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Der Tag, an dem Katharinens Urlaub ablief, und an dem sie Gräslers Haus verlassen mußte, um wieder bei den Eltern zu wohnen, war von Beginn an natürlich festgestanden; aber wie auf Verabredung sprachen sie beide mit keiner Silbe von dem nahen und immer näher rückenden Abschied, und Katharinens ganzes Gehaben ließ Trennungsgedanken irgendwelcher Art so wenig erraten, daß Gräsler zu besorgen anfing, ob das anhängliche Geschöpf, so wie sie eines Abends ungebeten mit ihrem kleinen Koffer angerückt war, nicht etwa daran dächte, sich ihm ohne weiteres als Reisegefährtin fürs Leben anzuschließen. So reifte der Plan in ihm, eines Morgens, während sie noch schliefe, aus Wohnung und Stadt zu fliehen; und ohne daß sie es merken durfte, begann er mit den Vorbereitungen zu seiner Abreise. Er hatte der Geliebten nach dem indischen Schal noch mancherlei anderes aus dem Nachlaß seiner 161 Schwester geschenkt, – auch ein oder das andere bescheidene Schmuckstück war darunter, während er einige kostbarere Stücke für Sabine aufzubewahren dachte. Doch zwei Tage vor der geplanten Abreise, in einer regentrüben Nachmittagsstunde, während Katharina sich. wie manchmal um diese Zeit, in das ihr eingeräumte Gemach zurückgezogen hatte, trieb es Gräsler noch einmal hinauf in den Bodenraum, als müßte er dort irgendein letztes Andenken finden, durch dessen Überreichung er nicht nur sein eigenes Gewissen beruhigen, sondern das sogar geeignet sein könnte, Katharina über sein Verschwinden einigermaßen zu trösten. Wie er nun oben suchte und wühlte, einen Koffer nach dem anderen aufschloß; Seidenstoffe, Linnenzeug, Bildermappen, Schleier, Taschentücher, Bänder, Spitzen betrachtete und prüfte, geriet ihm unversehens das Päckchen wieder in die Hände, das nach der Verstorbenen Weisung ungelesen zu verbrennen war. Zum erstenmal, wie in der Ahnung, daß er nun lange Zeit oder nie wieder diesen dahindämmernden Raum betreten würde, verspürte er eine Regung der 162 Neugier. Er legte das Päckchen beiseite, sich fürs erste vorspiegelnd, daß er es an sicherem Orte aufbewahren und einem späteren Erben hinterlassen wollte, der es ja eröffnen dürfte, ohne damit Rücksichten gegenüber einer nie Gekannten, längst Verstorbenen zu verletzen. So nahm er denn mit ein paar hübschen Kleinigkeiten, die er für Katharina gefunden, vor allem ein zartes Bernsteinkettchen und eine vergilbte orientalische Stickerei, die er übrigens, wie so manches andere, zu Lebzeiten Friederikens niemals an ihr gewahrt hatte, diesmal auch jenes ziemlich gewichtige Päckchen mit sich hinab und legte es mit den anderen Dingen auf seinen Schreibtisch, ehe er sich in Katharinens Zimmer begab.
Als er eintrat, saß sie auf dem Lehnstuhl, ganz eingewickelt in einen rötlichbraunen, mit goldgestickten Drachen durchwirkten chinesischen Schlafrock, den er ihr neulich geschenkt hatte, eine illustrierte Romanlieferung auf dem Schoß, wie sie sie gerne zu lesen pflegte, und war eingeschlummert. Gräsler betrachtete sie gerührt, vermied es, sie aufzuwecken, ging zurück in sein Arbeitszimmer, setzte 163 sich an seinen Schreibtisch und spielte halb gedankenlos mit den lockeren Fäden, die das Päckchen umschlangen, bis die Siegel knackten und brachen. Er zuckte die Achseln. Warum nicht? sagt er sich dann. Sie ist tot, an eine persönliche Unsterblichkeit glaube ich nicht, und sollte es wider mein Erwarten eine geben, so wird mir Friederikens Seele, die nun in so hohen Regionen schwebt, nichts übelnehmen. Allzu düstere Geheimnisse werden da drin wohl nicht enthalten sein. Das Umschlagpapier war bald entfaltet, und was nun vor ihm lag, waren Briefe in großer Zahl, geschichtet, und einzelne Schichten durch weiße Blätter getrennt; im ganzen, wie bald zu bemerken war, sorgfältig geordnet. Der erste, den Gräsler aufnahm, war über dreißig Jahre alt und von einem jungen Menschen geschrieben, der den Vornamen Robert trug und offenbar die Berechtigung hatte, Friederike in sehr zärtlichen Worten anzureden. Der Inhalt ließ erkennen, daß dieser Robert im Elternhause verkehrt hatte; doch konnte sich Gräsler durchaus nicht besinnen, wer es gewesen sein mochte. Es waren wohl ein 164 Dutzend Briefe von ihm da: verliebtes, aber doch im ganzen recht unschuldiges Geschreibsel, das den Lesenden nicht sonderlich fesselte. Es folgten andere Briefe, aus der Zeit, da Gräsler als Schiffsarzt in der Welt herumgesegelt war und nur alle zwei Jahre auf kurze Frist die Heimat besucht hatte. Doch wechselten hier verschiedene Schriften miteinander ab, und Gräsler vermochte anfangs nicht klug zu werden, was all diese leidenschaftlichen Versicherungen, Treueschwüre, Anspielungen auf schöne Stunden, Wallungen von Eifersucht, Warnungen, unklare Drohungen, ungeheuerliche Beschimpfungen eigentlich zu bedeuten hatten, ja, was diese ganze wüste Angelegenheit überhaupt für einen Bezug auf seine Schwester haben könnte. Und er war schon nahe daran zu glauben, daß diese Briefe an jemanden andern, vielleicht an eine Freundin Friederikens, gerichtet und dieser nur zur Aufbewahrung übergeben worden waren, bis ihm gewisse Schriftzüge plötzlich bekannt vorkamen, und bald, auch nach anderen Anzeichen, kein Zweifel mehr übrig blieb, daß die Briefe von Böhlinger herrührten. Nun entwirrten sich bald 165 die ineinander geflochtenen Fäden des sonderbaren Romans, und es wurde Gräsler klar, daß seine Schwester vor mehr als zwanzig Jahren, also schon als ziemlich reifes Mädchen, mit Böhlinger im geheimen verlobt gewesen war, daß dieser mit Rücksicht auf irgendeine früher vorgefallene Herzensgeschichte Friederikens die Heirat hinausgezögert, daß Friederike ihn dann mit irgend jemandem aus Ungeduld, Laune oder Rache betrogen, und daß sie endlich eine Versöhnung angestrebt, welche Versuche Böhlinger nur mit Ausbrüchen des Hohns und der Verachtung beantwortet hatte. Der Ton seiner letzten Briefe war jeder Mäßigung, ja jedes Anstandes so bar, daß Gräsler nicht recht begreifen konnte, wie sich allmählich doch wieder eine leidliche Beziehung, am Ende sogar eine Art von Freundschaft, zwischen den beiden hatte entwickeln können. Es war eher Spannung als Staunen, was Gräsler während des Lesens empfunden hatte, und so forschte er denn nur in gesteigerter Neugier, ohne tiefere Erschütterung, was für Geheimnisse aus Friederikens Leben ihm die nächsten Blätter verraten würden. Es blieben 166 nicht mehr viele übrig, doch da die Handschriften nun sehr rasch zu wechseln begannen, so durfte Gräsler vermuten, daß Friederike immer nur einzelne Proben zur Aufbewahrung ausgewählt hatte. Da lagen vorerst ein paar Briefe, die nichts enthielten als Buchstaben und Zahlen, offenbar Zeichen geheimer Verständigung. Nun gab es eine Pause von Jahren, dann erschienen Briefe aus der Zeit, da Friederike sich mit dem Bruder zusammengetan hatte, auch französische, englische waren darunter, und zwei in einer vermutlich slawischen Sprache, von der er gar nicht gewußt hatte, daß sie seiner Schwester bekannt gewesen war. Es gab Briefe, die warben, andere, die dankten, es gab achtungsvoll-vorsichtige und verliebt-unzweideutige, in einem und dem anderen Falle tauchte vor Gräsler die verblaßte Erscheinung irgendeines seiner Patienten auf, dem er wohl selbst, ein ahnungsloser Kuppler, die Bekanntschaft mit Friederike vermittelt haben mochte. Der letzte Brief aber, glühend, wirr und voll Todesahnungen, ließ keinen Zweifel übrig, daß ihn der brustkranke neunzehnjährige Jüngling geschrieben, den 167 Gräsler vor zehn Jahren etwa als einen beinahe Sterbenden aus dem Süden nach der Heimat hatte schicken müssen; und unwillkürlich stellte er sich die Frage, ob nicht die vielerfahrene, liebesdurstige Frau, als die sich seine scheinbar so tugendstill gewesene Schwester vor ihm nun entschleierte, jenem armen, jungen Menschen ein allzu frühes Ende bereitet hatte. Aber wenn auch brüderliche Beschämung, daß sie ihn des Vertrauens so wenig würdig, daß sie ihn wohl auch, wie eine andere, für einen Philister gehalten; – wenn auch ein verspäteter Groll, daß er den Leuten so lächerlich erschienen sein mochte, wie ein betrogener Ehemann, ihm das Bild der Verstorbenen anfangs verzerren wollte, am Ende überwog doch all dies ein Gefühl der Befriedigung, daß Friederike ihr Leben nicht versäumt hatte, daß er selbst von jeder Verantwortung ihr gegenüber sich frei erkennen durfte, und daß sie, wie nun klar zutage lag, aus einem Dasein geschieden war, das ihr die Freuden, die sie wahrlich im Überfluß genossen, nicht länger bieten wollte. Und als er die Briefe noch einmal betrachtete, den einen und anderen 168 in die Hand nahm, da und dort etliche Zeilen wieder las, dämmerte ihm auf, daß durchaus nicht alles, was er nun erfahren, für ihn so neu und rätselhaft gewesen war, als es ihm zuerst geschienen. Mancherlei, so zum Beispiel eine kleine Geschichte, die sich vor vielen Jahren am Genfer See zwischen Friederike und einem französischen Kapitän angesponnen, und auf die eines der eben gelesenen Billette hinwies, hatte er seinerzeit entstehen gesehen, freilich ohne ihrer Bedeutung inne zu werden oder ohne sich berechtigt zu fühlen, die Selbstbestimmung einer mehr als Dreißigjährigen anzutasten; und daß zwischen Friederike und Böhlinger schon in längst entschwundener Kinderzeit eine ernste Neigung sich ankündigte, war ihm ebensowenig verborgen geblieben, wenn ihm auch deren weitere Entwicklung notwendig entgehen mußte. Und so war es wohl möglich, daß die sonderbaren Blicke, die Friederike in den letzten Jahren manchmal auf ihm hatte ruhen lassen, nicht, wie er früher gefürchtet, Klage und Vorwurf, sondern daß sie vielmehr eine Bitte um Verzeihung bedeuteten, weil sie, all ihr Fühlen und 169 Erleben vor ihm verschließend, als eine Fremde neben ihm einhergegangen war. Aber auch er hatte von mancherlei, was er in all der Zeit erlebt und durchfühlt, und was sich in solchen ungelesen zu verbrennenden Briefen wahrscheinlich nicht minder bedenklich ausgenommen hätte als Friederikens Herzensabenteuer, ihr gerade nur das Harmloseste erzählt, und so glaubte er sich nicht berechtigt, ihr eine geschwisterlich keusche Verschwiegenheit nachzutragen, die er selbst so sorgfältig zu hüten gewußt hatte.
Katharina stand hinter seinem Sessel und legte die Hände um seine Stirn. »Du?« fragte er wie erwachend. »Ich war schon zweimal herinnen,« sagte sie, »aber du warst so vertieft, ich wollte dich nicht stören.« Er sah auf die Uhr. Es war halb neun. Vier Stunden lang war er in jenes abgelaufene Schicksal eingesponnen gewesen. »Ich habe alte Briefe meiner armen Schwester durchgesehen,« sagte er, Katharina auf seinen Schoß niederziehend. »Sie war ein merkwürdiges Wesen.« Einen Augenblick dachte er daran, Katharinen einiges aus dem Inhalt der 170 Briefe mitzuteilen, aber er fühlte gleich, daß er das Andenken der Toten nur verletzen würde, wenn er sich einfallen ließe, ihre Geschicke vor einem Geschöpf auszubreiten, dem notwendig das tiefere Verständnis dafür fehlen und das sich am Ende einfallen ließe, hier gewisse Ähnlichkeiten herauszuspüren, die in höherem Sinne keineswegs vorhanden waren. So deutete er denn durch eine Handbewegung, mit der er die Briefe zugleich zur Seite schob, an, daß sie das Vergangene sollten ruhen lassen; und im Ton eines Menschen, der aus dunklen Träumen zu einer lichten Gegenwart emportaucht, fragte er Katharina, wie sie sich indes die Zeit vertrieben. Sie hätte in ihrem Roman weitergelesen, berichtete sie, das Silber und das Glas auf dem Toilettetisch wieder einmal sorgfältig geputzt, an dem weiten chinesischen Hauskleid einige Knöpfe versetzt; schließlich aber mußte sie auch eingestehen, daß sie ein halbes Stündchen im Treppenhaus mit der Buchdruckersgattin geschwatzt, die doch eine recht brave, tüchtige Frau sei, wenn der gestrenge Herr Doktor sie auch nicht wohl leiden möge. Ihm war 171 es freilich weder recht, daß sie an der Unterhaltung mit einer so untergeordneten Person Gefallen fand, noch daß sie mit dem chinesischen Schlafrock angetan im Treppenhaus gestanden war; aber nun dauerte es ja nicht mehr lange, in wenigen Tagen war er weit fort, in einer würdigeren, reineren Umgebung; würde Katharina niemals und auch die Heimatstadt nur auf Stunden und Tage wiedersehen, da ja das Sanatorium hoffentlich das ganze Jahr hindurch seine Anwesenheit und Tätigkeit erfordern dürfte. So liefen seine Gedanken weiter, während er Katharina noch immer auf dem Schoße hielt und mechanisch mit der einen Hand ihre Wangen und ihren Hals streichelte. Plötzlich aber merkte er, daß sie ihn aufmerksam und traurig betrachtete. »Was hast du?« fragte er. Sie schüttelte nur den Kopf und versuchte zu lächeln. Und er sah mit Rührung und Staunen, wie ein paar kleine Tränen aus ihren Augen rollten. »Du weinst,« sagte er leise und war in diesem Augenblick Sabinens sicherer als je zuvor. – »Was du nicht denkst,« erwiderte Katharina, sprang auf, 172 machte ein lustiges Gesicht, öffnete die Türe zum Speisezimmer und wies auf den freundlich gedeckten Tisch. »Und erlauben der Herr Doktor auch, daß ich im Schlafrock bleibe?«
Da fiel ihm ein, daß er ihr wieder etwas vom Boden heruntergebracht hatte; er suchte nach dem Bernsteinkettchen, das auf dem Schreibtisch zwischen die Briefe geglitten war, und als er es gefunden, legte er es ihr um den Hals. »Schon wieder?« sagte sie. – »Nun ist es aber auch das letzte,« erwiderte er, doch gleich bedauerte er die Bemerkung, die schwerer klang, als sie gemeint war. Er wollte sich verbessern. »Ich meine nämlich« – Sie erhob leicht die Hand, als wollte sie ihm Schweigen gebieten. Sie setzten sich zu Tische. Plötzlich nach einigen Bissen fragte sie: »Wirst du manchmal an mich denken dort unten?« Es war das erstemal, daß sie auf die bevorstehende Trennung anspielte, so daß Gräsler etwas betroffen war, was sie ihm wohl anmerkte, denn sie setzte rasch hinzu: »Sag' nur ja oder nein.« – »Ja,« erwiderte er, mühsam lächelnd. Sie nickte, wie vollkommen befriedigt, schenkte für sie beide 173 Wein ein, und nun plauderte sie weiter in ihrer Art, harmlos, lustig, als gäbe es kein Abschiednehmen – oder doch, als läge ihr wenig daran, wenn es einmal dazu kommen mochte. Später wickelte sie sich fest in den chinesischen Schlafrock, dann wieder ließ sie ihn, der ihr viel zu weit war, frei um ihre Glieder wallen, zog ihn über den Kopf, ließ ihn sinken, dann tanzte sie im Zimmer auf und ab, in der einen Hand das geraffte Hauskleid mit den goldgestickten Drachen, in der andern das Weinglas, lachte hell mit verschwimmenden süßen Augen; endlich nahm Gräsler sie in die Arme und trug sie mehr, als er sie führte, in Friederikens halbdunkles Gemach, wo er sie mit einer Lust umfing, auf deren geheimem Grund er den dumpfen Groll gegen die Dahingeschiedene, die Schwester, die Lügnerin zittern und verglühen fühlte.