Levin Schücking
Der Kampf im Spessart
Levin Schücking

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Dreizehntes Kapitel.

Eine Viertelstunde später hatte Wilderich mit Hilfe des ehrlichen Sachsenhäusers seinen Braunen aus dem Stalle im Grauen Falken gezogen und saß im Sattel, um heimwärts in seinen Spessart zu reiten. Hatte der arme Klepper bei dem Herritt sich scharf zusammennehmen müssen, so war es jetzt bei der Rückkehr zehnmal ärger. Die Wege waren durch den Marsch so vieler Truppenkolonnen, Geschütze, Proviant- und Munitionswagen und was alles sich mit einer Armee dahinwälzt, in einen fürchterlichen Zustand geraten. Nur gut, daß die Straße von diesen Zügen selbst freier war als am gestrigen Tage und am Morgen; der weitaus größere Teil dessen, was von der Sambre- und Maasarmee durch den Spessart gezogen, war rechtsab in die Wetterau marschiert oder hatte seinen nächsten Bestimmungsort, Frankfurt, erreicht. Nur noch die Marodeurs und Nachzügler begegneten Wilderich, der in gestrecktem Lauf, ohne sich viel um sie zu kümmern, meist mitten durch ihre Haufen hindurchtrabte. So erreichte er Hanau am tiefen Abend; er ließ dem Pferde in Wein getränktes Brot geben, und es trug ihn weiter, unermüdlich, bis in die tiefe Nacht hinein, bis nach Aschaffenburg. Hier aber drohte es zusammenzubrechen. Wilderich mußte sich entschließen abzusteigen und es über holperiges Pflaster am Zügel durch ein paar Straßen zu führen, bis er ein Wirtshaus entdeckte, vor dessen noch geöffnetem Einfahrtstor eine Laterne brannte. Da fand es Stall, Streu und Rast. Wilderich aber fühlte, daß an Rast und Ruhe für ihn nicht zu denken sei; er ging, nachdem er gesehen, wie sein Tier von einem verschlafenen Hausknecht versorgt worden, in das große gewölbte Gastzimmer neben dem Eingangsflur des Hauses.

Es war still und menschenleer, das weite Gastzimmer zum Goldenen Faß in der Schmiedstraße zu Aschaffenburg. Auf der Bank am Kachelofen lag ein halbwüchsiger Junge, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, den Kopf auf die Brust gesenkt; er war nach des Tages Last und Mühen selig entschlafen. Nur ein verspäteter Gast war noch da; ein starker Mann mit einem dreieckigen Hut auf dem vollen, runden und stark blatternarbigen Gesicht, in dem die kleinen Augen fast ganz verschwanden, saß am Ende des langen Raumes, die beiden Ellbogen auf den Tisch vor sich stemmend und nachdenklich in sein halbgeleertes Bierglas blickend.

Er erhob den Kopf, als Wilderich eintrat, schob den dreieckigen Hut leise mehr auf den Hinterkopf zurück, als ob er so den Fremdling besser beobachten könne, und folgte ihm mit seinen blinzelnden Blicken, während dieser den schlafenden Burschen aufrüttelte und ihm auftrug, Wein und Brot zu holen.

Wilderich setzte sich dann in einiger Entfernung von dem anderen Gaste an den Tisch. Dieser nickte ihm freundlich zu.

»Nix teutsch?« sagte er lächelnd.

»Ich spreche deutsch!« antwortete Wilderich.

»Sieh, sieh,» fuhr der Mann, indem er aufstand, sein Glas nahm und sich in Wilderichs Nähe setzte, fort, »dacht' mir's gleich, trotz Eurer grünroten Jacke – Chasseurs nennt Ihr euch, denk' ich? – na ja, dacht' mir's gleich, Ihr wärt keiner von den echten, sondern einer von denen aus dem Elsaß, oder von denen vom Rhein drüben, die so mitlaufen; 's sind ihrer wenig drunter so stattliche Leute wie Ihr. Also Ihr sprecht deutsch; da können wir ein wenig diskurrieren zusammen. Es ist gar langweilig, wenn man so allein nachts bei dem kalten Bier sitzt.«

»Und weshalb sitzt Ihr so spät allein hier?« fragte Wilderich den geselligen Mann.

»Na ja, seht,« versetzte dieser, »was soll man zu Bett gehen, wenn man weiß, man findet doch seine Ruhe nicht? Es ist von wegen des Geblüts, müßt Ihr wissen, von wegen des Geblüts! Wenn ich mich leg', so ist's just, als ob ich einen Tobel da hätte; hier und hier« – der Mann deutete erst auf seine rechte und dann auf seine linke Schläfe – »just wie ein Tobel, sag' ich Euch, wie ein kleiner Mühlenkolk, wenn die Räder am Drehen sind!«

»So müßt Ihr kein Bier trinken, sondern zur Ader lassen.«

»Ist schon wahr,« versetzte der Mann gutmütig lächelnd, »bin auch nicht faul mit dem Aderlassen; werden schon sehen, werden schon sehen. Es ist viel zur Ader gelassen worden im Spessart in diesen Tagen, gar wüst und bös; es war eine wüste Geschichte; bin auf- und davongelaufen vor der wüsten Wirtschaft, konnt's nicht mehr ansehen; das sakrische Bauernpack – ist doch eine greuliche Sach', wenn so der plumpe Bauer losbricht!«

»So habt Ihr nicht geholfen, mit den andern draufzuschlagen?«

»Ich? Der Gaishofstoffel? Was denkt Ihr? Ich? Mich graust's! Auf Euch Franzosen losschlagen? Das mögen die Kaiserlichen tun: denn ihre Sache ist's! Das sind Soldaten. Und Ihr Franzosen seid auch Soldaten; mögt's miteinander ausmachen. Was geht's einen friedfertigen Bauersmann an?«

»Aber es ist doch arg gehaust worden von der französischen Armee im Frankenland!«

»Arg gehaust – nun ja, ein wenig arg schon ist's hergegangen: geplündert und gebrannt, geraubt und geschändet – wie's so im Kriege hergeht – die Kirchen besudelt und die Pfarrer gezwickt. Dem in Strullendorf, dem Pfarrer Rück ist's am schlimmsten ergangen. Ihr wißt wohl nicht davon? Sie haben ihn geplündert, mißhandelt, ihm mit einem Grabscheit in den Hals gehauen, ein Stück von der Nase abgeschlagen und ihn in den in Flammen stehenden Widum gestoßen; da hat der arme Teufel gemeint, im Keller kann er sich vor dem Feuer retten; und da hat man ihn denn am andern Tage gefunden, ganz ausgebraten! Ihr seid wohl nicht dabei gewesen?«

»Nein,« sagte Wilderich trocken.

»Es ist eben der Krieg,« fuhr der Mann mit seinem stereotypen gutmütigen Lächeln fort, »und das muß man so hinnehmen, wie's Gottes Wille ist; was geht's einen armen Bauersmann an? Ich habe gesehen, wie sie drei französische Offiziere, die sie gefangen hatten, nackt auszogen und an drei Bäume hingen; im Wald, nahe beim Bessenbacher Schlosse war's. Ihre Kleider verbrannten sie, das Satanspack von Bauern.«

Der Mann hatte, während er so mit einem ganz eigentümlichen Ausdruck von Harmlosigkeit diese Greuelgeschichten vorbrachte, eine Bewegung mit dem rechten Arme unter dem Tische gemacht, die Wilderich nicht entging. Es war, als ob er aus der Seite seines Beinkleides etwas hervorgezogen und damit unter die Tischplatte gedrückt. Wilderich glaubte die Bewegung zu verstehen: sie schien in verdächtiger Verbindung mit einer Landessitte zu stehen, die weniger harmlos war als des seltsamen Gastes gutmütiges Lächeln dabei. Wilderich zog nach einer Weile, während der er seinen späten Gesellschafter nicht aus dem Auge verloren, einen Schlüssel aus seiner Tasche hervor, spielte damit eine Zeitlang und ließ ihn dann wie achtlos zu Boden fallen und bückte sich nun, um ihn aufzuheben.

Er sah dabei ein großes breites Messer zwischen den Knien des andern mit der Spitze in die untere Seite der Tischplatte gestoßen; der Mann konnte es mit einem raschen Griff danach sofort festgefaßt haben. Wilderich zog es heraus und betrachtete es, dann legte er es ruhig vor seinen Gesellschafter auf den Tisch.

»Ihr führt da eine stramme Klinge!« sagte er, ihn fest ansehend.

»Mein Gott, ja, ohne die wag' ich mich schon gar nicht mehr hinaus,« sagte der Mann. »Man wird so schreckhaft in solchen Zeiten; man denkt immer, es könnt' einem was zustoßen; und wenn man dann so gar nichts hat, sich zu verdefendieren gegen Marodeurs und böse Menschen, die sich einen Spaß daraus machen, einem das Lebenslicht auszublasen, dann –«

»Ihr haltet mich auch wohl für einen Marodeur?« fragte Wilderich.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Gott behüte!« sagte er. »Die Eurigen, auch die Marodeurs, sind längst alle zum Spessart hinaus. Die Österreicher sind da nun schon nachgerückt; Ihr seht mir eher aus wie einer, der mit einer Botschaft, einem Brief oder dergleichen abgeschickt ist; vielleicht von denen, die rechtsab in die Wetterau marschieren, an die in Hanau oder Frankfurt drüben? Ihr dient bei den leichten Reitern; das muß solche Botendienste tun.«

Wilderich hatte die Erfrischungen, die ihm der verschlafene Bursche gebracht, zu sich genommen und stand jetzt auf. Der gutmütige Mann mit dem dreieckigen Hut auf dem Hinterkopfe und den lächelnden Schweinsaugen machte ihm einen Eindruck, der ihn von der Fortsetzung des Gesprächs abhielt. Er fand sich nicht veranlaßt, ihn darüber aufzuklären, daß er trotz seiner Uniform kein Franzose sei, und wandelte lieber schweigend in der Gaststube auf und ab.

Der Gaishofstoffel folgte ihm dabei mit den Augen, ohne einen Versuch zu machen, das Gespräch wieder aufzunehmen. Er trank in raschen kleinen Schlucken ein Glas Bier nach dem andern. Sein großes Messer hatte er still wieder eingesteckt.

Endlich ertrug Wilderich die erzwungene Rast nicht mehr. Er hatte es von den Türmen der Stadt schlagen hören, eine Viertelstunde nach der andern; er vermochte es nicht über sich, seinem Pferde eine längere Ruhe zu gönnen, und ging, um im Stalle nach dem Tiere zu sehen. Es hatte zum guten Glück, nachdem es von der ersten Ermüdung verschnauft, sich gierig über sein Futter hergemacht; Wilderich ließ ihm nachschütten, wartete im Stalle noch eine Viertelstunde, bis es seinen Hafer verzehrt hatte und getränkt worden, und ließ es dann herausziehen.

Es war zwei Uhr morgens, als er aus dem Wirtshause fortritt. An den erleuchteten Fenstern der Gaststube vorüberreitend sah er, daß diese jetzt auch vom Gaishofstoffel verlassen war; der Bursche löschte eben die Lichter aus.

Wilderich ritt dem Sandtore zu durch die schweigenden Gassen, die vor kurzem noch Zeugen so wüsten Tumults gewesen, denn am Tage vorher war bereits eine österreichische Truppe mit einem starken Haufen Spessartbauern hinter den fliehenden Franzosen in fortwährendem Fechten, Schießen und Verfolgen in die Stadt eingebrochen. Die Franzosen waren weitergeflohen, die Österreicher und die Bauern ihnen nach, rechtsab nach Gelnhausen zu.

Eine kühle Nachtluft wehte draußen vom Main her unseren einsamen nächtlichen Reiter an. Er knöpfte seine Uniform dicht zu und trieb sein Pferd zu raschem Schritte an – der Weg war zu schlecht, die Dunkelheit zu groß, als daß es anders als im Schritt hätte vorwärts kommen können. Es ließen sich kaum die Gegenstände zur Rechten und Linken des Weges unterscheiden, da der Himmel mit Wolken bedeckt war und nur im Süden ein breiter, kalter Streifen am Horizont dämmerte. Wilderich konnte kaum so viel von dem Wege vor sich sehen, um sein Pferd um die schlimmsten ausgefahrensten Wegstellen herumführen zu können.

Doch hatte er ein paarmal den Eindruck, als ob er den Weg nicht allein mache. Sich umblickend hatte er etwas wie einen gleitenden Schatten bemerkt, der sich im Dunkel einer Reihe Weiden, die auf einem Anger zur Seite des Weges standen, fortbewegte. Er hielt an, um zu sehen, ob das dunkle Etwas aus dem Schatten der Weiden, da, wo diese aufhörten, auf die freie Fläche herauskommen würde; aber er mußte sich getäuscht haben, es erschien nichts. Zehn Minuten weiter, den Bergen sich nähernd, lief der Weg durch ein Tannicht; in den schlanken Wipfeln und Ästen der noch jungen Bäume pfiff wie mit leisen Klagetönen und langgezogenem Ächzen der Nachtwind ein unheimliches Lied; als ob die Nacht den in diesen Gründen Gefallenen den Totensang halte; aber es war Wilderich auch, als ob unter den Bäumen Schritte von Zeit zu Zeit dürres Reisig zerträten; es knisterte, als ob ein Wild scheu durch den Tann bräche.

Ein Wild, das konnte es ja auch sein, obwohl es seltsam gewesen wäre, wenn ein Wild nach all dem Lärm und Schießen der Menschenjagd sich schon jetzt wieder in diese Wegschluchten des beginnenden Waldgebirges gewagt hätte!

Wilderich zog vorsichtig eine der Pistolen aus seiner Satteltasche hervor und lockerte den Säbel, der von Zeit zu Zeit klirrend an seine Sporen schlug, in der Scheide.

Das Geräusch aber erstarb. Wilderich begann an andere Dinge zu denken, an die Erlebnisse, die so mächtig seine Gedanken gefangenhielten; er berechnete die Zeit, die er zu seiner Reise bedurfte, er dachte über die Möglichkeit nach, sich ein anderes Pferd zu verschaffen, wenn das seine den Dienst in völliger Erschöpfung versagte. So war er an eine Stelle des Weges gekommen, wo er sich zwischen zwei hohen Ufern befand, die, oben mit Bäumen bestanden, über seinen Pfad unten tiefe Schatten völliger Finsternis legten. Er warf seinem Tiere den Zügel auf den Nacken und ließ es seinen Weg sich selber suchen, was es, von Zeit zu Zeit gebückten Halses den Boden mit feinen Nüstern anschnaubend, tat.

Plötzlich stand es still, stierte vorgestreckten Halses in die Dunkelheit hinein und wieherte wie in Angst und Schrecken laut auf. Gegen Wilderichs Schenkeldruck in seine keuchenden Flanken sträubte es sich mit einem heftigen Rückwärtsprallen.

Wilderich schimmerte etwas Helles, ein Gegenstand etwa von Menschenlänge entgegen, der quer auf seinem Wege lag; aber er sah es nur mit einem halben Blick – ehe er Zeit gehabt, es zu fixieren, fuhr im nächsten Augenblick von dem hohen Ufer linksher ein anderer Gegenstand, eine wie rasend sich auf ihn werfende Gestalt im Sprunge herab, saß auf der Croupe seines Pferdes, umklammerte seine linke Schulter und vor den Augen des überraschten Reiters zuckte etwas wie eine Klinge.

Die Klinge war zum Stoß gezückt, aber sie konnte den Stoß nicht ausführen. In demselben Augenblick, in welchem das Pferd die neue Last auf sich niederkommen gefühlt, hatte es sich steilrecht gebäumt, und statt eines Stoßes in die Seite fühlte Wilderich nur die schwere Faust sich krampfhafter in seine Schulter krallen, um sich festzuhalten.

Er selbst hatte durch die Bewegung des Pferdes sich nicht irren lassen in seinem blitzschnellen Griff nach der Pistole; er faßte sie am Lauf und führte mit dem Kolben einen rasenden Schlag um sich. Der Schlag traf mit einem lauten Krach; die Faust an seiner Schulter ließ los; rechts von Wilderich fiel das Messer hin und hinterwärts glitt die Gestalt von der Croupe des Pferdes nieder; mit einem Aufschrei, einem Stöhnen fiel sie zu Boden, plump und schwer. Wilderich atmete ein paarmal aus tiefster Brust auf; er hatte Mühe sich zu fassen und seine Gedanken so weit zu sammeln, um sich Rechenschaft darüber zu geben, was in dem kurzen Augenblick alles geschehen. Dann glitt er aus dem Sattel zur Erde nieder, beugte sich über den hinter dem schnaubenden Pferde liegenden dunkeln Körper, der mit den Armen und Beinen Zuckungen machte, röchelte, dann unbeweglich dalag. Neben ihm, einen Schritt weiter, lag ein dreieckiger Hut. So dunkel es war, Wilderich glaubte diese starke, untersetzte Gestalt zu erkennen, trotz der schwarzen Flut, die über das breite Gesicht strömte, der schwarzen Flut, über deren Toben in seinen Schläfen der Mann vor so kurzer Zeit noch geklagt. Es war der pockennarbige Mann ans dem Wirtshause zu Aschaffenburg, der Gaishofstoffel, der Franzosenjäger, dem ein schicksalschwerer Irrtum hier den Hieb einer deutschen Faust zugezogen, einen Hieb, der ihm an der Schläfe den Schädel gespalten!

So viel war gewiß, der Mann atmete nicht mehr, er rührte sich nicht mehr, er war tot.

Wilderich blickte eine Weile starr auf ihn nieder, dann ermannte er sich. Er machte ein paar Schritte vorwärts und beugte sich dann noch einmal über den hellern Gegenstand, der vor seinem Pferde quer über den Weg lag. Es war eine geplünderte Leiche, gewiß die eines Franzosen. Der Gaishofstoffel mußte, als das Pferd davor scheute und stehenblieb, in der tiefen Wegschlucht, gerade den Augenblick gekommen geglaubt haben, um sich auf den vermeintlichen Feind zu stürzen, dem er aus dem Wirtshause bis hierher gefolgt war, um an dem einsamen Reiter einen Akt seiner Wiedervergeltungswut mehr zu üben!

Wilderich konnte nichts tun, als das Grausen von sich abschütteln, das ihn zwischen den zwei Leichen, bei denen er in dunkler Nacht so allein dastand und deren eine von seiner Hand gefällt war, erfaßt hatte. Wären auch noch Zeichen des Lebens in dem von ihm Erschlagenen gewesen, er war außerstande, ihm beizuspringen; er beschränkte sich deshalb darauf, den Körper beiseitezuziehen, ihn mit der Brust aufrecht gegen das hohe Wegufer zu lehnen, dann nahm er sein Pferd am Zügel, führte es an der andern Leiche vorüber und sprang jenseit derselben wieder in den Sattel, um dem Schauplatz der grauenhaften Begegnung so schnell wie möglich zu entkommen.

Je weiter Wilderich kam, desto häufiger wurden die Spuren der in diesen Tälern, durch die ihn sein Weg führte, stattgefundenen Kämpfe. Vor den Leichen scheute sein Pferd bald nicht mehr zurück, es bog nur schnuppernd und schnaufend zur Seite aus; zuweilen stieß es mit den Hufen klirrend an weggeworfene Waffen oder bog vor abgespannten, stehengebliebenen Fuhrwerken aus. Auf Truppen stieß Wilderich nicht mehr; der Paß, den ihm Sztarrai gegeben, war überflüssig; die Hauptstärke der Österreicher und die der bewaffneten Bauern verfolgte die Franzosen auf den Straßen über Hammelburg und Brückenau nach der Lahn hin. Der Erzherzog Karl, der auf Frankfurt marschiert war, um es zu okkupieren und die Besatzung von Mainz, das seine Siege von der französischen Umschließung befreien mußten, an sich zu ziehen, biwakierte mit seinen Truppen auf den Straßen, die rechts von Wilderichs Wege am Mainufer hinliefen, und in der Umgegend von Aschaffenburg, durch das Wilderich, wie wir sahen, ohne Aufenthalt gekommen war.

Es war am Nachmittage, als Wilderich an seinem Ziele, seinem einsamen Forsthause, ankam. Schon als er bei einer Wendung der Mühlenschlucht das Haus erblickte, sah er sich über eine Sorge, welche er in sich getragen, beruhigt. Er fürchtete, daß die Greuelszenen des Kampfes und der Verfolgung, welche an den vorigen Tagen hier stattgefunden hatten, die alte Margarete mit dem Knaben auf- und davongetrieben haben könnten, daß sie sich in einer noch einsamer liegenden Gegend des Waldes ein Asyl gesucht und darin verborgen habe. Zum guten Glück sah er sie auf der Treppe vor dem Hause sitzen, den Knaben zwischen ihren Knien, wie sie immer dasaß, wenn Wilderich abends heimkam, heute nur nicht beschäftigt wie immer, denn ihr Spinnrad stand neben ihr, sie hatte die Hände gefaltet auf der Schulter des Knaben liegen und sah nachdenklich zu Boden.

Leopold schrie auf, als er den Reiter erblickte und Wilderich erkannte. Er stürzte ihm entgegen mit dem lauten Freudenruf: »Bruder Wilderich! Da bist du!«

»Da bin ich, mein Junge. Gott sei gedankt, daß du zur Stelle bist!« antwortete Wilderich, aus dem Sattel gleitend.

»Heb' mich auf dein Pferd, Bruder Wilderich,« sagte der Kleine, den Steigbügel erfassend.

»Nicht gleich, du wirst schon hinaufkommen, mein Kind, und länger, als dir lieb sein wird!« erwiderte Wilderich und gab der alten Margarete, die dem Knaben nachgeeilt kam, die Hand.

»Wie geht's, Margaret? Ihr lebt also noch und seid nicht gestorben vor Schrecken?«

»Vor Schrecken nicht,« antwortete die Alte, »aber beinahe aus Angst, daß es Euch ans Leben gegangen, daß Ihr unter irgendeiner Buche oder Tanne im Weggraben lägt, und daß ich nun dasäße mit dem verlassenen Jungen da.«

»Für den Jungen ist gesorgt, Muhme Margaret,« erwiderte Wilderich, »er wird dir von nun an nicht die geringste Sorge mehr machen!«

»Das Kind – der Leopold?« rief Margarete erschrocken aus.

»Der Leopold – ich komme, ihn seinen Eltern zu bringen.«

»Ah, Ihr scherzt wohl, Ihr werdet das Kind nicht fortbringen wollen, das arme Kind –«

»Es ist nicht arm, Margaret `– seine Eltern –« »Seine Eltern haben es verlassen,« fiel sie hitzig ein, »nun gehört das Kind uns, und Ihr sollt es nicht fortbringen, ich laß es nicht; was singen wir an ohne das Kind in der totenstillen Försterei!«

»Hast du nicht oft genug geseufzt über die Sorge um das Kind, Margaret?« antwortete Wilderich, indem ei bewegt den Knaben an sich zog. »Und glaubst du, es würde mir leicht, mich von meinem kleinen Bruder zu trennen, dein lieben guten Burschen?«

Er hob das Kind in seinen Armen empor und drückte es gerührt an sich.

»Aber so erzählt mir doch, was Ihr erlebt habt, wo Ihr gewesen, was Ihr vorhabt mit dem Leopold, wohin –«

»Das alles wollen wir ruhig später durchsprechen, alte Margaret, für jetzt ist nicht Zeit dazu. Ich gehe das Pferd in den Stall zu ziehen und mich umzukleiden. Dann geh' ich zum Müller hinüber – er lebt doch noch, der Wölfle? – um zu sehen, ob er mir ein anderes Pferd verschaffen kann. Unterdes sorgst du für ein Abendessen für den Leopold und mich und kleidest mir das Kind warm und vorsorglich für die Reise an.«

»Heilige Mutter Gottes, Ihr wollt doch nicht sogleich und durch die Nacht –«

»Sogleich und durch die Nacht, sobald ich ein anderes Pferd habe.«

Wilderich entzog sich den weiteren Ausrufungen der alten Margarete, indem er sein müdes Roß um das Haus herum zum Stalle führte. Dann ging er, seine Franzosenmontur abzuwerfen und seine beste Försteruniform anzuziehen, den Hirschfänger umzuschnallen und die alte Büchse überzuwerfen, nachdem er seine beste und sicherste Waffe damals, als er sich im Walde in einen französischen Chasseur verwandelt hatte, zurücklassen müssen, und endlich eilte er zum Müller drüben.

Der Müller war noch nicht heimgekehrt; die Mühlräder standen still, und ebenso still war es im Hause. Nur die Frauen waren da, des Müllers Weib und die Schwiegermutter mit den Kindern; sie bestürmten Wilderich mit Fragen nach dem Mann, der noch mit den anderen auf der Franzosenjagd war, und nach allen den andern aus der Nachbarschaft. Wilderich hatte Mühe, ihnen begreiflich zu machen, wie wenig er davon wisse und daß er nur gekommen, des Müllers Rat zu verlangen, wie er zu einem Pferde komme. Darin konnten ihm die Frauen auch ohne den Müller helfen; sie wußten, daß drei gute Beutepferde, welche die Bauern sich, wenn sie zurückgekommen, teilen wollten, auf einem nicht fernen Hofe eingestallt seien. Wilderich hatte nur eine Viertelstunde zu gehen, um diesen zu erreichen. Trotz seiner Ermüdung trat er sofort den Weg an, das Gehen war ihm nach dem langen Reiten eine Wohltat. Auf dem Hofe fand er ebenfalls nur Frauen und den alten halbblinden Sauhirten, auf dessen Protestationen er nicht achtete; er nahm das beste der drei Pferde und führte es am Zügel mit sich.

Als er heimkam, hatte die alte Margarete für alles gesorgt; ihre Vorräte waren zwar arg von der Einquartierung mitgenommen, aber sie hatte ja die verschüchtert in den Wald gelaufenen Hühner wieder zusammengebracht und ihre Ziegen hatten ebenfalls die Katastrophe überlebt. Wilderich konnte erquickt und gestärkt beim Dunkelwerden sein frisches Roß besteigen, den in ein warmes Umschlagetuch Margaretens gehüllten Knaben vor sich auf den Sattel nehmen und dann, während die Alte ihre bittern Tränen über den Abschied von ihrem früher oft gescholtenen Prinzen weinte, davonreiten.


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