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Man hat mich in eine Irrenanstalt gesteckt, und ich bin doch wirklich nicht irrsinnig. Bitte, meine Herren Psychiater, das kann ich doch wohl selbst beurteilen. Dritte reitende Feldartilleriebrigade – – Donaudampfschiffahrtsgesellschaft – – Artaxerxes kann ich ohne Silbenstolpern fehlerfrei sagen. Ich meine, das genügt. – Was?
Gott ja, ich gebe zu, ich war damals ein wenig heftig. Aber wer die Tragödie meines Lebens kennt, wird mich verstehen. Das Wort Blinddarm soll man in meiner Gegenwart nicht aussprechen! Dann kribbelt es mir in allen Gliedern, und ich kann verdammt unangenehm werden. Aber deswegen gehöre ich noch lange nicht in eine Irrenanstalt! Ich bin ein beklagenswertes Opfer der Psychiater.
Einst war ich ein Mensch, der glücklich und froh war, seine 250 Pfund wog und dessen schwerste Sorge die war, daß um Gottes willen die Poularde zu Mittag weich und köstlich, und der Moselwein recht spritzig war.
Man nannte mich ein Faultier und einen Tagedieb. Aus Neid natürlich. Ich lebte eben ganz nach meinem Gusto. Und mein Gusto war: nichts tun, gut essen und trinken, schlafen und träumen. Wer sich das nicht leisten konnte, wurde natürlich leicht ein gehässiger Kritiker meines Lebenswandels.
Gott, ich hatte wirklich auch recht schwere Jahre hinter mir, wo es hieß, für das tägliche Brot zu sorgen. Das war eine übele Zeit. Pfui Teufel, wenn ich daran zurückdenke! Der Kampf ums Dasein ist mir verflucht schwer gefallen. Jede Art von Betätigung war mir bei meinem angeborenen Hang zur Beschaulichkeit ein entsetzlicher Greuel.
Da kam eines Tages das Glück. Meine Tante Hieronima Ameisenei in Altenbeken starb, und mir fiel aus der Erbschaft eine jährliche Rente von zehntausend Mark zu.
Geld verdienen, sich abhasten, Ellenbogen benutzen: diese häßlichen Worte spielten keine Rolle mehr. Ich war frei und unabhängig. Meinen Traum von jeher, die Sehnsucht meines Lebens, mein Dasein fern vom Getriebe der Welt in süßem Nichtstun zu verbringen, sah ich erfüllt.
Ich schaffte mir eine Köchin an, um die mich Brillat-Savarin beneidet hätte. Herrliche Weine lagen in meinem Keller. Ich besaß ein fabelhaftes Bett und das Wunder eines Diwans, geräumig, mit weichen, kosenden, indischen Decken belegt.
Bis in den Tag hinein schlief ich. Wenn ich mich nicht den Sensationen kulinarischer Genüsse hingab, lag ich rauchend und träumend auf meinem herrlichen Diwan.
O, ich war vollkommen glücklich zu jener Zeit!
Monatelang verließ ich nicht meine Behausung. Ich kam aus dem Pyjama nicht heraus.
Meine Splendid Isolation von allen Störungen des Alltags, von jedem Mißklang in die Harmonie meiner Tage war vollkommen. Alle wohlmeinenden Bekannten mit Ratschlägen, verdächtigen Altruismen und ehrlicher Freundesentrüstung hatte ich mir allmählich vom Halse geschafft. Man gab mich auf und sprach schlecht von mir.
Was kümmerte mich das? Ich hatte den Alltag überwunden. Ich lebte das Vergessen der Miseren des Lebens.
Dann platzte eines Tages mein alter Schulfreund Sebald in mein Idyll. Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen.
Es war gegen zwölf Uhr vormittags, ich lag noch im Bett und sann wollüstig darüber nach, welche Leckerbissen mir meine Köchin wohl heute vorsetzen würde.
Sebald setzte sich ohne Umschweife an mein Bett und erzählte, er sei Arzt geworden und habe sich in dieser Stadt niedergelassen. Von alten Erinnerungen sprach er dann, leitete allmählich zu mir und meiner Lebensweise über, über die er genau informiert schien, und war auf einmal daran, wir in ernstem vorwurfsvollem Ton mein Leben vorzuhalten.
Ich wurde unruhig. Diese Anzapfung paßte mir sehr wenig. Aber Sebald sprach so ehrlich und herzlich. Ich versuchte ihm wissenschaftlich zu kommen und mein Leben im Hinweis auf die indischen Yoghi zu rechtfertigen. Ich hätte die gleichen Maximen: Abrücken von dem Gehaste der Welt und allen Leidenschaften, Sichversenken in Meditationen und ins Nirwana. Ganz ginge ich natürlich nicht mit den Indiern. Asketischen Unfug, Glas und Erde essen, mich mit dem Kopf nach unten aufhängen, auf nägelgespickten Brettern liegen und solche Sachen wies ich als aufgeklärter Mensch natürlich weit von mir. Ich käme ohne diese Gewaltmittel in den göttlichen Trance alles Vergessens.
Meine Ausführungen machten keinerlei Eindruck auf Sebald. Er schüttelte den Kopf und machte ein recht bedenkliches Gesicht. Plötzlich nahm er meine Hand, fühlte den Puls und sah mir prüfend in die Augen.
Ich wurde nervös. Ich entzog ihm meine Hand und bat dringend, diese Faxen zu unterlassen.
Ob ich Schmerzen im Bauche hätte, in der rechten Seite, fragte er, ohne meinen ablehnenden Einwurf zu beachten.
Was sollte das? Ich brauste auf. »Ich habe dich nicht konsultiert. Verschone mich mit ungewünschten Ratschlägen. Mische dich bitte nicht in mein Leben. Außerdem finde ich es rücksichtslos und zudringlich, mich mitten in der Nacht zu überfallen. Ich will jetzt meine Ruhe haben.«
Sebald erhob sich verletzt, zuckte mit den Achseln und sagte: »Du tust mir leid, du wirst deinen Unverstand bereuen!« Damit schickte er sich an, das Zimmer zu verlassen. An der Tür drehte er sich noch einmal um: »Wenn du mich brauchst, so telephoniere Amt III, Nummer 3145. Du wirst mich bestimmt brauchen! Adieu!«
Was sollte dieser Blödsinn? Plumper Patientenfang! Ich verstand Sebald nicht, früher war er doch der ehrlichste und anständigste Mensch! Auch heute hatte sein Benehmen noch immer etwas Treuherziges.
Ich fühlte mich kerngesund. Aß, trank und schlief vorzüglich. Schmerzen im Bauch? Keine Spur.
Ich ertappte mich plötzlich dabei, wie ich schüchtern an meinem wohlgerundeten Bäuchlein herumzudrücken begann. In der Tat, wenn ich an eine Stelle in der rechten Seite kam, glaubte ich ein gelindes Unbehagen zu verspüren! –
Dummes Zeug. Es war ja auch nicht nötig, am Bauch herumzuklopfen. Dennoch kam eine eigentümliche Unruhe über mich. Das wäre ja schrecklich, wenn ich nun doch tatsächlich krank wäre, ein Leiden in mir trüge! Jetzt, wo ich alles hatte, was mein Herz sich wünschte!
Zum erstenmal wollte es mir nicht so recht schmecken, zum erstenmal kam ich auf dem Diwan nicht zur träumerischen Ruhe. Der quälende Gedanke an eine Krankheit begann, sich in mir festzusetzen. Immer wieder befühlte ich meinen Bauch, und je mehr ich untersuchte und knetete, um so mehr empfand ich dabei, nicht nur an der rechten Seite, sondern überall ausgeprägte Schmerzen. Ich fühlte den Puls, beschaute mich im Spiegel, lief aufgeregt im Zimmer umher. Mit meiner göttlichen Behaglichkeit und Sorglosigkeit war es aus. Meine Köchin war fassungslos: selbst frische Langusten und gebackene Austern ließen mich kalt.
Was mochte das für eine Krankheit sein? Ich stöberte im Konversationslexikon herum und fand, daß in der rechten Seite der Blinddarm säße. Ein wahnsinniges Entsetzen packte mich. Blinddarmentzündung? Diese furchtbare Krankheit grassierte ja jetzt allenthalben und forderte unzählige Opfer. Warum sollte mich Sebald eigentlich in einer so ernsten Sache täuschen?
Mehrere Tage verbrachte ich in qualvollen Reflexionen. Schreckliche Visionen verfolgten mich. Die herrlichsten Leckerbissen ließ ich unberührt. Ich beschaute stundenlang meinen Bauch. Wenn es darin kollerte, zuckte ich jäh zusammen. O, wenn ich nur Klarheit hätte! Ich konnte den grauenhaften Zustand der Ungewißheit nicht mehr ertragen und ließ an Sebald telephonieren.
»Ich wußte, daß du dich melden würdest,« begann er überlegen, als er seinen Mantel ablegte.
Er untersuchte mich, drückte mit seinen kalten Händen an meinem warmen Bauch herum und nickte an der Stelle in der rechten Seite ernst und bedeutsam mit dem Kopfe. Ich verging vor Angst.
»Ja, ja, wie ich dachte! Schwere Blinddarmreizung! Eine Perforation ist jeden Augenblick zu befürchten! Eine sofortige Operation ist unbedingt geboten! Du hast wohl viel Kirschen mit Steinen gegessen?«
Ich hatte seit meiner Jugend keine Kirschen gegessen.
»Du wirst einen Kirschkern, Emaillesplitter vom Kochtopf oder ein Gummiteilchen vom Verschluß von Mineralwasserflaschen im Wurmfortsatz haben.«
Ich trank seit Jahren kein Mineralwasser und meine Köchin Lochte nur in Reinnickel.
»Also, wie gesagt, da muß sofort operiert werden. Jeder Aufschub kann eine tödliche Komplikation zur Folge haben.«
Grün und gelb wurde es mir vor Augen. Mein ganzes Empfinden lehnte sich auf gegen den Gedanken an eine Operation. Lieber dann schon eingehen, als eine solche Marter ertragen! Mein Heim verlassen? Mich in das Grauen eines Krankenhauses begeben? Niemals.
Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und schrie: »Scher dich zum Teufel mit deiner Diagnose! Raus, raus!«
Sebald versuchte, mich in aller Milde und Geduld zu beruhigen und mir das relativ Harmlose einer Blinddarmoperation, die enorme Geschicklichkeit der heutigen Chirurgen auseinanderzusetzen. Ganz behaglich sei es in einem modernen Krankenhause, und nach der Methode von Professor Weichteil sei die ganze Affäre in acht Tagen erledigt.
Ich hatte für nichts ein Ohr. Mit jedem Wort, das Sebald sagte, wuchs mein sinnloser Zorn. Ich sah in Sebald lediglich den bewußten Störer meines harmonischen Daseins, den Vernichter meines Seelenfriedens, meiner göttlichen Ruhe. Wie ein wildes Tier brüllte ich auf ihn ein.
Dann wurde es ihm doch zuviel. »Ich lehne jede Verantwortung ab,« rief er. »Du tust mir leid in deiner Verbohrtheit. Mach meinetwegen was du willst!« Sebald warf die Tür ins Schloß und ging weg.
Stundenlang kauerte ich weinend in einer Ecke und stierte vor mich hin. Oder ich irrte wie ein von Gespenstern Verfolgter durch die Wohnung. Oder es packte mich eine wahnwitzige Wut, und ich stürzte mich auf irgendeinen Gegenstand. Eingetretene Schranktüren, zerschlagene Fischgläser und Lampen, zertrümmerte Fenster, Spiegel und Vasen, abgebrochene Stuhlbeine klagten von meinem Wüten. Ich warf mich dem Alkohol in die Arme und trank Kognak aus Biergläsern.
Dieser Zustand währte etwa drei Wochen. Ich hatte keinen Kognak mehr und meine ganze Einrichtung war zerstört.
Da kam ich einen Augenblick zu mir. Das konnte so nicht weiter gehen. Dieser entsetzliche Zustand führte zum Wahnsinn. Dabei nahmen die Schmerzen im Bauche immer mehr zu. Mein Eigensinn war gebrochen. Ich schrie nach Sebald. Sebald war ein guter Kerl und kam.
Willenlos und ohne jeden Widerstand ließ ich mich von ihm in einer Droschke in das Krankenhaus des Herrn Professor Weichteil schaffen.
Mit großer Freundlichkeit empfing man mich im Krankenhause. Ich wurde stutzig. War das bemitleidende Güte, die man einem Aufgegebenen, einem Verlorenen entgegenbrachte?
Ich mußte Personalzettel ausfüllen. Die neugierigen Rubriken wollten das Unmöglichste wissen. Ob meine Amme eine gute Turnerin gewesen wäre, ob mein Großvater Schuppen auf dem Kopf gehabt hätte, ob in meiner Familie ein Neger wäre.
Wildfremde Männer in weißen Mänteln kamen herbei. Sie rochen nach Äther, Karbol, Zigarren und Kognak. Ich mußte mich hinlegen, und sie tasteten mit ernsten Mienen und kalten Händen an meinem Bauch herum. Sie, sprachen dann lateinisch mit bedenklichen Gesichtern. Einer klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Nur Mut, wird schon werden!« Ein anderer lachte mich gütig an und sagte leise: » Moribundus«.
Von einem breitschulterigen Mann mit brutalen Zügen und Händen wurde ich mit rauher Unerbittlichkeit gewaschen, gebürstet, geseift. Er tat es mit dem Wohlbehagen eines sadistischen Henkers. Als er mein Zimmer betrat, hatte er ein amputiertes Bein bei sich, welches er in die Ecke stellte.
Dann legte man mich in ein blütenweißes Bettchen, über dem ein frommes Bild hing. Ich wurde wehmütig und weinte.
Die wildfremden Männer in weißen Mänteln kamen wieder und klopften an meinem Bauch herum. Kalte Hände hatten sie noch immer.
Plötzlich erschien ein langer Mann mit einem verwahrlosten Vollbart, einer Brille und einer schlechtsitzenden Hose. Es war der berühmte Professor Weichteil. Die weißen Männer machten ihm respektvoll Platz. Er trat an mein Bett, blickte zerstreut über mich weg und fragte so obenhin: »So, das ist also die Frau mit dem Tumor?«
Vorsichtig bemerkten die Männer, ich wäre männlichen Geschlechtes. Weichteil hob ernst und stumm meine Decke auf, besah sich mein rechtes Bein und erklärte: »Ja, ja, die höchste Zeit, das Bein muß amputiert werden. Gute Nacht.« Die Männer klärten ihn unterwürfig auf, daß es sich wohl nach ihrer bescheidenen Ansicht um eine Appendizitis handelte. Der Professor richtete sich auf und sagte fest und bestimmt: »Dann muß der Appendix heraus!« Die weißen Männer neigten demütig, zustimmend die Häupter, und alle entfernten sich.
Ich weinte die ganze Nacht. Womit hatte ich dieses gräßliche Geschick verdient? Ich war schon mehr tot, wie lebendig.
Am nächsten Morgen kam der Professor, gefolgt von den weißen Männern. Er untersuchte natürlich mit kalten Händen meinen Bauch und konstatierte: »Die linke Niere muß raus, muß sofort raus!« Ich richtete mich jammernd mit letzter Kraft auf und stöhnte: »Blinddarm, Blinddarm.« Darauf fiel ich in meine Kissen zurück. Es dauerte eine Weile bis die weißen Männer Professor Weichteil richtig informiert hatten. Er wollte die Niere nur ungern fallen lassen.
Punkt elf schob mich der Henkersknecht, der mich geseift hatte, auf einem weiß angestrichenen Krankentransportwagen in einen großen, hellen Saal. Hier war es scheußlich heiß, und es roch übel nach Chemikalien. An den Wänden standen hohe Glasschränke mit bösartig glänzenden Instrumenten. Eine große Zange fiel mir besonders ins Auge, sie schien mich zu fixieren und ihre Kiefer nach mir zu weiten. Ein riesiges, nach Blut schreiendes Messer ließ mich erzittern. Die weißen Männer hatten sich weiße Mützen aufgesetzt und das ganze Gesicht vermummt.
Grause Furcht packte mich.
Plötzlich stülpte man mir heimtückisch von hinten etwas über die Nase, ohne daß ich darum gebeten hatte. Ein widerlich-süßlicher Geruch drang auf mich ein. Ich hörte, wie jemand neben wir sagte: »Drei Mark zwanzig habe ich gestern im Skat verloren.« Dann noch eine andere Stimme: »War es das linke oder rechte Bein?«
Ein gräßlicher Krampf schüttelte mich. Ich wollte schreien. Ich verlor das Bewußtsein.
Als ich wach wurde, lag ich in meinem Bett. Eine Krankenschwester saß neben mir und häkelte etwas, was durch das Klappern der Holzstäbchen immer länger wurde. Ich wollte fragen, ob ich tot wäre, brachte aber keinen Ton heraus. Ich schlief wieder ein. Als ich aufs neue erwachte, saß die Schwester noch immer da und häkelte.
Professor Weichteil war ein unbedingter Vertreter der Theorie der schnellen Heilung. Höchstens zwei Tage Bettruhe, dann aber schleunigst aufstehen. Vor allem hieß es jetzt, viel spazieren gehen, turnen, namentlich Hochsprung schrieb er vor, schwere Lasten tragen. Sich von guten Boxern vor den Bauch boxen zu lassen, hielt er für vorzüglich nach einer Blinddarmoperation. All diese Übungen fielen mir verflucht schwer. Aber mit dem neuen Lebensmut, der sich allmählich einstellte, wuchs auch meine Energie. Wenn die Methode des Professors nur zur schnellen Heilung beitrug, nahm ich das Unangenehme gern in Kauf.
Leider sollte mir noch ein Mißgeschick passieren, das meinen Austritt aus dem Krankenhaus verzögerte. Bei einem Sprung aus der ersten Etage, mit 100 kg schweren Gewichten in der Hand, platzte der Bauch in der Naht und die Gedärme quollen heraus. Sie hingen mir wie aufgegangene Schuhbändel auf die Füße. Ich bemerkte das Unglück erst nicht und bummelte noch durch den Stadtgarten. Kinder machten mich dann auf die auf die Schuhe baumelnden Eingeweide aufmerksam. Ich gab ihnen saure Bonbons, wurde am gleichen Tage wieder zugenäht mit doppelter Naht und mit Stahldraht, außerdem mit Markenpapier verklebt. Die Naht wurde noch, um ein übriges zu tun, mit Zigarrenkistchenbrettern vernagelt.
Das hielt und bald schon konnte ich das Hospital verlassen. Geschwächt, aber guten Mutes und voll neuen Hoffnungen und Lebensfreude.
Meine Köchin hatte meine Wohnung in der alten Heimeligkeit und Bequemlichkeit wieder hergerichtet und die exquisitesten Zungen- und Gaumengenüsse zu meinem Empfang vorbereitet.
Ich begann, die schlimmen Tage zu vergessen und an ein neues Leben in alter Beschaulichkeit zu glauben. Alles war wie einst, wie in den glücklichen Tagen vor dieser Malefizblinddarmsache. Ich fühlte mich frei und sicher. Das Damoklesschwert war beseitigt: dort war es in dem kleinen Einmachglas. Man hatte mir den Blinddarm im Krankenhause in diesem Glase mitgegeben. Ich stellte ein Leiterchen hinein. Wenn es schlechtes Wetter war, saß der Blinddarm unten, wenn es aber gutes Wetter war, saß er oben.
So lebte ich mein Leben einige Wochen lang in meinen alten Gepflogenheiten, wunschlos, weltfern und glücklich.
Ich lag eines Tages nach einem allzu reichlichen Mahle auf meinem Diwan. Unruhige Gedanken an meine Blinddarmtragödie störten plötzlich mein Sinnieren. War ich nur wirklich gesund? Es war mir eigentlich nicht immer so, wie es hätte sein sollen. Ich fühlte mich häufig beschwert und hatte das Gefühl, daß es in meinem Bauche nicht so recht stimmte. Eine peinliche Sorge um meine Gesundheit quälte mich, die mit jedem Tag stärker wurde. Jede Indisposition geringster Art beschwor die schrecklichsten Vorstellungen und Vermutungen. Ich begann, meinen Körper auf das peinlichste zu kontrollieren.
Ich abonnierte auf medizinische Fachblätter. Das hätte ich lassen sollen, es wurde mein Verderb. Denn eines Tages fiel mir der Aufsatz des berühmten Chirurgen Professors Langebühdel in Jena in die Hände, der unter Vergabe von genauen Statistiken und auf Grund dieser Zahlen nachwies, daß der Prozentsatz der Sterblichkeit unter Blinddarmamputierten erheblich höher wäre, wie unter normalen Menschen mit Blinddarm. Weiterhin hätte er einwandfrei bei strenger Kontrolle und Beobachtung einer großen Anzahl von Operierten konstatiert, daß die Gehirnfunktionen durch die Amputation des Appendix in starkem Maße in Mitleidenschaft gezogen würden. Er resümierte seine verblüffende Theorie: Blinddarmamputation bewirkt vorzeitige Sterblichkeit, ferner Irrsinn und in allen Fällen eine außergewöhnliche Schwächung des ganzen Organismus. Eine Blinddarmoperation wäre ein Verbrechen an der Menschheit. Aber er brächte auch den Unglücklichen, die sich in ihrem Unverstand hätten operieren lassen, noch Hilfe mit seiner phänomenalen Erfindung des künstlichen Blinddarmersatzes. Langebühdel setzte an Stelle des amputierten Darmes einen aus bestem Gummi hergestellten Blinddarm ein. Auf diese Weise würde das Gleichgewicht des Bauchorganismusses wieder hergestellt, und die Spannung im Nervensystem aufgehoben.
Ich brach zusammen unter dieser Eröffnung. Die Sorge um mein Leben wuchs ins Ungeheuere.
Eines Tages saß ich im Zuge nach Jena. Professor Langebühdel schilderte in den schwärzesten Farben die mir drohende Gefahr. Nach schweren inneren Kämpfen gab ich mich ihm in die Hände und ließ mir in einer komplizierten Operation einen Gummiblinddarm »Langebühdel« einsetzen.
Sehr geschwächt, übernervös, achttausend Mark leichter, verließ ich nach einigen Monaten die Klinik in Jena.
Erst nach Monaten begann der Wille zur Beschaulichkeit allmählich die schwarzen, beunruhigenden Reflexionen über meine Gesundheit mehr und mehr zu verdrängen. Ich segelte fast völlig wieder im Fahrwasser köstlicher Harmonien.
Nur selten noch griff ich zu den medizinischen Blättern. Unglücklicherweise mußte mir durch Zufall eines Tages nun doch wieder eine Nummer in die Hände fallen. Ich Unglücklicher! Ich fand einen Artikel des bekannten Geheimrats Möhrenfeind, der als Unterleibspezialist einen anerkannten Ruf hatte. Er vertrat den gleichen Standpunkt wie Langebühdel über die gefährlichen Konsequenzen einer Appendixoperation, bekämpfte aber entschieden, als direkt lebensgefährlich, den Ersatz aus Gummi nach Langebühdel. Nur ein Ersatz aus animalischer Materie könnte in Frage kommen. Seine epochale Erfindung: »Blinddarmersatz aus Schafsdarm« wäre die Lösung dieses Problems. Die Träger von »Langebühdel«-Blinddärmen befänden sich in fortgesetzter Lebensgefahr durch die unbedingt eines Tages eintretende Zersetzung des Gummis.
Ich warf mich vom Diwan und wälzte mich laut schreiend auf dem Boden herum.
Ich flüchtete mich in das Dunkel des Kellers und vergrub mich dort in den Kohlen. So blieb ich drei Tage in Stumpfsinn und völliger Apathie.
Dann löste sich plötzlich die Starre. Neue Lebensenergien regten sich mit Gewalt. Was, jetzt sterben? In den besten Jahren, mit einer Rente von zehntausend Mark?
Hals über Kopf reiste ich, gepeinigt von schrecklichen Ängsten zum Geheimrat Möhrenfeind.
Wiederum ließ ich mich überzeugen. Ich sah meine einzige Rettung und Hoffnung in einem Blinddarm aus Schafsdarm nach Möhrenfeind.
Fünf Monate lag ich bei Möhrenfeind. Das kostete achtzehntausend Mark.
Gealtert, abgemagert kehrte ich nach Hause zurück. Was war aus mir geworden? Was hatten die Ärzte aus einem sorglosen, glücklichen Menschen gemacht? Ein schrecklicher Haß gegen die ganze Gilde stieg in solchen grüblerischen Stunden mit Macht in mir auf, eine besondere Wut gegen meinen Schulfreund Sebald.
Es kamen wohl Tage, an denen ich über köstlichen Gerichten und schönen Weinen meine Sorgen vergaß. Aber immer wieder bekam die Angst um meinen Leib die Oberhand und ließ keine harmonische Behaglichkeit aufkommen. Der Gedanke: war mein Darmersatz nun das Richtige? quälte mich unausläßlich.
Mein böses Geschick mußte mich in den Vortrag des berühmten amerikanischen Arztes, des Professors W. C. Manhattan Cover-Coat führen. Dieses mein furchtbares Geschick, weh mir!
W. C. Manhattan Cover-Coat war eine weltberühmte Appendix-Autorität. Er hatte unlängst die fünfhunderttausendste Blinddarmamputation vorgenommen und war aus diesem Anlaß zum Ehrenvorsitzenden sämtlicher Blindenanstalten der Welt ernannt worden.
Seine Vortragsreise galt einer energischen Propaganda gegen die Theorie der künstlichen Blinddärme.
Die Mehrzahl sämtlicher Ärzte ständen hinter ihm. Er führte aus seiner Praxis unzweifelhafte Fälle an, wo die betreffenden Patienten dieser verrückten Erfindung zum Opfer gefallen waren. Er erklärte die Vertreter und Anhänger dieser Therapie für Mörder. Er hielte es für seine Pflicht als Mensch und Arzt, mit allen Kräften gegen einen derartig lebensgefährlichen Irrsinn vorzugehen und das Publikum aufzuklären. Den Voreiligen, die bereits Langebühdel oder Möhrenfeind in die Hände gefallen waren und diesen Unglücks-Blinddarmersatz mit sich herumschleppten, könnte er nur den Rat geben, sofort diese furchtbare Gefahr entfernen zu lassen. Eile wäre unbedingt geboten.
Professor W. C. Manhattan Cover-Coat sprach eindringend und überzeugend.
Wie ein Keulenschlag traf mich diese Eröffnung. Wie ein Blöder irrte ich zwei Tage durch die Stadt. Ich stand am Fluß mit Selbstmordgedanken. Ich ging in den Wald und aß Moos und Rinde. Ich wollte in Höhlen hausen, fand aber keine.
Dann trieb mich meine Angst willenlos ins Krankenhaus von Professor Weichteil. Raus mit dem Schafsdarm Möhrenfeinds!
Im Krankenhaus war alles wie damals.
Man schob mich nach den bekannten Vorbereitungen auf dem weißlackierten Krankenwagen in den noch immer ungemütlichen Operationssaal. Eine Wut quoll in mir auf gegen die Instrumente, die Ärzte, die Schwestern, die ganze Umgebung. Das war alles medizinische Materie, und die haßte ich gründlich.
Einer von den weißen Männern, der sich mit dem Professor überworfen hatte und in den nächsten Tagen das Spital verlassen mußte, trat an mich heran und flüsterte mir zu, daß ich damals bei der ersten Operation überhaupt nichts am Blinddarm gehabt hätte. Man hätte sich in der Diagnose geirrt.
Nichts am Blinddarm gehabt? Die ganzen Aufregungen und Quälereien wegen einer falschen Diagnose dieser Ärzte? Eine sinnlose Wut, ein irrsinniger Jähzorn packte mich. Mein ganzes Leben verhunzt durch diese Nichtswisser!
Ehe es sich jemand versah, sprang ich auf, packte ein großes, blitzendes Operationsmesser und erstach den Professor, die weißen Männer und eine Krankenschwester.
Ein armer Kranker, der auf einem Krankenwagen liegend, auch eine Operation erwartete, bekam in der Aufregung mehrere Stiche mit. Es war ihm aber egal, da er taubstumm war, außerdem darüber starb. Ich zerschlug noch die Glasschränke, warf die Instrumente zum Fenster hinaus und trank alle Gläser mit Chemikalien aus.
Plötzlich wurde ich von hünenhaften Krankenwärtern gepackt und überwältigt.
Ich kam in das Irrenhaus, wo ich jetzt noch bin.
Ich gebe zu, ich war ein wenig nervös. Wer wäre das nicht geworden, bitte? Aber irrsinnig bin ich nicht, keineswegs, keineswegs!!
Man erwähne nur das Wort »Blinddarm« nicht.