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Aenne malte sich's geradezu himmlisch aus, daß eines Tages der Postbote ein großes Couvert aus Freyenthal abliefern würde, unverschlossen mit Dreipfennigmarke und darin eine wonnige Anzeige:
»Dr. med. Ludwig Lieven
Marie Elisa Ringhardt
Verlobte.«
Selbstredend hatte vorher der Verlobte des lieben Schattenblümchens ungeheuer viel geerbt und sich irgendwo in einer bezaubernden Gegend (Genfersee oder Thunersee) eine großartige Anstalt gebaut, im Stil der süßen Vorstadthäuser mit den Kringeln und Frätzchen. Die Trauung würde in der Freyenthaler Kirche stattfinden: die Geschlossene als Brautjungfern und vier junge Freyenthaler Millionäre als Brautführer; Bouquets von den seltensten Orchideen und die Atlasschleife um jeden Strauß mit einer Brillantbrosche zugesteckt. Eine Brillantbrosche war einer von Aennes drei höchsten Wünschen. – Sie sah die »liebliche Braut, noch bleich und schmal nach kaum überstandener schwerer Krankheit«, ordentlich vor sich, wie sie »sich vertrauensvoll an den hohen, schlanken Bräutigam schmiegte«.
Nelle und Milly lachten sich halbtot darüber, aber sie ließen sich von Aenne schwören, daß sie dem lieben unschuldigen Schattenblümchen niemals solchen Blödsinn schreiben wolle.
»Man könnte es ihr so himmlisch schreiben, als wenn ich es geträumt hätte, du,« kapitulierte Aenne, die sich nun einmal in ihre schöne Idee verbissen hatte.
Sie saßen gerade zusammen in Aennes Wohnzimmerchen, handarbeiteten und schmökerten, nach leidiger Backfischart, in einem Packen diesjähriger Journale, deren Aennes Papa eine ganze Anzahl hielt. Da war ein Roman: »Am Rande der Verzweiflung«, den hatten sie mit Feuereifer zu lesen begonnen – die Heldin trug so herrliche Toiletten und der Held leitete jeden Satz mit: »Meine süße Blume« oder: »Mein Liebling« ein. Wundervoll! Leider wurde die Geschichte aber schon langweilig, ehe es zur Verzweiflung kam, und so wurden »Kurt« und »Lenore« sich selbst überlassen. Die Lektüre endete mit Bilderbesehen.
Plötzlich schrie Aenne auf vor Entzücken: »Dies muß und soll Marili kriegen – o bitte, bitte, verderbt mir den Ulk nicht; seht es nur an, wie reizend, und geradeso denk' ich mir ›Ludwig‹!«
Nelle guckte und ließ sich wirklich mit fortreißen; das Bild paßte zu genau für »Aennes Traum«. Es war die bunte Beilage in einer älteren »Gartenlaube«. Ja, das würde entschieden einen netten Witz geben. So verfaßten die drei denn einen ausgelassenen, gemeinsamen Brief – (wenn die ruhige Nelle einmal warm wurde, dann auch tüchtig!), klebten das Prachtbild säuberlich auf einen steifen Schulheftdeckel aus der seligen Vergangenheit und stifteten Doris an, daß sie ihnen vom nächsten Papierhändler einen Streifen Goldborte und vier Oblatenbilder holte. Mit der Goldborte umrahmten sie ihr Gemälde, die Oblatenbilder in jede Ecke, fabrizierten ein passendes Couvert unter Hinopferung von mindestens sechs Bogen Schreibpapier und trugen ihre Sendung, zum würdigen Beschlusse dieses wohlverbrachten Nachmittags, selbst zur Post.
* * *
»Heut jib's e reiche Poss', Fräulein,« sagte der Briefträger.
»Bitte, entschuldigen Sie einen Augenblick; ich will nur sehen, ob etwas für die Mutter dabei ist.«
Marili nahm den kleinen Packen, sah die Adressen durch, und als der Briefträger hinzufügte: »Ich hab' wat ›Einjeschrieben‹ für Frau Mama,« war sie sehr froh, daß er ihr seinen Bleistift lieh, so daß sie Herrn von Sinkiewicz's Füllfeder nicht anzunehmen brauchte.
Marili hielt sich, auf Wunsch der Mutter, dem ganzen Patientenkreis fern, nur heute hatte sie sich beim Halma beteiligt, weil die Mutter eine längere Besprechung wegen der Nachkur mit Doktor Klenau halten mußte.
»Können Sie das ertragen? Spielen und nicht erst Ihren Brief lesen?« fragte die hübsche, junge Frau Blank mit den schmachtenden Augen, während Marili, Aennes und Nelles verschlossenes Couvert neben sich, ihre Halmapflöckchen ordnete. »Mein Gott, wenn Roderichs Briefe nur eine Post zu spät kommen, oder wenn er vergißt, mir zu schreiben, ob Baby den Milchzucker noch verträgt – ich muß sofort einen halben Tag ins Bett.«
»Meine Freundinnen sagen mir immer, daß sie mir gut sind und plaudern so nett,« entgegnete Marili und wartete Frau Blanks ersten Zug ab. »Ob ich's jetzt lese oder in einer Stunde, wissen tu' ich's gottlob immer.«
»O, Sie Beneidenswerte!«
»Ueberhaupt –« (Fräulein Lehmann setzte den Kneifer auf) »das Kind kann gar nicht mitsprechen. Wer nicht nervös ist, sondern herzleidend, gehört eigentlich nicht mit in die Anstalt – allerdings –«
»Aber wir haben sie so gern darin, nicht wahr, sweetie?« schnitt eine andre Dame den Satz entzwei und legte den Arm zärtlich um die zarte Mädchenfigur in der blaßrosa Bluse.
»Herzleidend? Sehr gut,« sagte Herr von Sinkiewicz schnarrend und lachte in sich hinein. »Wir sind alle etwas angekränkelt, nicht wahr, gnädiges Fräulein?«
»O nein, ich bin so gut wie gesund – sehr, sehr dankbar darf ich sein.«
Marili blickte den Neckenden mit ihren freundlichen Augen gerade ins Gesicht und achtete dann nur noch auf das Spiel. Mit ihrer einfachen und kindlichen Weise ohne Arg und Falsch steuerte sie merkwürdig sicher zwischen all den krankhaften und innerlich so oder so verschrobenen Persönlichkeiten hindurch, ohne Anstoß zu erregen. Kaum zwei oder drei Neidische, die ihr das Interesse der Aerzte mißgönnten. Es war doch auch eine schöne Genugtuung, solch ein junges Leben nicht nur vom Rande des dunklen Todesabgrundes hinweggerissen zu haben, sondern aufgefangen im vollen Hinunterstürzen. – Und dann gab's, außer ihr, augenblicklich auch gar keine »Jugend« in der Anstalt. Die zierliche Vierzehnjährige aus Brüssel, die ihrer schwerkranken Tante Gesellschaft leistete, war mit ihren hängenden Haaren und kurzen Kleiderröckchen eben nur ein Kind.
Marili liebte die allerliebste Rose-Claire von allen Anwesenden am meisten. Niemand hatte je schönere Blumen ins stille Krankenzimmer geschickt wie die Kleine in ihrem eigenen und » ma tante's« Namen; niemand ausdauernder im Garten neben dem Langstuhl gesessen als sie, ihre Stickerei in Händen und den kleinen japanischen Fächer im Schoß, um der matt Hindämmernden die summenden Stechfliegen und tanzenden Mücken im schwülen Schatten der Kastanien abzuwehren. Jetzt lasen sie schon seit acht Tagen französisch zusammen: » L'abbé Constantin« und » La roche aux mouettes« – Marili hegte die stille Hoffnung, ihrer Aenne in der elegantesten aller Sprachen nachzukommen. Heute jedoch war » ma tante« viel leidender als sonst, und Marili sah die liebe kleine Pflegerin droben in der Fensternische auf dem niedrigen Simse sitzen. Sie häkelte emsig, und sobald Marili vom Halmaspiel einmal aufsah und zum Haupthause hinüberschaute, nickte Rose-Claire ihr sicherlich zu und hielt die Häkelspitze in die Höhe. » Vois donc comme je m'applique, Marie-Lys!« – So hatte sie den Namen umgemodelt, der ihr fremd und unverständlich blieb, und Doktor Lieven, der sich besonders gern mit den zwei Jüngsten abgab, fand in der ersten Genesungszeit den Lilienvergleich ganz besonders passend. Nach und nach jedoch wollte er's anders haben und wurde ungehalten: »Weiß Gott, Mademoiselle Marie-Lys; jetzt wird's aber Zeit zur Umtaufe in ›Marie-Rose!‹«
»Ich will mir Ihnen zu Gefallen ja gern die Backen reiben,« pflegte sie zu antworten, und dann hieß es: »Wir müssen uns ganz und gar auf die Nachkur vertrösten. Wohin schickt man Sie dann? Was mögen Sie am liebsten: Meer oder Berge?«
»Meer und Berge.«
»Oho, das ist zu viel verlangt.«
»Es ist überhaupt zu viel verlangt, Herr Doktor; ich will hier in Freyenthal ganz gesund werden, oder bei uns zu Hause.«
»Das hängt von Klenau und mir ab,« hatte er gesagt, und sie in ihren Gedanken: »Das hängt von des geliebten Mütterchens Geldbeutel ab und von gar nichts sonst.«
* * *
Was redeten und redeten sie nur heute so lange im Laubengang? Marili war froh, als die Partie Halma ihr Ende hatte und sie gehen durfte, um ihr Mütterchen aufzustöbern. Sie brannte auch endlich vor Neugier auf ihren Freundinnenbrief im großen, selbstverfertigten Couvert.
»Absender: Aennemillynelle« war auf die Rückseite gekritzelt, das entdeckte sie erst jetzt. O, was für ein Unsinn steckte wohl wieder dahinter!
Mitten im Garten, zwischen dem Cypressenhügelchen und der blühenden Rosenhecke um die Fontäne stand sie im Kieswege ganz allein, las abwechselnd ein paar Sätze des »ulkigen Briefes« und betrachtete, halb lächelnd, halb verletzt, das »Gemälde« im Goldbortenrahmen mit den Oblatenbildchen in den vier Ecken. »Das Jawort« betitelte sich die bunte Kunstleistung. Ein schöner, schmachtender Bräutigam in Frack und Glacés hielt das holde Bräutchen im Arm, Eltern und Geschwister selig im Kreise – der Champagner wurde seitwärts schon zum »Vivat Hoch« eingeschenkt, und die Bediensteten des Hauses erschienen mit recht intimen Freudengebärden auf der Türschwelle. – »Das Jawort?« – Was sollte das in aller Welt bedeuten? War am Ende eine von dreien verlobt? Und so erfuhr sie, Marili, es? Nein, auf keinen Fall, es mußte anders zusammenhängen. Sie las wieder ein Stückchen: Dieser Absatz, der jetzt kam, war in Aennes Handschrift und reihte sich an Millys feine, schräge Buchstaben. Insgesamt wackelten alle Worte ein bißchen. Die drei hatten gewiß furchtbar gelacht.
Also Aenne:
»Mein süßes Hühnchen, ich habe gestern einen geradezu wonnigen Traum gehabt, sieh Dir mal beifolgendes Bild an, dann weißt Du: wie. Die Braut warst Du und der Bräutigam, genau so wie auf dem Bilde, groß, schlank, brünett, bärtig und gelehrt – wer wohl? Nein, rat mal, Süße, Du rätst es nicht! Schlägt Dir jetzt Dein Herz??? – Du sollst nicht so lange zappeln: es war der Bräutigam, der Doktor, weißt Du – Dein Ludwig – – –«
Entsetzt schob die Lesende ihren Brief in die Tasche und ließ darüber das Unglücksbild fallen. Doktor Lieven stand urplötzlich hinter ihr, und wäre er heimtückisch und nicht kurzsichtig gewesen, so hätte er wunderbar schön die ganze Bescherung lesen können: »Der Doktor, weißt Du – Dein Ludwig.«
Gottlob nur, daß er kurzsichtig war.
»Hopla, warten Sie, ich hab's schon – nicht bücken,« sagte er, bückte sich selber (was seiner wohlbeleibten Gestalt sauer wurde) und reichte Marili das Bild. »Darf man bewundern? Das ist ja ein hehres Kunstwerk – und solch ein angenehmer Jüngling, finde ich. Pardon – ja, was ist denn damit? Was machen Sie für ein kurioses Gesicht?«
Sie hätte einfach in den Erdboden hinein versinken mögen. »Es ist nur ein Witz von der Geschlossenen – von Aenne und den andern – bitte, zerreißen Sie's – zerreißen Sie's doch, bitte!«
In hilfloser Verlegenheit, die Augen voll Tränen, sah sie ihn an, und als sie noch hinzufügte: »Denken Sie deshalb nicht schlecht von uns!« da lachte er herzlich heraus: »I, Gott bewahre, im Gegenteil. Spaß muß sein, sonst wäre die Erde ja faktisch ein Jammertal. Ich finde das Bild famos; hängen Sie sich's übers Bett, dann schwöre ich Ihnen, daß ich bei der Visite immer bei guter Laune bin. Eins müssen Sie mir aber versprechen: wenn Sie erst einmal als genesene junge Dame das Jawort an solch einen befrackten Adonis verschenken, dann bekomme ich die Anzeige davon. Gilt's?«
»Ich schäme mich – es macht mich ganz unglücklich! Bitte, zerreißen Sie das Bild!«
»I bewahre! Seien Sie doch nicht nervös und gekränkt. Solch einen Witz muß man spaßig auffassen. Immer fidel, Sie kleine Mimose, Sie. Wir sind jetzt auf solch gutem Wege, und in vierzehn Tagen sagen Sie der schrecklichen Anstalt und uns fürchterlichen Quälgeistern adieu auf Nimmerwiederkehr.«
Sie wendete den Kopf weg und weinte alles Ernstes; das Bild zitterte in ihrer Hand. Sie faßte sich erst, als er eine andre Miene aufsteckte und sie schalt und zum Laubengang hinleitete, damit nicht die halbe Heilanstalt Zeugin ihres Jammers würde.
»Liebes Fräulein, seien Sie einmal sofort vernünftig. Dies ist ja wie eine Rührscene von Benedix. Himmel, Sie sind Karls Schwester und können keinen Scherz vertragen.«
»Deswegen mag mich auch niemand!« Immer noch einmal wallte die angetane Bitterkeit in ihrer jungen Seele auf, er aber hatte taube Ohren dafür.
»So, nun ist es gut und das Bild wird fröhlich aufgehängt, wo ich's alle Tage sehen kann,« sagte er heiter, »und jetzt freuen Sie sich zum voraus tüchtig auf das, was die Mama Ihnen gleich erzählen wird. Da sind wir.«
Doktor Klenau, der mit der Mutter auf der eisernen Bank des heckenumgebenen Rondells gesessen hatte, erhob sich eben und griff an den Hut.
»Ich bin also vollkommen mit Ihren Plänen einverstanden, gnädige Frau. Bis zu Tisch denn. Kommen Sie gleich mit, Kollege? Ich brauche Sie oben.«
»Eigentlich ist es noch sehr gemütlich hier,« meinte der Kollege Lieven und rupfte ein grünes Zweigelchen ab, um sein leeres Knopfloch ein bißchen aufzuheitern. »Na, wenn es sein muß, Sie kalter Tyrann. – Auf Wiedersehen, gnädige Frau und dito Fräulein. Ach, bitte, noch einen Augenblick, zeigen Sie doch dem Kollegen Klenau das ›Jawort‹.«
Mit solch einem guten und doch festen Blicke sah der junge Doktor sie an, daß es wie ein magnetischer Zwang wirkte. Wortlos gab sie dem ernsthaften Herrn Kollegen das Bild, und da er keine Miene verzog, war's ihr mit einemmal, als verstände sie nun erst den Witz und den Spaß, und als müßte sie jenem kühlen Manne gegenüber die Ehre der geliebten Geschlossenen retten. »Ich will es freundlich nehmen!« sagte sie sich innerlich vor, und siehe da, zuerst lächelnd und dann lachend, wie's ihren jungen Jahren zukam, erklärte sie; das Ganze kam ihr mit einemmal so köstlich harmlos und amüsant vor.
»Guter Humor ist doch famos kleidsam, finden Sie das nicht auch, Kollege?« fragte Doktor Lieven, als sie außer Hörweite von Mutter und Tochter waren, und der Kollege nickte gemessen. »In diesem Lebensalter ist, glaub' ich, ja wohl alles kleidsam, mein Bester.«
»Na, hören Sie 'mal – ich danke schön! Ich kenne verschiedene häßliche junge Entlein, frei nach Andersens Märchen, die in ihrem Leben keine Schwäne werden. Diese Kleine hat zeitweise merkwürdige Anklänge an ihre Schwester. Sie erinnern sich doch, Kollege?«
»Ganz blödsinnig bin ich noch nicht geworden; aber ich bewundere Ihre scharfen Augen.«
»Bitte, nichts zu bewundern. Die Jagd auf Aehnlichkeiten ist immer so eine kleine Leidenschaft von mir gewesen. – Darf ich wohl 'n bißchen Feuer haben, Kollege?«
Damit waren sie vor dem Bureau angelangt, und der Hausverwalter stand bereits, ihrer wartend, vor der Zimmertafel mit den blau oder rot unterstrichenen Nummern. Kaum noch Raum zu machen für die beiden holländischen Familien, die sich angemeldet hatten. In drei Wochen, gegen Ende Juli, wenn der Anstaltsbesuch auf seiner Höhe zu sein pflegte, würde man sicher einen Teil der Domestikenstübchen in der Mansarde mit zu den Kurgastgemächern ziehen und auch noch im nahen Hotel Beyer eine Anzahl Zimmer belegen müssen.
»Merken Sie gleich Gartenhaus Nummer 85 b zum Siebzehnten abends für die Renouards aus Antwerpen vor, Herr Zimmermann,« sagte Doktor Klenau zum Hausverwalter. »Frau und Fräulein Ringhardt reisen spätestens am Siebzehnten früh.«
»Schade, dann haben wir auch gar nichts Niedliches in der Anstalt mehr –« bemerkte Doktor Lieven und betrachtete, mit Runzeln in seiner glatten Stirne, die zahlenbedeckte Tafel. »Na – ich will gar nichts gesagt haben, Kollege; ich bin hier nicht maßgebend.«
Der andere verzog den Mund nun doch einmal zum Lächeln: »Warten Sie nur noch ein paar Jährchen, dann ändert sich der Geschmack.«
»Sie meinen: die Auffassung ändert sich. Ja, das höchst wahrscheinlich – aber der Geschmack? – Niemals!«
* * *
»Was schreibt dir denn deine Aenne, daß du so ganz aus den Fugen bist, Marili?«
»Ach, Mutter!«
»Komm, trockne dir erst einmal die Augen ab; ich habe hier eine reizende Nachricht für dich, aber vorher mußt du mir wieder nett und vergnügt aussehen. – Eben hast du doch noch gelacht, Herzchen?«
»Ja das war – weil ich mich über Doktor Klenau ärgerte. Ich muß gleich weinen; ich weiß nicht warum. Jetzt liegt mir der Brief schon wieder so schwer auf der Seele, Mutter.«
»Willst du ihn mir zeigen, Kind?«
»Ach Mutter – bitte, nein. Es sind Dummheiten, aber – siehst du, manchmal – ich kann es dir nicht so recht sagen – ich meine, daß sie einem manchmal die Wahrheit, wie man so fühlt und denkt, erst zeigen. Bitte, liebe Mutter, laß mich den Brief gleich hier zerreißen; verlang du ihn diesmal nicht von mir.«
»Aber natürlich nicht, mein Herz. Tu damit, was du magst, du sollst dich nur nicht grämen und aufregen. Steck ihn nachher in den Ofen und laß ihn verbrennen, die Papierkrümelei hier im Boskett ist so unschön. So ist's recht, nun rück zu mir und lies meinen Brief.«
Arm in Arm saßen sie in ihrer heckenumfriedeten Gartenstille, und Marili beugte sich tief über den eng und steil beschriebenen Bogen, den die Mutter vor sie hin auf den Tisch gelegt hatte. Der Bogen roch ein bißchen nach Teer und Kohlen, wie es Briefe tun, die ein Streckchen oder eine Strecke über See gereist sind.
Eine starke Engländerin war Marili noch nicht; das Französische ging ihr schon geläufiger über die Zunge. Deswegen las sie langsam und mit den Lippen. Die Mutter sah ihr neugeschenktes, liebes Kind so gern an, wenn es, wie jetzt, im Grünen saß, der Sonnenglanz auf den weichen, aschblonden Haaren und der durchsichtigen Haut der einen Wange. Das spitzgewordene, junge Gesicht fing wieder an, sich ein wenig zu runden, und der beängstigende Glanz der graugrünen, schmalgeschnittenen Augen wurde wieder natürlich und irdisch. Jetzt vertieften sich beim Lesen die Mundwinkel, und die Lippen hoben sich; lebhaftes Rot der Freude stieg in die Wangen; nun endlich sprang sie auf und der Mutter ganz selig um den Hals: »O Liebe, Liebste! Nein, das ist ja gar nicht möglich, so etwas Himmlischschönes! Ich nach England? – ich, Mutter?«
»Wir beide zusammen.«
»Aber wie kommt Miß – Miß –?«
»Miß Dormer. Wie sie dazu kommt? Wir sind alte Jugendfreundinnen, und dich hat sie von jeher ein wenig als ihr Patenkind betrachtet.«
»Und dann?«
»Dann hatte sie mich immer gern einmal zu Besuch haben wollen und hörte von deiner Krankheit und all meiner Sorge um dich und ladet uns ein, auf Wight Nachkur für dich zu halten.«
»Für dich auch! Meine liebe Mutter, tausendmal danke ich dir noch für die Pflege. Du hast die Reise verdient. O, wie engelsgut von Miß Dormer. Ich kann es noch nicht fassen, Mutter. – Nur, Kitty und Karl, wie wird's mit denen? Ich darf ja nicht alles Schöne allein haben.«
»Karl kann für die nächsten Monate nicht reisen.«
»O, jammerschade!«
»Ja, Kind, es täte ihm auch gut.«
»Und Kitty?«
»Kitty? Vor Spätherbst gibt's keinen Urlaub. Aemter legen Pflichten auf. – Nein, nein, jetzt fängst du mir nicht wieder die alte Litanei von ›Beruf‹ und ›Lebenszweck‹ an: jetzt ist dein Beruf und Zweck das Gesundwerden, und später findet sich das übrige. Laß nur Zeit, Kind. – Deine alte Mutter muß doch auch eine Tochter bei sich behalten, nicht wahr?«
»Darf ich mich denn wirklich freuen?«
»Wirklich – ganz ohne Hintergedanken.«
»Mutter, o, wie danke ich euch allen!«
»Nicht weinen, Marili. Sei vergnügt – geh, da ruft deine Rose-Claire nach dir; geh und erzähle ihr dein Glück; es ist kein Geheimnis dabei.«
»Alle dürfen es wissen?«
»Alle – weshalb nicht?«
»Auch die Doktoren? – Darf ich mit Doktor Lieven darüber sprechen?«
»Gewiß. Halte ihn nur nicht auf, warte ab, bis er selbst damit kommt; er plaudert ohnehin reichlich gern.«
»Marie-Lys! Marie! où es-tu? Viens donc faire une petite promenade, Marie-Lys!« rief Rose-Claires helle Stimme durch den Garten, und zum allererstenmal, seit sie krank geworden, wandelte Marili die größte Lust an zu tanzen und zu hüpfen wie ein Brummkreisel. Wahrscheinlich war sie noch nie in ihrem Leben so ausgelassen vergnügt gewesen.
Die Mutter sah Marili nach, wie sie ums Fontänenrund eilte, ihr Bild in der einen Hand schwenkend, mit der andern hielt sie den Matrosenhut am Gummibande. Die Sonne funkelte über die papierene Goldborte hin, und da kam Doktor Lieven schon wieder aus dem Gartenhause und drohte mit dem Fieberthermometer: »Wollen Sie wohl! – Nicht so wild sein – stopp, stopp! Wohin geht die Fahrt?«
Sie jedoch lachte ihn diesmal aus und ließ sich nicht aufhalten. Oben am Flurfenster stand das lebhafte, kleine Mädchen, winkte und nickte und sprang die Treppen hinunter elastisch wie ein Gummiball. Eng umschlungen erschienen die »zwei Jüngsten« gleich darauf wieder im Garten: beide strahlten. Rose-Claire weil es » tantette chérie« jetzt viel, viel besser ging, nachdem sie so » merveilleusement« geschlafen hatte; Marie-Lys weil sie nach England durfte. Französisch schwatzend und radebrechend zogen sie an den patientenbesetzten Tischen unter der Pergola hart an der Straße vorbei, rannten noch geschwind ins Gartenhaus, um Marilis »Jawort« an den Nagel übers Bett zu hängen, nach ärztlicher Anweisung, und dann ging's zum Pförtchen hinaus in die freie Natur zwischen Wiesen und Feldern, den Drachenfels immer im Blick und die Freyenburg auf dem Waldberge hinter sich.
»Da steckt wieder volles Leben drin, im lieben Töchterchen, gnädige Frau,« bemerkte der alte, freundliche Herr Oberst im Rollstuhl, der vor seinem einsamen Abendbrote immer gern ein Stündchen mit der Mutter plaudern mochte. »Wer hätte damals wohl an eine Genesung gedacht? – Das liebe Ding; Gott behüt es Ihnen.«
»Leben kommt jetzt erst allmählich hinein,« antwortete die Mutter. »Es ist mir, als hätte von klein auf ein heimlicher Krankheitsdruck auf ihr gelastet. Bisher ist sie immer das stillste Kind von der Welt gewesen.«
»Die Aenderung freut mich – freut mich sehr. Ich habe selbst nie Kinder gehabt – leider, aber man fühlt mit, und das tue ich. So ein armer Lazarus wie ich – Gefühle hab' ich doch noch 'ne ganze Portion für andrer Leute Glück und Unglück. Das hab' ich vom Schlachtfeld her. Komisch, wie? – Sehen Sie, solch vergnügte Jugend, wie die zwei Mädelchen, die macht mir einen Heidenspaß.«
»Solche dummen Göhren, lächerlich! Da gehn sie hin wie Turteltauben,« sagte Fräulein Lehmann am Nebentisch in der gleichen Minute.
»Turteltauben fliegen,« bemerkte Herr von Sinkiewicz.
»Das ist mir ganz gleichgültig; mich kribbelt das stete Getue um die Backfische. Himmel, ich muß ja ins Bad – sechs Uhr durch – 'n Abend meine Damen,« und damit eilte das Fräulein hinweg.
Doktor Lieven dienerte eben irgend einen besuchenden Kölner Kollegen in die Anstalt hinein und rief dem Portier zu, sofort den stellvertretenden Herrn Chefarzt zu benachrichtigen. Der erschien bereits im Hintergrunde der großen Wandelhalle, und so hatte der junge Assistent vor seiner abendlichen Besuchsrunde noch ein paar Sekunden Zeit. Demgemäß faßte er unter dem Säulenvorbau des Einganges Posto und sah den beiden hellen Mädchengestalten nach, bis sie zwischen zwei hochwogenden, blau und rot getüpfelten Aehrenfeldern verschwanden. Nun schwammen nur noch die Matrosenhüte, der dunkle und der weiße, über den Halmspitzen; jetzt versank der Rose-Claires und tauchte gleich danach wieder auf nebst einer handschuhlosen Hand, die ein paar feurige Klatschrosen in Marilis Hutband steckte. Dann schob sich ihnen, als sie weiter wandelten, das Haselnußgesträuch in den Weg; verschwunden waren sie.
Der Doktor starrte noch zwei Sekunden lang ins Blaue mit blinzelnden Augen, weil die Sonne ihn blendete. Darauf schlenderte er in die Anstalt zurück und pfiff zwischen den Zähnen leise vor sich hin, die hübsche Melodie aus Lortzings »Zar und Zimmermann«:
»Sonst spielt' ich mit Scepter, mit Krone und Stern –«
Und den Refrain wiederholte er in ganz gefühlvoll auseinandergezogenen Tönen:
»O se–e–lig, o se–e–lig – ein – Kind – noch – zu – sein!
O selig – o se–e–lig, ein Kind – noch – zu – sein!«
»Haben Sie die Oper vielleicht letzten Sonntag in Köln gehört?« erkundigte sich der grämliche, schlaflose Kommerzienrat von Nummer achtundvierzig, zu dem der Doktor, den letzten Pfeifton noch ungefähr auf den Lippen, soeben eintrat.
Er lachte. »Dies weniger, verehrter Herr; ich muß bei dem albernen, kleinen Liede nur immer denken, wenn Sie mich so verängstigt angucken, wie jetzt zum Beispiel:
›Umhüllet von Purpur nun steh' ich allein –‹
Der Purpur bedeutet Ihnen gegenüber natürlich meine ärztliche Würde.«
»Ach so.« –
»Na ja, es stimmt auch damit. Sie kommen nie mit der Sprache heraus, Herr Kommerzienrat. Sehen Sie doch endlich einmal von unsrer ärztlichen Würde ab, und machen reinen Kram. Wo steckt's denn heute wieder?«
»Ach – da wo's immer steckt. Die Welt wird alle Tage weniger schön. Da steckt's.«
»Die Welt ist rund und muß sich dreh'n; die nette Seite kommt auch mal wieder 'rum zu Ihnen!« –