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Es war ein prächtiges Buch mit Goldschnitt und Damasteinband, das in der guten Stube auf dem Tisch lag.
Es war ein sehr langweiliges Buch mit schlechten, sehr schlechten Illustrationen.
Es war der Stolz der ganzen Familie.
Nur der Vater durfte das Buch in die Hand nehmen. An Festtagen setzte sich der Vater sonntagsangezogen in die gute Stube und las der Mutter und den Kindern mit sonorer Stimme und falscher Betonung aus dem feinen Buch vor. Würdevoll und prätentiös wusch er sich vorher die Hände. Häufig unterbrach er das Vorlesen und erklärte die Abbildungen. Die Kinder machten verständige Gesichter und große, kluge Augen; sie kniffen sich heimlich gegenseitig in die Beine. –
Herr Mehlenzell war ein Bekannter des Vaters; er hatte einen Kolonialwarenladen und schrieb an.
Man brauchte viel im Haushalt, und das Gehalt des Vaters war klein.
Herr Mehlenzell bat eines Tages den Vater, er möchte ihm das prächtige Buch leihen. Der Vater erbleichte; er konnte nicht gut »nein« sagen.
»Auf ein paar Tage. – Bestimmt, selbstverständlich haben Sie es nächsten Sonntag zurück,« hatte Herr Mehlenzell gesagt.
Man sprach in der Familie nur über das Buch. Die Mutter meinte, man hätte es ihm nicht geben sollen. Der Vater war sehr ernst. »Bestimmt haben Sie es Sonntag zurück, hat Herr Mehlenzell gesagt,« verteidigte sich der Vater. »Wir wollen sehen,« brummte die Mutter.
Wo das Buch in der guten Stube gelegen hatte, war ein viereckiger Fleck auf der Tischdecke; der Plüsch war da nicht so verschossen.
Der Sonntag kam. Man war schon sehr früh aufgestanden. Es wurde Mittag; Herr Mehlenzell hatte das Buch nicht gebracht. Der Vater saß mit der Mutter in der guten Stube und war sehr ernst. Keinem hatte das Essen so recht geschmeckt. Um die Kinder kümmerte sich niemand. Man ließ sie im Garten über die Bleiche tollen und ungestört die unreifen Stachelbeeren essen. – Der Vater trank eine halbe Flasche Rum. Die Mutter hatte verweinte Augen. Die gute Stube wurde abgeschlossen.
Der Vater wußte Montag und Dienstag im Bett liegen. Die Mutter vernachlässigte den Haushalt. Die Kinder verwilderten.
Hundertundvierzig Mark bekam Herr Mehlenzell noch. Man durfte nicht wagen, ihn an das Buch zu erinnern.
Es war unheimlich im Hause, wie wenn jemand gestorben wäre. Den Vater sah man viel mit der Rumflasche hantieren. Die Familie ging zurück. –
Der dritte Sonntag kam und das Buch war noch immer nicht da.
Es konnte so nicht wehr weiter gehen.
Nach dem Mittagessen schrie der Vater nach seinem schwarzen Rock und den Manschetten, rasierte sich und ging zu Mehlenzells.
Frau Mehlenzell öffnete selbst.
Er fragte nach Herrn Mehlenzell.
Frau Mehlenzell war mürrisch und fragte, was es sei. Ihr Mann wolle nach dem Essen nicht gestört sein; was es sei.
Es sei sehr dringend, er müsse mit Herrn Mehlenzell sprechen, beharrte der Vater.
Frau Mehlenzell ging brummend in ein Zimmer und ließ den Vater auf dem Korridor stehen.
Frau Mehlenzell hatte die Tür nicht fest hinter sich zugemacht. Herr Mehlenzell schimpfte, man solle ihn ungeschoren lassen. Was denn der Hungerleider wolle? Dann wurde von innen die Tür zugeschlagen.
Nach einer Weile kam Frau Mehlenzell zurück; ihr Mann hätte nicht viel Zeit, er möge sich kurz fassen. –
Herr Mehlenzell lag auf dem Sofa und rauchte eine Zigarre. Er stöhnte den Vater an und blieb ruhig liegen.
Er wolle ihm auf die Rechnung etwas abbezahlen, fing der Vater schüchtern an.
Herr Mehlenzell richtete sich auf und bat den Vater, doch Platz zu nehmen; er schob ihm auch das Zigarrenetui hin.
»Über wieviel darf ich quittieren, bitte?«
»Über zwanzig Mark.«
Herr Mehlenzell nahm das Zigarrenetui wieder an sich.
Im Nebenzimmer übte jemand sehr auf dem Klavier.
»… und dann, was ich sagen wollte,« quetschte der Vater hervor, »ich möchte mal nach dem Buch fragen, ob es Ihnen gefallen hat und ob Sie es vielleicht aushaben?«
»Sie wissen doch – das Buch von mir, das schöne Buch, was ich Ihnen vor drei Wochen geliehen habe.«
»Ach so, ja. Jetzt fällt es mir ein. – Ja, wo habe ich das?«
Dem Vater standen dicke Angstperlen auf der Stirn.
»Warten Sie einmal, da muß ich meine Frau fragen. Haben Sie denn das Buch so nötig?«
Herr Mehlenzell verließ murmelnd das Zimmer.
Im Nebenzimmer spielte man zum siebenten Male »Mädchen, warum weinest Du.«
Der Vater ging an die halb geöffnete Tür und schaute hinein. Lenchen Mehlenzell saß am Klavier.
Man hatte auf einen Stuhl Bücher gelegt, damit Lenchen hoch genug saß.
Der Vater war einer Ohnmacht nahe; Lenchen saß auf dem prächtigen Buch!
Der Vater war sonst nicht roh. Er stürzte aus dem Hinterhalt auf das nichtsahnende Kind und warf es von seinem Sitz, ergriff das Buch und floh.
Zu Hause. – Das Buch wurde geprüft, es hatte gelitten. Man hatte auf dem Deckel etwas geschnitten, etwas Fettiges, scheinbar Wurst. Es mußte häufig gefallen sein, die Ecken waren verbogen und die Seiten saßen teilweise lose im Rücken.
Mit zitternder Hand blätterte der Vater in dem Buch.
Seite 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 40 – der Vater wurde stutzig … 41, 42, 43, 44, 13, 14, 15, 58, 59, 60, 61, 16 – der Vater wurde grün im Gesicht … 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 105, 106, 107, 108 – dem Vater fiel sein Glasauge aus dem Kopf … 109, 110 – jetzt wurden die Seiten kleiner, sehr seltsam … 111, 112. Seite 110 schloß »Wanderburschen, wandert zu in die weite Welt hinaus,« und es ging weiter auf Seite 111 »mit der weißen, aristokratischen Hand durch das gewellte Haar und ging erregt auf Leonie zu.« In Vaters Buch kam keine Leonie vor. Der Vater bekam einen eiförmigen Kopf.
Der Vater erschlug die Mutter.
Aus dem Buch fiel eine Ansichtskarte an Frau Mehlenzell aus Saarbrücken und ein Zettel mit den denkwürdigen Worten: »2 Paar Socken, 3 Kragen, 1 Taschentuch, 1 Vorhemdchen, 1 Paar Manschetten.«
Der Vater sprang am Fenster hinaus und brach das Genick.
Die Kinder verdarben. –
Schauderhaft, höchst schauderhaft. –