Levin Schücking
Der Kampf im Spessart
Levin Schücking

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Neuntes Kapitel.

Es war am folgenden Nachmittage, als ein französischer Chasseur auf einem hohen, starken, aber sehr abgetriebenen Pferde auf der von Hanau nach Frankfurt führenden Straße sich der letzteren Stadt näherte. Statt des Mantelsacks war hinter seinem Sattel mit einem Strick eine kleine Kassette von poliertem Holz festgebunden, unter der ein schaumiger Streif von Schweiß über die Flanken seines keuchenden Pferdes niederfloß. Er selbst sah bestäubt und in der von einem langen Feldzuge mitgenommenen Uniform marode genug aus, ohne dadurch in der Hast nachzulassen, womit er sich neben den die Straße bedeckenden und aufgelöst durcheinander marschierenden Truppen, Artilleriezügen, Munitions- und Proviantkolonnen seinen Weg bahnte. Oft, wenn er die sich müde fortschleppenden Infanteristen in den Graben drängte, oder der Kopf seines Pferdes die Schultern eines Offiziers streifte, oder sein Stiefel in die Seite eines alten Troupiers stieß, wurde er angefahren, wurden ihm Haltrufe zugedonnert, oder wurde eine Salve von Flüchen ihm nachgesandt. Er ließ sich dadurch nicht beirren und hastete weiter, so rasch es die steif gewordenen Knochen seines müden, gestachelten Gauls vermochten.

Und so kam er vorwärts. Es war vier Uhr, als er zwischen zwei Bataillonen leichter Infanterie, welche kaum mehr die Hälfte ihrer Mannschaft hatten, mit Mühe sich durch das Allerheiligentor der alten Reichsstadt durchdrängte.

Die Stadt war gefüllt von Truppenteilen der geschlagenen Sambre- und Maasarmee; alle Häuser waren voll Einquartierung; auf den Straßen drängten sich die neu einmarschierten Heersäulen und Abteilungen mit solchen durcheinander, die am Morgen Befehl bekommen, den nachkommenden Flüchtigen Raum zu machen und weiterzumarschieren, und die nun fluchend und erbittert sich ihren Offizieren widersetzten, schrien und tobten; mit anderen, die sich bereiteten, auf freien Plätzen, auf der Zeil und dem Roßmarkte zu kampieren, und die hier Stroh zusammenschleppten, Feuer anzündeten, requirierte Nahrungsmittel zusammenschleppten. Alle Straßen standen voll abgespannter Fuhrwerke und Geschütze. Offiziere schrien Befehle, Adjutanten sprengten mit eiligen Aufträgen daher, auf den Trottoirs lagen Reihen von Maroden, die nicht mehr die Kraft gehabt, sich aufrecht zu erhalten und sich ihr Quartier zu suchen. Dazwischen wurden Wagen mit Verwundeten in die improvisierten Spitäler gefahren, tote Pferde auf Schleifen weggeschafft; es war ein wildes und wüstes Durcheinander, dies Pandämonium, wie es nur eine geschlagene Armee darstellen kann.

Wilderich, den wir in der Chasseuruniform erkannt haben, sah betroffen und ein wenig ängstlich in dies Gewirre, vor dem der souveräne Bürger, der reichsunmittelbare Frankfurter, sich scheu und angstvoll ins Innerste seiner Häuser zurückgezogen hatte; hatte er doch noch zu gut im Gedächtnis, was es mit dem letzten Einmarsch der Franzosen auf sich gehabt hatte – im vorigen Juli, als Kleber mit drei Divisionen genaht war, seine Bomben in die Stadt geschleudert und, nachdem hundertundzweiundvierzig Häuser in Asche gelegt waren (am 16. Juli war es gewesen), seinen Einzug gehalten hatte – der riesige Kleber, dessen Kopf wie eine Standarte seine Bataillone überragte.

Wilderich wußte nicht wohin, wo für sich und sein Pferd ein Unterkommen finden. Endlich beschloß er, sich wenigstens des letztern auf jeden Fall zu entledigen; er ritt durch ein offenes Mauertor, welches er wahrnahm, in einen Hof hinein, in dem ein paar Pulverwagen in Sicherheit gebracht waren und ein Artillerist als Schildwache auf- und abschritt.

»Habt Ihr nicht Raum für ein Pferd in dem Stall drüben?« fragte er den Mann mit dem geläufigen Französisch, das er sich während seiner Dienstjahre unter den Franzosen in seiner Heimat angeeignet.

»Seht zu,« versetzte der Posten, »fragt nicht erst lange!«

Wilderich sprang aus dem Sattel und führte sein Pferd in die Stallung. Alle Plätze waren besetzt; auf einer hohen Streu vor den Pferden lag ein Dutzend schnarchender Artilleristen.

»Wohin wollt Ihr?« rief ihm eine deutsche Stimme zu – es war ein Mensch in einem Wams und mit einer blauen Schürze, der aus der Ecke des Hofes herankam.

»Ich will in einen Stall für mein Pferd und in irgendeine Kammer, ein Gelaß zum Verschnaufen für mich; da ist ein Krontaler für Euch, wenn Ihr mir dazu verhelft!«

Der Mann besah das Geldstück und sagte dann im reinsten sachsenhäuser Dialekt: »Nun, Ihr sprecht ja ein ehrliches Deutsch, von dem welschen Schweinsgesindel, den Hundsföttern, bekommt man sonst so was nicht zu sehen. Wie kommt Ihr denn drunter?«

»Wie so mancher!« versetzte Wilderich. »Wollt Ihr mir helfen?«

»Nun ja – will Euch meine eigene Kammer überlassen, im Giebel dort über dem Stalle; das Pferd bindet draußen an die Mauer an, ich will hernach sehen, wo ich's lasse!«

Wilderich folgte seiner Weisung und ließ sich alsdann von ihm zurück in das Stallgebäude, über eine schmale Holztreppe auf den Boden und von da in eine durch einen Brettverschlag vom übrigen Raum abgeschiedene Kammer geleiten.

»Ihr seid der Hausknecht?« fragte er hier.

»Hausknecht im Grauen Falken.«

»Ein Wirtshaus also?«

»Fragt Ihr danach? Das Schild über der Tür ist doch groß genug! Ein gutes Wirtshaus für Mann und Gaul, wenn nicht just wie heute der Teufel los ist und alles drunter und drüber geht!«

»Gut denn, so darf ich hoffen, Ihr verschafft mir ein wenig zu essen und zu trinken hierher; ich verschmachte und verhungere beinahe!«

»Nun freilich, unterwegs im Spessart drüben sollt ihr Franzosen wohl nicht viel Verdauliches zu schlucken bekommen haben. Ich will sehen, was ich für Euch finde.«

Der Hausknecht ging, und Wilderich streckte sich in dem alten Stuhl vor dem schmutzigen Tisch unter dem einzigen kleinen Fenster aus. Er knöpfte seine Uniform auf und legte den Kopf auf die Stuhllehne zurück, um eine Weile die Augen zu schließen und sich dem vollen Gefühle seiner Ermüdung hinzugeben. Trotz der Aufregung und Spannung, in der er sich befand, würde ihn der Schlaf befangen haben, so sehr er dagegen kämpfte, wenn nicht der Hausknecht zurückgekommen wäre mit einem kleinen verdeckten Korbe, worin er Bier, Brot und ein wenig kaltes Fleisch trug.

»Das ist alles, was die Frau Wirtin hergeben will,« sagte er mürrisch; »es gibt schmale Bissen heut in Frankfurt; auch müßt Ihr einen Gulden zahlen für den Bettel!«

»Es ist genug für mich!« antwortete Wilderich, indem er dem Knecht das Verlangte gab. »Könnt Ihr mir beschreiben, wo der Schöffe Vollrath wohnt?«

»Der Schöffe Vollrath – der Herr Schultheiß, wollt Ihr sagen – der wohnt auf der Zeil, der Katherinenkirche gegenüber, dicht an der Eschenheimer, Gasse.«

»Ich danke Euch. Und noch eins: Habt Ihr von einem General Duvignot gehört? Ihr wißt wohl nicht, ob er unter den französischen Anführern in der Stadt ist?«

Der Mann maß ihn mit mißtrauischen Augen. »Das wißt Ihr nicht?«

»Nein!« »Und wollt doch zu ihnen gehören? Na, mir kann's eins sein!« sagte er dann.

»Was kann Euch eins sein?«

»Wie Ihr in den grünen Rock da hineingekommen seid?«

»Wie ich da hineingekommen bin?« antwortete Wilderich. »Nun, Ihr mögt's wissen, was soll ich Euch ein Geheimnis daraus machen, daß ich das Zeug nicht alle Tage trage! Ich hatte in Frankfurt zu tun, und um nicht auf dem Wege aufgehalten zu werden, habe ich meinen Rock ausgezogen, den Rock eines Revierförsters im Spessart, und habe einem erschossenen Chasseur seine Uniform genommen und mir sein Pferd eingefangen; damit kam ich am besten weiter! Ein guter Deutscher wie Ihr wird mich nicht verraten.«

»Nein, ich werd' Euch nicht verraten,« antwortete der Sachsenhäuser. »Wenn Ihr aber ein Spion von den Österreichern seid und das die Ursache ist, weshalb Ihr in Frankfurt zu tun habt, so möcht' ich lieber, Ihr zögt ab aus meiner Kammer, es könnte auch mir an den Kragen gehen, falls sie Euch packten.«

»Beruhigt Euch,« erwiderte Wilderich, »ich bin kein Spion.«

»Der Duvignot, nach dem Ihr fragt, versteht keinen Spaß; das ist ein grausamer Hund, ein Bluthund von einem Kerl und just deshalb hierher gesandt, um noch ein wenig in der Stadt zu wüten und Schrecken einzujagen, damit sie sich ein paar Tage länger halten können; denn fort müssen sie doch einmal, sobald nur die Österreicher kommen! Wir haben schon unsere Nachrichten und wissen, wie's steht. Es braucht ja einer auch nur die Augen aufzutun und zu sehen, wie gottserbärmlich sie ausschauen. Aber just weil sie auf der Retirade sind, sind sie desto tückischer.«

»Und wer und was ist denn dieser Duvignot?«

»Was sollt' er sein als einer von ihren Generalen, diesen Morgen hier angekommen, vom Jourdan hergeschickt, um sofort das Kommando in Frankfurt zu übernehmen und den Belagerungszustand aufrecht zu erhalten; der richtige Holofernes dazu!«

»Duvignot ist der Kommandant von Frankfurt?« rief Wilderich aus. »Nun, mag er's sein, oder vielmehr, desto besser! Gebt mir doch einmal das Kästchen dort her!«

Der Hausknecht rückte die Schatulle, die Wilderich an sich behalten und mit heraufgebracht, neben diesen. Der letztere, während er aß und trank, öffnete sie zugleich und begann jetzt noch einmal den Inhalt, der ihm ja noch so gut wie unbekannt war, zu durchmustern. Der Hausknecht ließ ihn dabei allein.

Wilderich knüpfte zunächst das Band, welches das gelbe Konvolut zusammenhielt, auf; er fand eine Menge von Briefen darin, welche von einer Frauenhand in französischer Sprache geschrieben waren; es bedurfte keiner langen Lektüre, um zu sehen, daß sie an den General Duvignot gerichtet waren, daß sie die Ausbrüche einer leidenschaftlichen Neigung enthielten und daß sie, aus einer Reihe von Jahren herrührend, ein sehr inniges und schuldiges Verhältnis verrieten: denn die Schreiben« der Briefe sprach darin wiederholt von ihrem Gatten.

Unterzeichnet waren sie entweder gar nicht oder bloß M. Eine Ortsangabe enthielten sie nicht.

Wilderich durchflog die ersten, dann die letzten.

In einem dieser letzten machte eine Stelle ihn betroffen. Sie lautete: »B. ist und bleibt spurlos verschwunden. Wenn ihre Flucht überhaupt noch den geringsten Zweifel an ihrer Schuld übriglassen könnte, so würde dieses Verschollenbleiben ihn nehmen. Mein Mann ist jetzt ebenso überzeugt, wie ich es bin; er hat alle Nachforschungen nach ihr verboten, was mich jedoch nicht abhält, diese im geheimen anstellen zu lassen.«

B. – der Anfangsbuchstabe des Namens Benedicte – und diese B. war verschwunden – sollte eine Schuld auf sich geladen haben! Das war seltsam. Wilderich blätterte in aufgeregter Hast weiter, ohne mehr Andeutungen über die Sache finden zu können. Doch war eine andere Stelle da, welche, wenn die erste eine Beziehung auf ein Wesen hatte, das Wilderich in kurzer Zeit so teuer geworden, vortrefflich zu der Vermutung paßte, die sich ihm so erregend aufdrängte. Sie lautete: »Du wirst das Kommando in Würzburg erhalten, und ich, ich werde dir dahin folgen. Es ist mir nicht möglich, hier untätig und ruhig daheimzusitzen, während du allen Gefahren des Krieges entgegenziehst. Wenn du auch nicht lange Zeit in Würzburg bleibst, wenn du auch bald mit deinen siegreich vorrückenden Kameraden weiterziehst, was tut es, ich werde dir immer um so viel näher bleiben, und wenn du verwundet würdest – Gott wende es ab! – so könnte ich dir nacheilen von dort, könnte dich Pflegen, dich mit mir zurück nach Würzburg nehmen. Ich habe eine Cousine, welche in dieser Stadt wohnt. Das gibt mir den Vorwand eines Besuchs bei ihr. V. wird mir die Reise gestatten, er muß sie mir gestatten. Meine Cousine heißt Frau von Geller. Unterlaß nicht, im Hause derselben, sobald du in Würzburg angekommen bist, einen Besuch zu machen; es ist besser, wenn ich dich im Hause schon bekannt finde, als wenn ich dich erst einführen muß!«

V. – hieß das Vollrath? Was sollte es anders heißen! Die Frau Vollraths war ja in Goschenwald gewesen, von Würzburg herkommend, und B. mußte also Benedicte bedeuten; es konnte kaum ein Zweifel sein, die Verfolgerin, die Feindin Benedictens war die Geliebte Duvignots!

Jedenfalls, sah Wilderich, mußten dem General diese Briefe einer verheirateten Frau an ihn von großer Wichtigkeit sein; er mußte das größte Gewicht darauf legen, daß sie nicht in fremde Hände kamen; Wilderich hatte damit ein höchst bedeutungsvolles Pfand in Händen, wenn ihn der Zufall in eine üble Lage brachte, in der er des Schutzes des Generals bedürfen konnte.

Er blätterte weiter, er suchte nach weitern Erwähnungen des B., das ihn so betroffen gemacht hatte. Da fiel sein Auge auf etwas, das ihn noch mehr betroffen machte, auf die Buchstaben G. de B. »Es ist merkwürdig,« hieß es, »wie G. de B. so völlig verstummt ist, oder hast du Nachrichten von ihm?«

G. de B. hatte sich ja auch der Mann unterschrieben, der ihm das Kind hinterlassen! Wie seltsam! War es derselbe Mann?

In diesem Augenblicke kam hastig der Hausknecht wieder in die Kammer. Er zog unter dem Wams eine Schoppenflasche mit Wein hervor, die er vor Wilderich hinstellte.

»Da hab' ich Euch noch etwas aufgegabelt,« sagte er lächelnd und sehr triumphierend aussehend – »etwas, das Euch guttun wird nach Eurem Ritt!«

Wilderich dankte ihm. Er sah, daß er mit seinem Geschenk sich des Mannes Herz erobert hatte – wenn es nicht die uneigennützigen Gefühle der Landsmannschaft und Zusammengehörigkeit in diesen stürmischen Tagen waren, was den biedern Sachsenhäuser zu solchem Diensteifer bewegte.

»Ich danke Euch von Herzen,« sagte Wilderich. »Aber mehr als mit allem andern würdet Ihr mir helfen, wenn Ihr mir eine Auskunft geben, wenn Ihr mit einigen Worten mir sagen könntet, was der Schöff Vollrath für ein Mann ist, wer zu seiner Familie gehört, welche Kinder er hat...«

Der Hausknecht setzte sich Wilderich gegenüber verkehrt auf einen alten Strohstuhl, und die Arme auf die Lehne legend und ihm groß und voll ins Gesicht schauend, antwortete er: »Ah, was Ihr nicht alles verlangt! Aber da müßt' einer mehr Zeit haben als ich, und an einem Tage müßt's sein, an dem man besser wüßte wie heute, wo einem der Kopf steht bei all dem Sturm und Durcheinander und Gelauf und Geruf – vom Schöff Vollrath ließ sich dann schon erzählen. Und wenn ich Euch auch just nicht sagen könnte, was Ihr grad' zu wissen verlangt, welche Familie er hat und wer seine Kinder sind; denn das weiß der gutmütige alte Mann wohl selber nicht, brauch ich also auch nicht zu wissen – mit dem, was die Leute, wenn sie unten in der Hinterstube hinter dem Schoppen sitzen, sich von den wunderlichen Sachen erzählen, die in des Schöffs Hause passieren, damit könnt' ich Euch schon dienen. Dazu aber braucht's weites Ausholen, und heute, begreift Ihr, würde ich schön bei der Falkenwirtin ankommen, wenn ich hier hängen bliebe und mich verschwätzte, um des Schöffs Vollrath Geschichten solch einem blinden Passagier, wie Ihr seid, beizubringen...«

»Sagt nur rasch das Wichtigste – nehmt noch ein Stück Geld für den Schoppen, den Ihr mir gebracht habt, und was darüber ist, ist für Euch!«

Der Sachsenhäuser besah den Krontaler, den Wilderich vor ihm auf den Tisch legte, und sagte kopfnickend: »Nun ja, gut handeln ist schon mit Euch, das seh' ich. Ihr gebt zwei Gulden für eine Geschichte, die jeder Stammgast – beim Abendschoppen in ruhigern Zeiten, heißt das, Euch umsonst gäbe. Nun, schönen Dank dafür, und was die Geschichte angeht, so ist sie die: der alte Schöff war eben schon ein alter Schöff, als er ein junges Weib nahm, das eine recht süße Frucht sein muß, nach dem Sprichwort von den Früchten, woran die Wespen nagen. Unter den Wespen mein' ich die Franzosen, die vor Jahren, unter Eustine dazumal, nach Frankfurt kamen und bald ein und aus schwärmten beim Schöff. Eine erwachsene Tochter war ebenfalls im Hause, von der ersten Frau her, die schon lange, lange Jahre tot sein muß, denn ich habe niemals etwas von ihr gehört oder gesehen...«

»Und diese Tochter heißt Benedicte?« fiel Wilderich in größter Spannung ein.

»Benedicte – ich denke so, obwohl ich nicht darauf schwören kann, und es auch nichts zur Sache tut – also eine Tochter war im Hause und von der sagte man, daß sie einen der Franzosen heiraten werde; das muß ihr nun wohl die junge Frau Schöff, ihre Stiefmutter, die keinen von diesen saubern Franzosen mehr heiraten konnte, weil sie schon den alten Schöff hatte, bitter mißgönnt und beneidet haben, denn sie lebten wie Hund und Katze, Stiefmutter und Stieftochter, sagt man. Und wie hätt's auch anders sein können, da die Stieftochter von der Mutter um ihr ganzes Erbe betrogen war; denn der Schöff, im Vorbeigehen gesagt, ist ein steinreicher Mann, seine Weinberge bei Hochheim bringen ihm ein Jahr ins andere gerechnet...«

»Aber ich bitt' Euch,« unterbrach ihn Wilderich, »wie hatte denn die Stiefmutter die Tochter um ihr ganzes Erbe betrogen?«

»Wie? Nun das ist doch zu begreifen. Die Stiefmutter hatte sich gesputet, ein Kind zu bekommen, und dies Kind war ein derber, und wie die böse Welt wissen wollte, dem alten Schöff nicht im geringsten ähnlich sehender Junge; und da das meiste von des alten Mannes Gut Lehngut, oder wie man es nennt, ist, so erbte nun statt der Tochter, die früher alles zu bekommen glaubte, alles dieses Kind, dieser Junge, dieser Wechselbalg, und Ihr könnt es der Demoiselle Benedicte oder wie sie heißen mag, wahrlich nicht übelnehmen, wenn sie dem teuren Brüderlein zehnmal im Tage den Tod an den Hals wünschte. Na, den Tod hat sie ihm nun vielleicht just nicht angetan, aber so was man nennt um die Ecke gebracht, hat sie ihn doch, denn eines schönen Morgens sind sie beide verschwunden gewesen, beide Kinder des guten Herrn Schöff – die Demoiselle samt dem jungen Erben – auf und davon auf Nimmerwiedersehen – das heißt, wiedersehen wird man die Demoiselle schon, und das sobald der alte Mann gestorben ist; Demoiselle Benedicte wird dann schon sich präsentieren, um das Erbe in Empfang zu nehmen, und wird ja auf der Leute Fragen, wo der Junge hingekommen und was sie damit gemacht hat, auch schon ihre Antwort parat haben – es ist seit dem Tage, wo sie mit ihm durchgegangen ist, Wasser genug durch den Main geflossen, daß sie sich auf eine genügende Antwort hat vorbereiten können!« »Ah!« rief Wilderich aus, »und das alles ist wahr, Ihr glaubt, daß es wahr sei, Ihr glaubt, die Tochter des Schöffen habe aus Habsucht und um des Erbes willen, das sie früher als das ihrige betrachten durfte, ihren Stiefbruder entführt, vielleicht gar...«

»Ob ich's glaube? Von meinem Glauben ist nicht die Rede – ich erzähl' Euch nur, was sich die Stammgäste hinter dem Schoppen im Hinterstüble darüber erzählen.«

»Und erzählen sich diese auch, ob und wie der General Duvignot mit alledem und mit der Familie des Schöffen zusammenhängt?«

»Mit der Familie?« antwortete boshaft lächelnd der Sachsenhäuser. »Nun freilich meinen sie, daß der Duvignot, seit er vor Jahren zuerst ins Haus einquartiert ist, damit in Zusammenhang gekommen und insbesondere auch, daß er damit zusammenhängt, daß der Schöff überhaupt mit seiner zweiten Frau, so was man nennt, Familie hat! »Aber,« fuhr er jetzt erschrocken auf, »ich will des Henkers sein, wenn ich da nicht die Stimme der Falkenwirtin im Hofe höre – Gott steh' mir bei, es wird mir übel ergehen, daß ich hier – ja, ja, ich komme schon – daß ich hier so lange die Stadtbas' bei Euch gemacht habe.« In der Tat tönte der Ruf: »Jakob, Jakob!« von einer kreischenden Frauenstimme ausgestoßen, in diesem Augenblick vom Hofe her bis in die Dachkammer des Hausknechts, und dieser war aufgesprungen und hatte bereits den Arm nach der Türklinke ausgestreckt, als Wilderich ihn zurückhielt: »Nur noch eins ... wißt Ihr, wer ein Mann sein kann, dessen Name die Anfangsbuchstaben G. de B. hat?«

»Nichts weiß ich – nichts davon,« lief bei Hausknecht, dem Anschein nach ohne nur recht auf die Frage zu hören, aus und rannte davon.

Wilderich hatte sich erhoben und starrte ihm nach. Er war kaum klug geworden aus diesem wirren, unzusammenhängenden Bericht, aus dieser Menge erschreckender Tatsachen, die über ihn in so kurzen Worten ausgeschüttet waren; und jetzt stand er und fühlte noch die ganze Wucht des Schlages, den ihm die direkte Anschuldigung versetzt hatte, welche gegen Benedicte in dieser Erzählung gelegen – die Anschuldigung eines ganz unerhörten und abscheulichen Verbrechens, das sie begangen haben sollte und das durchaus abscheulich und völlig empörend war, weil es aus den niedrigsten Motiven hervorgegangen sein sollte, aus bösem Haß und aus gemeiner Habsucht! Das aber gerade – das war es auch, was Wilderich bald erleichtert und dann freier und freier wieder aufatmen ließ; was ihn bald sich selber Vorwürfe machen ließ, so erschrocken zusammengefahren zu sein bei einer solchen Anklage, die, das fühlte er in tiefster Seele, nur törichte Bosheit oder die auf eine täuschende Kombination von zufälligen Umstanden hin blind urteilende Dummheit erheben konnte – gegen sie, gegen Benedicte, die, je mehr sie sich selber vor ihm angeklagt hatte, und je mehr andere sie vor ihm anklagten, nur desto reiner und edler, nur desto mehr jeder Aufopferung würdig vor seiner Seele stand!

Und dazu war er ja bereit, zu solcher Aufopferung, dazu war er in diesem Augenblick noch bereiter als vor dem, in welchem er des Hausknechts konfuse Enthüllungen erhalten; um alles zu tun, was in seinen Kräften stand, ihr nützlich und hilfreich zu werden, und koste es ihn, was es wolle – dazu war er in der gefährlichen Verkleidung, die er angenommen hatte, hergekommen. Und so säumte er jetzt nicht länger. Da das Schloß seiner kleinen Kassette zersprengt war, steckte er zur größerens Sicherheit die Briefe Duvignot in seine Brusttasche, ordnete seinen Anzug – des Hausknechts auf dem Tische liegende Kleiderbürsten kamen ihm dabei sehr zu statten – und ging, das Haus des Schöffen Bollrath zu suchen.

Es war nicht schwer, es aufzufinden. Ein Knabe zeigte es ihm.

Vor dem Hause standen zwei Schildwachen; es mußte also ein hoher Befehlshaber in demselben einquartiert sein. Für Wilderich hatte dieser Anblick etwas Beunruhigendes. War er bis jetzt im Wirrwarr des Rückzugs und der Flucht unangenehmen Begegnungen mit Leuten, welche ihn nach seinem Truppenteile, seiner Bestimmung, seiner Order fragten, entgangen, so konnte es anders sein, wenn er in das Quartier eines Generals, unter dessen Ordonnanzen und Adjutanten geriet. Sollte er umkehren und sich einen andern Anzug verschaffen? Er hatte keine Mittel dazu, er wußte nicht, wie dazu gelangen. Wenn er zurückging und sich an seinen Hausknecht wendete und in dessen Sonntagskleidern aus der Kammer herauskam, in welche er in der Chasseuruniform geschritten, so mußte diese Verwandlung eines der Ihrigen sofort die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich ziehen, die im Hofe und Stalle seines Wirtshauses lagen und herumlungerten. Dazu der Zeitverlust! Und hatte er nicht als Sicherheitspfand für den schlimmsten Fall seine Briefe?

So wagte er es. Er trat mit der Miene ruhiger Unbefangenheit in das Haus ein. Der geräumige Flur war voll Menschen? Ordonnanzen standen da, Unteroffiziere mit Rapporten, Bürger mit Reklamationen wegen ihrer Einquartierungen, Unterbeamte des Senats mit Aufträgen, Offiziere, die Meldungen machen oder Befehle einholen wollten; auch Leute, welche mit gespannten Gesichtern zwischen zwei Wachen standen, unglückselige Arretierte, die vorgeführt werden sollten, waren da, kurz alles, was in solchen Tagen sich in einer besetzten Stadt um den Kommandanten und zu ihm drängt. Wilberich brauchte nicht erst zu fragen, um zu erkennen, daß er in das Quartier des Generals Duvignot selber gelangt war.

Aus der im Hintergründe des Flurs emporführenden Treppe stand mit untergeschlagenen Armen ein langer, verdrossen aussehender Gesell in einem langen blauen Rocke mit roten Epauletten, Revers und Aufschlägen, dessen Schöße bis auf die Waden fielen, in hirschledernen Hosen und hohen Reiterstiefeln, das Haupt bedeckt mit einem großen Sturmhut mit rotem Federbusch. So, an das Treppengeländer zurückgelehnt, zwischen den übereinandergeschlagenen Beinen den geraden Pallasch in weißer Scheide haltend, blickte er mürrisch auf das Gedränge unter ihm nieder, gegen das er als eine Art Damm zu dienen schien, der die Erstürmung der Treppe durch all die Harrenden hinderte.

Wilderich drängte sich bis an den Fuß der Treppe und sagte dem Mann, den die Uniform als Gendarmen kenntlich machte: »Ich habe mit dem Schöff Vollrath zu tun.«

» On ne passe pas!« lautete die barsche Antwort.

Ein wenig aus der Fassung gebracht, schaute Wilderich drein und wagte kaum, den bissigen Zerberus weiter anzureden, um ihm klarzumachen, daß er zum Hausherrn und nicht zum Kommandanten wolle, als ein Diener in gelber Livree, der aus einem Seitenzimmer getreten, durch den Flur an ihm vorüberkam, die Treppe hinaufzugehen. Er brachte diesem sein Anliegen vor.

»Folgen Sie mir nur,« sagte der Diener, »diese Leute hier wollen zu dem Kommandanten, der erst Punkt sechs Uhr wieder zu sprechen sein will; zum Herrn Schultheiß kann ich Sie führen.«

Er schritt die Treppe hinauf, und Wilderich, jetzt unangehalten, ihm nach.


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