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Ich habe keine Lunge mehr.
Ich bin eigentlich tot oder aber ein anatomisches Phänomen.
Ich muß wohl schon letzteres sein, da mir das Totsein niemand so recht glauben will. Meine Gläubiger zum Beispiel wollen nichts davon wissen. So habe ich meinem Schneider, der die verfluchte Manie hat, für längst verschlissene Anzüge beharrlich Geld zu fordern, durch meine Aufwartefrau sagen lassen, ich sei gestorben. Ich hätte keine Lunge mehr, ich hätte das schwarz auf weiß. Und ohne Lunge könnte man nicht leben, das wäre doch eine klare Sache.
Der Mann hat mich verklagt, und man hat mir meinen Phonographen, die Kuckucksuhr, einen Haussegen und acht Flaschen Eierkognak gepfändet.
Gut, bin ich also ein anatomisches Phänomen.
Ich gehöre von Rechts wegen in ein Museum, auf ein Podium oder in einen Glaskasten. Mein rätselhafter Zustand müßte von allerersten medizinischen Autoritäten des In- und Auslandes begutachtet und beglaubigt sein, Fürstlichkeiten der höchsten Häuser nebst Familien müßten mich besichtigt und ihre Anerkennung ausgesprochen haben. Ich müßte genannt werden mit den Schwestern Blaczek, dem Mann mit dem Stiernacken, der bärtigen Dame, dem Mann mit dem Straußenmagen, mit Lola Hirschtalg, der Pantherdame usw. Ich bin aber ein furchtbar bescheidener Mensch, und es gelüstet mich nicht nach Ruhm.
Es ist möglich, sehr leicht möglich, daß man eines Tages unter ein Auto oder die Elektrische kommt, oder daß einem der Propeller eines Luftschiffes oder ein Geraniumtopf aus der dritten Etage auf den Kopf fällt, oder daß man von einer Hutnadel aufgespießt wird oder auf irgendeine andere Weise einen plötzlichen Tod findet. Man kann nie wissen. Und es wäre wirklich ein Verlust für die Medizinische Wissenschaft, wenn mein Fall unbekannt bliebe. Darum halte ich es als fanatischer Arbeiter an dem großen Werk der menschlichen Erkenntnis und Aufklärung für meine Pflicht, meinen Fall in Nachstehendem niederzulegen. Auf Anfragen von Ärzten wegen einer eingehenden Untersuchung gebe ich ferne, Antwort. Ich lasse mich nicht untersuchen, ich bin nämlich wahnsinnig kitzlig. –
So kam es also, daß ich meine Lunge verlor:
Ich lebte zur Zeit in Marseille und hatte eines Tages einen starken Husten und schmerzhafte Stiche in der Brust. Mein Urgroßvater war an Altersschwäche gestorben, meine Großmutter am Knochenfraß, ein Mann, der neben uns wohnte, am Delirium, und eine Waschfrau meiner Eltern an einem Magenleiden. Das gab mir zu denken. Da hieß es rechtzeitig vorbeugen. –
Ja, damals hatte ich noch Sorge um mein Wohlergehen. Damals lebte ich noch in bangen Ängsten um den nächsten Tag, setzte alles auf Wechsel auf die Zukunft. Der Tod war mir eine schreckliche Katastrophe und nicht die befreiende, erlösende Antwort auf den Scherzrebus »Leben«.
Schleunigst eilte ich zu einem Arzt, der mir als weltberühmter Lungenspezialist allseitig aufs wärmste empfohlen worden war.
Er wohnte am Boulevard Baille und hieß Jean Maurice Ragoût-Fin. Ein eigentümliches Lärmen klang mir aus dem palaisartigen Gebäude entgegen. Ein Bellen, Krächzen, Schnaufen; Tiere konnten nur solche Töne hervorbringen.
Voller Grauen betrat ich das Haus. Sechs Diener nahmen mich in Empfang und führten mich in einen riesigen Saal, aus dem das unheimliche Getön herausschallte.
Ein tolles Gehuste, ein Chaos von Grunzen umfing mich und verwirrte meine Sinne. Einige hundert Menschen befanden sich in diesem Saal, die fortgesetzt husteten und diese merkwürdigen Geräusche von sich gaben. Sie warteten alle auf Jean, Maurice Ragoût-Fin.
Vier Tage habe ich in dem Wartesaal gesessen, bis ich dran kam. Es war schon ein recht ungemütlicher Aufenthalt inmitten der vielen hundert Hustenden, die sich immer wieder durch neue Ankömmlinge ergänzten. Es war wie ein wildes, kakophonisches Tonstück; es hätte von Strauß sein können. Ich wundere mich überhaupt, daß der Komponist der »Elektra« derartige animalische Geräusche in seinen Tondichtungen noch nicht praktisch verwandt hat. Wird schon noch kommen.
Also nach vier Tagen kamen zehn Diener zu mir und führten mich in das Studierzimmer ihres berühmten Herrn.
An einem Schreibtisch, so groß wie das Fürstentum Neuß, saß ein hagerer, glatt rasierter Mann mit blitzenden, stechenden Augen. Sein Alter war schwer zu taxieren. Er konnte seine dreißig sein, mit der gleichen Möglichkeit indessen mochte er auch fünfzig oder sechzig Jahre auf dem Rücken haben.
Seine schmale, ein wenig krampfige, natürlich elfenbeinweiße Hand, deren Zeigefinger mit einem grünen Malachitring geschmückt war, wies stumm auf einen roten Saffianledersessel, in dem ich ein wenig verschüchtert Platz nahm.
»Ihr Urgroßvater starb an Altersschwäche, Ihre Großmutter am Knochenfraß, der Mann, der neben Ihnen wohnte, am Delirium, eine Waschfrau Ihrer Eltern an einem Magenleiden. Bei Ihrem Fall kommt ohne Zweifel eine Prädisposition, direkte Heredität in Frage,« begann er mit leiser, verschleierter Stimme, und seine Augen prüften mich scharf und durchdringend.
»Sie haben etwa 40 Halsweite, Reife für Unterprima, eine Freimarkensammlung, sind glattrasiert und haben eine schwere Lungensache,« fuhr dieser unheimliche Mensch fort; »ja, eine schwere Lungensache. Ich sage meinen Patienten stets die Wahrheit. Ich hoffe, Sie sind Philosoph, Fatalist. Finden Sie sich mit Ihrem Schicksal ab. – Sie kennen, meine Taxe?« warf er in einem andern Tonfall plötzlich ein.
Ich griff bebend nach meinem Scheckbuch und fragte devot: »Wieviel?«
»Drei,« war die lakonische Antwort.
Ich klappte mein Scheckbuch zu und suchte in meinem Portemonnaie, hocherfreut über den geringen Honorarsatz, nach drei Franken.
»Tausend, mein Herr. Dreitausend, mein Herr,« riß mich Jean Maurice Ragoût-Fins Stimme aus meiner angenehmen Verwunderung.
Zitternd füllte ich einen Scheck über 3000 Franken aus und reichte ihn dem Doktor.
»Stellen Sie sich bitte gegen diesen Apparat,« wies wich Ragoût-Fin gegen einen großen Kasten, an dem eine komplizierte Sache mit gebogenen Glasröhren und blanken Metallkugeln angebracht war. Dann machte es einige Sekunden – »zisch« und ein bläulicher Schein füllte das Zimmer.
Der Doktor saß am Schreibtisch, hatte einen großen Bogen Papier vor sich ausgebreitet und zeichnete, immer scharf nach mir herüberschauend, etwas auf.
»So,« er erhob sich plötzlich, prüfte noch einmal seine Zeichnung und reichte sie mir. »Hier sehen Sie Ihre Lunge, genau in Ihrem jetzigen Zustand. Die Lungenspitzen sind schon sehr mitgenommen. Die rechte Spitze fast ganz weg. Sie können nun nach meiner Methode den Fortschritt der Auszehrung genau verfolgen, wenn Sie strikte nach nebenstehender Skala, es würde ungefähr alle drei Tage sein, mit Rotstift, ich habe so die kranken Stellen bereits markiert, eine Linie breit von der Lunge abstreichen. Sie sind auf diese Weise völlig über den Fortschritt Ihrer Erkrankung orientiert und haben einen bestimmten Anhaltspunkt über den Termin Ihrer Auflösung. Ich taxiere, daß die noch vorhandene Lungenmaterie in etwa 4½ Monaten verbraucht ist. Es ist doch glänzend, so über sich im klaren zu sein! Sie werden sich nicht überflüssigerweise einen neuen Anzug bestellen oder bereits für den nächsten Winter ein Schlittschuhbahn-Abonnement, nehmen. Schauen Sie, das ist der enorme Vorzug meiner Methode. Bitte sehr,« er reichte mir die Zeichnung, drückte auf eine Schelle und fünfzehn Diener erschienen, die mich zur Tür führten.
Da stand ich nun, ein völlig gebrochener Mensch, auf der Straße mit meinem Todesurteil in der Hand und 3000 Franken ärmer. In 4½ Monaten sterben! Tränen schossen mir in die Augen. Ich dachte an die Lieben zu Hause, an meine sechs Verhältnisse, besonders an Margot, an meine Freimarkensammlung, an meine Braut, an meinen Teckel Toni, an alles, an dem mein Herz hing. Diese entsetzliche Galgenfrist von 4½ Monaten! Leben mit dieser schrecklichen Perspektive!
Irgendwo auf einer Terrasse eines Cafés m der Rue Cannebière habe ich mich an einem Marmortisch niedergelassen, mein Lungenporträt vor mir ausgebreitet und die schauerliche Zeichnung angestiert und dazu einen Absinth nach dem anderen getrunken.
So bin ich mehrere Tage umhergeirrt im Taumel vieler, vieler Absinthe und hatte das Empfinden meiner Tragödie im Alkohol überschrien. Aber ein großer Kater kam, ein monumentaler, moralischer. Fast mehr über mein würdeloses Benehmen diesem Schicksalsschlag gegenüber. Diese hündische, bürgerliche Angst, diese Hilflosigkeit einer Tatsache gegenüber!
Ich habe mich zu den Philosophen des Ostens und Indiens geflüchtet und habe mich mit meinem traurigen Geschick heldenhaft abgefunden. Ich habe den Willen zum Leben mit dem Gefühl absoluter Wurschtigkeit gegen alles, was das Morgen betraf, erschlagen. Ich habe mir einen Rotstift gekauft und genau nach der Skala und Vorschrift an meiner Lunge abgestrichen.
Ein seltsames, starkes wissenschaftliches Interesse für die Theorie Jean Maurice Ragoût-Fins erwachte und schob die Gedanken an mich selbst völlig in den Hintergrund. So wollte es mir gar häufig erscheinen, als handele es sich überhaupt um einen anderen wildfremden Menschen.
Alle drei Tage ließ ich meinen Rotstift von der Lunge fressen.
Dabei lebte ich intensiv mein Leben, eigentlich glücklicher denn je. Ich trank den Becher bis zur Neige. Das Morgen starb, es lebe das Heute!
Ich hatte noch für etwa drei Wochen Lunge, als ich von meiner entzückenden Freundin Margot aus Deutschland Bescheid bekam, sie würde mich in etwa drei Wochen in Marseille besuchen.
Das durfte nicht sein, daß sie einen Toten vorfand.
Ich fing an, nur jede Woche einmal abzustreichen.
Zwar schlug mein wissenschaftliches Gewissen bei diesem Betrug.
Als Margot kam, hatte ich noch für etwa zehn Tage Lunge.
Sie war schöner und liebenswerter denn je. Meine Philosophie der Negation litt elend Schiffbruch, und eine Gier nach Leben, ein Hunger nach Jahren voll Genießens nahm von mir Besitz.
Ich versündigte mich schwer an der Wissenschaft. Ich habe, als die Lunge abgestrichen war, noch ein Stück angemalt und die Lunge dann immer wieder vergrößert und schließlich, als der Bogen zu klein wurde, neues Papier angeklebt und die Lunge nach Bedarf ausgedehnt.
Schließlich war meine Lunge so groß wie eine Tischplatte und laut Theorie des Doktors Jean Maurice Ragoût-Fin völlig zersetzt.
Und als Margot wir mit einem reichen Amerikaner eines Tages durchbrannte und ich beim besten Willen meine Lunge nicht weiter – aus rein wissenschaftlichem Schamgefühl – mehr zu vergrößern wagte, habe ich mir ein reines Nachthemd angezogen, habe mein Testament gewacht, zwei Kränze an mein Bett gestellt, eine schwarze Schleife an die Tür gewacht, habe mich ins Bett gelegt, die Hände gefallen und den Tod erwartet. Ohne Lunge konnte ich nicht weiterleben. Das war doch klar.
Nach einigen Tagen merkte ich, daß ich nicht tot war und mich in demselben fidelen Zustand befand, der mir unter der Bezeichnung »Leben« bekannt war.
Da bin ich zur Überzeugung gekommen, daß ich ein Phänomen sein müsse: Der Mann ohne Lunge. Etwas noch nie Dagewesenes.
Die Zeichnung Jean Maurice Ragoût-Fins, ergänzt von mir, kann bei mir als Beweis für meine Lungenlosigkeit jederzeit eingesehen werden.