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Es war sehr natürlich, daß dem Herzoge von Heizendorff-Massenbach das Regieren mitunter äußerst schwer wurde.
Er hatte nämlich keine Unterthanen, wenigstens keine solche, an denen etwas zu regieren gewesen wäre, da sie ein Häuflein der gutmüthigsten und lenksamsten Menschen bildeten, die je auf einem Paar Quadratmeilen Landes in einer Stadt, einem Markt, einigen Kirch-Dörfern und mehrern Gütern und Höfen gewohnt haben. In patriarchalischer Einfachheit erzogen, nie aus einem engen Kreis ererbter Sitten weichend und der Väter Verfahren in allen Dingen zur festen und genügenden Richtschnur nehmend, war nun seit vielen Jahrhunderten eine Generation derselben nach der andern unter Herzoglich Hetzendorff-Massenbach'schen Auspicien geboren worden, aufgewachsen, in die Blütezeit getreten und verwelkt. Denn geblüht hatten sie alle, bei einem gesunden Klima, nahrhaften Getränken und wenig Arbeit konnte es nicht ausbleiben, daß sich die Segnungen landesväterlicher Fürsorge und Ueberwachung hell und unverkennbar auf ihren runden und freundlichen rothen Wangen malten. Sie brauchten weder den Arzt noch den Richter, weder den Voigt noch den Gendarmen und am allerwenigsten den Steuerempfänger, wenn er nicht aus eigenem Antriebe gekommen wäre: und wozu sie den Herzog selber brauchten – das hätte Keiner von ihnen ausgeplaudert, und deshalb überließen sie vertrauensvoll ihm selber, darüber zu entscheiden – er mußte es doch wissen!
Er wußte es aber auch nicht, und das war sein Kummer. Er hätte gar zu gern regiert und zu schalten und zu walten gehabt, daß ihm der Schweiß von der Stirne getropft wäre: aber war er nicht in einer verzweiflungsvollen Lage, in welcher ein Petrus a Vineis, ein Oxenstierna und ein Sully Petrus a Vineis: Kanzler des römisch-deutschen Kaisers und Königs von Sizilien, Friedrichs II. aus dem Haus der Staufer; Axel Oxenstierna: schwedischer Reichskanzler vor, während und nach dem Dreißigjährigen Krieg; Maximilien de Béthune, duc de Sully: französischer Offizier, Minister, Staatsmann, Marschall von Frankreich und Freund Heinrichs IV. – Anm.d.Hrsg. selber mit seiner Regierungsweisheit zu Ende gekommen wäre und nicht gewußt hätte, was zu thun? So lange der Herzog jung war, half er sich, indem er jagte, ritt, fuhr und derley ziemlichen und einem großen Herrn wohlanständigen Uebungen oblag, so daß die Hetzendorffer nicht mehr wußten, ob ihr Herzog des Jagens und Reitens wegen, oder das Jagen und Reiten ihres Herzogs wegen von Gott so trefflich erfunden und eingerichtet sey.
Dem sei wie ihm wolle, es verflossen doch dem Herzog auf diese Weise die übermäßig vielen und langen Tage, womit der Mensch auf Erden gesegnet ist. Jetzt aber war der gnädigste Herr älter und corpulent geworden und fing an, alle körperliche Bewegungen zu scheuen: die Jagd hatte ihren Reiz für ihn verloren; die Diners, zu denen er sonst ein Erkleckliches an Zeit verwendet, machten ihn unwohl; der Wein trieb ihm Congestionen zu Kopf; kurz, der Herzog von Hetzendorff-Massenbach fühlte, daß er so nicht fort vegetieren könne, daß er der Anregung, des Reizes und der Thätigkeit bedürfe, um nicht Hypochonder, krank, und unglücklich werden.
Es muß mir etwas das Blut durch die Adern peitschen, eine Anspannung aller meiner Seelenkräfte thut mir noth – oder ich gehe zu Grunde! – seufzte er. Lassen Sie die Lärmtrommeln rühren, Hartung, schreiben Sie Proclamationen, fangen wir einen Krieg an; z. B. Krieg mit meinem Nachbar, der Krone P. Ich will mich an die Spitze meiner Heere stellen und wie ein Löwe angreifen!
Durchlaucht, die Krone P. wird es nicht merken, versetzte der Baron Hartung, der geheime Cabinets-Sekretair, an welchen Serenissimus jene Worte gerichtet hatte.
Aber Sie sehen doch, daß es so in meinen Landen nicht bleiben kann. Ich leide fürchterlich: meine Nerven sind so abgespannt, daß ich den ganzen Tag über in Schlaf zu sinken geneigt bin. Eine völlige Revolution thut mir noth! –
Eine Revolution! fuhr er nach einer Weile fort – wer hat mir dies Wort auf die Zunge gelegt? Machen wir eine Revolution, Hartung! Das gäbe Leben, Lärm, Arbeit, Gelegenheit zu einer heroischen Kraftäußerung – man schriebe von uns; die Zeitungen würden voll davon, wie ich die Hydra der Empörung besiegt, mit eigener Hand, den Degen in der Faust!
Durchlaucht, an mir soll's nicht liegen; aber Ew. Durchlaucht Unterthanen sind zu glücklich und zu ergeben, um eine Revolution machen zu wollen.
Aber mir zu Gefallen? Sie wissen, daß ich sie liebe, wie meine Kinder! – Doch das ist's, ja! ich glaube, Sie haben Recht, Hartung: es sind gute, gute Menschen – sagte der Herzog, indem eine Thräne in seine blauen, großen, vorquellenden Augen trat. So bleibt mir nichts übrig, als die Revolution selber zu machen. Sie muß von oben her kommen – ich muß ein Tyrann werden. Ich will anfangen, sie zu despotisiren, daß ihnen die Augen übergehen sollen – wenn Alles vorüber ist, soll ihnen der Schaden aus meiner Schatulle ersetzt werden, machen Sie sich zum Behuf die nöthigen Notizen, Hartung, damit Keinem Unrecht geschieht. Aber sie sollen sehen – fuhr er fort, indem er vor den Spiegel trat und sein gutmüthiges, etwas schwammiges Gesicht in Runzeln zog – wie mir der Tyrann stehen wird; es wird aber zweckmäßig sein, wenn ich mir einen martialischen Schnauzbart wachsen lasse – meinen Sie nicht? he?
Durchlaucht werden aber dennoch immer Serenissimus bleiben, versetzte lächelnd der Cabinets-Sekretair.
Es erfolgte nun unverweilt aus dem Herzoglich Hetzendorff-Massenbach'schen Cabinet eine Reihe von zornigen Verordnungen, die keinen Sinn und keinen Verstand hatten; aber, wie es schien, und unbegreiflicher Weise, ganz erfolglos, denn, soviel sich verspüren ließ, wunderte sich Niemand darüber. Man ließ die Verordnungen ablesen und an's schwarze Bret am Rathhause der Residenz schlagen und ging dann den alten Weg. Der Herzog gerieth darüber immer mehr in den Eifer des Despotisirens hinein. Bald befahl er, alle Schlafmützen seien nur noch in den Landesfarben zu tragen, weil Serenissimus dieß für passend erachte; bald, es seien alle Regenschirme abzuschaffen, da seine geliebten Unterthanen doch hinreichend trockene Gesellen.
Den Hunden wurde das Bellen, den Essen das Rauchen untersagt. Endlich ging der Herzog so weit, sein Cabinet zu einer sogenannten » chambre noire« zu machen; das Lesen der Briefe gab ihm nicht allein eine Unterhaltung, diese neue Art landesväterlicher Obhut und Ueberwachung diente auch dazu, die lämmerhaften Gemüther seiner Unterthanen zu erbittern und ferner das Wachsen der zu erwartenden Gährung im Lande, das Anknüpfen von Verbindungen mit dem revolutionären Ausland und so weiter aufs Genaueste zu beobachten.
Eigentlich ist die Sache unmoralisch! sagte der Herzog, indem er seinen jungen Tyrannenschnauzbart glattstrich: aber es geht nicht anders – große Politiker haben sich immer über solche Scrupel erhaben gefühlt. Nicht wahr, Hartung? Bin ich nicht der Vater meiner Unterthanen? Darf ein Vater nicht die Briefe seiner Kinder durchlesen, schon um der orthographischen Böcke willen?
Der Cabinetsekretair wagte nicht zu widersprechen, da er sah, daß die schwarze Kammer eine Lieblingsidee des Fürsten geworden war. Doch bat er, ihn von dem Geschäfte des Brieferbrechens zu dispensiren und einen untergeordneten Schreiber, auf dessen Verschwiegenheit zu bauen war, dazu zu verwenden.
Der Menschen Gewissen ist leicht beruhigt. Nachdem der geheime Cabinets-Sekretair sich gegen das Verletzen der »Siegelheiligkeit« verwahrt, schien er keinen Grund zu kennen, der ihn abgehalten hätte, die einmal erbrochenen Briefe zu durchblicken und die, welche ihn interessierten, mit Muße zu durchlesen.
So finden wir ihn eines Morgens allein im Cabinet des Herzogs, die jüngste Sendung, welche vom Postmeister eingelaufen war und die der Schreiber mit geschickt gelöstem Siegel vor ihm auf den Tisch gelegt hatte, durchmusternd, bis die Durchlaucht erschien, der er sie alsdann einzeln zu überreichen pflegte.
Der Cabinets-Sekretair Peter von Alcantara Baron von Hartung war ein zierlich gebauter, blasser, junger Mann mit schönen Gesichtszügen, die etwas weiblich Zartes hatten. Seine Augen waren von einer klaren, aber harten Bläue und die scharfgeschnittenen, sehr regelmäßig gezeichneten Brauen milderten diesen Ausdruck von Schärfe und Härte nicht, der eine gewisse Zwiefältigkeit in seinem Gesichte hervorbrachte, daß es schien, als ob der muthige, männliche, ja strenge Ernst, welchen seine Blicke verriethen, die Milde und Weichheit hätte verdrängen mögen, die um seine Wangen und um seinen anmuthigen Mund sich gelagert hatten. Er sah sehr klug, sehr ruhig und zugleich etwas blasiert aus, denn es lag eine gewisse Resignation in seinen Zügen, dem Lauf der Dinge hier auf Erden und was derselbe für ihn noch herbeibringen könne, jemals Geschmack und Interesse abzugewinnen. –
Und in der That mochte er sich nicht glücklich fühlen. In einer größeren Stadt erzogen und ein nicht unbeachtetes Glied ihrer höchsten Gesellschaft, hatten ihn seine Verhältnisse ganz vor Kurzem genöthigt, eine Stellung an einem kleinen Hofe anzunehmen. Er war ohne alles Vermögen, und so mußte er jetzt den geistigen Genüssen, welche eine Stadt durch ihre mannichfachen Kreise und Anregungen gewährt, entsagen, ohne dafür die Befriedigung einzutauschen, welche das Gemüth sich aus einem innigen Verkehr mit der Natur und aus dem Reiz des Landlebens unter edeln Menschen zu verschaffen weiß. Dieser ganze Hetzendorff'sche Hof konnte einen satyrischen Beobachter drei Wochen lang amüsieren, in der vierten aber wurde er langweilig und in der fünften unausstehlich.
Doch sagte man, daß der Baron Hartung aus seinen früheren Kreisen eben nicht ungern geschieden sei, weil sie ihm durch eine unerwiederte Neigung vergällt worden, die ihn lange Zeit hindurch an den zahlreich bespannten Triumphwagen einer schönen und geistreichen Dame gefesselt habe.
Er saß jetzt wie gedankenlos über die Geschäftsbriefe und Krämerzuschriften vor ihm gebeugt, den Kopf mit dem Arme stützend und eines der Blätter nach dem andern von sich schiebend. Wie unersprießlich, wie blödsinnig flach und nichtssagend waren die Physiognomien, welche ihn aus diesen Schriftzügen anstarrten! blondköpfige, rothwangige und wohlhäbige Seelen, deren höchstes Verlangen sich darauf richtete, daß ein Handelsfreund ihnen eine Kiste mit Kandis sende oder ein Schuldner eine Rechnung von drei Gulden siebzehn Kreuzern bezahle: – und wie interessant, wie eigenthümlich ausgeprägt, wie voll Geist, voll tiefer Poesie können nicht die Physiognomien sein, die wie mit luftigen, für das körperliche Auge unerfaßbaren Farbentönen auf den weißen Grund gemalt sind, worüber eine intelligente Hand ihre Linien gezogen hat! Der Schatten, den der Charakter mit seinen verstecktesten Eigenschaften wirft, das Daguerreotyp innerster Gedanken, zu deren Entwickelung das Gespräch nicht Ruhe und Muße läßt, der Spiegel der Seele, das ist der Brief sinniger und gemüthbegabter Menschen – durch seinen Inhalt nicht allein, sondern seine Wendungen und seine Form, durch seinen Stil und seine Schriftzüge.
Jeder Brief ist der Schreiber selbst – in einen Bogen Papier und eine Anzahl schwarzer Striche verwandelt. Nehmt eure Briefe, die, welche ich meine, die, welche ihr des Aufbewahrens für immer werth haltet, die, Briefe voll Freundschaft, voll Vertrauen, voll Liebe. Ist nicht z. B. dieser erste hier, dieser Brief voll Enthusiasmus, voll Wärme und Begeisterung, der Schreiber selbst? blickt er euch nicht daraus an, wie er die geballte Hand an die Stirn drückt, wie es ihn so gewaltig ergriffen und gepackt hat – die Freiheit, die Tochter seiner Hauswirthin voll Nikolaus Lenau und Zärtlichkeit, ein Zeitungsartikel, ein Gemälde, es sey nun, was es sey? Ist er es nicht, der seine Wimper so oft im Leben naß gefühlt hat und der nun aus lauter Angst vor seiner eigenen Rührung immer der lauteste Schreier ist und mit miserablen Späßen sich und die Gesellschaft »zweckessender« Freunde füttert, damit die allgemeine Stimmung nur nicht über die prosaische Heiterkeit hinausklimme – damit nur nicht die Andern um ihn her die reizbaren Saiten in seiner Brust berühren und ihn zwingen, wie elektrisch durchzuckt und überwältigt, sein blutendes Gefühl vor ihnen auszuströmen – zu sprechen, zu weinen, aus der Haut zu fahren? Ist nicht die ganze Färbung dieses Briefes so blau wie sein tiefblaues Auge, liegt nicht um diese langgezogenen Züge seiner Buchstaben, die mit Blitzesschnelle in schlanke Schnörkel auseinander gefahren sind, dasselbe, was um seine flatternden dunkeln Haare, die langen wirren Locken schwebt, der Aether, das geistige Palmölarom der Schwärmerey?
Und nun dieser zierlich gefaltete duftige Brief hier, auf dem glätteten Bath, mit der Vignette, wo Amor den Löwen bändigt, mit all der logischen Klarheit des Nichts in den Gedanken, mit den regelmäßigen, geraden, wie abgezirkelten Schriftzügen, wo eine Zeile ist wie die andere – ist er nicht die glatte seidene Salonseele selber, die ihn schrieb? Eine Seele, deren Gefühle und Gedanken wie ein Uhrwerk gehen, aufgezogen von gemachter Sitte und in deren Dasein alle Stunden schlagen an der Glocke des guten Ton's?
Dann dieser dritte Brief – dieses Ungeheuer von einem Brief, denn es sind acht, neun, zehn dünne Blätter, noch an den Seiten und über dem Datum beschrieben, das heißt über dem Ort, wo man das Datum hinzusetzen pflegt, denn der Brief selbst hat keine Tag- und Zeitangabe – er dürfte sie nicht haben, wenn er auch nicht von einer Dame wäre; er gehört nicht in die irdischen Bestimmungen von Zeit und Raum – ist er wieder nicht das treue Spiegelbild Der, die ihn schrieb? – Ist er nicht so weich, so leicht, sind nicht die Züge so fein und unmateriell, die Gedanken so duftig, die Gefühle so voll Durchsichtigkeit und Klarheit, so diaphan gewebt, so ganz als ob man durch sie hin bis in die Unendlichkeit schauen könnte? Ist sie, die Schreiberin, nicht auch eine so leichte unmaterielle Gestalt, sind ihre Züge nicht so zart, ist ihre Stimme nicht so voll reichen Mollklangs, wie er aus diesem Briefe tönt? Ist sie nicht eine ebenso durchsichtige Vase für ihre Gedanken und Gefühle, die gleich einem Strauß tiefgefärbter und phantastischer Blumen, in deren frische Kelche der Schmerz und die Leidenschaft eines Engels die Thautropfen geweint haben?
Und dies seltsame Gefühl, einen solchen Brief, den ihr selbst geschrieben habt, solch einen mit der Feder gezeichneten Schattenriß eures damaligen Seyns nach langer Zeit von einem Freunde aus der Schublade genommen zu sehen! Ihr möchtet ihn um Alles nicht wieder lesen; ihr mögt ihn nicht sehen: es ist ein Sarg, in dem eure todten Gedanken bestattet; ihr seyd es selbst, wie ihr damals dachtet und spracht, der darin bestattet ist; er ist euch fatal wie euer Spiegelbild bei Nacht!
Es waren diese Gedanken, welche dem jungen Mann durch den Kopf gingen, als er im Cabinet des Herzogs von Hetzendorff über den nichtssagenden Briefschaften gebückt saß, welche eine nach der andern von ihm geöffnet und wieder zusammengefaltet wurden – bis er plötzlich einen leisen Ruf der Verwunderung ausstieß, während eine Hand zitterte, als ob der Brief, den sie aufgehoben hatte, ihr einen elektrischen Schlag versetzt habe. Es war ein sorgfältig zusammengelegtes Couvert, mit einem Wappen, das eine siebenspitzige Freiherrnkrone schmückte. Der Löwe, der mit aufgehobenen Pranken den Inhalt vertheidigen zu wollen schien, und gegen jeden Frevler drohend die Zunge ausstreckte und die Zähne wies, zürnte umsonst; das Couvert war, wie alle andern Briefe, geschickt geöffnet und Hartung hatte den Inhalt herausgenommen und fast ganz durchlaufen, ehe nur ein Gedanke in ihm aufstieg, wie er sein unloyales Verfahren gegen die Schreiberin dieser Zeilen – denn es war eine schöne, deutliche, etwas männlichfeste Frauenhand, welche den Brief geschrieben – entschuldigen oder nur beschönigen könne. Der Brief lautete:
Elfenburg den 11. Mai.
Liebe Christine!
Damit Du siehst, daß mich meine neuen Verbindungen meinen alten Freunden nicht untreu machen, schreibe ich Dir schon heute, um Dir zu sagen, wie froh und wohl mir hier ist. – Ich freue mich an meinen Wäldern, an meinen Bergen, an all meinen Herrlichkeiten, daß ich in Versuchung kommen könnte, Dir eine sentimentale Beschreibung des Frühlings zu machen und ihn mit seinen tausend Blüten und tausend jubelnden Stimmen vor Deinen Augen in mein Territorium einziehen zu lassen, wie er in meine Seele eingezogen ist. – Ich habe es nicht nöthig; Du weißt ja dennoch, wie tief und wohlthuend die Natur auf mich wirkt, und wie sehr ich ihre Reize den langweiligen Kreisen und Zuständen vorziehe, denen ich entflohen bin. O wie bemitleid' ich Euch bei Euerem lauwarmen Thee, Eurer lauwarmen Conversation, Euern lauwarmen Interessen: wie dürr, wie reizlos, wie abgedroschen habe ich immer, ja schon als kaum erwachsenes Mädchen diese Kreise gefunden! In der That, Christine – den Stolz mußt Du mir lassen – ich habe mich immer erhaben gefühlt über das leere und nichtige Treiben unserer heutigen Gesellschaft; und wenn ich mich nun daraus zurückziehe, so ist das Opfer, welches ich damit Salentin bringe, und das er von mir verlangt hat, wahrlich keines, für welches ich große Dankbarkeit von ihm fordern kann!
Salentin läßt Dich durch mich bitten, den beigefügten Brief, den ich von ihm zum Anschließen bekommen habe, an seinen Freund Hardenstein zu besorgen.
Ich werde wahrscheinlich Hartung wiedersehen. Es sind nur zwei Stunden von hier bis Massenbach, wo der Herzog seine Sommerresidenz bezogen hat. Seine Erscheinung wird mich verlegen machen. Du weißt, ich bin mich einer – freilich kleinen und verzeihlichen – Schuld gegen Hartung bewußt. Es war eine Zeit, wo ich glaubte, in ihm Das zu finden, was ich suchte, einen Mann im vollen Sinne des Wortes. Ich will auch jetzt nicht behaupten, daß ich mich damals durchaus täuschte; er hat manche schöne Eigenschaft, er besitzt Geist und Weiche des Herzens, ich glaube, daß eine reiche Ader von Gefühl, ja von Poesie in ihm schlummert – aber weißt Du, daß ich ihm nicht ganz traue, daß ich nicht ganz von der festen Unerschütterlichkeit eines tüchtigen und entschiedenen Charakters in ihm überzeugt bin? Jedenfalls ist er eitel und muß durchaus in den Hintergrund treten, neben den großartigen Zügen, in welchen die Natur den Charakter meines edlen Salentin ausgeprägt hat.
Ich bitte Dich, liebe Christine, vergiß nicht, mir regelmäßig die Modekupfer zukommen zu lassen und gelegentlich Demoiselle des Fripperies zu sagen, sie könne mir die Schachtel mit dem Cardinalkragen und den spitzenbesetzten Nachthauben durch den Boten senden, der jede Woche einmal nach Massenbach geht. –
Lebe wohl, meine theure Freundin; ich verlasse mich sicher auf Deine Ankunft im August. Einen Kuß auf die weiße Stirn Deines Ernst!
Halte lieb
Deine
Adrienne Traunstein.
Es waren zwei Dinge in diesem Schreiben, die den Baron Hartung äußerst unangenehm berührten, das erste war, daß Adrienne von Traunstein mit dem Grafen Salentin von Guolfing verlobt schien, und das zweite, daß sie erklärte, es sei ihm, Hartung, nicht recht zu trauen! Es mochte nie in seinem Leben ein Wort irgend eines Mannes oder einer Frau ihm so tief in die Seele geschnitten haben, wie dieses letztere; das Zertrümmern seiner schönsten Lebenshoffnung hätte ihm nicht diesen Schmerz bereitet.
Adrienne war für ihn verloren – er hatte es längst sich selber sagen können – nur das Unwiderrufliche des Verlustes und der Umstand, daß sie einen Andern lieben konnte, während er sich damit getröstet, daß sie niemals, wie sie ja auch immer hoch und theuer beschworen, lieben könne und werde, das fiel ihm schwer auf die Brust. Aber was war es gegen diesen Vorwurf, daß sie seinem Charakter nicht traue? Sie, die er geliebt, hegte Argwohn gegen seine Redlichkeit, seinen moralischen Werth!
Er mußte sich diesen Vorwurf machen lassen, just in dem Augenblicke, in welchem er im Cabinet des Herzogs von Hetzendorff erbrochene Briefe las, welche nicht für ihn geschrieben waren. Das war's, weshalb diese Worte eine solche schneidende Wirkung auf ihn übten!
Nur noch einen Brief mußte er lesen – dann keinen mehr; er war bitter, aber nachhaltig und für alle Zukunft zurechtgewiesen. Er mußte noch den Brief des Grafen Salentin lesen, jenes Mannes, der ihn so sehr übertreffen und in den Schatten drängen sollte. Dieser schrieb:
Guten Morgen, theurer Hardenstein; mach' kein finsteres Gesicht, wenn dieser Brief auf ein Paar Augenblicke Deine Aufmerksamkeit vom Chronicon Novalitiense abzieht, oder von irgend einem andern der alten weisen Meister, über den ich im Geiste dich gebückt sehe: denke, es wäre eine Scholie, die deine Augen vom Text abzieht. Nach acht bis vierzehn Tagen komm' ich auf einen Tag zur Stadt. Ich möchte dann, daß Du so gut gewesen wärest, von der Bibliothek: La Fauconnerie de Charles d'Arcussia, seìgneur d'Esparron, 1627. s. C. 4. und das Buch von Huarte im spanischen Original – Dos ingenios, wenn ich nicht irre, heißt der Titel – für mich entnommen zu haben, daß ich beides ohne Zeitverlust mitnehmen kann.
Ueber meine Verlobung mündlich.
Du wirst Dich bei meinen Dir bekannten Grundsätzen darüber gewundert haben, Du wirst Dich nicht anders darin haben finden können, als indem Du mich inconsequent, kindisch genannt hast. Lieber Freund! was ich über die Liebe gedacht habe, denke ich noch immer: daß sie die ärgste Thorheit sey, worein ein vernünftiger Mann, der etwas Besseres zu thun hat, nur immer verfallen kann; auch kann ich Dir die heiligste Versicherung geben, daß ich Adrienne Traunstein durchaus nicht liebe und es lediglich höchst vernünftige Gründe sind, welche mich zu meinem Schritte bewogen haben. Vale amice.
Guolfing, den 10. Mai.
Dein
Salentin.
N. S. Ich habe Annchen wiedergesehen. Sie ist allerliebst. Diese frische Natürlichkeit, diese Blüte eines so harmlosen und doch in seiner Naivetät so intelligenten Gemüths, diese Bewußtlosigkeit ihrer Schönheit, welche sie so reizend macht – ich bin ganz entzückt. Du solltest sie sehen! Ich habe sie in dem Pfarrhof von Lodorf, zwei Stunden von hier, bei einem alten Stiftsfräulein untergebracht.
Als der Baron Peter von Alcantara Hartung diesen Brief gelesen hatte, empfand er einen innern Jubel, der ihn wieder eben so hoch erhob, wie tief ihn der erste Brief niedergeworfen hatte. Also das war der Mann, dessen in großartigen Zügen angelegter Charakter, dessen Seelenadel ihn so ganz verdunkeln sollte! Dieser Mann, dessen Heucheley ihn um Adriennens Hand gebracht hatte und der nun so völlig entlarvt war!
Es war ein unendlicher Triumph für ihn und seine gedemüthigten Gefühle konnten wieder riesengroß sich aufrichten; – wie konnte er an Adriennen sich rächen – wie großartig konnte er vor ihr stehen und ihr Unrecht ihr vorwerfen – dann es beweisen – dann glühende Kohlen auf ihr Haupt legen, indem er durch ein Duell sie von einem Bräutigam befreite, der sie betrog – so unverzeihlich betrog, denn Alles kann ein edles Frauengemüth verzeihen, nur nicht, ihr Liebe gelogen zu haben – tausendmal eher eine Untreue.
Er konnte noch grausamer sich rächen: er konnte schweigen und Adrienne in die Hände dieses Salentin fallen lassen.
– Nein, pfui! rief er aus – und warf alle Gedanken der Eitelkeit, des egoistischen Triumphes, der Rache weit von sich, mit um so größerer Heftigkeit, je mehr er befürchtete, daß sie zu ihm zurückkehren könnten.
Er war ein Heiliger in diesem Augenblick, so schmerzlich bereute er, was er aus seiner rasch mit den Gedanken durchlaufenen Vergangenheit sich vorzuwerfen hatte, so fest schwor er sich, jedes Abweichen und Wanken von dem einen geraden Wege einer tüchtigen, untadelhaften Gesinnung zu vermeiden. Adriennens Worte über ihn waren einer unbekümmerten eiteln Schwäche in ihm, der er, in den Tag hineinlebend, nachgegeben hatte, was jenes: »Saul, Saul, warum verfolgst du mich!« der Verblendung des nach Damaskus sprengenden Eiferers, – der Ruf, der den Schlafwandler weckt, das Signal zur Umkehr!
Der moralische Mensch lernt später geradeaus zu schreiten, ohne rechts und links abzuschwanken, als es der physische lernt, und wir selbst sind oft ganz vollständig erwachsen, wenn unser Charakter noch sehr des Fallhuts bedarf.
Hartung war so entschieden und fest entschlossen, von jetzt an den Fallhut nicht mehr zu bedürfen, daß es ihn verlangte, sich selbst von der Kraft seines Willens über die Forderungen und Befriedigungen seines Ich und des Egoismus einen Beweis zu geben, welcher ihn in seiner moralischen Zerknirschtheit tröstete und erhübe; würde dieser Beweis nicht auch nebenbei der Eitelkeit, welcher soeben eine Nahrung entzogen war, eine andere dafür wieder geben? Denn so ist der Mensch – aus einem gewissen Kreise kommt er nie heraus.
So war Hartung endlich getröstet, nachdem er den Entschluß über sich gewonnen, Adrienne nur zu bemitleiden, sie zu warnen, zu retten, ohne sich selbst dabey ins Spiel zu bringen und Dank dafür zu verlangen, sondern ganz ungesehen im Hintergrunde zu bleiben – und endlich jenes kränkende Urtheil ohne allen Groll hinzunehmen, und nur zu suchen, wenn es je Grund gehabt, es für die Zukunft zu einem ungegründeten zu machen.
Er mußte freilich ungesehen im Hintergrunde bleiben, wollte er Adrienne warnen. Durfte er ihr oder Jemanden in der Welt – schon seines amtlichen Verhältnisses wegen – gestehen, daß er die Briefe gelesen?
Was war zu thun?
Einzig, was er that. Er verwechselte die beiden Briefe und schob sie in die unrechten Couverts, so daß Adriennens Schreiben mit dem Verlangen nach dem Cardinalkragen und den Nachthauben an den gelehrten Bibliothekar adressiert war und Graf Salentin's Geständnisse jetzt an die Baronin Christine von Treffen heim gingen. Dieß war Adriennens beste Freundin. Hartung, der sie kannte, wußte, daß sie nichts Eiligeres würde zu thun haben, als ihrer Freundin die Naivetäten ihres Bräutigams mitzutheilen und zugleich in's Geheimniß zu ziehen, wer ihr zunächst in den Wurf komme. Darauf klingelte er dem Schreiber und ließ die Briefe sorgsam wieder schließen. Hierüber trat der Herzog in's Cabinet.
Guten Morgen, Hartung, sagte er mit dem freundlichsten Gesichte in der Welt – ah, die Briefe! was haben Sie erfahren, noch keine dumpfe Gährung, keine mitternächtlichen Versammlungen, keine Pulver- und Flinten-Bestellungen, noch immer nichts?
Nein, nichts, Durchlaucht, versetzte Hartung, sich groß und hoch aufrichtend, daß er mit dem gutmüthigen Schlemmergesichte vor ihm eine auffallende Veranschaulichung der Wahrheit bildete, wie hoch und erhaben der Adel und die stolze Energie eines einzigen Gedankens den Mann über die in Purpur geborene Nichtigkeit emporhebt: – und ich nehme daher Veranlassung, fuhr er fort, Ew. Durchlaucht vorzustellen, daß es von nun an mit der schwarzen Kammer billig ein Ende hat, da sie sich unter keinem Gesichtspunkt irgend beschönigen, viel weniger rechtlich vertheidigen läßt. Ludwig XV. konnte eine solche zweideutige Maßregel erfinden und ausführen – aber Sie, Durchlaucht – Sie sind viel zu – nun was?– ja, viel zu wenig Ludwig XV. dazu. – Hier ist das Concept der Instruktion an den Postmeister: Ew. Durchlaucht werden den Widerruf hier an den Rand schreiben!
Vertubleu und Ventre – saint –gris! schrie der Herzog und lachte dann aus voller Kehle: Hartung, Hartung, da haben wir ja, was wir wollen, die Revolution, die Revolution von oben her, die Revolution in unserm eigenen Cabinet! Sie geht mir zu Leibe, wie die östreichischen Stände Kaiser Ferdinando! – Sie sind charmant, Hartung, aber grob sind Sie! fügte der Herzog hinzu, indem er seinem Cabinets-Sekretair eine Prise bot und dabei etwas beklommen seine Züge beobachtete.
Trage Er die Briefe zum Postmeister zurück, sagte Hartung zu dem Schreiber.
Der Schreiber ging; der Herzog wurde einsylbig; als im Laufe des Morgens ein fremder Holzhändler um eine Audienz bitten ließ, wurde ihm abschlägig hinausgemeldet, Se. Durchlaucht seyen verdrießlich. –
Ein junges Mädchen, höchstens achtzehn Jahre alt, wanderte mit leichten und raschen Schritten über einen schmalen Fußpfad, der sich durch Wiesengründe schlängelte, bald an einem Flusse entlang und in dem Schatten der Weiden und Pappeln bleibend, welche in ununterbrochener Reihe am Ufer standen; – bald die Krümmungen des Flusses vermeidend und zwischen dem üppigen Grase mit seinen rothen und gelben Blumen, mit seinen zirpenden Grillen und seinem sommerlichen Dufte sich durchwindend.
Es war ungefähr um die Zeit, als der Herzog von Hetzendorff seine schwarze Kammer eröffnete, und ein Paar Wochen früher, als sein Cabinets-Secretair sie ihm so keck vor der Nase zuschloß.
Die Kleidung der jungen Reisenden war einfach; sie trug einen Strohhut mit violettem Bande und ein schwarzes, etwas abgetragenes Merinokleid umschloß, hoch zum Halse hinaufgehend und oben mit Perlmutterknöpfchen zusammengehalten, ihre schlanke, jungfräuliche Gestalt.
Diese Gestalt war in so schönen Linien gezeichnet, so harmonisch, so anmuthig gebildet, daß man schwerlich eine schönere, graziösere, duftigere Elfengestalt auf einer schönen Illustration zu Shakespeare's Mittsommernachtstraum fände. Obwohl der Weg durch viele vom jüngsten Gewitterregen her schmutzige Stellen geführt hatte, war kein noch so winziger Fleck an dem Schuh oder dem blendend weißen, feinen Strumpfe zu entdecken, und der kleine Fuß wanderte so frisch und unmüde, als ob er auf elastische Sohlen trete.
Ihr Gesicht war von der Wärme und der Bewegung hoch geröthet; doch schien es immer viel Farbe zu haben, denn es war voll und blühend, aber dennoch zart, und ein feines Profil zeigend; die Nase etwas stumpf; das gespaltene Kinn zart gerundet. Es war ein Gesicht, das an eine frisch erschlossene Apfelblüte erinnerte, so weiß, so roth, so jugendlich und fröhlich.
Zuweilen hielt sie ihre Schritte an, um tief aufzuathmen, den Schweiß abzuwischen, der in einzelnen Tropfen auf ihre Stirne quoll, und, während sie das kleine, in ein weißes Tuch geschlagene Päckchen, das sie bei sich führte, ins Gras niederlegte, die Gegend umher zu überschauen.
Diese Gegend war höchst anmuthig und es ging ein Ausdruck der Freude über das Gesicht der Wanderin, wenn sie sah, wie der liebe Gott aus so wenig Dingen, wie einer Reihe zusammengeschobener Berge, einem Fluß, einer Wiesenfläche, dann Bäumen und Gräsern eine so wunderbar schöne Schöpfung zu bilden gewußt habe. Er hatte nur seinen blauen Himmel mit den goldumsäumten, violetten und purpurnen Wolken darüber gezogen, wie einen Teppich für seine Schritte die grüne, mit Blumen durchstickte Decke einer reichen Vegetation unten ausgebreitet, und ferner den Menschen hineingeschickt, der ihm seine freundlichen, blanken Häuschen zwischen die Baumgruppen und am Hange der waldbekränzten Höhen stellen mußte.
Vor ihr dehnte sich ein beträchtliches Gebirge in blauen, abendduftigen Wellen aus; wo eine breite Schlucht sich in ihm öffnete, trat der Fluß, an dessen Ufer sie ging, aus dem Gebirge hervor und durchströmte von nun an eine fruchtbare Ebene; über seinem Laufe fanden jetzt die Dünste, welche der Abend aus dem Wasser quellen und ziehen ließ, wie weiße Nebelbänke.
In jener Schlucht aber sah man auf einem vorspringenden Bühel, in halber Höhe des ganzen Berges, das Schloß Massenbach, in welchem der Herzog jetzt residierte, mit seinen weißen Mauern und den zwei dicken Thürmen ragen. Es leuchtete weit in die Gegend hinaus, und da die Luft sehr rein war, konnte die Fußgängerin die einzelnen Fenster und die verschiedenen Dachparthien des alten wunderlich zusammengesetzten Gebäudes unterscheiden.
Auch sah sie unten an seinem Fuße, aus den Baumwipfeln, – für ein weniger scharfes Auge, als das ihre, ganz unbemerklich, – den vergoldeten Hahn der Kirchthurmspitze in dem Marktflecken Massenbach schimmern, weil der Sonnenstrahl sich just blitzend darin fing. Aber bis dahin wollte sie nicht; ihr Ziel lag näher, und je mehr ihr Schritt die Entfernung von diesem verkürzte, desto öfter hielt sie an, um Athem zu schöpfen und um sich her zu schauen, als ob dieß Ziel sie mit einer gewissen Unruhe erfülle.
Sie wollte nach dem Dorf, welches ihr zur Linken hinter den Wallhecken der Ackerfelder und unter den hohen Eichenwipfeln lag, die ihre Aeste über seine Wohnungen und Höfe streckten; und es war natürlich, daß, je näher sie ihm kam, desto höher in Unruhe und Beklommenheit ihr Herz schlug. Sie sollte eine neue Heimath in diesem Dorfe finden, und zwar bei wildfremden Menschen, die sie nie gesehen; eine alte Dame, welche dort im Pfarrhofe wohnte, hatte versprochen, sich ihrer anzunehmen; eine Verwandte zwar, aber, o Gott, sie wußte ja, wie Verwandte oft wunderlich sind und wie gerade mit ihnen nicht selten am schwersten auszukommen ist. Und war sie nicht so einsam in der Welt, daß sie bei Niemandem Schutz oder auch nur Gehör gefunden, um ihm zu klagen, wenn es ihr unter den Fremden nicht wohlgehe?
Sie wußte zwar, daß Jemand war, der sich ihrer anzunehmen versprochen habe: aber der stand ihr so fern, er war so vornehm, so viel beschäftigt mit wichtigen Dingen – auf ihn rechnete sie nicht, sie dachte kaum an ihn. Aber sie vertraute auf ihr eigenes klares Gemüth und daß sie noch nie den Kopf verloren, und auf ihren natürlichen Verstand, der ihr schon oft durchgeholfen und auch jetzt helfen werde, sich den Leuten angenehm und nützlich zu machen: und dann auf Gott, obwol sie nicht recht begriff, wie der es verantworten könne, daß er sie gar so allein gelassen habe und von Allem losgelöst und getrennt auf der Welt, als ob sie nicht auch so gut dazu gehöre, wie die andern Menschen, welche fröhlich waren, weil sie Alle den Rücken an irgend ein Verhältniß lehnten, oder gar wie der Vogel, der über ihr in der Flußweide zwitscherte, weil er wußte, auf welchem Aste sein Nest war.
Sie war in einer kleinen Stadt mit Sorgfalt und großer Liebe erzogen worden; ihre schmalen blütenweißen Hände hatten nie eine schwerere Arbeit zu berühren gebraucht, als höchstens die Nadel zu feinerer Näharbeit oder den Strickstrumpf, und zuweilen das Fälteleisen; aber auf dem Lande, fürchtete sie, in einem Pfarrhofe, werde allerlei vorfallen, wobei man erwarte, daß sie resolut zugreife; sie hatte keine Scheu vor der Arbeit, nein, das war es gewiß nicht; sie besorgte nur, sie könne den Leuten zu fein, zu vornehm und zu zart vorkommen, daß sie glaubten, Rücksichten nehmen zu müssen, und sie innerlich dafür desto weniger freundlich ansähen.
Deshalb hatte sie von allen ihren Sachen heute das Allereinfachste angelegt, das gebrauchte Merinokleid, das sie eigentlich schon vor einem halben Jahre abgelegt hatte, und den schlichten weißen Kragen ohne allen Besatz. So mußte man ihr doch ansehen, daß sie keine Prätensionen mache, als große Dame behandelt zu werden. Doch beklommen war sie bei alledem und blieb es, wie freundlich auch jetzt zu beiden Seiten ihres Weges die zerstreut liegenden Wohnungen des Dorfes, das sie erreicht hatte, aus hellgewaschenen Fenstern, in welchen hier und dort die niedergehende Sonne ihren Glast spiegelte, sie anschauten.
Die Menschen sehen auch oft von weitem so warm und glühend aus und sind in der Nähe doch nur kalt und glatt wie das Glas und ebenso zerbrechliche Waare, dachte sie. – Ah, das wird das Pfarrhaus sein. Sie fragte einen Buben, der ihre Vermuthung bestätigte.
Die Pfarre war eine der besten im Lande, und demgemäß war auch dieß Gebäude ein wahrer Palast von einer Pfarrei. Es hatte zwei Reihen Fenster und lag auf einer Erhöhung; eine Reihe Kastanien, deren Aeste oben en Espalier gezogen und in einander geflochten waren, daß sie eine dichte Hecke bildeten, stand vor dem Hause und vertrat im Sommer den Dienst der Jalousien; doch hatte es dadurch etwas Düsteres bekommen, und die Feuchtigkeit, welche Bäume erzeugen, hatte den Ziegelmauern einen dunkeln, braungrauen Ton gegeben, der das Gebäude älter erscheinen ließ, als es seyn mochte. Ein Garten lag vor dem Hause und zog sich an beiden Seiten desselben nach dem Baumhof und dem Bleichplatze hin, den man, hinten einen Hügel sich hinanziehend, gewahrte; der ganze Umkreis war geschützt durch eine hohe Hecke von blühendem Weißdorn.
Das junge Mädchen öffnete das Gitterthor vor dem Garten, und hätte sie Zeit gehabt, jetzt auf so etwas zu achten, sie würde sich inniglich gefreut haben an den sorgfältig gepflegten Beeten, die, von kürzlich geschorenem Bux umhegt, dichte Sträuße Pfingstrosen, Schwertlilien und eine Menge anderer Blumen zeigten. Zwei alte Frauen knieten neben den Beeten und jäteten, sie sahen befremdet auf, nach ihr hin. Vor der Schwelle der Hausthür lag ein großer weißer Pudel; sie hemmte einen Augenblick den Schritt – dann ging sie herzhaft näher. Der Hund erhob sich, schlug einmal an, beroch ihr Kleid und legte sich dann wieder, ohne Tücke zu zeigen.
Im nächsten Augenblick stand sie in der Flur des Pfarrhauses.
Das Erste, worauf ihr Blick fiel, war ein Koffer, der hier an der Ecke stand; und seltsam, dieser Anblick hatte Etwas, das sie außerordentlich ermuthigte. Es war der ihrige, der seehundfellbezogene Koffer, den ihre Mutter sich gekauft, als sie nach Pyrmont in's Bad reisen wollte, ihre gute Mutter, die jetzt im Himmel war. Nun hatte sie ihn geerbt, wie sie Alles, was sie besaß, von der Mutter geerbt hatte.
Als sie den Koffer wiedersah, den sie mit ihren Sachen vorausgesendet hatte, war es ihr, als ob sie nicht mehr so fremd hier sei, wie sie noch einen Augenblick vorher sich gefühlt; und nicht laut, aber auch nicht mehr ganz zagend, klopfte sie auf gut Glück an die Thüre, welche von den auf die Flur gehenden ihr zunächst war. Eine männliche Stimme rief von innen: Wart, wart, wart! und gleich darauf wurde ein merkwürdiges Geräusch hörbar: es war ein Rollen und Strickeächzen, als ob eine Maschinerie arbeite. Dann hörte sie ein lautes: Herein!
Sie öffnete die Thüre und sah im ersten Augenblicke Niemanden; als es aber jetzt von oben rief: Thür zu! und fiel deshalb die Augen aufschlug, gewahrte sie oben unter der Decke einen corpulenten, alten Herrn in einem Lehnstuhl hängen, der mit beiden Händen einen Strick umklammert hielt und, sich über seine eigenen Arme vorbeugend, auf sie niederblickte. In dem Augenblick, wo sie die Thüre schloß, ließ der Mann sich mit seinem Stuhl an den Stricken, die über am Plafond befestigten Rollen liefen, wieder zum Boden nieder.
Benedicta, quae intrat in nomine domini, sagte er, und dann das Mädchen anstaunend und eine Brille aufsetzend, die in dem Folianten auf dem Tische lag, vor welchem er niedergesunken war, fuhr er fort: Kind, es ist gut, daß Du nicht Anno damals gelebt hast, sonst würde unser Herrgott Dir den Erzengel Gabriel geschickt haben und was wär' dann aus der heiligen Jungfrau geworden!
Das Mädchen erschrak vor dem Herrn, besonders da er so seltsam sprach; auch war es ihr in dem Zimmer unerträglich, weil darin, trotz der Wärme des Maimonats draußen, eingeheizt war.
Entschuldigung! stammelte sie, ich suchte Fräulein von Keppel – sie griff nach dem Thürschloß, um zu gehen.
Wart, wart! schrie der alte Herr wieder und fuhr mit Blitzesschnelle auf's neu an seinem Tauwerk in die Höhe. Ich kann die Zugluft nicht an den Füßen ertragen, setzte er jetzt hinzu; so, nun geh' nur, schließ aber ja; Fräulein Keppel wohnt oben.
Das Mädchen ging; sollte das der Pfarrer sein? fragte sie sich beklommen. Er war wie ein Geistlicher gekleidet, aber sie konnte nicht begreifen, daß ein Geistlicher so wunderlich seyn und so sprechen könne!
Sie fand jetzt eine Magd, welche sie über eine Treppe nach oben und in ein freundliches Eckzimmer führte, das Fräulein von Keppel, die sie suchte, bewohnte.
Diese würdige Dame saß in einem Lehnsessel am Fenster, hinter einer Reihe Blumenscherben, durch deren Blätter und Ranken der Schein der niedergehenden Sonne fiel. Sie mochte tief in den Sechzigen sein, und obwol sie eine corpulente Figur hatte, verrieth doch ihr Gesicht Spuren von Kränklichkeit und Leiden, aus denen sich nach und nach der Ausdruck von Verdrießlichkeit entwickelt haben mochte, den sie allen ihren Worten gab, obwol sie es recht gut meinte und die Armen des Kirchspiels sie anbeteten.
In Fräulein von Keppel hatte sich ganz der Typus jener harmlosen, liebenswürdigen, aber wunderlichen, vorurtheilsvollen, vielredenden Gattung von ältlichen Frauenzimmern ausgebildet, die eigentlich nur in einer größeren Familie an ihrer Stelle sind, wo Jedermann ohne genauere Untersuchung der Verwandtschaftsgrade sie als »Tante« adoptiert. Sie haben den ganzen Egoismus, den Unverheirathete sich nach und nach angewöhnen, und dennoch leben sie eigentlich nur in Andern, hauptsächlich den jüngern Gliedern der Familie. Sie sind so eigensinnig und hartnäckig wie möglich, und doch machen die jungen Neffen und Basen mit ihnen, was ihnen gefällt; der Schlimmste von der hoffnungsvollen Nachkommenschaft ist gewöhnlich vor allen ihr Liebling, und wenn er zu ihr kommt auf ihr Zimmer – das stillste im ganzen Hause, unfehlbar nach hinten hinausgehend und die Aussicht auf ein Paar gothische Kirchthürme bietend, die den unschätzbaren Vortheil gewähren, daß man alle Stunden und Viertelstunden schlagen hört – dann stopft sie dem kleinen Schelme so viel höchst ersprießliche und gesunde Dinge zu, daß der Vater während der nächsten Tage gar nicht begreifen kann, woher der Junge die blasse Farbe hat. Seine Bemerkungen darüber verfehlen nicht, der Tante einige sarkastische Ausfälle gegen das heutige viele Schulsitzen zu entlocken, die sie aber zu ihrer ältesten Base gewendet ausspricht, denn mit dem »Herrn Vetter« ist sie über den Fuß gespannt und hat ihm in den letzten drei Wochen kein Sterbenswörtchen gesagt und ihre Meinung nur auf diesem indirekten Wege, doch trotzdem oft sehr verständlich kund gegeben.
Sie ist aber, trotzdem, daß sie so lange nachtragen kann, voll Gottesfurcht; in ihrem Zimmer, wo sie alle die vielen schönen Sachen, den Rokokoschmuck, die prachtvollen gebohnten Meubel, die auf krummen Satyrbeinen und vergoldeten Klauen stehen, die kostbar gestickten, seidenen Schlender von der Großmutter verwahrt, hat sie auch oder hatte sie wenigstens früher einen niedlichen, kleinen Altar mit einem schönen Bilde, das ihren Schutzheiligen vorstellt – es ist immer ein Heiliger, – und vor dem zwei blanke Kandelaber stehen, die am Vorabende seines Festes immer feierlich angezündet werden.
Sie hat auch eine Geschichte, die Familientante; oft eine rührende Geschichte, die, wenn ihr sie erfahren habt, gewöhnlich ihre Züge euch viel bedeutsamer und ehrwürdiger, ihre Vorurtheile viel verzeihlicher erscheinen läßt.
Ganz eine Dame dieser Art, ebenso voll der Ueberzeugung, daß heutzutage Nichts und Niemand mehr viel tauge, und doch eigentlich voll des wärmsten Wohlwollens gegen Alle; ebenso voll Vorurtheils am Alten und allerlei alten Sitten hängend, die jetzt Niemand mehr kennt; voll Prätensionen, die durch das Bewußtseyn, eine hübsche Anzahl runder Thaler zusammen gespart zu haben, nicht vermindert werden, und voll Verlangen, dafür die Befriedigung zu haben, ihre Erben nach Belieben quälen zu dürfen, als ob es ein Umstand sei, für welchen diese abgestraft werden müßten, – war dieß Fräulein von Keppel, die, früher Chanoinesse, nach Aufhebung ihres Stifts sich bei dem Pfarrherrn zu Lodorf, der ihr Jugendfreund war, eingemiethet hatte, um hier in der gesunden und freundlichen Gegend den Rest ihrer Tage zuzubringen.
Bist Du es, Annchen? sagte sie, indem sie dem eintretenden Mädchen die Hand reichte, welche diese küßte. Mein Gott, wie einem die Kinder über den Kopf wachsen! ich habe dich einmal gesehen, da warst du so hoch wie mein Knie. Komm her, setze dich, es freut mich, daß du gekommen bist, und ich will hoffen, daß es dir bei uns gefällt.
O gewiß, gnädiges Fräulein Cousine, und ich hoffe auch, Ihnen keinen Grund zur Unzufriedenheit zu geben.
Aber, Annchen, wie kommt das, hast du nichts Besseres als das braungewordene alte Kleidchen anzuziehen? Du siehst ja aus wie ein Kammermädchen, Kind! Wie kann ich dich so dem Herrn Pfarrer als meine Verwandte vorstellen, und was werden die Leute von mir denken, eine solche Cousine zu haben? Hättest du mir doch erst geschrieben, und gefordert, was du haben mußt, um ordentlich auszusehen!
Ich kann mich schon besser kleiden, versetzte Annchen hochroth werdend und mit schüchterner Stimme.
So thu' es zur Abendtafel, du wirst dann den Herrn Pfarrer sehen.
Ich glaube, ich habe ihn schon gesehen, unten – wenn es der Herr ist, der sich mit dem Lehnsessel in die Höhe –
O pfui, rief das alte Fräulein aus, wie kann man so einfältig seyn und denken, der unkluge Mensch sey der Pfarrer! – Sie fügte ein helles Lachen hinzu, das augenscheinlich keinen andern Zweck hatte, als Annchen ihre Einfältigkeit in ihrer ganzen unverzeihlichen Größe fühlen zu lassen – einen schwarzgekleideten, latein redenden und in einem großen Buche studierenden Herrn für den Pfarrer gehalten zu haben!
Das Fräulein klingelte einem Mädchen, welches angewiesen wurde, Annchen auf ihr Zimmer zu geleiten und ihr zur Hand zu gehen, wenn sie etwas bedürfe.
Annchen ging, Thränen in den Augen und tief betrübt von dem Empfange, den sie bei der alten Dame gefunden hatte.
Das Zimmerchen, das man ihr anwies, war zwar recht freundlich, es lag am Giebel des Pfarrhauses und war blank und nett; die Magd hatte ein Glas mit Maiglocken für sie auf den Waschtisch gestellt und reingewaschene kleine Gardinen aufgehängt, vor dem Fenster stand ein hochwipfliger Apfelbaum, dessen Blüten die Scheiben berührten und durch dessen Zweige man einzelne Partien der schönen Landschaft, Strecken des Gebirgs und auch den Hügel mit dem Schlosse Massenbach übersah.
Aber Annchen gab jetzt wenig Acht auf Alles dieß. Sie war zu traurig und in einer jener Stimmungen, worin man fühlt, daß man doch nicht ganz und eigentlich für diese Erde geschaffen sein mag, weil einem auf ihr so tief wehe, so unendlich traurig zu Muthe werden kann. Sie dachte weinend und vor dem kleinen Bette niederknieend, während sie ihren Kopf in die schneeweißen Linnen und Kissen drückte, zwischen denen ihr elfenreiner Leib ruhen sollte – sie dachte an ihre jüngst verlorene Mutter und wie sie die so lieb gehabt, daß sie hätte sie umklammern mögen, nicht anders zufrieden, als bis sie ihre Seele, ihr Herz, ihr Denken und ihr Fühlen in das der Mutter hinübergedrängt; und wie sie nun bei der unfreundlichen Tante hier so verlassen sey – bis sie endlich aus lauter Mitleid mit sich selber anfing, laut zu schluchzen.
Endlich raffte sie sich auf, wusch sich die Thränen und den Staub des Weges aus dem Gesichte und nahm aus ihrem Koffer, der herauf gebracht worden, andere Kleider, in denen sie sicher sein konnte, daß die Cousine sich ihrer nicht zu schämen brauchte. Sie war noch in Halbtrauer und deshalb mußte sie die schwarze Farbe beibehalten; aber sie nahm ein schweres Atlaskleid nach dem neuesten Schnitt, welches sie eigentlich nicht gerne trug, weil sie in einfacheren Kleidern sich behaglicher fühlte und ihr in dem Staat war, als sey sie es nicht recht selber. Um die Handgelenke legte sie feine Spitzenmanschetten, nahm als einzigen Schmuck einen Diamantring und eine schöne Perle, um damit ihr feines Linontuch mit schmaler Spitze auf der Brust zu befestigen, und nachdem sie noch ihr volles blondes Haar glatt gestrichen und die Flechten zurechtgerückt, freute es sie doch, im Spiegel zu sehen, daß sie Niemandem in der Welt Schande mache, selbst – obwol sie nicht eitel war, sagte sie es – einer Fürstin nicht als nächste Anverwandte. – Dann ging fiel hinunter, weil sie zu Tisch gerufen wurde.
Als sie in das Wohnzimmer des Pfarrers trat, warteten der Hausherr, die Cousine und der Herr, der seine Beine so sinnreich gegen die kalte Luft schützte, schon auf sie. Fräulein von Keppel stellte sie vor:
Annchen Wernholm, meine entfernte Anverwandte, von der Ihnen mein Vetter, der Graf Salentin Guolfing gesagt hat.
Dem Pfarrer, einem hochgewachsenen Manne mit einem grauen, auffallend schönen Priesterkopfe, aber etwas strengen Zügen, war diese Umständlichkeit des Fräuleins augenscheinlich lästig. –
Weiß schon, weiß ja schon längst, sagte er, und nachdem er zu Annchen einige freundliche Worte gesprochen, bat er seine Gäste, Platz zu nehmen.
Aber was haben Sie gedacht, Fräulein von Keppel, sagte er eine Weile nachher leise zu dieser, die neben ihm saß, was sollen wir mit der vornehmen, geputzten Dame in unserm Dorfe anfangen.
Ja, es ist seltsam, wie hoffärtig man sich heutzutage trägt, versetzte das Fräulein von Keppel laut und Annchen über ihren Suppenlöffel hin musternd: Annchen, Kind, trägst du die seidenen Kleider an Werktagen?
Nein, versetzte Annchen rasch, nur an Festtagen; ich hatte gehofft, der, an welchem ich zu Ihnen käme, würde ein Festtag für mich werden. Aber Sie haben Recht, ich hätte es besser nicht angezogen!
Der Pfarrer sah auf und schüttelte den Kopf.
Fräulein von Keppel schien die Antwort nicht verstanden zu haben; sie fuhr fort, durch allerlei Bemerkungen Annchen recht demüthig fühlen zu lassen, wie groß die Thorheit heutzutage sei, Kleider von schwarzer Seide und Kleider von solchem Schnitt und Kleider mit so engen Aermeln und Kleider mit so lächerlich langen Taillen zu tragen, da man doch zu ihrer Zeit bei vernünftigen Menschen nur gesehen, daß die Taille ganz hoch, unmittelbar unter den Achseln gesessen!
Annchen schwieg geduldig; sie bereute schon, der Cousine eine gereizte Antwort gegeben zu haben, wodurch sie offenbar einen schlechten Eindruck bei dem Pfarrer hervorgebracht hatte. Desto mehr aber schien sie das Wohlwollen des gemüthlichen alten Herrn auf sich gezogen zu haben, dessen Bekanntschaft sie zuerst im Hause gemacht hatte und der ihr gegenüber am untern Ende der Tafel saß.
Sein joviales, rothes Gesicht und die rollenden, groß aus dem Kopfe tretenden, recht wasserblauen Augen ruhten mit einem besondern Ausdruck von Freundlichkeit auf ihr. Aber er sprach nichts, nur einmal versuchte er es; Jungfer, sagte er, – oder wie man jetzt sich ausdrückt, zu meiner Zeit sagte man Jungfer – ha, ha, ha, – der Mann fing an heftig zu lachen, er hatte augenscheinlich etwas Spaßhaftes sagen wollen, über das er sich selbst so heftig amüsierte, daß er es nicht mehr hervorbringen konnte.
Annchen blickte ihn verwundert an und dann auf die andern Tischgenossen; sie bemerkte, daß der Pfarrer ihm einen ernsten Blick zuwarf, worauf er augenblicklich stille wurde, obgleich er fortfuhr, mit seinen rollenden Augen zu reden und Annchen damit allerlei Artigkeiten und der alten Dame eben so viel moquante, beißende Spöttereien zu sagen.
Wer ist der sonderbare alte Herr? fragte Annchen nach Tische das Mädchen, welches sie auf ihr Zimmer begleitete.
Das ist freilich ein sonderbarer Herr, aber ein recht guter, versetzte die Magd: er bildet sich immer ein, krank zu sein, und ißt doch für Zwey und trinkt für Drey; und dabei kann er so recht herzlich lachen! Er ist früher der Pfarrer von Steinheim gewesen; aber da der Herr Bischof gesehen hat, daß er dort nicht hat gut thun wollen und Aergerniß gegeben, hat er ihn hiehergeschickt und unserm Herrn Pfarrer zur Aufsicht untergeben. Und vor dem hat er Respekt! er kann aber auch recht scharf sein, der Herr Pfarrer!
Annchen's bekümmertes Gemüth wurde durch alles dieß nur noch schwerer; so war also der Einzige im Haus, der ihr so recht freundlich und gut ins Gesicht gesehen, gerade der Schlimmste und die beiden Andern – sie fürchtete sich vor ihnen, was sie sonst noch vor keinem Menschen gethan.
Wir lassen Annchen jetzt von den innern Bewegungen, welche der Tag ihrer Ankunft im Pfarrhof zu Lodorf für sie herbeigeführt hatte, ausruhen und suchen unterdeß eine andere Scene auf.
Wir haben oben von den Familientanten gesprochen; es gibt jedoch nicht allein in den Familien solche respectable, gutmüthige, eigensinnige Mitglieder des Hauses, auch in der großen Familie des ganzen Volkes pflegen einzelne Stämme eine ganz ähnliche, zurückgezogene Stellung einzunehmen, die sie jedoch nicht hindert, voll Bewußtseyn ihrer Würde und mit einigem Groll auf die andern, mit dem Uebermuth jugendlicher Bewegungen und Strebungen an ihnen vorüberlaufenden Verwandten herabzusehen. Wenigstens könnte man das Land, in welchem der Schauplatz dieser Geschichte liegt, füglich die Familientante Deutschlands nennen, denn der Charakter seiner Bewohner hatte eben dieselbe Achtbarkeit, Gutmüthigkeit und Frömmigkeit; ebendenselben Eigensinn, denselben Hang, der Großmutter alte Schlender und der Väter ehrwürdige Perücken aufzubewahren und um sich her alle die schönen Sachen von ehemals zu erhalten: denselben Egoismus und dasselbe glorreiche Selbstbewußtseyn, das harte Thaler dem Menschen geben, und endlich dieselbe Ueberzeugung, daß rings umher die Welt nicht viel mehr tauge – Alles wie bei der Tante, bis auf die stille Wohnung nach hinten hinaus, wo man die gothischen Kirchthürme sieht und die Glocken jede Viertelstunde schlagen hört!
Aber unsere Zeit verändert die Physiognomien der Länder aufs wunderbarste und auch das Familientantenhafte des in Rede stehenden muß sich nach und nach vor dieser Zeit auf die Flucht begeben; es wäre wahrscheinlich schon ganz verschwunden, hätte es nicht auf seinem Rückzuge feste Haltpunkte in Schlössern und Burgen gefunden, die ganz wie zu einem Behufe aufgebaut sind. Hier kann es seine Thore schließen, seine Zugbrücken aufziehen, seine Fallgitter niederrasseln lassen und als siegreiche Banner von den festen und stolzen Zinnen der Großmütter seidene Schlender wehen lassen, um die Wanderer anzulocken, welche die Poesie alter Thürme, die epheugrünen Mauern, auf denen der Gedanke der Vergangenheit sich niedergelassen hat wie ein trauernder, kranker Vogel, der den fortziehenden Schaaren seiner frischeren Brüder nicht folgen kann, und endlich den Genius des Tantenhaften lieben.
Es ist ein solches Schloß, das wir aufsuchen, fest und ummauert und umthürmt, eine Stein gewordene und wie jedes unbegreifliche Recht sich desto breiter vorschiebende Lehnsherrlichkeit. Ueber einem dichten Walde von Lerchenbäumen und Tannen, höher als die höchsten Wipfelspitzen, die es von seiner Höhe herab überragt, beherrscht es einen ausgedehnten Strich Landes, eine Strecke des Gebirges, an dessen Abhängen es das Schloß Massenbach, die reiche Ebene, in der es den Flecken Lodorf und den Lauf des Flusses überschaut, an dessen Ufer wir Annchen wandern sahen, und der in der Gegend der fernen Höhenzüge am nördlichen Horizont in einen größern Strom mündet. Das Gebäude war hauptsächlich nur durch diese schöne Lage ausgezeichnet, und der elegant gekleidete Herr im grünen Jagdrock, der langsam den Fahrweg zum Schloß hinaufreitet, findet sonst nichts daran, was seine Aufmerksamkeit besonders in Anspruch nähme, weder in dem engen und düstern Thorweg, noch in dem wenig geräumigen, rings geschlossenen Hofe; diesen bilden das eigentliche Herrenhaus, Stallungen und ein Stück einer hohen Mauer, über welche oben ein Gang mit einer Brustwehr läuft, um zu einem Belvedere zu führen, zu dem man das oberste Stockwerk eines runden, der Sage nach aus der Römerzeit stammenden Thurmes benutzt hat.
Ebenso wenig scheint es ihn zu überraschen, als er, ohne sich anmelden zu lassen, in die innern Gemächer vorgedrungen ist, hier ganz im Contraste mit dem einfachen, etwas verfallenen und verwitterten Aeußern einen außerordentlichen Luxus der Einrichtung zu finden, und die hundert unnöthigen Nothwendigkeiten, die Fancies, die Capricen einer verwöhnten und mit Zeit und Muße reichlich gesegneten Existenz sich immer mehr in diesen winkeligen, mit Erkern versehenen, mit Damast tapezierten kleinen Gemächern häufen zu sehen, je näher er dem innersten Heiligthum, dem Boudoir der Burgfrau kommt. Diese legt mit einem freundlichen: Ah Salentin! ein Buch auf den Gueridon, der vor ihr Ruhebett gestellt ist, und geht ihm entgegen. Salentin küßt ihre Hand und wirft sich dann in einen Lehnsessel, der am Fenster steht, wo man die herrlichste Aussicht hat, die das Schloß überhaupt bietet.
Ich kann ihre Elfenburg nicht ersteigen, Adrienne, – sagte er, – ohne von einem wehmüthigen Gefühl ergriffen zu werden. Es ist mir nicht wohl auf der Welt; es mangelt mir etwas – ein seltsames Gefühl, das ich von Jugend auf empfunden habe und das immer recht lebendig wird, wenn ich in Umgebungen gerathe, welche an die Ferne, an andere Zustände, oder an die Vorzeit erinnern, wie Ihr Schloß es thut. Diese Aussicht heilt mich nicht; sie ist melancholisch schön.
Adrienne warf mit einem Ausdruck von Verdruß den Kopf zurück, der, im Vorbeigehen gesagt, ein schöner und stolz getragener Frauenkopf war und es verdiente, daß er stolz gehoben wurde. Sie stützte ihn auf ihren Arm, der auf dem Wandkissen des Divans ruhte, und versetzte:
Finden Sie? es kann seyn; ich empfinde hier dasselbe Gefühl, ohne recht zu wissen, woher es kommt.
Ihnen kommt es von der Einsamkeit, von der Entfernung aus Ihren gewohnten Kreisen und all den Huldigungen, welche diese für Sie hatten und die Sie mir geopfert haben, Adrienne!
Salentin! sagte die Dame mit einem bittern Lächeln – das ist ächt männlich oder besser männerhaft! also ein und dasselbe Gefühl soll beim Manne aus tiefer Empfindung und bei der Frau aus Eitelkeit hervorgehen?! Sie wissen, ich mag jene Kreise nicht, ich finde sie zum Sterben langweilig! setzte sie heftig hinzu.
Zürne mir nur nicht, meine Adrienne, versetzte Graf Guolfing lächelnd und mit einem Tone überlegener Klugheit weiter redend, nachdem er ihre Stirn geküßt hatte: Du meinst, das Vergessen aller jener Menschen und aller ihrer Interessen und Beschäftigungen, ihrer Tableaux, ihrer Soireen, ihrer Klatschereien werde Dir leicht werden? O Gott, wie täuschest Du Dich! sie sind Dir unendlich viel werth, zu Deiner Zufriedenheit sind sie nothwendig, unentbehrlich – nicht etwa durch sich selbst, an und für sich, wie sie einem oberflächlichen, vergnügungssüchtigen jungen Backfisch ein Bedürfniß sind, der tanzen und von Courmachern amüsiert sein will; nein, wer wäre so schal! Auch nicht, weil die gescheuteren Mitglieder jener Kreise – denn es gibt doch einzelne, über die Wasserfläche allgemeiner Nichtigkeit emporragende Charaktere in ihnen, an welche, was von Geist und Gemüth in der Atmosphäre der Gesellschaft, einsam wie die Gedanken verbannter Seelen, umherschwimmt und sonst nicht aus nicht ein wüßte, krystallisierend zusammenschießt, bis sie einen Kreis im Kreise bilden, in welchem man sich ganz erträglich amüsiert – also auch nicht weil diese Mitglieder Dir zu geistiger Anregung und zum Gedankenaustausch nöthig wären. Auch deshalb nicht. Aber deshalb, weil das große Leben der Piedestal ist, auf den Deine Philosophie sich stellt, diese allerliebste, diese mit sich selbst kokettirende Philosophie, die gerade so aussieht, wie Du selber, Adrienne, eben solche schelmenhafte Augen, ein eben so reines Profil, eine eben so stolze Haltung und trotz dem eben so viel Unbewußtes, Mädchenhaftes, Naives hat. O für mich ist es eine süße, wenn auch etwas inconsequente Philosophie, diese jugendliche Weltweisheit im litzenbesetzten Morgenrock, mit den langen, weichen, seidenen Haaren! Sie verachtet jetzt, wie von einer souverainen Höhe geistiger Größe herab, den ganzen lärmenden Kreis inhaltlosen Lebens; sie fühlt sich groß, weil sie ihn verachtet, da es doch so wenig Frauen dahin bringen, ihn verachten zu können; das ist ihr Stolz. Aber – wenn sie nun ganz daraus geschieden ist, ganz fern, ganz fremd geworden – dann hat sie ja nichts mehr, durch dessen Verachtung sie sich groß fühlen könnte und das sie täglich an ihre Größe erinnert!
Zum Beispiel: Du brauchst Dir jetzt keine Mühe mehr zu geben, Dich von allerhand Einladungen, welche in Dir die Seele der Gesellschaft, das belebende, bindende, unentbehrlichste Mitglied herbeizuziehen verlangten, loszumachen, um einen ungestörten Abend für Dich zu haben. Aber es wird Dir peinlich werden, daß Du Dir keine Mühe mehr zu geben braucht, denn diese Mühe war ein Futter für Dein Selbstgefühl, Du wirst unglücklich seyn über das Glück, Deine Ruhe nicht mehr den Leuten abzukämpfen zu brauchen. Du bist nicht eitel auf Huldigungen, die man Dir bringt; daß Du es nicht bist, nährt Dein Selbstgefühl; Du fühlst Dich erhaben über sie, und daß Du es bist, darin besteht Deine Tugend. Wenn Du aber jenen Menschen, welche Dir Huldigungen bringen und über deren geistiges Niveau Du Dich erhaben fühlt, ganz entrückt bist – was soll dann Dein Selbstgefühl, das Gefühl des Erhabenseyns nähren, das Dir nothwendig geworden wie eine liebliche Angewöhnung! – Kurz, Deiner Tugend ist der Grund genommen, auf dem sie steht, Deiner Philosophie der Piedestal!
Charmant! rief lachend Adrienne aus, die von dieser Erklärung, so wenig Schmeichelhaftes sie eigentlich enthielt, gar nicht unangenehm berührt schien. Werd' ich nicht immer Gelegenheit haben, mich über diese seltsamen Dinge erhaben zu fühlen, welche mein scharfsinniger Herr Gemahl mir in die Schuhe schiebt? – Aber weißt Du, Salentin, daß unter Deinen Worten viele waren, welche wie eine Liebeserklärung aussahen?
So! sagte Salentin stutzend, indem er sich innerlich gestand, daß diese Bemerkung eine sehr treffende sey.
Nun seyen Sie ruhig, Herr Graf, fuhr Adrienne fort, ich bin seit heute sehr sicher, daß ich in dieser Beziehung nichts von Ihnen zu befürchten habe!
Und was macht Sie so sicher?
Das ist mein Geheimniß!
Der Graf schwieg und nach einer Weile hub Adrienne wieder an, indem sie einen sehr trockenen Ton annahm, so daß man glauben konnte, sie denke eigentlich an ganz andere Dinge:
Kennst Du den Pfarrer von Lodorf, Salentin?
Wen? versetzte der Graf auffahrend und, wie es schien, höchst überrascht.
Er verräth sich! flüsterte Adrienne, indem eine tiefe Trauer in ihren Zügen sichtbar wurde, die sie von ihm abwendete.
Sie verräth sich! dachte Salentin, in seinen Zügen einen innerlichen Jubel zeigend.
Ich meine, ob Du oft nach Lodorf kommst? ich weiß nicht mehr, wer es mir sagte, fuhr Adrienne fort.
O doch, antwortete der Graf, ein sehr ernstes Gesicht machend; der Pfarrer ist ein sehr unterrichteter Mann, und ein Fräulein von Keppel, das in der Pfarre lebt, ist meine entfernte Verwandte.
Adrienne schwieg und richtete einen wehmüthigen Blick unter ihren langen, dunkeln Wimpern her auf ihn, während er durch's Fenster schaute.
Nach einer Pause sagte Guolfing:
Du hast heute Briefe bekommen! einen von Christine Trossenheim!
Ja, wie weißt Du das?
Das ist mein Geheimniß!
Ein Bedienter trat ein und meldete den Baron von Hartung.
Sehr angenehm! sagte Ardrienne hastig und Salentin erhob sich rasch.
Ihr Peter von Alcantara! sagte er mit unverstelltem Aerger; – ich gehe.
Adrienne reichte ihm sofort die Hand zum Abschiede, ohne irgend Miene zu machen, als ob sie gegen sein schnelles Fortgehen etwas einzuwenden habe.
Sie sah ihm mit einem Gefühl des Triumphes nach, dem die Thränen viel näher standen als das Lächeln, womit sie eine Miene beim Scheiden beobachtet hatte. Sollte er dennoch eifersüchtig sein? flüsterte sie nachdenklich.
Graf Salentin Guolfing ritt den Weg, der von der Elfenburg hinabführte, in einer ebenso gemischten Stimmung nieder. Er war eifersüchtig auf Hartung und wollte es sich nicht gestehen; er hatte anfangs froh zu bemerken geglaubt, daß Adrienne eifersüchtig sey; und doch war sie es ihm nicht genug gewesen; er freute sich deshalb, daß er sich für diesen Mangel gerächt, indem er durch die unverkennbar affektierte Gleichgültigkeit, womit er von dem Pfarrer von Lodorf gesprochen, ihren Verdacht gesteigert haben mußte; und nun ärgerte es ihn, daß sie sich wieder an ihm gerächt, durch die große Bereitwilligkeit, ein Tete-à-Tete mit ihm durch Hartung unterbrechen zu lassen; und endlich fürchtete er, ihr diesen Aerger verrathen zu haben.
Sie hat meinen Brief an Hardenstein, es ist klar! sagte er, oder sie weiß den Inhalt durch die Trossenheim, die ihn, wie mir Hardenstein schrieb, ja in der ganzen Stadt erzählt, die indiskrete Person! Und, ma foi, ich habe Respekt vor Adriennen, daß sie verbeißen kann, mir mein Annchen in ganz anderer Weise vorzurücken! Wie aber diese Briefverwechselung zusammenhängt, das enträthsele der Henker!
Er mußte sich gestehen, daß er nicht ohne Unruhe über diese Verwechselung sei, die ihm sein Freund in der Stadt unlängst gemeldet – so gut sie ihm auch anfangs seinen Zwecken zu entsprechen schien.
Wenn es nur keinen zu tiefen Eindruck auf Adrienne macht, den ich nicht wieder zu verwischen vermöchte! sagte er sich; ich werde bei der Katastrophe nur die Wahrheit für mich haben, und das ist eine betrübt schwache Stütze.
Hartung stand unterdessen Adriennen gegenüber; es war nicht das erste Mal, seit er ihren Brief gelesen; dennoch machte es immer ein besonderes Gefühl in ihm rege, wenn er sie wieder sah. Er liebte sie nicht mehr, und zudem kam jetzt, daß er einem andern weiblichen Wesen, dem er eine Schlinge hatte legen wollen, in welche er selber gefallen war, weit vor ihr den Vorzug einräumte. Er liebte Annchen, das heißt, er liebte und er haßte sie, er fühlte sein Herz mit einer Leidenschaft für sie erfüllt, für welche er selbst sich dieß Herz hätte ausreißen mögen und die ihn in einen unsäglich qualenvollen Widerstreit mit sich selber geworfen hatte. Er wollte sie nicht lieben, wollte nicht mit allen Kräften seines Verstandes und Geistes, und – fühlte, daß alle diese Kräfte, wie Schnee vor der Sonne, vor einer lodernden Leidenschaft schmolzen.
Er verglich Adriennen mit Annchen, mit dem Annchen, wie es ihm in einzelnen Stunden des Vergessens, des Rausches, der Seligkeit erschien, rein und unbesudelt von dem, was er auf ihr lastend glaubte. Wie tief setzte er Adrienne mit all ihrem Glanz, ihrem sprudelnden Geist, ihren bis zu einer seltenen Vollkommenheit gebrachten Talenten, deren Ausbildung sie einer sorgfältigen Erziehung verdankte, mit ihrer Beredsamkeit, ihrer Gabe der Beobachtung u. s. w., u. s. w. – unter das einfache, klare, tiefe und dichterische Gemüth Annchen's! Wie schienen ihm alle jene Vorzüge der unendlichen Anmuth und bewußtlosen Seelenhoheit, der ungetrübten Frische des Gedankens in dem stillen Kinde der Natur, so weit nachzustehen!
Welcher Unterschied zwischen den beiden Frauen! ein Unterschied, wie zwischen geistreicher Prosa und tiefer, schwermüthig schöner Poesie, wie zwischen der Prosa der George Sand und der Poesie Uhland's; Adrienne war die schimmernde, espritleuchtende, hier und da aus dem tiefen Schachte des Menschenherzens einzelne treffende, meist aber auch traurige Wahrheiten herauffördernde, »ungebundene Rede«; Annchen war das Gedicht, welches aus einem Horte goldener Gedanken der Dichter zusammenwebt, wie aus goldenen Tönen die Nachtigall ihr Lied, voll Wehmuth und voll versöhnender Harmonie. Ja, er ging noch weiter, er bestrafte Adrienne für die eigene Untreue seines frühern Gefühls gegen sie, indem er sie herzlos nannte, indem er ihr die Fähigkeit zu lieben und damit die ächte Weiblichkeit absprach; ihr Geist schien ihm ein fabelhaft Dämonisches, sie selber eine Undine, eine Nixe, welche erst durch die Liebe eines irdischen Mannes und sein Umfangen eine Seele bekommt. Sie hatte etwas Lautes, Geräuschvolles in ihrem Wesen, sie rasselte, wie er es nannte, und in ihren brillantesten Augenblicken dachte er jetzt still in sich hinein, was jener Alte zur Venus sagte: Nil sacri es.
Aber er hatte sie geliebt, und seinem Vorsatze, sie aus einem Verhältnisse zu retten, in welchem sie schon von vornherein so schändlich betrogen zu werden schien, wollte er treu bleiben. Er hatte aus diesem Grunde Lodorf aufgesucht und Annchen's Bekanntschaft gemacht, um sich womöglich die Beweise von Annchen selbst zu verschaffen, daß Salentin Guolfing seine Braut betrüge, und um dann diese Letztere überzeugen zu können, wenn Frau von Trossenheim vielleicht, was immer möglich gewesen wäre, den Brief, nach dem ersten Blick hinein, an Hardenstein geschickt hätte, ohne ihn zu lesen.
Diese letztere Befürchtung war ungegründet. Hartung war nach den ersten Worten, welche er mit Adrienne gewechselt hatte, überzeugt, daß der verrätherische Brief in ihren Händen sei. Sie war nicht allein nachdenklich und zerstreut und augenscheinlich in bekümmerter Stimmung – sie begann auch in künstlichen Uebergängen, die so natürlich herbeigeführt scheinen sollten wie möglich, aber Hartungs eingeweihter Beobachtung nicht entgehen konnten, das Gespräch auf das Pfarrhaus zu Lodorf und seine Einwohner und endlich auf Annchen insbesondere zu lenken. Hartung erzählte, daß er dort bekannt sey, konnte sich den kleinen Triumph nicht versagen, Annchen in den glänzendsten Farben auszumalen und so durfte Adrienne denn, ohne aufzufallen, Hartung die neugierige Bitte stellen, ihr die Möglichkeit zu verschaffen, Annchen zu sehen.
Nichts leichter als das, sagte er, wir machen einen Spazierritt dorthin und steigen im Pfarrhofe ab, um den Pfarrer wegen irgend eines Rechtsverhältnisses Ihrer Güter um Rath zu fragen, da er ein gewaltiger Geschichtskundiger ist und alle alten Pergamente im Lande kennt.
Um Gotteswillen nicht! rief Adrienne aus. Ich habe Gründe, die mich wünschen lassen, durchaus ungesehen zu bleiben!
Hartung versprach, auch dazu ein Mittel ausfindig zu machen und am andern Tage wiederzukommen, um Adriennen zu dem Ausfluge abzuholen.
Sie drückte ihm für die Diskretion, womit er nicht die geringste Ueberraschung oder irgend ein Verlangen zeigte, den Grund ihres Interesses für Annchen kennen zu lernen, dankbar die Hand.
Graf Salentin Guolfing war ein Mann, wie ihn gewöhnlich schriftstellernde Damen mit Vorliebe zu den Helden ihrer Erzählungen benutzen. Die dazu nothwendigen Eigenschaften sind vor Allem eine große imponierende Gestalt, dunkle Locken, ein Favori, in dem kein einziges röthliches Haar seyn darf – um Alles in der Welt nicht – dieses eine Haar würfe die ganze Herrlichkeit um; wie ein Speer des Roland den schönsten und schlanksten Ritter – und ein edles griechisches Profil, so schön, wie es nur ein Canova zu bilden versteht. Ein solcher Held zeigt eine schwärmerische Melancholie in seinen Zügen; er hat nie in seinem Leben einen Fluch ausgestoßen, oder seinem Jagdhund einen Fußtritt gegeben – sondern in allen Verhältnissen und auch einem schlechtdressirten Jagdhund oder einem störrischen, bockenden Gaul gegenüber die innere Seelenhoheit behauptet. Er hat sich einmal duelliert und trägt davon eine Narbe an der Stirn, die ihm unvergleichlich steht. In Gesellschaften steht er einsam in einer Fensterbrüstung, oder an ein Kaminsims gelehnt und wird hier immer am Ende einer Debatte um seine Meinung gefragt, welche jedesmal höchst überraschend ebenso viel Geist wie Gemüth verräth. Uebrigens hält ihn die holde Schwermuth seiner unergründlich tiefen Seele ebenso wenig, als die unermeßliche Höhe seines denkenden Geistes, der nie durch ein Examen gefallen ist, ab, in irgend eine Dame, die natürlich aber auch ganz ungewöhnliche, engelhafte, himmlische Künste kann, – am Ende so schmählich verliebt zu werden wie ein deutscher Lyriker, was er ihr durch die ungeheuer vielsagenden und tiefwehmüthigen Blicke seines dunkeln Auges, welche beständig auf ihr ruhen, zu verstehen gibt. Trotzdem muß er eine Zeitlang den Grausamen zum Vortheile eben dieser seiner vielsagenden, tiefwehmüthigen Blicke spielen, die auch angebracht seyn wollen. Sie aber zappelt an der Angel seiner unerhörten Liebenswürdigkeit wie ein gefangener Goldfisch – bis er endlich die Löwenhaut abwirft und die Dame beruhigt, gleich dem Clown im Mittsommernachtstraum.
O Gott, wie rührend sind diese immer und immer wieder mißlingenden Zeichnungen der Männercharaktere, diese Linien, welche eine, gewiß oft schwankende und zitternde Hand zu einem Gebilde zusammenfügt, welches zwar nicht, was es soll, einen Mann darstellt, aber alle die innern Wünsche, die ewig unerfüllt bleibende Sehnsucht des Frauenherzens verräth! Sind es nicht ebenso viele schneidende Vorwürfe für uns? Zeigt sich nicht dadurch, wie viel in uns den Frauen verborgen bleibt, – weil wir es ihnen eben verbergen müssen?
Salentin Guolfing war durch seine Natur, welcher viel Sanftmuth, Weiche und geistige Bedeutsamkeit gegeben waren, und durch eine sorgfältige Erziehung ein solcher Mann geworden, der als hervorragendste Figur in ein von einer Frauenhand entworfenes Lebensbild gepaßt hätte. Aber er hatte auch Eigenschaften, welche nicht hineingepaßt hätten, Eigenschaften, in denen seine Stärke und seine Schwäche bestand, und die, wenn sie dem idealen Glanze einen großen Theil seiner Strahlen nehmen, den Menschen nur interessanter machen als eine der Wirklichkeit angehörende und mit uns auf denselben Wegen wandelnde Gestalt.
Er war vor allen Dingen im höchsten Grade ehrgeizig, er hatte großen Stolz und war geistreich genug, um so ziemlich alle die Ansichten, welche sein Stolz ihm eingab, und ebenso alle die Schritte, zu denen sein Ehrgeiz ihn veranlaßte, vor sich selber mit einer Sophistik zu rechtfertigen, die höchst gefährlich hätte werden können, wenn nicht die Grundzüge eines Charakters unerschütterliche Redlichkeit, Kraft, sich zu beherrschen, und großer Edelmuth gewesen wären. Er hatte früher als Diplomat gedient; jetzt zurückgezogen und mit Studien beschäftigt, welche ein weites Feld des Wissens umfaßten, richtete er im Geheim sein Streben dahin, in dem deutschen Staate zweiten Ranges, dem er angehörte, eine jener politischen Stellungen zu erringen, welche nur hier möglich sind und dem darin Festsitzenden eine wahre Allmacht gewähren.
Er war in seiner ersten Liebe auf's bitterste getäuscht worden und noch immer – es waren schon viele Jahre seitdem verflossen – ein hartnäckiger Verächter des schönen Geschlechts. Im letzten Winter aber hatte ihn in der Residenz das neu aufgehende Gestirn Adriennens von Elfenburg plötzlich bekehrt, erwärmt, verwandelt. Es war Allen ein Wunder. Nicht als ob man verkannt hätte, daß Adriennens Eigenschaften seine Huldigung verdienten; nein, diese Eigenschaften wurden im Gegentheil gerade von so Vielen anerkannt, daß man nicht begriff, wie der stolze Guolfing sich zu ihnen gesellen mochte.
Adrienne war, ob beneidet, ob beklatscht, ob gehaßt, der Mittelpunkt und die Königin der Gesellschaft; sie war von fortwährenden Huldigungen umgeben, welche sie aufnahm, wie eben Könige Huldigungen aufzunehmen pflegen. Sie war von Jugend auf daran gewöhnt, und wenn sie deshalb auch die Huldigungen wie eine Art Luxusbedürfnisse nicht füglich mehr entbehren konnte, und sogar, im Falle dieselben auszugehen angefangen, sich kein Gewissen daraus gemacht hätte, sie durch kleine Koketterien wieder in Fluß zu bringen – so war sie doch aus demselben Grunde von vornherein gegen jeden tieferen Eindruck gesichert, welchen Huldigungen und Schmeicheleien hätten hervorbringen können. In der That war sie sechsundzwanzig Jahre alt geworden, ohne je eine mehr als ganz flüchtige Neigung gefühlt zu haben, und auch diese letzteren nur in den ersten Jahren ihres Eintretens in die große Welt. So kam es, daß, während Alles um sie her von ihrem Geist und ihrer Schönheit hingerissen war, sie selber kalt blieb und man sie die Lurlei nannte.
War auch Graf Salentin »belurleit«? Es schien so und sie selbst zweifelte vielleicht keinen Augenblick daran. Sie sah ihn gern, sie fand ihn liebenswürdig, ja die ausgezeichnetste Erscheinung, die ihr seit langer Zeit vorgekommen – aber sie hatte eine namenlose Angst vor einer Erklärung von seiner Seite wie vor jeder Erklärung. Sie konnte auf Augenblicke unartig werden aus dieser Angst, die Salentin nicht entging.
Er fand sie eines Morgens allein in ihrem Boudoir. Das Gespräch lenkte sich auf eine kürzlich geschlossene Heirath, der alle irdischen Bedingungen zum Glücklichseyn, wie die Menge sie fordert, fehlten.
Wie kann man so thöricht seyn, sich von der Liebe seine Zukunft verderben zu lassen! sagte Salentin.
Es war etwas in dieser Bemerkung, was Adriennen überraschte und sie unangenehm berührte, obwol sie antwortete:
Ich bin ganz Ihrer Meinung, Graf; es gibt gewiß nichts Thörichteres in der Welt als ein solches Opfer an ein Gefühl, das, immer flüchtig, gewöhnlich von zufälligen Umständen geweckt wird, im besten Falle nur einen sehr bedingten Werth hat und auf keinen Fall die Rolle im Leben spielen darf, welche die Schwärmerei ihm zuschiebt.
Wenn man einmal in einem Tone, wie dieser von Adrienne angeschlagene, beginnt, dann läßt sich entsetzlich viel sagen: man hat dann alle Gründe der Prosa, der Vernünftigkeit und des Materialismus für sich und alle drey sind mit Gründen überflüssig gesegnet. Und zudem ist man dann geneigt, desto mehr zu sagen und Alles, auch die Waffen der Ironie und der Satyre zu Hülfe zu nehmen, weil man fühlt, daß man mit allen Gründen doch der Sache nicht auf den Grund kommt. Man möchte sich deshalb an ihr rächen oder man erhitzt sich um so mehr gegen sie, weil man in sich selbst doch eine Stelle fühlt, wo das geschmähte Gefühl mit allen Gefahren, die es über die eigene Vernünftigkeit bringen könnte, einen leicht überrumpelten Posten und eine schwache Vertheidigung gegen sein Eindringen fände.
So kam es, daß Salentin und Adrienne sich in jenem Tête-à-Tête einander überboten in geistreichen Verdammungen der Liebe, daß sie ordentlich hitzig und dabei zornig wurden.
Im Grunde war Jeder geärgert, daß der Andere so entschieden seine Meinung theilte und nicht ihm gegenüber mindestens eine Ausnahme machte; und so fuhr Jeder noch heftiger gegen das arme Himmelskind, die Liebe, los, als ob er die eitle Ueberzeugung habe, dem Andern dadurch wehe zu thun.
Als sie Beide die höchste Höhe gegenseitiger Bitterkeit erreicht hatten, bot Graf Salentin Guolfing Adrienne von Traunstein seine Hand an.
Nur keine Liebe! sagte er, aber eine Ehe, geschlossen, um vereint die höheren, edleren und wichtigeren Zwecke des Lebens zu erreichen, gegründet auf gegenseitige unbegrenzte Achtung und warme Theilnahme, zusammengekittet von der gegenseitigen Unentbehrlichkeit. Ich werde Ihnen nie eine Liebeserklärung machen und nie Liebe von Ihnen verlangen; aber ich werde Alles thun, um Ihr Leben glänzend und glücklich zu gestalten, so glücklich, so befriedigt und gesichert im Glücke, wie es nur werden kann, wenn es sich auf die Schulter eines Mannes stützt, welcher Ihre Achtung und Ihr Vertrauen besitzt. Ich werde von Ihnen nur verlangen, daß Sie meine Interessen zu den Ihrigen machen und mich unterstützen auf den Wegen, die ich einzuschlagen für nöthig erachten werde, um meine Zwecke zu erreichen, die, nebenbei gesagt, niemals unedel oder Ihrer nicht würdig seyn werden. Ich weiß, daß wir glücklich seyn werden; unsre Gemüther haben eine gewisse Verwandtschaft in ihren Sympathien, unsre Geister in ihren Ansichten. Wir werden uns unentbehrlich werden, denn ich glaube nicht, daß es ein stärkeres Band geben kann als die Gemeinsamkeit edler und großer, die Existenz würdig ausfüllender Bestrebungen. Es ist die Gemeinsamkeit des Denkens und des Wollens, die – zudem noch, wenn das Wollen ein im Grunde egoistisches ist, wie das meine, das der Ehrgeiz diktiert – viel größere Garantien für ihre Dauer besitzt, als die Gemeinsamkeit des Gefühls, das über Nacht dahin seyn kann! Entscheiden Sie jetzt über mein Glück, Adrienne; denn mein Glück werden Sie seyn, weil ich kein weibliches Wesen kenne, welches mir Das seyn könnte, was Sie. Werden wir glücklich, aber werden wir nicht verliebt, nicht kindisch!
Nach einigen Tagen Besinnens willigte Adrienne ein, Salentin's Hand anzunehmen. Sie war schon in der ersten Stunde dazu entschlossen. Denn erstens fand sie ihn, wie gesagt, liebenswürdig und voll jener Eigenschaften, welche sie vom Mann forderte, um ihm ihr Glück und ihre Zukunft anzuvertrauen; zweytens glaubte sie, daß er, trotz seiner Ansichten von der Liebe und vielleicht sich selber unbewußt, sie dennoch liebe; und hierüber hätte sie zu gern Gewißheit gehabt; drittens war sie in ihrem Innern überzeugt, daß Salentin sie wenigstens, wenn sie die Seine geworden, jedenfalls lieben werde: die Eitelkeit ließ ihr durchaus keinen Zweifel an diesem zukünftigen Triumph, falls sie jetzt wirklich noch keinen Triumph über sein Herz gefeiert haben sollte.
Und dann, konnte es eine angenehmere, der Eitelkeit und dem Egoismus schmeichelhaftere Lage geben, als sich von einem edeln, eine große Zukunft habenden Manne lieben und verehren zu lassen, und dabei mit der größten Gewissensruhe nichts dafür zurückgeben zu brauchen, da sie ja ihrerseits die Nichtliebe von vornherein stipuliert hatte? Auch war Salentin's Antrag, so seltsam unverbindlich er scheinen konnte, eine Huldigung, welche allein noch auf sie wirkte, weil sie ihr durchaus neu war. Er sagte ihr nämlich nicht, was sie längst wußte, daß sie schön u. s. w. sey, sondern er traute ihr die Fähigkeit zu, eine geistige Bedeutung zu erringen, durch welche sie seine weitaussehenden und großen Plane fördern sollte; sie sah sich in einer politisch einflußreichen Sphäre, in dem Glanze einer Longueville, einer Staël.
Adrienne war nun auf Salentins Wunsch für den Sommer auf ihr Gut Elfenburg gezogen, das ganz in der Nähe von Schloß Guolfing lag. Aber was war jetzt, nach einigen Wochen, aus dem mit so viel Eitelkeit und Egoismus geschlossenen Bunde, der, nebenbei gesagt, gerade deßhalb nicht verfehlen konnte, von Allen, die darum wußten, ganz außerordentlich vernünftig und lobenswerth gefunden zu werden – was war aus diesem Muster von Klugheit und Weisheit geworden? Wir haben es oben gesehen. Adrienne liebte Salentin und Salentin Adrienne; Keiner wollte die Inconsequenz begehen, es zu bekennen, und Jeder dem Andern doch für's Leben gern dieß Geständniß ablocken. Es war ein Beobachten, ein sich innerlich Abquälen, ein Sinnen und Grübeln, ein Eifersüchteln, daß es Niemand, Verliebte ausgenommen, lange ausgehalten hätte. Und jetzt standen Beide förmlich mit feindlichen Waffen gegen einander im Felde.
Als Salentin von seinem Freunde Hardenstein erfahren, daß sein Brief an den Letzteren diesem erbrochen und gelesen von der Frau von Trossenheim übergeben worden, während er selbst einen andern von Adriennen an ihre Freundin bekommen, – da fühlte Salentin, daß die Stelle über Annchen in seinem Schreiben eine Krisis hervorbringen müsse, und freute sich deshalb über die Verwechselung. Adrienne unterdeß, tief als Frau verwundet, als Dame mortificirt, wußte in ihrer Noth kein anderes Mittel, als durch Hartung die Krisis herbeizuführen, zu der es jetzt auch sie gewaltsam drängte.
Nach einigen Tagen des Aufenthalts im Pfarrhause hatte sich Annchen, so gut es ging, in ihre neue Umgebung gefunden. Die Menschen waren ihr freilich noch recht fremd geblieben; am meisten der Herr Pfarrer selbst, den sie auch am wenigsten sah; von der alten Dame hörte sie wol dann und wann ein Wort, aus welchem sie auf Theilnahme schließen konnte und das ihr Vertrauen einflößte; aber es wurde ihr dennoch unendlich schwer, dem Fräulein von Keppel etwas recht zu machen und mit ihr auszukommen; so verlangte diese, in jedem Geringsten um ihren Rath angegangen zu werden, und wenn Annchen sie um ihren Rath fragte, so war die Antwort doch stets: aber, Kind, wie kann man so einfältig sein und da erst noch fragen! – oder Aehnliches, als ob ihr Wunders, welche verdrießliche Mühe mit dem Rathgeben aufgebürdet würde. Sie zeigte so recht, daß sie immer das Bewußtseyn behielt, wie Annchen von ihr abhängig sey; und es ist nie gut, wenn Jemand – und wäre es auch der Beste – den Andern ganz von sich abhängig weiß.
Dafür gewöhnte sich Annchen desto besser an Haus und Hof, an Feld und Garten, welchen letzteren sie ganz unter ihre Aufsicht nahm; sie pflegte die jungen wachsenden Blumen und Stauden, die aufrankenden jungen Erbsen und Bohnen, als ob sie selbst alles gepflanzt und gesäet habe; trug sie doch, trauernden Gemüthes, die Ueberzeugung mit sich herum, daß wol die einzigen Blumen, die das Leben auf ihren Weg freuen werde, von ihr selbst von Gartenbeet und Hag gepflückt werden müßten. – Auch die Hausthiere kannten sie bald als ihre Pflegerin; die Tauben flogen um ihre Schultern und der Hofhund, der große Pudel, der sonst ein bissiger Geselle war, wich selten von ihrer Seite.
Bei ihren Gartenbeschäftigungen hatte sie gewöhnlich den demeriten Pfarrer von Steinheim zum Gesellschafter. Dieser Mann war ein wüthender Feind des alten Fräuleins von Keppel – weiß der Himmel wodurch – geworden, und je mehr er Annchen unter Jener Launen leiden sah, desto mehr wuchs seine Freundschaft für Annchen, die ihm ja als willkommener Beweis und ein sprechendes Beispiel in die Hände gekommen, daß man im Pfarrhofe und unter der Regierung des alten Fräuleins sich schlecht befinde und recht despektierlich über die Schultern angesehen werde; denn wie alle Leute in seiner Lage war er natürlich sehr ehrgeizig und fortwährend gereizt. So kam es, daß er – wenn ihm nicht krank zu seyn beliebte, was ihm oft geschah, doch gewöhnlich nur bei schlechtem Wetter, – Annchen meist Gesellschaft leistete, so oft sie im Garten war; er war ein großer Pomologe und wo er sie beschäftigt sah, da stellte er regelmäßig seinen Bretstuhl an den nächsten Obstbaum, stieg mit seinem Gartenmesser hinauf und fand jedesmal entweder Zweige, die zu beschneiden, oder Moos und Raupen, die abzulesen waren. Dabei unterhielt er Annchen, so gut er konnte, nur zuweilen mußte sie ihm bös werden oder ihm Stillschweigen auflegen, wenn er auf ihre alte Verwandte schalt oder allerlei verwunderliches Zeug schwatzte.
Jungfer, sagte er eines Abends, als er auf seinen dickumwundenen Füßen herbeigehumpelt kam, um ihr die gefüllte Gießkanne aus dem kleinen Wasserbehälter in der Mitte des Gartens emporziehen zu helfen, und indem er einen besonders schlauen Blick in ihr geröthetes Gesicht warf – Jungfer, welcher Heilige ist Ihr Schutzheiliger?
Keiner! versetzte sie; sollt' ich an der heiligen Anna denn nicht genug haben?
Nein, nein, sorgloses Kind! mit der wird die Jungfer weit kommen, habe mir's gedacht, daß die Jungfer eines Schutzheiligen benöthigt wäre, und ihr deßhalb diese Nacht, als ich nicht schlafen konnte, einen ausgewählt. Es war nicht leicht, denn es gibt ihrer viele, alle mit besondern Kräften und Gutthaten; aber für Sie wollt' ich etwas so recht Zuverläßiges, Treues, so recht eine Zuflucht in allen Nöthen haben. Nun rathe die Jungfer einmal, wen ich ausfindig gemacht?
Da müßte ich ja den ganzen Kalender hersagen!
Der heilige Petrus von Alcantara ist es! rief der alte Herr und brach dann in ein heftiges Lachen aus.
Annchen wurde noch weit röther, als sie eben von dem Bücken beim Wasserschöpfen geworden, und eilte mit ihrer Gießkanne fort, ohne in ihrer Verlegenheit ein Wort erwiedern zu können. Denn verlegen war sie geworden und innerlich beunruhigt im höchsten Grade. Was sie tief verschlossen und, wie sie geglaubt, jedem Auge verborgen, mit sich herumtrug, das schien also dem Schelmenauge dieses gutmüthigen, aber mit seiner Neckerei so unausstehlichen alten Herrn verrathen! Sie schämte sich halb zu Tode.
Mußte sie sich nicht wirklich schämen? – erst so wenige Tage waren verflossen, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen, und seitdem nur so wenige Male wieder – sie, die sonst nie ein Auge für junge Männer gehabt – und doch war fast nichts Anderes mehr als ein Gedanke, ein Bild in ihrer Seele, und dieß Bild war kein anderes als das Hartung's: sie träumte von ihm, sie betrachtete jeden Tag, an dem sie ihn nicht sah, nicht sprechen hörte, als einen verlorenen – und war das nicht recht schlimm von einem blutjungen Mädchen, das was Anderes zu thun hat, das doch für einen durch seine Lage so hoch über sie gestellten Mann viel zu einfach erzogen war und das obendrein noch so wenig Monate vorher seine Mutter verloren hatte, an welche es hätte denken sollen?
Sie klagte sich oft auch bitter wegen ihrer Thorheit an; sie ging so weit, sich zu geloben, nicht mehr das Besuchzimmer betreten zu wollen, wenn Hartung kam; aber dann kam er ja selbst zu ihr, in den Garten, den Hof, kurz, es ließ sich nie so machen, daß sie ihm hätte ausweichen können, wenn er im Pfarrhofe vorsprach. Daß er gerade nur ihretwegen hinkomme – der Gedanke dämmerte wol in ihr auf – aber sie wollte ihn sich selber um Alles in der Welt nicht gestehen; sie zagte vor dem unendlichen Jubel, den er in ihrer Seele erweckt haben würde, zu gewaltig für ihre junge Brust, sie überwältigend und sprengend.
Viel weniger hatte sie je ein Wort von Liebe von seinen Lippen gehört; sie hätte ja auch wünschen müssen, in den Boden zu sinken vor Verlegenheit, wenn er das auszusprechen gewagt hätte. Aber das war ihr klar, ein besonderes Interesse mußte er für sie gefaßt haben; denn sie bemerkte oft, wie, wenn er auch mit Jemand Anderm sprach, doch sein Auge sie suchte, und wie es auf ihr lag, oft mit hellem, lachendem, oft mit einem düstern, verzehrenden Blicke. Auch sprach er mit ihr anders als mit den Uebrigen; oft war etwas Gebrochenes in seiner Stimme, manchmal war es, als ob ein innerer Zorn – weiß Gott, gegen wen oder was – aus ihm spräche; aber meist sprach er so ernst-freundlich zu ihr, und dabei so klug und gescheut, daß er ein Vertrauen in ihr hervorrief, welches sie seit dem Tode ihrer Mutter gegen Niemanden auf der Welt mehr empfunden.
Das war es, was in seiner Erscheinung für sie Bezauberndes lag; dabei sah er so edel aus, seine Haltung war so selbstbewußt ruhig, sein Betragen von so vollendetem Anstand; seine aristokratische Erziehung und der lange Verkehr in den gebildetsten Kreisen der großen Welt gab ihm in ihren Augen etwas so Ueberlegenes über alle Menschen, mit denen fiel früher in Berührung gekommen, daß sie ihn für ein Wesen höherer Art hielt, welches auf alle Erbärmlichkeit, Armuth, Kleinlichkeit, alles Unwürdige, Gemeine, und was immer die niedern Lebenskreise beengt, wie ein König herabsehe.
Und Hartung hatte wirklich in der letzteren Zeit, besonders seit seinem Aufenthalt am Hofe des Herzogs von Hetzendorff, eine Ruhe und Resignation seinem Wesen, eine bei sich selber einkehrende Beschaulichkeit und Milde bekommen, daß er sich selber zu seiner Freude sagen konnte, er sey anders geworden gegen früher, und daß er Andern jetzt gewiß nicht mehr den unvortheilhaften Eindruck machte, den Adrienne von Traunstein von ihm empfangen. Sein früheres Leben, sagte er sich, sey gewesen wie Adrienne: auf eitel Glanz gerichtet und wie ein Schmetterling um das bunte Treiben der Welt gaukelnd; sein jetziges, nachdem er seine Gedanken von jener losgerissen, so bescheiden und ländlich fromm wie Annchen, die nun in seiner Seele herrschte.
Annchen aber, um zu ihr zurückzukehren, war nun recht von Herzen dem bösen alten Herrn gram, der mit unzarten Händen das Geheimniß, welches still in ihrer Seele ruhte, an's Licht zu zerren versucht hatte; der vor der Zeit das dunkle Roth der mystischen Rose der Leidenschaft, die in ihrem innersten Gemüthe noch in dunkler Knospenhülle lag, hatte im Purpur ihrer Wangen und ihrer Stirn aufbrechen und sich glühend auseinanderschlagen gemacht. Sie hätte ihm gar zu gern einen kleinen Streich gespielt, um ihn zu bestrafen, daß er in ein Heiligthum mit einem Scherz getreten.
Er war unterdes auf eine Leiter gestiegen, welche an der Hinterwand des Pfarrhauses lehnte, um dort oben die hoch an der Mauer hinaufrankenden Reben festzubinden. Sie ging nun wie von ungefähr daran vorüber, und als sie neben der Leiter war, sagte sie zu dem großen Pudel, der läßig hinter ihr herschritt, ein leises: »Couche da!« Der Hund legte sich gehorsam queer vor der ersten Staffel nieder, den Kopf auf eine ausgestreckten Vorderfüße drückend. Dann eilte sie fort in einen entlegenen Theil des Gartens. Nun bestand aber ein sehr unfreundliches Verhältniß zwischen dem Pudel und dem alten Herrn; der Letztere fürchtete die Hunde insgesammt und den Pudel, der so leicht die Rückenhaare sträubte und knurrte und die Zähne wies, ganz besonders. Als er deshalb nach einer Weile von der Leiter niedersteigen wollte und den Pudel liegen sah, rief er mit lauter Stimme: Jungfer, Jungfer Annchen, Jungfer! – dann, als Jungfer Annchen nirgends sichtbar wurde, noch lauter nach dem Hausknecht: Martin! Martin! wo steckt er? Martin!
Aber auch Martin war nicht in der Nähe, um den Hund zu locken. Mohr, der Pudel, aber hob knurrend seinen Kopf in die Höhe; dann stand er auf und schüttelte sich und wies dem lauten Rufer sein scharfes, weißes Gebiß; und endlich, wie beleidigt über den hohen Grad von Mißtrauen, das der alte Herr gegen ihn fortgesetzt an den Tag legte, indem er immer lauter nach Hilfe schrie, brach der Rüde in ein wüthendes Gebell aus und sprang mannshoch an den Staffeln der Leiter empor.
Annchen stand in der Ferne und lachte herzlich, daß ihr kindischer Racheplan ihr so gut gelungen, als sich plötzlich über dem Kopfe des geängsteten Pomologen ein Fensterflügel öffnete und zornroth das volle, große Gesicht des Fräuleins von Keppel hinausschaute; diese begann auf der Stelle noch lauter als die beiden Andern zu lärmen und gab ihren höchsten Unwillen über das Rufen des alten Herrn und das Geheul des Pudels zu verstehen, aber ganz allein dem Ersteren – als ob ihm der verfluchten Bestie Kläffen und Heulen, weiß Gott wie viel, Spaß mache! –
Der Arme war jetzt in einem wahren Kreuzfeuer: unten ein zähnefletschender Hund und oben ein bissiger Weibermund – das war zu viel – Annchen lief eilig herzu und zerrte den Hund an seinem Halsband zur Seite, daß der alte Herr, nachdem er mit zitternden Knieen die Leiter niedergestiegen, sich in's Haus flüchten konnte.
Nach einiger Zeit hörte Annchen den raschen Hufschlag eines Pferdes in der Ferne auf dem Pflaster der Dorfstraße ertönen. Ihr Herz begann laut und heftig zu schlagen. Sollte er es sein? – ja, der Schall erstarb vor dem Pfarrhause und kurze Zeit darauf kam Hartung durch das Haus in den Garten und gerade auf sie zugeschritten. Er begrüßte sie mit etwas steifer Höflichkeit, als ob er ebenso wie sie verlegen sei, daß sie allein zusammen trafen; denn es war das erste Mal. Er fragte nach dem Pfarrer, schien aber keine große Eile zu haben, ihn zu finden, denn als sie ihn zu diesem hinführen wollte, blieb er stehen und sah sie mit einem ganz eigenen Ausdruck seiner Blicke an, vor dem sie die Augenlieder senken mußte, – dann ergriff er ihre Hand, und indem er sie küßte, sagte er:
Annchen, ich muß Sie durchaus einmal ungestört und allein sprechen. Es hängt mein Glück davon ab. Werden Sie es mir versagen? o nein, Sie werden es nicht! Sie werden morgen Abend um diese Stunde in der Geisblattlaube oben im Bosquet fein! nicht wahr?
Annchen war über diese Bitte so erschrocken, sie wußte nicht gleich, sollte sie ja, sollte sie nein sagen, und als sie ihn deßhalb stumm ansah, benutzte er ihre Verlegenheit; er küßte ihr nochmals die Hand und ehe sie hatte nein sagen können, wandte er sich ab und eilte fort.
Ihr meint, Annchen hätte nun die Nacht kein Auge geschlossen und hundert Entschlüsse gefaßt, ob sie Hartung erwarten wolle oder nicht? Ganz im Gegentheil! Sie schlief, das erste Mal, seit sie in Lodorf war, so recht selig und herzensruhig ein. Weshalb sollte sie nicht Hartungs Bitte gewähren – weßhalb unruhig seyn? sie trug die feste Ueberzeugung in sich, daß von ihm nur etwas Gutes und Liebes kommen könne, daß er ihr nichts zu sagen habe, vor dem sie sich zu scheuen brauche, daß sie sicher Alles thun könne, worum er sie bitte. – Oder überredete sie sich vielleicht nur von allem diesem, und zwar um so heftiger und leidenschaftlicher, weil sie sich eben davon noch überreden mußte, ehe sie dem Drange ihres Herzens folgen durfte, der sie um die bestimmte Zeit an den Ort zog, wo Hartung sie aufsuchen wollte?
Dieß Letztere ist nicht glaublich, denn bei kindlich reinen und stillen Gemüthern, wie das ihre war, muß erst der Glaube und das Vertrauen einziehen, ehe die Liebe kommt; nur bei heftigeren und weniger sinnigeren zieht die Liebe den Glauben hinter sich her.
Hartung hatte, indem er Annchen um eine Zwiesprache bat, einen doppelten Zweck.
Einmal wollte er, wie er versprochen, Adrienne von Traunstein eine Gelegenheit geben, sie zu sehen; dann aber wollte er sie offen über ihr Verhältniß zu Graf Salentin Guolfing befragen. Er hoffte dann aus ihren Worten, oder wenigstens aus ihren Mienen und dem Ton ihrer Stimme bei ihrer Antwort zu entnehmen, ob seine Leidenschaft zu ihr ihn in seinen eigenen Augen entehren müsse oder nicht. Je öfter er Annchen gesehen, desto unwahrscheinlicher war ihm geworden, daß ein Flecken auf ihr haften könne; bei ihm war der Glaube nach der Liebe gekommen; jetzt, wo immer mehr die Ueberzeugung in ihm wuchs, er brauche vor der Gewißheit nicht zu zagen, wollte und mußte er zur Gewißheit kommen. Und war nicht vielleicht Annchen erst eine beabsichtigte Beute des Grafen, die noch nichts von des Letzteren Planen ahnte und ihm noch entrissen werden konnte, wenn er, Hartung, offen gegen sie war? Er machte sich Gewissensvorwürfe, daß er es nicht schon längst gewesen und sie gewarnt habe; denn seltsamerweise schien ja gerade er auserlesen, diesen Salentin zugleich um eine Frau und eine Geliebte zu bringen.
Schon vor der festgesetzten Zeit am andern Tage saß Annchen in der versteckten Laube oben im Bosquet; und da sie fühlte, daß jede Minute sie unruhiger mache, bis sie endlich zitterhaft aufgeregt war, versuchte sie das Mittel zu ihrer Beruhigung, das immer noch geholfen, wenn etwas ihr Gemüth aus dem ruhigen Gedankengleise gebracht: fiel sprach es in Tönen aus, sie sang es aus sich fort. Sie hatte eine prächtige, volle und starke Stimme, in deren Klänge sie ihre ganze Seele legen konnte, kräftig und weich, sonor wie »der Klang der Perle auf dem Grunde eines Goldpokals.« Sie sang ein einfaches, wehmüthiges Lied, das sie von ihrer Mutter gelernt, und in welches sich, ihr selber unbewußt, jetzt für sie eine Bedeutung drängte, an die sie früher nie gedacht:
In der einsamen Laube will harren ich dein,
Komm' über die See in der Dämmerung Schein,
Komm', wenn das Licht
Schwindend sich bricht;
Mit der Nachtigall Liede komm',
Komm' mit dem Stern!
Nimm mir den Zweifel weg
An deine Liebe –
Doch, wenn du nicht mich liebst, o dann bleib' fern!
Was sagtest du, daß ich lieblicher sei,
Als die rosigste Rolle im schwindenden Mai?
O wenn dich heut'
Dein Schwören reut –
Wenn ich auch harr' auf dich –
Nimmermehr komm'!
Wenn ich auch wein' um dich – nimmermehr komm!
Sie glaubte sich unbelauscht, als sie ein paarmal nach einander mit voller Stimme so schön, wie es ihr je gelungen, diese Strophen fang. Aber sie war es nicht. Adrienne war in ihrer Nähe. Sie hatte nicht nachgedacht, ob es unpassend sey für sie, in Hartungs Begleitung den Ausflug zu machen, ihr Verlangen war zu groß, sie mußte Annchen sehen und an dem Nachmittage, der von ihnen festgesetzt worden, verließ sie in Gesellschaft Hartung's zu Pferde ihr Schloß, ließ einen Reitknecht mit den Thieren vor Lodorf zurück und betrat, herzhaft eine kleine Wallhecke übersteigend, das Gebüsch hinter dem Garten des Pfarrers. Sie wurde von Hartung an eine Stelle geführt, wo sie ungesehen und doch ungehindert Annchen beobachten konnte.
Das Bild des schönen Mädchens, das in reichen vollen Klängen ihr Gefühl – ein Gefühl, so silberhell und klar wie ihre Töne, – ausströmte; das so leicht, so anmuthig auf der Gartenbank ruhte, wie umrahmt von den Wänden der Laube, während eine der üppigsten Ranken niederhangend eine reiche, schöne Blüten-Dolde ihr fast auf das Haar gelegt hatte, gerade da, wo seine goldenen Fäden auseinandergescheitelt waren – dieß Bild machte auf Adrienne einen ganz andern Eindruck, als Hartung erwartet hatte. Er glaubte, sie würde ein eifersüchtiges, mißachtendes Urtheil über sie fällen und, wenn sie sie gesehen, sich kalt und entschlossen über den Schritt, den sie nun gegen Salentin zu thun habe, abwenden. Er bangte vor den nächsten Worten Adriennens, denn er fühlte, er werde ein hartes, verletzendes Wort über Annchen nicht mehr ertragen können. Aber seine Furcht war ungegründet. Adrienne stützte sich auf seinen Arm und deutete auf eine fernstehende Steinbank; dorthin führte Hartung sie, Adrienne ließ sich nieder und brach, nachdem sie eine Zeitlang ihr Gesicht in ihre Hände verborgen hatte, in ein lautes Schluchzen aus, während Annchen's Lied zu ihnen herüberschallte.
In Adriennen's Brust war eine Empfindung aufgestiegen, wie sie nie eine ähnliche gekannt hatte. Sie war tief ergriffen, überwältigt, sie war vernichtet. Sie fühlte sich verrathen von Salentin und mußte sich sagen, daß sie kein Recht habe, ihn anzuklagen – sie hatte ja selber seine Liebe nicht gewollt – von ihr ging ja selber diese Bedingung bei ihrer Verlobung aus, welche die Liebe ausschloß.
Sie fühlte jetzt die ganze Unnatur dieser Verbindung, sie fühlte das Strafbare derselben. Sie kam sich vor wie eine Frevlerin an der Heiligkeit der Liebe, eine Sünderin, die nicht klagen dürfe, wenn sie so fürchterlich bestraft werde. Denn wie groß, wie sehr, wie unendlich war die Liebe, die sie verachtet hatte! Aus den Tönen des süßen wehmüthigen Liedes, das Annchen sang, zog es in ihre Seele, die Ahnung der Ewigkeit, die volle Offenbarung, die unnennbare Glorie der Liebe.
Jede kleine Regung in ihr, jede Eifersucht, jede Eitelkeit, jeder Stolz war verschwunden. Sie fühlte, sie besaß seine Liebe nicht, sie hatte sie nicht gewollt, sie verscherzt; worauf sollte sie stolz, worauf eitel seyn – sie, ein Weib ohne Liebe? – sie fühlte, sie war nichts als ein Daseyn ohne Inhalt, ohne Werth, ohne Zweck! Ihr Herz stand still; es war ihr, als ob es Eis geworden. Sie weinte nicht mehr.
Unterdeß hatte ein dritter Fremder den Garten betreten. Es war Graf Salentin selbst. Nach einer Unterhaltung mit Fräulein von Keppel im Pfarrhofe, hatte er Annchen zu sehen verlangt; Fräulein von Keppel hatte aus ihrem Fenster in den Garten hinabgeschaut und, da sie sie nirgends gesehen, den Pfarrer von Steinheim, der unten war, angerufen, er möge sie suchen und heraufschicken.
Der alte Herr machte sich humpelnd auf den Weg, Salentin aber, der durch das offene Fenster den hinkenden Boten sah, den Fräulein von Keppel aussandte, sagte, er wolle sie lieber selbst suchen, um dem alten Herrn die Mühe zu ersparen, und ging hinunter. Er folgte dem Alten, der sich in das Gebüsch verlor; dann rasch die Windungen der Schlangenpfade verfolgend, fand er sich nach einer Weile durch eine Wendung eines Weges plötzlich einer Gruppe gegenüber, deren Anblick seine Schritte hemmte und ihn höchlichst überraschte.
Auf einer Steinbank, im einsamen Gebüsch, nur durch einen kleinen Weiher und eine schmale Brücke darüber von ihm getrennt, saß seine Braut, Adrienne von Traunstein und ihr alter Verehrer, Peter von Alcantara Hartung, stand vor ihr, und bot ihr, da sie in diesem Augenblicke aufstand, den Arm, den sie mit dem Anschein der größten Vertraulichkeit ohne Weiteres annahm. Salentin eilte auf sie zu – er stand vor ihr.
Salentin war zu wohl erzogen, um nicht unter allen Umständen eine Scene zu vermeiden; nur heute, nur in diesem Augenblicke ward ein Anfall von wüthender Eifersucht in ihm Meister über alle Lehre und Angewöhnung aristokratischer Wohlgeschultheit.
Adrienne, stotterte er todtenbleich und mit bebender Lippe, ich habe kein Recht auf Ihre Liebe – aber doch auf Ihre Achtung meines Namens, auf Rücksichten, auf Ihre Besonnenheit, auf die Wahrung Ihres Rufes –
Salentin – unterbrach sie ihn tonlos – welche Vorwürfe! und dürfen Sie mir Vorwürfe machen im Angesicht jenes Mädchens?
Sie deutete auf Annchen, die in diesem Augenblick, dem alten Pfarrer folgend, auf sie zukam.
Jenes Mädchens? meiner Nichte? weßhalb nicht?
Ihrer Nichte! rief Hartung verwundert aus.
Adrienne sah ihn mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke ihrer Züge an. Es durchblitzte sie in diesem Augenblicke ein Strahl unendlicher Freude, denn sie sah, daß Salentin's innere Bewegung nicht Beschämung sey, die sich hinter die Maske unverdienter Beleidigung und des Zornes gesteckt, sondern der Ausbruch einer eifersüchtigen Leidenschaft.
Der Streit zweyer widerstrebenden Gefühle folgte in ihrer Brust unmittelbar auf diese Entdeckung. Die Liebe drängte sie, seine Eifersucht zu beruhigen und ihm Alles zu sagen, wovon ihr Herz überquoll; der Stolz hielt sie zurück, und ließ es ihr zu demüthigend erscheinen, wenn sie zuerst Salentin gegenüber von den Grundsätzen abfalle, welche sie früher so heftig vertheidigt hatte: nein, sie wollte wenigstens erst von seiner Seite ermuthigende Garantien haben, daß er ihre Geständnisse mit demselben Gefühle aufnehme, mit welchem sie dieselben äußere.
Sie bat ihn, mit ihr allein einen der Pfade hinabzuwandeln, der weiter ins Gebüsch führte, und mußte dabei seinen Arm nehmen, weil ihre Kniee zitterten und sie sonst nicht getragen hätten.
Ist jenes Mädchen Ihre Nichte? sagte sie leise.
Ja, sie ist die Tochter meines Bruders, der sich tief unter seinem Stande verheirathete und darüber mit meinem Vater zerfiel, welcher ihn enterbte. Er war gezwungen, eine kleine Anstellung zu suchen, welche ihm in einem Städtchen, ein paar Meilen von hier wurde; dort starb er nach einigen Jahren; ich erinnere mich seiner kaum noch, denn ich sah ihn selten und war weit jünger als er, noch ein kleiner Knabe. Seiner Wittwe und ihrer Tochter Stütze bin ich gewesen, seit ich unabhängig war, und als jene vor nicht langer Zeit auch starb, habe ich angemessen gefunden, das Kind meines Bruders in einem, nach ihrer frühern Erziehung für sie passenden Kreise, hier im Pfarrhause, bei ihrer und meiner entfernten Verwandten, der Chanoinesse von Keppel, unterzubringen.
Weßhalb sagten Sie mir nie davon?
Es berührt mich unangenehm, wenn ich an das ganze Verhältniß denken muß – es macht mich traurig, um meines Bruders willen, der noch jetzt in meiner Lage und meinen Verhältnissen hätte seyn können, ohne seinen Leichtsinn, der ihn in eine Sphäre und Lebenslage brachte, worin er verkümmerte.
Salentin, sagte Adrienne – es war dennoch nicht recht, daß Sie es mir verschwiegen; Sie sind dadurch Schuld, daß meine Gedanken ein großes Unrecht gegen Sie begangen haben. Ich würde dieß Unrecht Ihnen abbitten; ich würde Ihnen auch genügend erklären, was mich in Hartungs Gesellschaft hieherführte, wenn auf meiner Brust nicht eine Last läge, die ich vor Allem von ihr abschütteln muß. Salentin, ich denke nicht mehr wie früher: ich fühle, daß ich – daß ich eine Thörin war, als – ich kann ihnen nicht mehr meine Hand geben! Seyen Sie edel, ritterlich, wie ich Sie kenne; quälen Sie mich nicht mit Fragen und Auseinandersetzungen – geben Sie mir meine Freiheit wieder – oder geben Sie mir – setzte sie hinzu, als sie sah, daß Salentin mit dem Ausdruck der höchsten Seelenangst wie versteinert stehen blieb und fiel ansah – oder geben Sie –
Nun was, Adrienne, um Gottes willen, sprich!
Ihre Liebe, ganz und ungetheilt, auf ewig!
Salentin schloß sie in seine Arme, mit einem Jubel, der mehr war als eine siegstolze Männereitelkeit; sie fühlte eine Thräne auf ihre blasse Wange niederfallen, während sie regungslos, die Augen schließend, die Arme schlaff niederhangen lassend, an seiner Brust lag.
O Gott, wie arm war unsre Weisheit, sagte er, wie kläglich der Hochmuth unsrer schalen und altklugen Sophismen! – –
Unterdessen hatte Hartung mit Annchen einen andern der Pfade eingeschlagen; sie erzählte ihm, als sie Guolfing mit der fremden Dame fortgehen sah, daß er ihr Oheim sey, und daß er ihr eine Verlobung mitgetheilt habe; aber was sie ihm sonst noch sagte und was Hartung zu ihr sprach – weßhalb soll ich es hier aufschreiben? es würde nur dem alten geistlichen Herrn, wenn er diese Geschichte liest, Stoff an die Hand geben, Annchen noch mehr zu necken, und ich habe Annchen zu lieb, um sie, wenn auch von einem gutmüthigen alten Herrn necken zu lassen. Er war ihr obendrein etwas böse wegen des Streichs mit dem Pudel und auch, weil man ihn jetzt so unhöflich allein dastehen ließ, ohne weitere Notiz von ihm zu nehmen.
Es fehlte nur noch, sagte er verdrießlich, daß ich die Fräulein von Keppel – Gott segne sie! – unter den Arm nähme und mit ihr mich auf dem dritten Wege in diese verschwiegenen Schattengänge verlöre!
Drei Monate nachher wurde auf dem Schlosse des Herzogs zu Massenbach eine Hochzeit gefeiert. Der Herzog hatte es sich nicht nehmen lassen, den Ehrentag seines Cabinets-Sekretairs selbst in seinem Schlosse zu feiern. Er hatte eine große Anzahl Gäste gebeten, unter denen auch der Graf und die junge Gräfin von Guolfing waren, und bewegte sich unter ihnen mit der liebenswürdigsten Heiterkeit.
Abends vor dem Souper war großer Zapfenstreich seiner Leibgarde und dann wurde ein Feuerwerk abgebrannt. Dazu hatte sich eine große Menschenmenge vor dem Schlosse versammelt, die auch, als schon Alles vorüber war, noch den freien Platz vor der Residenz anfüllte und umherlungerte, singend, sich balgend, Scherze sich zurufend und beim Klang der Ballmusik, die aus den hellerleuchteten Räumen des Schlosses herübertönte, den schönen Sommerabend genießend.
Der Herzog nahm, als er zufällig an ein Fenster trat, diese bewegten Haufen wahr und rief mit lebhafter Geberde Hartung herbei.
Sehen Sie, Hartung – was ist das, was bedeutet das – eine Revolution, he?
Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er fort und erschien gleich darauf wieder in der Thüre des Saales, seinen Degen an der Seite.
Meine Herren, folgen Sie mir! schrie der Herzog mit einer Stentorstimme in den Saal hinein, und schritt darauf, von seinem Cortege gefolgt, gravitätisch die Schloßtreppe hinunter auf den Residenzplatz.
Von allen Seiten lief das Volk um ihn zusammen.
Geben Sie Acht, rief er seinem Gefolge zu, – jetzt bricht es los: daß Niemand mich hindert, mit eignem Fuß die Hydra zu Boden zu treten!
In dem Augenblick, wo das zusammenströmende Volk die Stimme seines Landesvaters vernahm, riß Alles die Mützen ab, schwenkte sie in der Luft und rief aus tausend Kehlen:
Es lebe der Herzog von Hetzendorff-Massenbach! Vivat! Vivat!
Es war ein donnernder Lärm, der nicht enden wollte.
Der Herzog zog seine Hand von seinem Degengriff zurück. Es thut's halt nicht! sagte er mit einer Art kläglicher Resignation im Ton seiner Stimme.
Nein, Durchlaucht! versetzte Hartung lächelnd: Alles hat seine Zeit! das Revolutionieren ist auch aus der Mode gekommen!