Arthur Schnitzler
Doktor Gräsler, Badearzt
Arthur Schnitzler

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17.

Nach drei Tagen und drei Nächten, die Gräsler beinahe ununterbrochen am Bett der Kranken wachte, ohne daß sie noch einmal zu völligem Bewußtsein gekommen wäre, an einem trüben 205 Novemberabend schwand ihre fiebernde Seele dahin, und nach weiteren zwei Tagen, in denen Gräsler durch die Ordnung all der traurigen Geschäfte, die sich an das Unglück anschlossen, vollauf in Anspruch genommen war, wurde sie begraben. Gräsler ging hinter dem Sarg her, ohne mehr als das Notwendige mit ihren Verwandten zu sprechen, die ihm in all der gemeinsamen Trauer völlig fern geblieben waren. Er stand starr am Grabe, als der Sarg versenkt wurde, und dann, ohne sich von den anderen nur zu verabschieden, verließ er den Friedhof und fuhr in seine Wohnung. Bis zum Abend lag er auf dem Diwan seines Arbeitszimmers in dumpfem Schlaf. Es war dunkel, als er sich erhob. Er war allein, so allein, wie er es noch nie gewesen, nicht nach seiner Eltern, nicht nach seiner Schwester Tod. Sein Leben war mit einem Male allen Inhalts bar. Er begab sich auf die Straße, ohne zu wissen, was er mit sich anfangen, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Er haßte die Menschen, die Stadt, die Welt, seinen Beruf, der am Ende doch zu nichts anderem gut gewesen 206 war als gerade dem Geschöpf den Tod zu bringen, das bestimmt schien, seinen alternden Jahren ein letztes Glück zu geben. Was blieb ihm nun auf Erden noch übrig? Daß er in der Lage war, seinen Beruf hinzuwerfen, und, wenn es ihm beliebte, nie wieder mit irgendeinem menschlichen Wesen ein Wort wechseln mußte, erschien ihm der einzige Trost, der einzige Gewinn seines Daseins. Die Straßen waren feucht, auf den Wiesen des Stadtgartens, in dem er sich wie zufällig fand, lag ein weißlicher Nebel. Er sah zum Himmel auf, an dem zerrissene Wolken trieben. Er fühlte sich müde werden, nicht nur von dem ziellosen Hin und Her, sondern auch von seiner eigenen Gesellschaft, die ihm mit einem Male unerträglich wurde. Ganz unmöglich erschien es ihm, nach Hause zu gehen, und in den Räumen, wo er mit Katharina glücklich gewesen, eine hoffnungslose einsame Nacht zu verbringen. Er ertrug es nicht, sich immer wieder mit den gleichen dürftigen Worten sein Schicksal vorzuerzählen, ohne daß von irgendwoher Antwort, Trost und Teilnahme kam, und ward sich der 207 Notwendigkeit bewußt, wenn er nicht im Freien zu schluchzen, zu schreien, dem Himmel zu fluchen anfangen wollte, noch in dieser Stunde einen Menschen aufzusuchen, dem er sich mitteilen konnte. Da sein alter Freund Böhlinger der einzige war, der hierfür in Betracht kam, so machte er sich auf den Weg zu ihm. Er hatte Angst, ihn nicht zu Hause anzutreffen, doch war das Glück ihm günstig, und der Rechtsanwalt saß, als Gräsler bei ihm eintrat, vor seinem aktenbedeckten Schreibtisch, im türkischen Schlafrock, von Rauchqualm umgeben.

»Du bist schon wieder hier?« empfing er ihn. »Was gibt's denn? Eine ungewohnte Stunde.« Er blickte auf die Wanduhr, die zehn Uhr wies.

»Entschuldige,« sagte Gräsler heiser, »ich störe dich hoffentlich nicht.« – »Was fällt dir ein? Willst du nicht Platz nehmen? Eine Zigarre gefällig?«

»Danke,« sagte Gräsler, »ich kann jetzt nicht rauchen. Ich habe nämlich noch nicht zu Nacht gegessen.« Böhlinger betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »So, so,« sagte er, 208 »es handelt sich wohl um eine wichtige Sache. Nun, wie steht es denn mit dem Sanatorium?«

»Mit dem Sanatorium ist es nichts.«

»Ah, hat sich das also zerschlagen? Sollte das dich doch so schwer treffen? Sag' doch! Du dürftest doch nicht ganz ohne Grund – dein Besuch freut mich selbstverständlich sehr – sprich dich nur aus. Oder soll ich raten? Weibergeschichten?« Er lächelte. »Untreue?«

Gräsler machte eine abwehrende Handbewegung. »Sie ist tot,« sagte er hart, stand plötzlich auf und ging im Zimmer hin und her.

»Oh,« sagte Böhlinger. Dann schwieg er; und als Gräsler eben wieder an ihm vorbei kam, ergriff er seine Hand und drückte sie einige Male. Gräsler aber sank auf einen Stuhl, und den Kopf in beiden Händen weinte er bitterlich, wie er seit seinen Knabenjahren nicht mehr geweint hatte. Böhlinger wartete geduldig und rauchte. Zuweilen warf er einen Blick in den Akt, der aufgeschlagen vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und machte Notizen an den Rand. Nach einiger Zeit, da Gräsler sich allmählich zu beruhigen schien, 209 fragte er sanft: »Wie ist es denn geschehen? Sie war ja so jung.«

Gräsler sah auf. Er verzog seine Lippen zu einem höhnischen Lächeln. »An Altersschwäche ist sie allerdings nicht gestorben. Scharlach. Und ich bin schuld daran. Ich, ich bin schuld.«

»Du bist schuld? Aus dem Spital?« Gräsler schüttelte den Kopf, stand wieder auf, lief im Zimmer hin und her, griff mit den Armen wie verzweifelt in die Luft und atmete tief. Böhlinger lehnte sich zurück und folgte ihm mit den Blicken. »Wie wär's,« sagte er, »wenn du mir alles erzähltest. Es wird dich vielleicht ein wenig beruhigen.«

Und Doktor Gräsler begann, zuerst stockend, dann immer fließender, wenn auch nicht geordnet, die Geschichte seiner letzten Monate zu erzählen. Bald ging er auf und ab, bald blieb er stehen, in einer Ecke, am Fenster, oder an den Schreibtisch gelehnt; er erzählte nicht nur von Katharina, auch von Sabinen sprach er; von seinen Hoffnungen, seinen Befürchtungen, seiner neuen Jugend; – von seinen Träumen hier und dort, – und wie sie am Ende alle zunichte geworden 210 waren. Manchmal hatte er die Empfindung, als wären beide tot, Katharina und Sabine, und er wäre es, der ihnen den Tod gebracht hätte. Zuweilen warf Böhlinger eine neugierige oder teilnahmsvolle Frage dazwischen. Und als ihm die Erlebnisse des Freundes in ihrem Zusammenhange klar geworden waren, wandte er sich an ihn mit den Worten: »Bist du denn eigentlich in die Stadt zurückgekommen mit der Absicht – sie zu heiraten?«

»Gewiß bin ich das. Meinst du etwa, daß ihre Vergangenheit mich gehindert hätte?«

»Das meine ich keineswegs. Denn ich weiß, die mit der Zukunft sind im allgemeinen nicht vorzuziehen.« Und er sah vor sich hin.

»Da dürftest du recht haben,« sagte Gräsler, und indem er ihn ins Auge faßte, fügte er hinzu: »Was ich dir übrigens auch noch sagen wollte« – er brach ab.

Der Tonfall hatte Böhlinger befremdet: »Was meinst du?« fragte er.

»Ich habe deine Briefe an Friederike gelesen, deine und – auch andere.«

211 »So?« sagte Böhlinger unerschüttert und lächelte trüb. »Das ist lange her, mein Freund.«

»Ja, es ist lange her,« wiederholte Gräsler. Und in einem Bedürfnis, seine Stellungnahme zu der Angelegenheit in Kürze und endgültig auszusprechen, setzte er hinzu: »Es ist mir natürlich nach Lektüre der Briefe ganz klargeworden, warum ihr euch nicht geheiratet habt.«

Böhlinger sah ihn zuerst wie verständnislos an. Dann, mit zuckenden Mundwinkeln, sagte er: »Ach so, du denkst – weil sie – mich betrog. So nennt man's ja wohl. Herrgott, was macht man daraus für Geschichten in jungen Jahren. In Wirklichkeit hat sie nur sich selber und ich – mich betrogen! Ja, das ganz besonders. Na, nun ist's wohl zu spät.« Und beide schwiegen eine Weile.

»Es ist lange her,« sagte Gräsler dann noch einmal, aber wie aus dem Schlaf. Denn eine tiefe Ermattung hatte ihn plötzlich überkommen, und die Lider fielen ihm zu. Doch er schrak gleich wieder auf, da Böhlinger ihn bei den Händen nahm und ihm herzlich zusprach, den Rest der 212 Nacht, die schon weit vorgeschritten war, bei ihm zu verbringen. Ja, er erklärte sich bereit, ihm sein eignes Bett zur Verfügung zu stellen. Aber Gräsler zog es vor, sich, angekleidet wie er war, in dem raucherfüllten Zimmer auf den Diwan hinzulegen, wo er sofort in schweren Schlaf verfiel. Böhlinger breitete eine Decke über ihn, dann öffnete er für eine Weile die beiden Fenster, brachte seine Akten in Ordnung, schloß die Fenster wieder zu und ließ den ruhenden Freund allein.

Als Gräsler erwachte, stand Böhlinger vor ihm teilnahmsvoll lächelnd: »Guten Morgen,« sagte er mit einem guten Blick, – wie ein Arzt, so dachte Gräsler, dem ein krankes Kind aus dem Genesungsschlummer erwacht. Eine kühle Herbstsonne schien ins Zimmer herein. Gräsler spürte, daß er sehr lange geschlafen haben mußte, und fragte: »Wie spät ist es denn?« Da begannen eben die Mittagsglocken zu läuten.

Gräsler erhob sich und reichte dem Freunde die Hand. »Ich danke dir für deine Gastfreundschaft. Nun ist es Zeit nach Hause zu gehen.«

»Ich begleite dich,« sagte Böhlinger, »es ist 213 Sonntag, ich habe in der Kanzlei nichts zu tun. Vor allem aber wirst du frühstücken, auch ein Bad ist für dich bereitgemacht.«

Gräsler nahm alles mit Dank an. Nach dem Bad, das ihn sehr erfrischte, begab er sich in das Speisezimmer, wo das Frühstück wartete. Böhlinger saß neben ihm, teilte ihm vor und plauderte indes, in der offenbaren Absicht, den Freund von traurigen Gedanken abzuziehen, von allerlei gleichgültigen politischen und städtischen Neuigkeiten. Was ist mir die Welt, dachte Gräsler, der Staat, die Menschen? Ja, wenn man Sabine wieder zum Leben auferwecken könnte, – er verbesserte sich sofort innerlich – Katharina! Die andere lebt ja . . . gewissermaßen. Er lächelte und wußte selbst nicht recht warum.

Die Freunde verließen das Haus, Spaziergänger, sonntäglich angetan, belebten die Straßen, und Böhlinger hatte viele Leute zu grüßen. Sie kamen an dem Handschuhladen in der Wilhelmstraße vorbei. Gräsler betrachtete die herabgelassenen Rolläden feindselig und mit Grauen. Endlich standen sie vor dem Hause, in dem Gräsler 214 wohnte. »Wenns dir recht ist, begleite ich dich hinauf,« sagte Böhlinger. In diesem Augenblick trat aus dem Tor eine hübsche rundliche Dame, in anständiger Trauerkleidung, deren Ernst durch einen anmutig und fröhlich geschwungenen Hut ein wenig gemildert schien; sie führte ein kleines Mädchen an der Hand, und ihre Augen leuchteten überrascht, als sie des Doktors ansichtig wurde. »Schau, wer da kommt,« sagte sie laut und erfreut zu ihrer Kleinen. Gräslers Augen aber weiteten sich wie in Entsetzen, als er Frau Sommer erkannte, auf das Kind richtete er einen raschen, aber völlig unbeherrschten Blick des Hasses; und jedes Grußes vergessend, an Mutter und Kind vorbei, trat er unters Tor. Böhlinger aber merkte, daß die Frau, ihre Kleine immer an der Hand, stehengeblieben war und seinem Freund verständnislos, ja wie verzweifelt nachschaute. Mit unzufriedenem Kopfschütteln folgte er Gräsler über die Treppe, zu einer Frage entschlossen; doch kaum hatte sich die Wohnungstür hinter ihnen zugetan, so stieß Gräsler schon die Worte hervor: »Das war das Kind. Das war die 215 Mutter und das Kind. Dieses Kind ist schuld daran! Katharina hat sterben müssen, und dieses Kind hab' ich gesund gemacht.«

»Von Schuld kann hier wohl nicht die Rede sein,« erwiderte Böhlinger. »So beklagenswert die Sache auch sein mag, die Kleine kann doch nichts dafür – und die Mutter gewiß nicht. Dein Benehmen dürfte ihr kaum recht verständlich gewesen sein.«

»Sie weiß ja auch nicht, was indes vorgefallen ist,« sagte Gräsler.

»Du hast sie angestarrt wie ein Gespenst. Und erst das Kind –! Du hättest das Gesicht der Mutter sehen sollen. Sie war zu Tode erschrocken.«

»Das tut mir leid. Aber sie wird sich schon wieder fassen. Ich will es ihr bei Gelegenheit aufklären.«

»Das solltest du gewiß tun,« und in einem unangemessen heiteren Tone fügte er hinzu, »um so mehr, als es eine sehr hübsche und appetitliche kleine Frau ist.« Gräsler runzelte die Stirn und machte eine abwehrende Handbewegung. Dann 216 bat er Böhlinger um Entschuldigung: er wolle nur rasch die Post der letzten Tage durchsehen, um die er sich nicht gekümmert hatte. Eine leise Hoffnung, daß Sabine ihn rufen könnte, vermochte er nicht völlig zu unterdrücken, trotzdem er die Unsinnigkeit eines solchen Gedankens empfand. Es war keine Zeile von ihr, noch irgend anderes von Bedeutung eingelangt.

Dann begab er sich mit Böhlinger in einen Gasthof, und während des Mittagessens, im Zwielicht einer warmen, traulichen Nische, bei einer Flasche guten Rheinweins, riet ihm der Freund, sich keinem unfruchtbaren Schmerz hinzugeben, sondern sich sobald als irgend möglich innerhalb seines Berufes zu betätigen. Gräsler versprach, heute noch nach Lanzarote seine Ankunft für Ende des Monats anzukündigen. Er war überzeugt, daß er willkommen sein würde. Später, bei Kaffee und Zigarre, sprachen sie von Friederike. Der Bruder hielt ihr, während Böhlinger mit halbgeschlossenen Augen, den Rauch langsam vor sich her ringelnd, lauschte, einen gerührten Nachruf, rühmte ihre Fürsorglichkeit und 217 Treue, – ja, er wollte es sogar für möglich halten, daß sie bei der Neuausstattung ihres alten Zimmers hier in der Stadt nicht mehr an sich selbst, sondern gütig ahnungsvoll und in Selbstaufopferung, an irgendein anderes Wesen gedacht hatte, das bestimmt sein mochte, dem Bruder Gefährtin und Geliebte zugleich zu bedeuten. Böhlinger nickte nur; manchmal blickte er den alten Freund, den er nie so gesprächig gesehen, mit einer von Bedauern nicht ganz freien Verwunderung an, endlich schien er zerstreut und etwas ungeduldig zu werden, und, plötzlich aufstehend, verabschiedete er sich unvermutet rasch, mit der Entschuldigung, daß er über die Abendstunden leider schon verfügt habe.

Gräsler spazierte allein nach Hause. Ruhelos ging er in dem Zimmer hin und her und spürte, wie sein Kummer allmählich in Langeweile hinzufließen begann. Er setzte sich an den Schreibtisch und teilte der Hoteldirektion in Lanzarote mit, daß seine Ankunft sich wohl einige Wochen verzögern würde, doch hoffe er, damit der Leitung um so weniger Ungelegenheiten zu bereiten, als 218 vor Mitte, ja Ende November der Besuch der Insel ohnedies kein reger zu sein pflege. Nach Beendigung dieses Briefes war er mit seinem Tagewerk zu Ende. Er nahm Hut und Stock, verließ seine Wohnung neuerdings, und als er im Treppenflur an der Tür der Frau Sommer vorbei kam, zögerte er zuerst einen Augenblick, dann aber drückte er auf die Klingel. Die Hausfrau selbst öffnete. Sie empfing ihn viel freundlicher, als er es hätte erwarten dürfen, ja mit einem Ausdruck von Freude. Er war gekommen, so bemerkte er gleich, sein mehr als sonderbares Benehmen von heute vormittag aufzuklären. Aber Frau Sommer wüßte wahrscheinlich schon, was für ein großes Unglück ihm begegnet sei – so werde sie ihn vielleicht entschuldigen. Sie wußte nichts, wahrhaftig gar nichts, und sie bat ihn, sich doch vor allem mit ihr ins Wohnzimmer zu bemühen. Und dort erzählte er ihr, daß seine liebe kleine Freundin, dieselbe, die sie noch vor wenigen Wochen im chinesischen Schlafrock mit den goldgestickten Drachen am Treppengeländer gesehen hätte, nach einer Krankheit von 219 wenigen Tagen dahingeschieden sei. Erst auf die teilnahmsvolle Frage der Frau Sommer ergänzte er, daß ein tückisches Scharlachfieber das junge Geschöpf dahingerafft habe. Es kämen jetzt viele Fälle in der Stadt vor, ja, man könnte fast von einer Epidemie sprechen. Und irgendein Zusammenhang zwischen der Krankheit seiner Freundin und dem Fall der kleinen Fanny sei um so weniger anzunehmen, als der Scharlach des Kindes so leicht verlaufen sei, daß er an der Richtigkeit seiner Diagnose beinahe zweifeln möchte. Und er nahm das Kind, das eben hereingelaufen kam, zwischen die Knie, streichelte dessen Locken und küßte es auf die Stirn. Dann weinte er leise vor sich hin, und als er wieder aufblickte, sah er Tränen im Auge der jungen Frau.

Am nächsten Tage besuchte er Katharinens Grab, auf dem noch einige bescheidene Kränze mit Schleifen lagen. Frau Sommer hatte ihn mit dem Kind auf den Friedhof begleitet; und während Gräsler stumm und gebeugten Hauptes dastand und Frau Sommer die Aufschriften der Schleifen betrachtete, hielt die Kleine die Hände im 220 stillen Gebet gefaltet. Auf dem Heimweg hielt man sich eine Weile beim Konditor auf, und Fanny kam mit einer großen Tüte Bonbons nach Hause.

Von nun an nahm sich Frau Sommer des vereinsamten Junggesellen mit unaufdringlicher Güte an; er verbrachte viele Stunden, insbesondere jeden Abend in ihrer Wohnung und brachte der Kleinen, die er immer zärtlicher liebgewann, allerlei Spielzeug mit, darunter wilde Tiere aus Holz und Pappe, von denen er dann überdies Geschichten erzählen mußte, als wären es eigentlich wirkliche, aber verzauberte Bestien. Frau Sommer aber zeigte sich in Wort und Blick von Tag zu Tag dankbarer für all das Liebe, das der Doktor ihrem vaterlosen Kinde erwies.

Es war noch kein Monat seit Katharinens Tod vergangen, als Doktor Emil Gräsler auf der Insel Lanzarote mit Frau Sommer, die übrigens seit dem Tag ihrer Abreise Frau Gräsler hieß, und der kleinen Fanny ans Land stieg. Der Direktor stand an der Landungsbrücke, barhaupt wie gewöhnlich, und sein glattgestrichenes braunes Haar bewegte sich trotz des Küstenwindes 221 kaum. »Willkommen, lieber Doktor,« begrüßte er den Ankommenden, mit dem amerikanischen Akzent, der auf Gräsler schon im vorigen Jahre unangenehm gewirkt hatte. »Willkommen! Sie haben wohl ein wenig auf sich warten lassen, aber wir freuen uns um so mehr, Sie wieder hier zu haben. Die Villa ist natürlich instand gesetzt, und ich hoffe, daß sich auch die gnädige Frau bei uns wohlfühlen wird.« Er küßte ihr die Hand und tätschelte die Wange der Kleinen.

Die Luft war wundersam durchsonnt, wie an einem Sommertag, und sie gingen alle dem Hotel zu, das ihnen blendend weiß entgegen glänzte; voran der Direktor und die junge Frau im lebhaften Gespräch, hinter ihnen Doktor Gräsler und die kleine Fanny in einem etwas zerdrückten weißen Leinenkleid und mit einem weißen Seidenbändchen in den schwarzen Locken. Gräsler hielt ihre weiche Kinderhand in der seinen und sagte: »Siehst du dort das kleine weiße Haus, wo alle Fenster offen stehen? Da wirst du wohnen, und gleich dahinter, das kannst du jetzt natürlich nicht sehen, ist ein Garten mit 222 merkwürdigen Bäumen, wie du sie noch nie gesehen hast . . . und unter denen wirst du spielen; und wenn es anderswo schneien wird und die Leute frieren, da wird hier die Sonne scheinen geradeso wie heute.« So redete er weiter, immer die weiche Kinderhand in der seinen, deren Druck ihn beglückte, wie nie eine andere Berührung ihn beglückt hatte. Die Kleine, neugierig zu ihm aufblickend, horchte ihm zu.

Indes führte auch der Herr Direktor seine Unterhaltung mit der jungen Frau weiter. »Die Saison läßt sich nicht übel an,« bemerkte er. »Der Herr Gemahl wird stark beschäftigt sein. Für den Vierten nächsten Monats erwarten wir Seine Hoheit den Herzog von Sigmaringen mit Gemahlin, Kinder und Suite . . . Wir haben hier einen gesegneten Fleck Erde. Ein kleines Paradies. Und wie der Schriftsteller Rüdenau-Hansen sagt, ein regelmäßiger Besucher unserer Insel seit zwölf Jahren . . .«

Der Wind, der hier an der Küste auch an den ruhigsten Tagen zu gehen pflegt, blies die nächsten Worte davon und noch viele andere.

 
Ende

 


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