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Der alte Pickelbauer saß in der warmen Stube auf der Ofenbank, das ist nämlich seit altersher auf jedem Hof des Bauern reservierter Stammsitz, im Sommer und Winter.
Der Pickel hatte trotz der Hitze, die dem riesigen gemauerten Ofen entströmte, seine Pelzkappe tief im Kopfe sitzen. Einige Büschel weißer Haare, denen es denn doch allgemach zu schwül wurde, hatten sich mit Mühe aus ihrem schaffellenen Kerker in die Stirne herausgearbeitet. Des Alten Gesicht war an zahlreichen Stellen mit Zunderfleckchen verpappt. Er hatte sich nämlich heute seiner Gewohnheit gemäß eigenhändig »balbiert«, und diese Operation ging nie unblutig vor sich. Zunder aber ist ein blutstillendes Mittel.
Jetzt ruhte der Bauer von dieser Selbstschinderei aus und ließ sich das Pfeifchen schmecken. Seine Miene ist stillvergnügt, vielleicht deshalb, weil er sich beim halbieren nicht den Hals angeschnitten hat. So gefährlich ist aber das Messer nicht. Dem Geißbub, der es oft heimlich zum Rolltabakschneiden hinter dem Spiegel hervorholte, hatte es immer zu wenig Schneid gehabt.
Gegenüber der Ofenbank saß des Bauern Sohn Steffel, ein mittlerer vierziger. Trotz seiner Jahre hieß man ihn überall noch »s Pickels Bue«. Das kam daher, weil der Alte in seinem Eigensinn um keinen Preis dem Sohne übergeben wollte. So konnte sich dieser auch nicht selbständig machen. Das war des Steffels Kummer seit Jahren.
Auch er hatte seine Pelzmütze auf dem Kopf und rauchte seine Pfeife. Die Zunderfleckchen im Gesicht fehlten bei ihm, denn er trug einen wirren, dichten Bart.
Draußen pfiff ein schneidend kalter Wind, der malte mit seinen Eisnadeln die schönsten Bäume auf die kleinen Fensterscheiben des Pickelhofes. Dem dicken Ofen war diese Kleckserei in die Seele hinein zuwider und er hätte sie gerne verwischt. Aber er langte trotz der hitzigsten Anstrengungen nicht bis zum Fenster hin.
Die große Wanduhr im eichenen Gehäuse schlug über jeden Neid erhaben ihr Ticktack. Der alte Pickel machte paff, paff und spuckte in bestimmten Zwischenpausen eine Strecke weit von sich auf den Boden. Der Steffel machte ebenfalls paff, paff und tat von Zeit zu Zeit desgleichen wie sein Vater, aber mit bedeutend mehr Kunstfertigkeit und Geschick.
So hatten sich die beiden beinahe zwei Stunden lang unterhalten. Bald sollte jedoch die Unterhaltung noch viel reger werden. Der Steffel kratzte sich seit einiger Zeit auffallend hinter den Ohren, und das war ein sicheres Zeichen bald eintretender Gesprächigkeit.
Und richtig, nach kaum einer weiteren Viertelstunde sprach der Steffel zum Vater hinüber:
»Wie alt bin i denn, Vater?«
Der alte Pickel rührte sich nicht und paffte weiter. Desgleichen der Sohn. Nach Verlauf von zehn Minuten schien die Frage im Gehirn des Alten angelangt und von dort aus an die Zunge Order zum Sprechen abgegeben zu sein, denn der Bauer meinte:
»Du bist um an Haufen jünger als i, Bue!«
Der Bue nickte wehmütig. Der alte Pickel war gerade zweiundsiebzig Jahre auf der Welt.
Eine Zeitlang war es stille in der Stube. Beide Teile wollten sich von den Strapazen des Wortgefechtes erholen.
Endlich nahm der Steffel wieder einen Anlauf:
»Vater, die Gartnerrosl, dös ist a Madl!«
Der Alte klopfte auf dem Daumen seinen Pfeifenstummel aus, stopfte sich eins, zündete an und paffte. Nachdem er die neue Füllung bis zur Hälfte heruntergeraucht hatte, hielt er es an der Zeit, seinem Sohn einen guten Rat zu erteilen:
»Steffl, laß die Madlen in Rueh!«
Das kann ein Siebzigjähriger leicht sagen.
Der junge Pickel kniff die Augen zusammen, um sich des Vaters Wortschwall, der überwältigend auf ihn hereingestürmt kam, besser zurechtlegen zu können.
Er hatte ja eigentlich der Rosl nichts nachgesagt, als daß sie ein Madl sei. Allerdings war sie eines von just dreißig Jahren. Und daran trug wiederum nur der alte Pickel die Schuld, weil er nicht in die Ausnahme wollte und so dem Steffel die Möglichkeit benahm, die alternde Gartnerrosl in eine junge Pickelhofbäuerin zu verwandeln.
Der Bue schien etwas Gewichtiges aussprechen zu wollen, denn er kratzte sich schon wieder hinter den Ohren wie ein Pudelhund im Juli.
»Vater, i und die Rosl mechtn haben, daß du bald in die Ausnahmstubn gehst!«
Der Steffel lehnte sich zurück und wartete in Geduld auf das Eintreffen einer väterlichen Entgegnung.
Diese lautete kurz und knapp:
»I mag nit!«
Der junge Pickel zuckte mit dem Gesicht, als ob ihm jemand etwas in die Augen werfen wollte. Das sah er ein, daß auf solchem Wege von seinem Vater nichts zu erreichen sei. Für ihn mußte etwas gefunden werden, was ihm besser ins Gehör geht.
»Mit siebezig Jahr geht sonst a jeder Mensch!«
»I werd schon koa Mensch sein!«
»Wenn übergibst denn nacher?« forschte der kühne Steffel.
Der Alte hatte seine Pelzkappe vom Kopf genommen und schien die Haare daran zu zählen. Er putzte, wischte und streichelte das Fell. Sein verkleistertes Gesicht strahlte in sorgenloser Heiterkeit.
»Mit fünfundachtzig. Vielleicht!«
Der Steffel rauchte wie ein Kamin.
Der Höhepunkt der Unterredung war entschieden vorüber. Es wurde gegenseitig gepafft, geräuspert, gespuckt, die Uhr schlug ticktack und draußen heulte der Wind.
Der junge Pickel suchte sich im Geiste klarzumachen, wie die Dinge stünden, wenn der Vater mit fünfundachtzig Jahren übergebe.
Bis dahin wäre er, des Pickels Bue, ein guter Fünfziger, und sein Madl, die Rosl, könnte infolge erreichten kanonischen Alters um einen Posten als Pfarrersköchin einkommen.
Steffels Pfeife hatte keine Luft. Zog er also den Pfeifenstierer hervor und bohrte so ungestüm im Rohr herum, bis das Instrument, dem es im Innern des Rohres etwas unbehaglich sein mochte, sich einen künstlichen Ausweg suchte und endlich seitwärts zum Vorschein kam. Alles eins. Was war dem Steffel ein ruiniertes Pfeifenrohr gegen die Aussicht, Pickels Bue zu bleiben, bis ihm das sechzigste Jahr im Blut umschleicht.
Spät abends ging er zur Rosl, um sich Trost zu holen. Er holte sich aber nur Grobheiten. Die Rosl erklärte, es satt zu haben, sie werde sich um etwas anderes umschauen, wenn die Galgenfrist von sechs Wochen, die sie ihm noch gewähren wolle, zu Ende sei.
Der Steffel schlich sich heim, hinauf in seine Kammer. Er warf sich angekleidet aufs Bett und rauchte. Dabei ärgerte er sich über die Kinderei. Es rollten ihm nämlich von Zeit zu Zeit dicke Tropfen aus den Augen in seinen verworrenen, struppigen Bart.
Am nächsten Nachmittag standen der alte Pickel und sein Sohn auf dem jäh zu Tal führenden hochgelegenen Schneeweg. Vor ihnen lagerte breitspurig der mit Winterheu beladene Schlitten und streckte die aufgebogenen Kufen herausfordernd in die Luft. An Steffels Bart hingen allenthalben Eiszäpfchen herunter, die Hände der beiden staken in unförmlichen Däumlingen. An die Schuhe hatten sie Schneeisen geschnallt, um auf dem schlüpfrigen Weg nicht auszurutschen. Das Lenken eines zu Tal fahrenden Schlittens erfordert große Kraft und Geschicklichkeit. Besonders gefahrvoll wird die Fahrt, wenn der Schlitten auf abschüssigem Wege durchzugehen droht. Da heißt es, mit Aufbietung aller Kräfte halten und sich mit Händen und Füßen stemmen und wehren gegen den Ausreißer; denn wenn er das Übergewicht erlangt und in Schwung kommt, geht es auf Leben und Tod. Er jagt über seine Lenker weg rasend talwärts, bis er irgendwo an einer Baumgruppe zerschellt oder über eine Felswand hinausfährt.
»Also, Bue, in Gotts Nam!« Der alte Pickel zog aus der inwendigen Joppentasche eine Schnapsflasche hervor und nahm einen langen, stärkenden Schluck, ebenso der Steffel. Dann traten sie vorne an den Schlitten und zogen an den Kufenhörnern an.
Der Steffel machte dabei wehmütigen Herzens die Erfahrung, daß sein Vater noch eine Rüstigkeit und Frische besaß, welche ihn vielleicht noch bestimmte, erst mit neunzig zu übergeben.
Er schritt traumverloren neben seinem Vater her. Bisher war alles gut gegangen. Jetzt kam man aber an eine sehr gefährliche, abschüssige Stelle, an der es galt, mit dem Schlitten einen Bogen zu machen, um einem Abgrund auszuweichen, der sich hart neben dem Wege auftat. Manch ein Schlitten ist da schon samt seinem Herrn hinuntergesaust. Zahlreiche hier angebrachte Marterln zeugen davon. Die Männer pflegen hier ein Vaterunser zu beten um gnädige Fahrt. So taten auch der Steffel und der alte Pickel.
Während des Betens blitzte es in Steffels Augen auf. Er sah auf den Vater, dann auf den Schlitten; drauf zogen sie an.
»Bue, halt dich mehr wist«, kommandierte der alte Pickel. Sie hatten sich zu stark dem Abgrund genähert.
Bald erscholl wieder, diesmal schon beinahe ängstlich, des Alten Warnungsruf:
»Bue, mehr wist!«
Und gleich im nächsten Augenblick schrie der alte Pickel entsetzt auf:
»Bue, heb, heb, wir kommen ins Laufn!«
Und der Alte stemmte sich mit aller Gewalt gegen den Schlitten, der bereits in ein verdächtig schnelles Tempo geriet.
Der Steffel hielt seine Zeit für gekommen. Jetzt galt es, dem Alten den »Nipf« zu nehmen.
»Vater übergib oder i laß aus!«
»Um alle Heilign, Bue, i derheb's nimmer, es jagt uns über den Schrofn aus!«
»Vater, übergib, sonst ist mir alls gleich!«
Dem alten Pickel rann der kalte Schweiß über die Stirn. In den nächsten Sekunden war der Schlitten nicht mehr zu halten.
Der Alte mochte sich stemmen wie er wollte, seine Kraft reichte nicht aus, das drohende Unheil aufzuhalten. Übergeben ist eine schwere Sache, aber über die Wand hinausfahren ist auch nicht gut.
Noch einmal erschallte in kurzgestoßenen Lauten Steffels verzweifelte Parole:
»Vater, wie du willst! Mir alls gleich!«
»Heb, i übergib«, schrie wie wahnsinnig der Pickel.
Jetzt erst griff der bärenstarke Steffel ein. Es war aber auch das »letzte Läuten«. Ein gewaltiger Ruck gab dem Lauf des Schlittens eine andere Richtung. In ein paar Sekunden war alle Gefahr vorüber. Der Weg war ja von da ab der denkbar beste.
Am nächsten Tag nach dem Mittagessen schlich sich der alte Pickel verstohlen hinaus und hinüber in die Ausnahmstube, visitierte den Ofen und sah nach, ob die Fenster gut schließen; dann hielt er an den Mauern Umschau. Alles war so nett und sauber. Und gar erst die große Himmelbettstatt in der Ecke; der Pickel wurde ordentlich schläfrig, wenn er sie ansah.
Wieder nach einigen Tagen kam der Alte von der Kammer herunter. Er war festlich herausgeputzt. Statt des kleinen Pfeifenstummels hing heute ein silberbeschlagener Ulmerkopf in seinem Mundwinkel. Die Schaffellkappe hatte er mit einer stattlichen Fuchspelzmütze vertauscht.
Er ging in die Stube und bedeutete seinem Bue, ihm zu folgen.
Sie traten ins Freie und stiegen hinunter ins Dorf. Die Leute schauten den beiden groß nach. Der Pickel lenkte auf ein stattliches Haus zu, es war das Gericht.
Der Richter fragte den Bauer um sein Begehr. Nach einer langen Pause (der Gestrenge fing an, schon recht ungeduldig zu werden) sagte der alte Pickel etwas heiser:
»Übergebn!«
Am selben Abend saßen sie beide wieder in der warmen Stube, der Pickel mit der Schaffellkappe auf der Ofenbank, ihm gegenüber der Bue. Der Vater machte paff, paff aus seiner Werktagspfeife und spuckte in bestimmten Zwischenräumen eine Strecke weit von sich fort.
Der Steffel machte ebenfalls paff, paff und tat von Zeit zu Zeit desgleichen wie sein Vater, aber mit bedeutend mehr Talent.
Der junge Pickel studierte sich eine Ansprache aus.
»Vater, därf ich mit der Rosl zum Pfarrer gehn?«
Lange, lange kam keine Antwort aus des Alten Mund, dafür aber umsomehr Rauch.
Endlich rückte er heraus:
»Warum denn nit? Ist nimmer zu früh!«
Nach fünf Minuten kam die Antwort des Steffl:
»Oh, es tut sich schon grad noch!«
Der alte Pickel stand auf und ging aus der Stube. Er tastete heute mit den Füßen ein wenig unsicher nach dem Boden aus, wie ein abgedienter alter Ackergaul, dem man soeben die Eisen von den Hufen gerissen hat.
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