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Die Hoffnung der Mutter

In meiner Tiroler Sommerfrische lebt in einer elenden Schaluppe – man nennt sie dort spottweise die Ritterburg – die Kobesin mit ihrem Sohn, dem Kobes. In Not und Mühsal, bei harter Arbeit und Erdäpfeln ist sie steinalt geworden; die älteste Person weit im Umkreis: geradeaus hundert Jahre. Das abgerackerte, spindeldürre, mumienartig eingeschrumpfte Weib geht noch immer aufrecht daher; bedarf weder eines Stockes noch einer Brille. Ihr lederbraunes Gesicht ist häßlich anzusehen, wie ein verrunzelter Rettich. Die Jahre haben jede Zeichnung daraus verwischt. Die Lippen bilden nur mehr zwei bläuliche undifferenzierte Wülste; aber die warmen, grauen Äuglein schimmern noch immer frisch und hell hinter den ewig entzündeten Lidern hervor.

Die Alte verrichtet noch alle Arbeit in Haus und Feld. Ich traf sie erst vor einigen Wochen an einem eisigkalten Herbstmorgen in ihrem kleinen Kukuruzfelde auf der bloßen Erde kniend in voller Arbeit.

Wahrlich, man schämt sich spazierenzugehen, wenn man eine hundertjährige Frau im nahen Felde arbeiten sieht.

Nebenbei betreut sie auch ihren Sohn. Der »Bua« ist auch schon über die erste Jugend hinaus; im letzten Frühjahr Siebzig gewesen. Ein verhuzeltes, glatzköpfiges Männlein. Sie wäscht, flickt und kocht für ihn; macht ihm auch jeden Morgen das Bett zurecht. Flöhe – und deren dürften in der »Ritterburg« einige nisten – wird sie beim Bettmachen kaum mehr fangen; und wenn sie beim Herd steht und ihm das Essen kocht – wer möchte behaupten, daß sich da noch niemals ein Tröpfchen von ihrer Nase weg in die Pfanne verirrte. Aber – die hundertjährige Mutter betreut ihren »Bua«!

Sie hält ihn auch sonst noch in Zucht und Zaum, so gut sie es vermag, holt ihn noch immer eigenhändig aus dem Wirtshaus heim, genau so wie ehedem, vor einem halben Säkulum, als er mit dem Schnapstrinken anfing. Die Mutter hofft noch immer, aus dem »Bua« mit der Zeit einen ordentlichen Menschen zu machen, der »einst« in der Welt sein redliches Auskommen finde.

Hat die Uhr neun geschlagen und der »Bua« ist noch nicht daheim, dann leidet es die Kobesin, so gut ihr die Bettwärme täte, nicht mehr auf dem Strohsack. Sie zieht den alten Wattrock an; mit ihren knopfigen zittrigen Fingern kann sie ihn längste Weile nicht am Leibe festnesteln; schlüpft mühsam in ihre unförmlichen Fleckelpatschen. Schwer bückt sich so ein steinaltes Weib! Tastet sich dann, am Stiegengeländer Halt suchend, vorsichtig Stufe für Stufe die Holztreppe hinab, ins Freie. Wie oft sah ich sie im abendlichen Dunkel durch die Gassen schleichen; vom Rösselwirt zur Traube, von der Traube zur Post; von der Post zum Löwenwirt zwingt sie ihre meeralten Knochen in nimmerrastender Sorge.

Hat sie nach vielem Fragen endlich seinen Schlupfwinkel ausgekundschaftet, dann taucht plötzlich ihr runzeliges Gesicht im Türspalt der Gaststube auf; ihre rotgeränderten Grauaugen suchen gierig alle Tische und Winkel der qualmigen Stube ab.

»Wo ischt der ›Bua‹?«

Die Gäste zeigen nach ihm mit spottendem Behagen.

»Dort ... Alte! Im Winkel hockt er! Ist schon wieder beim fünften Glas'l, gluck ... gluck ... gluck!«

Da schlurft sie dann langsam, die bläulichen Lippen fest zusammengekniffen, Schritt für Schritt näher an seinen Tisch heran. Je näher sie kommt, desto verlegener wird der Kobes.

Zwei Schritte vor ihm bleibt sie stehen, nickt vielsagend mit dem Kopfe und starrt ihn, ohne ein Wort zu sprechen, eine qualvoll lange Weile an.

Der Kobes sucht verlegen in allen Taschen herum nach den Schnapskreuzern für die Kellnerin. Das Auge der Mutter tut ihm weh. Das spürt er auch im Dusel.

»Ja ..., ja, Mutter ... i geh' schon ... gleich ... gleich ... lamentiert's nur nit gar a so!« lallt er. Die Mutter hat ja keine Silbe gesagt. Nur ihr Auge läßt sie nicht von ihm.

»Alte, trink ... tu Bescheid,« rufen ihr lachend die Gäste zu.

Die Kobesin schaut nicht rechts noch links; sie hält ihre Augen wie ein Habicht geradeaus auf ihren »Bua« gerichtet.

»Hölltuifl eini! I werd' wohl geh'n, Muetter,« schreit weinerlich der duselige Kobes. »Tut's nur nit gar so schiech!«

Endlich hat er die Kreuzer beisammen. Er schiebt der Kellnerin die Zeche zu, tappt nach seiner Kappe und torkelt aus der Stube, hart hinter ihm her schlurft die Alte. Im Hausflur pufft sie ihn mit ihrer schlaffen Faust in die Seite.

»Lump!«

Der Kobes atmet auf. Weil sie nur endlich ein Wort gefunden hat. Sie pufft ihn den ganzen Hausflur entlang, bis auf die Straße.

Dort kippt die Stimme der Alten ins Weinerliche um: »Bua! Du versäufst di noch ganz!«

»I besser mich schon, Muetter,« schluchzt nun auch seinerseits der schnapsduselige Kobes. »All's braucht sein' Zeit! Auf einmal geht's nit!«

Mutters graue, warme Äuglein leuchten auf: »Versprich mir's, daß du von morgen an a neu's Leb'n anfangst!«

»Ja ... Muetter,« lallt der Kobes mit schnapsschwerer Zunge, »verflucht sei der Branntewein! Mi siecht koa Wirtshaus mehr!«

Die Mutter schlurft nun ganz aufgeräumt nebenher. »Der Bua wird schon werd'n. Bis er nur einmal richtig in die Jahr' kommt; der wird schon!«

Wenn der Dusel den »Bua« nach rechts oder links reißt, leitet sie ihn sorgsam wieder geradeaus; und wenn der siebzigjährige Schnapskessel zu straucheln droht, bewahren ihn die verschrumpften, brüchigen Arme der hundertjährigen Mutter vor dem Falle.


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