ersten Verlegerbrief, ihr erstes Honorar schon hinter sich hatte, druckte das Leben wirklich auch sein erstes deutliches Muster auf die »Unterfutternatur« und gab ihr ein andres Gepräge.
Sie klebte Nelles Briefchen in ihr Tagebuch, dessen Schlüsselchen an ihrer Uhrkette hing, und ein weißes Blättchen heftete sie, an allen vier Ecken mit Markenpapier darüber, damit das Geheimnis zwiefach gewahrt sein solle. Auf das Deckblättchen schrieb sie den alten Vers aus Sebastian Bachs Liede:
»Willst du dein Herz mir schenken,
So fang es heimlich an,
Daß unser beider Denken
Niemand erraten kann. –«
* * *
In ihr selbst lag, trotz aller Freude am kleinen Erfolge, trotz Arbeitslust und englischer Sommerschönheit, eine dumpfe, bange Sehnsucht in die deutsche Heimat zurück. Erst heute, durch Nelles Zeilen, war ihr's völlig klar geworden.
Sie vollendete ihr Monogramm, und als sie's der Mutter abgeliefert und die Ordre erhalten hatte: »Ziehe dich flink um, Herzchen, wir fahren in einer Viertelstunde nach Ventnor und von dort mit den lieben beiden Madame Leonie und Clemence nach Carisbrooke-Castle,« da stand sie droben fünf Minuten lang, halb ausgekleidet, vor dem Spiegel, hob die verschlungenen Hände über die Stirn und sagte leise vor sich hin: »Freyenthal!«
* * *
Gut, daß es im Leben so viele Heil- und Beruhigungsmittel für solch unbestimmte Sehnsuchtsgefühle der Jugend gibt: Arbeit, Vergnügen, linde Luft und blauer Himmel, Mutterherzen und Freundesseelen, und vor allem die Kinderfröhlichkeit, der man selber kaum erst entwachsen ist.
So war also » sweet little Clemmie« heute das süße Heilmittelchen, das wieder frohen Glanz in die stillen grüngrauen Augen brachte.
Schon die Bahnfahrt hinauf nach Newport, wie hübsch. Eine Dorfkirche grauer und anheimelnder als die andre im Schutz der alten Bäume; alle Häuser und Häuschen in Grün eingesponnen, stattliche Herden auf den Blumenwiesen, sonnige Hügel, jedes vorbeifliegende Bildchen einrahmend. Zwischen den zwei Jüngsten im Coupé stand der alte Fruchtkorb: »Nimm doch die große Feige; du bist krank gewesen, du sollst das Beste haben,« sagte das zärtliche Kinderstimmchen, und dann einigten sie sich auf die große Traube: »Diese Beere für dich; diese Beere für mich, diese für › aunty Rita‹ – diese für den guten Doktor, der dich wieder gesund gemacht hat. Du sollst es dem guten Doktor sagen, daß ich eine schöne Beere auf sein Wohl gegessen habe. Willst du das? Sage ja; – sage, ich will!«
»Ich will, in drei Wochen, sweetie! Nicht wahr, Mutter, in drei Wochen sind wir auf dem Wege nach Freyenthal?«
»O nein, so bald lassen wir euch nicht fort, liebste Henrietta,« protestierte Janet, und Louisa und Ellinor, die mit von der Partie waren, stimmten eifrig bei: »Nicht vor Mitte Oktober, dear!«
Aber die Mutter blieb doch fest: »Ihr seid viel zu gut, und es ist eine ordentliche Versuchung für uns, nicht wahr, Marili? Wir haben nur leider, oder besser gesagt, gottlob Pflichten daheim: unser lieber Junge will's zum Winter gemütlich gemacht haben.«
»Wir wollen Charlie kommen lassen, Henrietta; verbringt den Winter alle bei uns.«
»›Charlie‹ – Karl hat ein Amt, auch gottlob; tausend Dank, liebste Seelen – es geht nicht.«
»Nun, dann wollen wir dich wenigstens um das Kind bitten, um unsre Mary. Es sind noch so viele von Vaters Gedichten da zum Uebersetzen für sie, und dann würden wir Musik mit ihr treiben, und vielleicht hat sie Talent zum Malen. Wir wollen sie dir treulich behüten, Henrietta.«
»Was meinst du dazu, Marili?«
»Ich – ich –«
»Nicht rot werden, dearie –. Wie ist's?«
»Ich möchte – jetzt möchte ich lieber zu Haus und dann – o bitte, ich bin gewiß nicht undankbar. Wenn ich ein andres Jahr wiederkommen dürfte?«
»So, das ist ein ehrliches Wort und danach tun wir. Wann also müssen wir euch hergeben, Henrietta?«
»Nächste Woche, beste Janie. Wir haben Bedford noch vor uns: Margret will auch die alte Freundschaft nach zweiunddreißig Jahren wieder begrüßen. Ich bin ganz offen.«
»Aber wir reisen über Freyenthal, nicht wahr?« flüsterte Marili der Mutter zu, als sie, gleich darauf, durch das hübsche und idyllische alte Carisbrooke pilgerten, das reizend in sein aufsteigendes Tal gebettet lag, Hügel im Rücken und überall schattende Baumkronen und frisches Wasser. »Sieh, da vor uns liegt das Schloß schon; Gott! wie erinnert es mich an die geliebte Freyenburg!«
»Was ich versprochen habe, halte ich sicherlich, du mußt dich Doktor Unterhäuser vorstellen, das steht fest. Jetzt genieße nur mit allen Sinnen; man muß sich die schöne, frohe Gegenwart nicht damit verderben, Kind, daß man die Zukunft vor der Zeit heranreißen will. Sieh dir die wundervolle, alte Marienkirche an, die ist fast hundertjährig, und gehe mit mir langsam bergauf. Gib acht auf die große Mary, dear little Clemmie.«
»Wir wollen gleich Blumen pflücken, dann kommen wir sehr langsam zum Schloß, und ich werde dir beim Pflücken alles erzählen: vom armen, guten König Charles, der so heißt wie dein Bruder, und von Königin Elisabeth; alles weiß ich von Papa,« rief die Kleine eifrig, hüpfte voraus und kam wieder, weil Marili noch am Arm ihrer Mutter hing.
»Wir werden übrigens manches in Freyenthal verändert finden,« sagte die Mutter. »Doktor Klenau übernimmt eine eigene Anstalt, und Doktor Lieven ist in seine Stelle gekommen. Lieven schrieb mir's selber.«
»Wann?«
»Vor vierzehn Tagen. Du warst mit Rita für den ganzen Tag in Ventnor bei Leonie, ich habe gänzlich vergessen, dir's zu erzählen. Doktor Unterhäuser soll nicht recht wohl sein, er wünscht aber, daß du dich noch einmal zeigst.«
Marilis Gesicht sah förmlich blaß aus vor Ueberraschung. »O, liebste Mutter, weshalb hast du mir's denn nicht gesagt, und es interessiert mich so brennend.«
»Kind, buchstäblich: ich habe es über dem vielen Schönen vergessen, was wir hier genießen. Erinnere mich daran, daß ich heute abend in meiner Briefmappe suche. Du kannst Doktor Lievens Brief mit Vergnügen lesen, es steht nichts Geheimnisvolles darin.«
»Danke, Mutter – – wenn der Brief an dich ist, und nicht einmal –«
»Nicht einmal: was? Grüße? Natürlich wirst du gegrüßt. Nimm doch die Dinge einfach, Herzlieb, wozu immer klauben und Elefanten aus Mücken machen? Komm, gib mir rasch einen Kuß, hier hinter den Eichen sieht's niemand, und nun keine Grillen gefangen!«
»Wie laut sie hier zirpen, hörst du?«
Marili lenkte ab – sie wagte es nicht mehr, ihren Gedanken und Empfindungen nachzugehen. Da rief auch schon Louisa nach der Mutter; sie hatte einen netten Einspänner aufgetrieben und lud die Mutter zur Fahrt aufs Schloß ein: »Soll Mary sich dort ins Ponywägelchen setzen mit Clemence? Wir fahren zehn Minuten, und zu Fuß sind es knapp fünfzehn, weil der Weg dort über den Rasen unsre Fahrstraße abschneidet. Würde es nicht zuviel für Mary sein?«
»Tausendmal lieber ginge ich mit Clemmie – ich liebe Clemmie: I love her so much – und wir wollen feine Blümchen suchen zum Pressen für Briefbogen. Dürfen wir?«
»Es freut mich, wenn sie so gern mit unserm Liebling sein mag, und der Weg ist nicht zu verfehlen, Henrietta. Auf Wiedersehen oben vor dem Torweg, wir warten auf euch, und übermüdet euch nicht, ihr zwei. Auf Wiedersehen.«
Die zwei Kinder, das große und das kleine, blieben also im Nachtrabe. Es war köstlich auf dem Wiesenplane, der sich ganz allmählich hügelan hob, und dessen Grenze die hohen Baumwipfel rings um das alte Schloß bildeten. Ueber den Bäumen im Sonnenduft das zinnengekrönte Turmpaar und das hohe Torhaus zwischen ihnen. Wie fein das verwitterte Grau des Gesteins sich vom leuchtendblauen Sommerhimmel abzeichnete. Als dunkle Tuffs sproßte das Moos in den Fugen, und Epheuranken in ganzen Massen krochen darüber hin. Marili hatte »sehen gelernt«.
O, nur Zeit haben und eine Skizze versuchen!
Allein little Clemmie sorgte dafür, daß die Kunstwünsche in der Knospe stecken blieben. »Pflücke, pflücke – sieh wie schön!« rief das Kind in hellem Jubel, kniete neben der besten Freundin im Grase, zierlich das weiße Kleidchen schonend, und füllte sich die Händchen und erklärte jede Blume, als ob » darling Marylie« noch nie im Leben Vergißmeinnicht und Männertreu, Gänseblumen und Gundermann, Hasenöhrchen und Kriechklee gesehen hätte. Von allen wußte es einen niedlichen Spruch oder einen Kinderstubenreim; wie ein kleiner Waldvogel zwitscherte es und wollte Marilis Hand dabei gar nicht loslassen.
Die vielen Fremden, die in Gruppen und paarweise auch nach Schloß Carisbrooke wallfahrteten, freuten sich im Vorübergehen über die beiden Blumenpflückerinnen im hohen Grase. Das Kind war überhaupt eine fünfjährige Schönheit: französische Grazie zum frischesten englischen Liebreiz; himmelblaue Bänder zu goldnen Locken und der goldige Schatten des gelblichen Florentinerhutes zu den feinen, schwarzen Brauen und den Wimpern so dicht wie Vogelfederchen. Aber auch Marili hatte sich sehr verändert auf der Paradiesesinsel. Gar nicht mehr zu erkennen seit Freyenthal. Die Figur schmiegsamer und doch voller und weicher geworden, die Gesichtszüge klarer, belebt von jener andern Schönheit, die nichts mit der meinungslosen Lieblichkeit des Kinderlächelns und goldnen Kinderlocken zu schaffen hat, sondern von innen heraus durch die Augen scheint, schweigsame Lippen beseelt und redend macht, und farblose Wangen rosig überhaucht. Auch die aschblonden Haare waren nicht mehr so krankhaft fahl; sie glänzten jetzt wie Seide – Charlottens geschickte Zofenhände wußten sie so vorteilhaft zu ordnen – und Mr. Field, der Ventnorer Damenschneider, hatte, in Miß Dormers Auftrage, solch ein wunderhübsches Kostüm aus weißem Englischleder für Miß Ringhardt angefertigt, daß sie sich selber nicht mehr kannte.
War's deshalb wohl ein besonderes Wunder, wenn der einzelne Wanderer mit dem scharfen, ruhigen Gesichte, der auch auf der Pilgerschaft gen Carisbrooke-Castle schien, erst eine ganze Weile zweifelnd stand, dem englischen Zwiegeplauder lauschte und durch den Kneifer Gestalt und Antlitz der jungen Dame in Weiß musterte, ehe er herantrat und grüßend den Hut zog: »Guten Tag, gnädiges Fräulein.«
Sie fuhr erschrocken herum bei der deutschen Anrede aus fremdem Munde. Im nächsten Augenblick stand sie auf den Füßen: »– Doktor Klenau! o Herr Doktor – wie kommen Sie hierher?«
»Mit dem Vergnügungsdampfer von Southampton nach Cowes.«
»Und woher wissen Sie, daß wir heute hier sind?«
Er lächelte; die Frage war in seinen Augen ungeheuer kindlich. »Reiner Zufall; ich bin auf der Tour, wie Sie. Morgen würde ich meinen Besuch in St. Albans gemacht haben.«
Sie öffnete die Lippen, als wollte sie ihn ermuntern, es trotz ihres Zusammentreffens jedenfalls zu tun, aber seine Persönlichkeit flößte ihr noch immer große Scheu ein; sie wagte es nicht. Dafür schob sie Clemence vor, erzählte ihm in echtester Backfischmanier ganz genau, wie das Herzblättchen mit den Bewohnerinnen von Rushbrook-House zusammenhing, und dann, als ihr Herzklopfen sich einigermaßen beruhigt hatte, fragte sie, wie aus der Pistole geschossen, nach Aennes beliebter Art: »Wie sieht es denn in Freyenthal aus?«
»Das ist ein sehr weiter Begriff, gnädiges Fräulein. Herr König und Miß Cheltenham sind abgereist, Fräulein Lehmann wird die Anstalt noch bis zum Herbst beehren, soviel ich weiß; augenblicklich hat man dort hundertzwei Patienten, also viel zu tun, und der Chef will einen neuen Portier und eine vierte Wärterin anstellen.«
»Und dann? – – Nein, nichts; ich weiß ja nun das meiste – – komm, Clemence, dear, wir müssen uns eilen.«
»Nehmen Sie mich mit, gnädiges Fräulein, ich möchte doch Ihrer Frau Mutter aussprechen, wie vortrefflich Sie aussehen. Sie gehen vermutlich auch direkt zum Schlosse?«
Marili nickte stumm und setzte sich in Geschwindschritt. Das Herz klopfte ihr wieder bis in den Hals hinauf, ihr Gesicht glühte wie Feuer, entsetzlich peinlich war's. Nur noch eine Frage tun mögen und das um keinen Preis der Welt können, aus Furcht vor Selbstverrat, welche Pein!
»Ich schulde Ihnen so viel Dank,« brachte sie nach zehn weiteren Schritten hervor und schluckte hart dabei.
»Doch nicht mir speziell. Der Kollege Lieven dürfte auch seinen Anspruch auf Dank erheben, eigentlich aber gebührt der Dank Ihrer guten Natur. Ich bin zwar nicht mehr der Freyenthaler Anstaltsdoktor, sondern augenblicklich englischer Medizinstudent zum Wohl meiner eigenen, demnächstigen Anstalt, aber trotzdem ist meine Genugtuung über Ihre Veränderung zum Guten wohl noch gestattet.«
Solch einen langen Satz hatte sie ihn noch niemals sprechen hören, und eigentlich hätte sie ihm eine verbindliche Antwort geben müssen. Statt dessen kam nur eine hastige Frage: »Wie geht's Herrn Doktor Lieven?«
»Hoffentlich wieder sehr wohl.« Sein gewohnter ruhig-scharfer Blick durchbohrte sie und trieb ihr das Rot in die Wangen zurück. »Er ist in meine Stellung hinaufgerückt und der notwendige dritte Arzt wurde gefunden, soviel ich weiß. Die Arbeit mit achtzig Kranken stieg den beiden Herren etwas über den Hut. Lieven hat sich stark tummeln müssen, weil der Chef andauernd kränkelt.«
»Ich möchte – wissen Sie, wirklich aus Dankbarkeit, daß ich etwas in der Anstalt helfen könnte –«
Wieder das Lächeln von vorhin. » Immer noch die Berufssucht,« meinte er und schob die drei Vergißmeinnicht ins Knopfloch, die Clemence ihm eben in die herabhängende Hand gesteckt hatte.
Plötzlich verstand sie. Zum erstenmal sprang der Mädchenstolz in ihr auf und setzte sich zur Wehr: »Meinen Beruf hab' ich längst –«
»Wirklich?«
»Jawohl! Fragen Sie doch Mutter. Ich will mich gar nicht groß tun. – An der Dankbarkeit gegen Freyenthal würde mich der Beruf nicht hindern. Es gibt in jeder Arbeit Freistunden, die man dann auch noch gut anwenden kann.«
»Ja, das klingt ganz schön. Die Kollegen haben jetzt aber niemals Freistunden, und wollten Sie dort samaritern, würden Sie auch keine haben. Mithin: bleiben Sie bei Ihrem einen Beruf, der solch eine glänzende Nachkur für Sie zu sein scheint.«
»Das will ich mir erst einmal überlegen; wir kommen ja bald nach Freyenthal, Mutter und ich.«
»Hoho, der zahmen kleinen Rose wachsen Dornen,« dachte der Doktor. – Es machte ihm ordentlich ein mildes Vergnügen, wie seine einstige Patientin den zierlichen Kopf aufwarf, eine entschlossene Miene machte und dann, zu der Kleinen zwischen ihm und ihr niedergebeugt, ein paar rasche, englische Fragen an sie tat.
»Wir haben merklich zugenommen an Geist und Form,« dachte der kluge Doktor weiter und überlegte ernstlich, ob er der stolzen jungen Dame, die ihn so ein bißchen schnitt, verraten solle, was ein gewisser Kollege ihm vor etwa drei Wochen auf dem Freyenthaler Bahnhofe zum Abschiede gesagt hatte: »Wenn Sie das liebe, kleine Göhr irgendwo in Ihrem gelobten Old-England sehen sollten, so berichten Sie doch mal.«
»›Liebes, kleines Göhr‹ – nein, nein, das könnten wir doch bedeutend schief auffassen mit unsrer mädchenhaften Streitbarkeit. Aber einen kleinen Privatbericht wollen wir dem Kollegen in die medizinische Meinung einschmuggeln, alldieweil der gute Kollege – –«
» Here we are; hier sind wir schon!« verkündete das englische Herzblättchen in des deutschen Doktors stille Betrachtung hinein: »Dies ist Carisbrooke-Castle, du kannst es mir wirklich glauben, Marylie!« (Sie steckten nämlich ihre Nasen bereits in den Torweg.)
Und da saßen die vier älteren Damen in einer Reihe gemütlich auf der langen Rasenbank im Lindenschatten, und die Mutter sprang auf, als wäre sie nicht fünfzig, sondern zwanzig Jahre alt: »Geschehen denn Zeichen und Wunder? – Doktor Klenau!«
»Wie geht's, gnädige Frau? Ist das nicht ein merkwürdiges Zusammentreffen?«
»Bitte, darf ich Sie nicht gleich vorstellen? Liebste Louisa, dies ist unser verehrter Freyenthaler Arzt, Doktor Klenau; Miß Dormer, Miß Janet und Miß Ellinor Dormer, lieber Doktor.«
»Halb und halb bin ich ein Landsmann von den Damen, gnädige Frau. Meine Mutter war hier aus der Gegend gebürtig: Miß Ada Dryden. Ich wollte meinen Onkel in Cowes besuchen und fand ihn leider nicht mehr am Leben; deshalb bin ich heute hierher gefahren.«
»O, ein Neffe von Doktor Dryden? Dein alter Tänzer, Ellie, und Guys Arzt. Wie interessant! Guy ist unser Bruder, Mr. Klenau, und wenn Sie heute abend mit uns nach St. Albans kommen und unser Gast auf einige Tage sein würden, so bereiten Sie Guy und uns allen eine Freude.«
* * *
Ob ihre liebe Mutter und Miß Louisa und Miß Ellinor so besonders viel von den Herrlichkeiten des ehrwürdigen Schlosses in sich aufnahmen? Marili bezweifelte es. – Ellinor saß und skizzierte die beiden Trutztürme, ihre handliche kleine Palette mit darauf geriebener Sepia und Tusche und Neutraltinte am linken Daumen haltend, während die pinselbewaffnete Rechte eifrig malte und die feinen Marderhaare von Zeit zu Zeit ins Wassernäpfchen tunkte. Die Skizze selbst sollte für den leeren Platz über » dear Henrietta's« Schreibtisch ausgeführt werden. Der Doktor unterhielt die beiden ältesten Damen anscheinend sehr zweckentsprechend und Janet beschützte und leitete die liebe Jugend.
Sie selbst war mit ihren fünfundvierzig Jahren kein flinkes Reh mehr, noch eine kletternde Gemse; bald genug gab sie's auf, den zwei weißen Tauben zu folgen, die immer fünfzehn Schritt voraus flogen, hier verschwanden und dort wieder auftauchten.
Aus der Ferne sahen sie wirklich vogelleicht aus die beiden in ihrer sommerlich lichten Kleidung. Jetzt haschten sie einander quer über den grünen Spielplatz hin: das »Bowlinggreen«, wo König Karl der Erste, der Gefangene von Carisbrooke, sich mit seiner jungen Tochter manch liebes Mal vergnügt und Gram und Kettenschmach vergessen hatte. Vom Bowlinggreen weiter und die ausgetretenen und moosigen Steinstufen erklommen – fast hundert an der Zahl – empor zum altnormannischen Luginsland auf steiler Höhe. Nickende Büsche, Glockenblumen und Königskerzen zu beiden Seiten der steilen Stufen, droben ein schweres dunkles Tor, und jenseits des Tores auf der weiten, ummauerten Oberfläche des ehrwürdigen Turmes ein köstlicher Blick. Hinaus in die duftige Ferne über die grüne Insel hin. Hier die malerischen Häusergruppen von Newport und die blanke, glitzernde Fläche des breiten Medinaflusses, der dem Solent zueilte, dort Wiesen und Wälder und die feinen Turmspitzen der schönen Kirche von Whippingham; die Sonne funkelte hell in den langen Glasfenstern des Hauptturmes, um den sich vier zierliche Türmchen scharten. Ueber die Turmspitzen hinweg am Horizonte die deutlichen Umrisse von Schloß Osborne, wo die alte britische Königin so gern Sommerfrische hält. Gerade unter den beiden auf ihrer luftigen Turmhöhe der hügelige Rasengrund, wo vor Jahrhunderten die Edlen und Ritter turnierten und schöne Damen grüne Siegerkränze zum Preise der Tapferkeit austeilten. O, wie prächtig saß sich's hier oben auf dem herrlichen Luginsland auf steiler Höhe!
»Wolltest du nicht am liebsten, daß du die goldne Kette bekämst, Marylie?« fragte die Kleine, der die Große ein ganzes Rittermärchen erzählte, weil ihr zu Mut war, als müsse sie, nach der heutigen wunderbaren Begegnung, selbst ein Märchen von überraschendem Inhalte erleben.
Marili sah eine Weile wie traumversunken vor sich hin und sagte dann: »Ich weiß nicht, dearie, am Ende fänd' ich die Rose noch schöner.«
»Mary! Clemence! Kommt, wir wollen den Esel sehen!« rief bei dieser interessanten Wendung des Rittermärchens Janets Stimme von unten und der maigrüne Sonnenschirm ward in der Luft geschwenkt zum besseren Verständnis.
Marili fand, daß der »Esel« ein niederschmetternder Märchenabschluß sei.
Dennoch amüsierte sie sich kindisch über das gute Grautierchen, das so gelassen im schweren Rade stampfte und, zum Entzücken von little Clemmie, den Eimer an rasselnder Kette aus der grausigen Tiefe des artesischen Brunnens heraufholte, voll des eiskalten und krystallklaren Wassers. Dann tauchte noch ein Lichtchen hinab und verschwand fast und schwebte wieder empor, und die Kleine fragte ängstlich: »Glaubst du, daß der Ritter vom Turnier in diesen Brunnen gefallen und ertrunken ist, aunty Janie?«
»Das ganze Märchen ist in den Brunnen gefallen, dearie,« versicherte Marili, und dabei gab sie dem Eseltreiber aus Versehen einen Schilling als Trinkgeld anstatt des kupfernen Zweipennystückes.
»Schadet nichts, dieser Tag ist mehr als einen Schilling wert,« versicherte sie ganz leichtfertig, da Janet den Mißgriff bedauerte.
»Wir sind auch stolz auf unser Carisbrooke-Castle,« gab Janet zur Antwort.
* * *
Spät abends – es war wieder der schönste Vollmond draußen über Klippen und Meer – saß der Doktor in seinem stillen Fremdenstübchen der Cottage, rechts und links vom Tintenfasse zwei brennende Kerzen in hohen Silberleuchtern, und schrieb an den ehemaligen Freyenthaler Kollegen, während ihm ein dickleibiger Nachtfalter mit grünen Flügeln um die Feder surrte.
Es war ein ziemlich langer, aber außerordentlich nüchterner Brief, und nur der Schluß nahm etwas mehr Aufschwung.
»Jedenfalls wollen wir den Plan festhalten, daß Sie sich demnächst in Freyenthal losmachen und dann Teilhaber an meiner Anstalt werden. Ich arbeite gern mit Ihnen, seit wir uns damals nach der Handschuhflickgeschichte einmal gründlich miteinander ausgesprochen haben. – Dabei muß ich Sie doch darauf vorbereiten, daß Ihr sogenanntes ›liebes, kleines Göhr‹ seinem Namen nicht mehr entspricht. Alles Nähere überlasse ich Ihren eigenen fünf Sinnen. Jedenfalls also Respekt und halten Sie sich frisch zum Empfang. – Immer Courage; sagen Sie sich vor, daß in einigen Monaten das Schwerste für Sie überstanden ist, und daß Sie dann, mit viel neuer Weisheit und Erfahrung ausgerüstet, mein angenehmer Bundesgenosse sein werden.
Mein Inselquartier hier in der Cottage ist übrigens so sympathisch und fern vom Weltgetriebe, daß ich Sie und Ihr Erholungsbedürfnis recht gern ebenfalls an dies ländliche Meergestade versetzte. Welche Wunder solche Umgebung zu wirken vermag, wird Ihnen ja demnächst offenbar werden. Unsre Patientin ist, meiner kühlen Ueberzeugung gemäß, als völlig gesund zu betrachten.
Grüße habe ich Ihnen nicht zu vermelden. Dieser Brief wird bei nachtschlafender Zeit geschrieben und soll morgen mit dem frühesten aus dem Hallenbriefkasten zur Post wandern.
In etwa vierzehn Tagen denken die Damen R. in Freyenthal einzutreffen. Immerhin rate ich Ihnen, zum ungefähren Ankunftstermin ein passendes Zimmer bei Beyer festzulegen. Hoffentlich mindert sich bis dahin Ihre große Arbeitslast etwas, so daß Sie über etliche Freistunden verfügen können. Gesunde Menschen sind solche Wohltat für unsereinen.
Wenn Sie Unterhäuser das ärztliche Ergebnis meines Cottagebesuches mitteilen wollen, so habe ich nichts dawider.
Nochmals: halten Sie sich frisch, geehrter Kollege und Freund.
Ihr Klenau.
St. Albans, I. W., 10. November 1898.«