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Der Hirt

Auf einer Blöße der hochgelegenen Ochsenalm, unweit der Sennhütte, machte ich Rast; wollte dann noch vor Einbruch der Dunkelheit den unteren Grat erreichen, um dort in der Unterkunftshütte zu nächtigen. Im Schein der sinkenden Sonne steht der alte, weißhaarige Hirt und lockt das Vieh (die Herde).

»Kusee ... kusee ... kusee ...«

Nach jedem Lockruf hält er mühsam schnaufend inne und stützt sich mit beiden Händen ganz baufällig auf seinen kerschbaumenen Stock mit dem langen Stachelspitz.

Das »Vieh« kennt den Ruf von weitem und kommt mit aufgezogenen Schweifen und schnaubenden Nüstern von allen Seiten herangestürzt. Der Hirt greift in die schmutzige lederne Salztasche, die er an einem verschossenen grünen Bande um die Brust hängen hat, und holt eine Handvoll nach der andern heraus.

»Kusee ... kusee ...«

Wie gierig sie das Salz aus seiner Hand lecken, wie sie den Hirten umdrängen.

»Stoßt's nit ... drängt's nit! Teufelme! Alle kriegt's euer Salz! Nur nit drängen! Stuck für Stuck! Du schecketer Pinzgauer ... hörst nit, was i sag'! Teufelme!«

So hält er sich, müde scheltend, die drängenden Tiere vom Leibe.

Er mustert jedes Stück; tastet da und dort eines ab, kratzt ein anderes zwischen den Hörnern und überzeugt sich von dem Wohlbefinden der ihm anvertrauten Herde.

»Aha! das Weißfleckl wird jetzt anfangen leibig,« murmelt er, und tätschelt befriedigt die Lenden eines wohlgenährten Kalbes. Dann schilt er wieder ein junges Öchslein aus, an dessen einem Horn sein geübter Blick einen Defekt wahrgenommen.

»Was treibst denn du mit deine Horn ... verdammter Racker ... du!«

»Kusee ... kusee ...« lockt er weiter, und dabei blickt sein rotgerändertes Auge kummervoll gegen die fernen Almhügel.

»Sein sie noch nit alle beinander?« fragte ich.

»Alle sein sie da; nur das ›Schwarzl‹ will nit kommen; das schönste Stierkalbl! Seit zwei Tag' hab' i's nit g'sehen!« Und lockt wieder bekümmert:

»Schwarzl ... kusee ... kusee ... kusee ... hörst du mich denn nit, Ludervieh!«

Ratlos schaut er von einem Bühel zum anderen.

»Dort oben auf den Moosbeerböden steht's, tu i mir denken; oder auf dem Bernlehnkogel!«

»Tät ich halt hinauf steigen; auf die Moosbeerböden!«

»Ist bald g'stiegen,« seufzt er bekümmert, »Hat mir meiner Lebtag nix g'fehlt; aber seit vorgestern hat's mich!«

»Wo fehlt's denn, Hirt?«

»Bei jeden Schritt aufwärts pumpert mir die Herzgrub'n, und bleibt mir der At'm aus!«

»Na ja! Der Jüngste bist auch nimmer!«

»Fünfundsiebzig g'wes'n!«

»Hab' da vorhin vor der Hütt'n ein Bübl g'sehen! Soll der gehn! Der hat junge Füß'!«

Der Alte verzog schmerzlich das Gesicht:

»Der? Der findet kein vergangenes Viech! Denkt nur ans Ess'n!«

Der Hirt ist mit dem Salz zu Ende. Der »Bleß« und der »Scheck« mögen wohl an seiner Ledertasche herumschnuppern ... für sie ist kein Körnlein mehr darin.

»Salz auch keins mehr ... o verflucht ...« jammert er und vertröstet den »Scheck« und den »Bleß«: »Morgen kriegt ihr schon Salz ... geht's nur ... i vergiß euch nit!«

Und tappt schwer, steifbeinig der Hütte zu.

»Seppele ... ho,« ruft er vor der Haustür, und läßt sich zum Umfallen müde auf der Hüttenbank nieder.

»Hörst nit? Lausbub!«

»Ho!« ertönt nun vom Heugaden herab eine helle Knabenstimme; und gleich darauf, als hätte man ihn jetzt erst bei seinem richtigen Namen genannt, erschien der Hirtenknabe, ein rotwangiges Bübl von elf, zwölf Jahren.

»Seppele, gleich nimm dein Schnarfsack und mach' dich durchab ins Dorf! Sag' dem Alpmeister, er soll dir Viehsalz mitgeben! Morgen in der Fruh mußt damit da sein ... verstanden!«

»Ja ... i versteh' schon! Salz fürs Vieh soll ich bringen! Und was denn für uns? Wir hab'n auch nix mehr zum beißen ... kein Brot ...«

Der Hirt verzog das Gesicht.

»Also vier Brotlaib für die Woche soll dir der Alpmeister auch mitgeben und ein Flaschl voll Steinöl fürs kranke Kalbele vorn Moserbaur ... ja nit vergessen ...«

»Ja, und dann ein Sackl Mehl für uns ...«

Der Hirt wehrte ab:

»Mich graust ja, wenn i nur vom Essen hör'!«

»Aber mich graust nit!« meinte das eßlustige Seppele.

»Also ein Sackl Mehl,« lenkte der Hirt seufzend ein. »Und sag', der Moarbauer muß morgen herauf, seinen Ochs anschauen; er tränzt und will dem Fraß nimmer nachkommen! So! Jetzt geh! Vergiß mir das Viehsalz und das Steinöl nit!«

Der Junge zögerte. Er hatte noch etwas auf dem Herzen: »Schmalz haben wir auch keins mehr zum Kochen ...«

»Wart', du Freßsack,« zürnte der müde Alte und hob kraftlos den Stock.

Dem kleinen Bengel fiel es gar nicht ein, noch lange zu warten; er eilte schnellfüßig mit dem leeren Rucksack über den Almrain, dorfwärts. Auf dem Wege wiederholte er sich etliche Male, was er alles mitzubringen habe: Brot ..., Schmalz ..., Mehl ..., Viehsalz und Steinöl!

»Richtig ... und der Ochs vom Moar will dem Fraß nimmer nachkommen ... soll ich Botschaft tun! Dummes Vieh! So was gibt's bei mir nit ...«

Der Hirt hockt in der sinkenden Sonne zusammengekauert auf der Bank vor der Blockhütte und horcht scharf gegen die fernen »Moosbeerböden« hinauf, ob nicht der verwehte Klang einer Schelle zu ihm dringe.

Ich sehe wohl, er kann sich vor Schwäche kaum aufrecht halten; er will sich zum Essen zwingen, um nicht ganz zu »derschwachen«. Zieht eine Brotkruste aus dem Hosensack und beißt darein. Aber er bringt den Brocken nicht über die Zähne; speit ihn wieder aus.

»Teufelme! Was ist mit mir? An wahren Grausen hab' i!«

Und es schüttelt ihn der kalte Schauer.

Ich sage ihm: »Hirt, leg' dich nieder! Dir fehlt's grob!«

Er hört nicht auf mich. Seine sorgenvollen Augen blicken unverwandt gegen die fernen Moosbeerböden, wo er das »vergangene« Kalb vermutet.

Er brennt sich sein kleines Eisenpfeifel an und macht ein paar Züge. Steckt es wieder ein und schüttelt den Kopf. Es ward ihm von dem Rauch ganz wirblig, der Gaumen wie Zunderschwamm trocken. Er stand auf und tappte sich zum Brünnlein hin, das fünf Schritte vor der Hütte sprudelt. Mühsam bückte er sich nieder, hielt seinen verwitterten Hut unter und trank ihn voll aus ... zwei- und dreimal. Das Wasser rann ihm gurgelnd durch den Leib, aber es löschte ihm nicht den Durst. Die Augen glänzten ihm fiebrig und auf den vorstehenden Backenknochen brannte die Röte.

»Es wird etwan nit gar in die Wetterschrofen hineingeraten sein ... das Schwarzl ... und mich tragt nit Hand und Fuß, daß i ihm nachsteigen kunnt,« jammerte er in der weinerlichen Art alter Leute. »Luderviech ... ein so zu plagen!«

Und soff noch einen Hut voll hinunter. Nicht genug konnte er kriegen.

Mitten im Trinken hielt er inne: »Ja, was ...«

Er horchte freudezitternd in den Abend hinaus:

»Da klingelt ja ...«

Es gab ihm einen Ruck:

»Wahrhaftig; das ist ja Schwarzls Schelle!«

Einförmig und gleichmäßig bimmelt es immer näher. Kling ... kling ... kling ... kling ...

Und da kommt auch schon das »vergangene« Schwarzl gemütlich über die Blöße herabgetrottet, geradewegs auf den Stall unter der Hütte zu.

»Mein Gott und Herr ... das Schwarzl ...« Seine Stimme kippt um: »Weil du nur da bist ...«

Er betastet das Tier mit zittrigen Fingern und besieht es mit fiebrigen Augen, ob es wohl heil sei.

»Heil und gesund! Gott Dank! Alle beinander! Kein Stückl fehlt! Jetzt kann i mich legen!«

Der kranke Hirt torkelt knieschlotternd in die Hütte. Drin fiel er wie ein Holzklotz auf den Strohsack.

Ich machte mir in der Hütte ein Lager zurecht; konnte den schwerkranken Alten nicht nachtsüber mutterseelenallein auf der einsamen Alm lassen.

In der Nacht setzte er sich ein um das andere Mal im Stroh auf und tastete mit unsicheren Händen nach dem Fensterschuber zu Häupten des Lagers. Bald riegelte er zu, denn es beutelte ihn die Kälte; dann öffnete er wieder den Schuber und riß das Fensterlein weit auf, weil ihm heiß war zum Ersticken ...

*

Am nächsten Morgen in aller Frühe – es dämmerte noch – klopfte eine derbknochige Faust an das offene Schubfenster der Hütte. Ich erwachte.

»Ho! Hirt! Hast mir lass'n Botschaft sagen, mein Ochs sei krank!« grölte vor der Hütte eine rauhe Stimme.

Es war der Moarbauer mit seinem Knecht. Die Sorge um den »tränzenden« Ochsen hatte ihn so früh heraufgetrieben. Der Moarbauer zwängte, so gut es ging, den Kopf durch das kleine Fensterviereck: »Tränzt er noch?«

»Dein Ochs ... dein Ochs ...« klang es hohl und wirr vom Lager des Hirten her.

»Ja, dem Moar sein Ochs,« schrie ärgerlich der Knecht. »Mach' einmal auf, du fauls Murmeltier!«

»Das Viech mag nit fressen ... schau' dir ihn an ... er hängt rechter Hand ... von der Stalltür ... die drittletzte Heurauf' ...«

»Na also ... Dös braucht an Segen!«

Der Moar zog nach dieser Auskunft rasch seinen Kopf aus der kleinen Fensteröffnung und ging mit dem Knecht eilig dem Stall zu, um nach dem kranken Tier zu sehen.

Ich sprang von meinem harten Lager auf und fragte: »Hirt! Wie geht's?«

Er wollte sich erheben, fiel aber wieder schwer in den Strohsack zurück.

Der erste Frühsonnenstrahl schien in die Hütte. Nun sah ich erst, wie es den Hirten über Nacht zusammengerissen hatte: Sein Gesicht verfallen; die Augen tief eingesunken. Das kräftig frische Rindenbraun der Haut war weg, und häßliche gelbe Flecken standen ihm auf Gesicht und Schläfen.

Nun kam auch der kleine Hirtenbub daher; den schwergefüllten »Schnarfsack« auf dem Rücken, verschwitzt und krebsrot. Er wunderte sich nicht wenig, den Hirten noch liegend zu finden.

»Guten Morg'n, Hirt,« grüßte er mit boshafter Nachdrücklichkeit und schlüpfte behende aus den Tragbändern des bauchigen Rucksackes.

»Bübl ... bist da,« nickte der Alte auf dem Strohsack – seine Stimme klang dünn wie ein Faden.

Der Kleine begann sogleich auszupacken.

»Da wären einmal die vier Brotlaib'!«

Er besah sie zärtlich und legte sie fürsorglich beiseite.

»Und 's Steinöl ... für das ... kranke Kalb ... Bübl?«

Der Junge ließ sich vom Hirten nicht irremachen und hob beinahe ehrerbietig eine blecherne Büchse aus den Tiefen des Rucksackes.

»Da ist Schmalz! Das gibt endlich wieder einmal fette Nocken ab!«

Und schleckt mit der Zunge um die Mundwinkel, als ob schon das Fett daran tröffe.

»Seppele! Wo ist ... das Steinöl ... für's ... kranke Kalb ...?«

Der Bub fördert triumphierend ein Säckchen Mehl zutage: »Da wär's Musmehl! Auf ein Mus freu' ich mich ganz wütig!«

»Das Steinöl ... Teufelme ...«

»Da!«

Der Seppele zeigte ein kleines schmieriges Fläschchen her.

»Und das Viechsalz ... Bübl ... das Viechsalz ...«

Da gab es dem Jungen einen Riß. Er fuhr sich mit der Hand an den kugelrunden Kopf und stotterte verlegen: »Das hab' i jetzt akkurat vergessen!«

»Vergessen ... das Viechsalz,« kreischte der Hirt und griff nach des Buben Schopf. Aber die Hand, die bei ähnlichen Gelegenheiten gewiß stets nervig zugegriffen, war heute matt und kraftlos. Kaum ein leichtes Krabbeln und Krauen am Ohr und an den angrenzenden Haarbüscheln des Jungen, so daß der verwundert aufschaut, was es heut mit dem Hirten sei. Nun bemerkt er erst das aschfahle Gesicht des Alten.

»Hirt,« rief er erschrocken. »Du bist ja todschwer krank,« und lief laut aufweinend vor die Hütte hinaus.

»Er ist ein Waiselkind,« bedeutete mir der Alte. »Bin ihm Vater und Mutter g'wesen!«

Der Junge klagte dem Moar, der eben mit dem Knecht von der Ochsenschau aus dem Stalle kam, sein Leid: »Der Hirt liegt krank ...«

»Was ... krank,« murrte der Moar. »Ist sein Lebtag nie krank gewesen!«

»Es hat ihn grob! Er hat mich ja nit einmal mehr schopfbeuteln können,« schluchzte das Bübel; die Tropfen rannen ihm nur so über die Wangen.

Als sie dann in die Hütte traten und den Hirten auf dem Stroh liegen sahen, da schlug der Moar freilich die Hände über dem Kopf zusammen.

»Klaus! Was ist mit dir! Hat's dich aber z'sammeng'rissen!«

Der Hirt nickte so nebenhin und fragte: »Wie geht's dem Ochs?«

»Er ist wieder ganz frisch wohlauf und frißt!«

»Ah! Frißt er wohl wieder,« murmelte der Hirt befriedigt. »Nachher ist's recht!«

»Aber was fangen wir jetzt mit dir an, Hirt,« sage ich. »Auf der Alm da kann man dich nit lieg'n lassen ... ohne Wartung und Doktor – der Moar und sein Knecht sollen dich ins Dorf hinuntertragen!«

»Also pack'n wir ihn auf,« sagte der Knecht; trat mit dem Moar auf das Lager zu.

Aber der Hirt schüttelte heftig abwehrend den Kopf.

»Laßt mich! I geh nit vom Viech! I bin der Hirt!«

»Mach' dir kein' Sorg', Klaus,« redet ihm der Moar zu. »Ist ja derweil das Bübl da, bis ein anderer Hirt kommt ...«

»Das Bübl ... ach du mein Gott,« jammerte der Hirt und stierte den Jungen an. »Der ... denkt nur aufs Ess'n!«

Sie hoben den Alten aus dem Stroh, so sachte und sorgsam, als es halt rauhe Bauernhände vermögen.

Der Hirt suchte sich mit den kraftlosen Fingern im Strohsack einzuhaken: »Laßt mich ... ich bin der Hirt! I geh nit vom Viech ...«

»Jetzt laß einmal das Vieh und denk' auf dich selber,« sagte der Moar.

Der Knecht hatte ihn zu Häupten angefaßt, der Moar bei den Füßen.

So trugen sie den todkranken Hirten selbander über die taufrische Almwiese. Seine bangen Augen stierten über die Schulter des Knechtes, auf der sein Kopf ruhte, in den strahlenden Alpenmorgen. Die Viehherde war schon auf der Weide. Ringsum klangen die Glocken.

An dem Glockenriemen eines Kalbes hatte sich die Schließe gelöst. Das ersahen noch die brechenden Augen des Hirten.

»O du mein Gott, laßt mich; dem Bleß ist der Schellriemen auf'gangen!«

»Schellriemen hin, Schellriemen her! Denkt der noch an ein' Schellriemen!«

Sie waren gerade zum »untern Brünnl« gekommen, da sah ich, wie der Alte den Kopf plötzlich schwer hintenüberhängen ließ.

Im selben Augenblick rief auch schon der Moar, der bei den Füßen trug, hastig:

»Knecht ... stell' nieder!«

Er glaubte zu spüren, wie auf einmal den ganzen Körper des Alten ein leichtes Zittern durchlaufe.

Sie ließen ihn vorsichtig auf den Rasen niedergleiten.

Ich rüttelte den leblos Daliegenden. Der Moar lief zum Brünnl um Wasser.

Der Knecht wollte ihm den Kopf aufrichten, aber er fiel immer wieder bleischwer zur Seite. Der Hirt machte noch einen Schnapper und regte sich nimmer.

Als der Moar hilfsbereit mit dem Hut voll Wasser gelaufen kam, sagte der Knecht: »Brauchst nit so zu laufen; den weck'n wir nimmer auf!«

»Dann geb' ihm Gott die ewige Ruah und laß ihm leuchten das ewig' Licht,« betete der Moar und ließ das Wasser aus dem Hut langsam, bedächtig ins Gras fließen.

Und die vieltönigen Schellen der werdenden Herde läuteten Scheidung ihrem bis in den Tod getreuen Hirten.


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