Maximilian Schmidt
Der Bubenrichter von Mittenwald
Maximilian Schmidt

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IX.

Liesl und Marietta fühlten sich schon nach wenigen Stunden ihres Beisammenseins zu einander hingezogen. Helle Freude leuchtete aus beider Augen. Liesl wußte ihren Bräutigam und Marietta ihren erschöpften Gatten zu Hause in lieber Pflege. Beide beschäftigte nur dieser eine Gedanke, während der Tagesarbeit und am Feierabend, wo sie treulich beisammen saßen und teils dem prächtigen Violaspiele des alten Schändl lauschten, teils selbst einige Volkslieder unter Mariettas Lautenbegleitung sangen.

Liesl gestattete der fremden, jungen Frau, in ein und demselben Heustadel mit ihr das Nachtlager zu nehmen, denn sie betrachtete dieselbe nicht als Dienstboten, sondern als Gast, zum Hause gehörig. Der Mutter wollte dies allerdings nicht passen, aber der Vater war, wie immer, ganz der Ansicht seiner Tochter, denn das Lautenspiel und der Gesang der Fremden flößten ihm großen Respekt ein.

Nach einem gemeinsamen Nachtgebet suchten sie ihr Lager auf. Der hoch am Himmel stehende Mond war ihre Leuchte. Millionen Sterne strahlten hernieder und der Himmel meinte es gut mit der Erde.

Ermüdet von der ungewohnten, anstrengenden Arbeit, lag bald alles im tiefsten, gesündesten Schlaf, der die ganze Nacht hindurch währte und nur allzu bald durch die so sanft klingenden Töne von Schändls Violaspiel unterbrochen wurde.

110 Der alte Mann hatte sich beim ersten Schlag der Bergamsel erhoben und war alsbald hinausgetreten in den taufrischen Morgen. Rosige Wölkchen schwebten ober den felsigen Bergriesen und rings am blauen Firmamente. Von den Firnen leuchtete der Schnee; duftiges dunkles Grün bedeckte die Wände der Vorberge und ein leichter Morgenwind strich durch das Thal und bewegte die Blätter an den nahen Baumgruppen.

Bald erstand über den Soyen und der ganzen Karwendelgruppe ein rosiger Hintergrund, die aschgrauen Spitzen und Schroffen rings umher erschienen in weißrötlichem Lichte. Die Schatten zogen von der Höhe zu Thal, lichter und lichter wurden die Felsenwände, und die Waldberge färbten sich mit bläulichem Duft. Das Gold im Westen wurde intensiver und aus der feurigen Lohe hinter dem Wörnergebirge stieg majestätisch die Sonne empor, begrüßt mit lautem Jubel von den gefiederten Sängern der nahen Waldberge und mit freudigen Juhus von den Mittenwalder Wiesmadleuten, die auf ihrem unermeßlichen Weidgebiete rings herum wie auf den Hochalmen leben. Alles ist voll Leben; Rauch steigt überall auf, und nach eingenommener Morgensuppe und vorausgegangener Andacht beginnt mit fröhlichem Sinn die Arbeit mit der Sense und Sichel. Bei der Kühle des Morgens geht es flink von statten. Je höher die Sonne steigt, desto mehr Schweißtropfen fordert sie von den Schnittern und Trägern, die das getrocknete Heu, in Tücher gebunden, auf dem Kopfe tragend, in die Städel verbringen oder es auf den Wiesmadkarren dahin fahren. Zum Jausen, Mittagessen und Interbrot versammeln sich alle an der Feldküche, und da schmeckt das einfache, ländliche Mahl besser, 111 wie der ausgesuchteste Tisch zu Hause oder im besten Gasthause.

Ganz besonders ist dies am Abend nach gethaner Arbeit der Fall, wenn die Gunst der Witterung der Arbeit Vorschub geleistet und man recht viel Futter unter Dach und Fach gebracht. Dies war auch heute der Fall.

Aber nicht nur Schändls Leute und Marietta hatten wacker zugegriffen, sondern auch ein während des Nachmittags angekommener, freiwilliger Arbeiter, der Zundermichl. Er war heute wirklich nüchtern, denn zu seinem Leidwesen hatte er schon gestern all sein Hab und Gut verzehrt. Als er nun herbeikam, und im Scherz fragte, ob es Arbeit für ihn gebe, antwortete ihm der Geigenmacher im Ernst, daß er sofort das Heu im Stadel eintreten könne und dafür Speis und Trank und auch ein Trinkgeld bekäme.

»Wenn da Tuifi in Not is, frißt er Fliag'n,« sagte der Schlemmer, »und i sehg nit ein, warum i mi nit nützli machen soll auf der Welt für Mensch und Vieh, denn d' Arbeit würzt's Leb'n, wie r da Kalk 'n Brisil.«

Und so ging er sofort an die Arbeit und stampfte, so gut er es vermochte, das Heu zusammen, wodurch es ermöglicht wurde, im Stadel ein viel größeres Quantum unterzubringen, was bei der heurigen reichlichen Ernte sehr wünschenswert war.

Als dann »Feierabend!« gerufen wurde, wischte er sich den Schweiß von der Stirne und lagerte sich vergnügt in der Nähe der anderen zum Abendbrot.

Er hatte seine Botschaft an Marietta, ohne von den anderen beachtet zu werden, angebracht, und die Augen der jungen Frau strahlten vor Freude über das baldige 112 Wiedersehen ihres Gatten. Nur hatte ihr der Zunderer nicht mehr genau erklären können, wo der Franzosensteig sei, da Liesl in die Nähe kam. Der schlaue Fuchs suchte deshalb, sobald sich hiezu Gelegenheit bot, das Gespräch darauf zu bringen.

Dies war der Fall nach dem Gesang eines Tiroler Volksliedes, welches Liesl angestimmt hatte und wobei sich besonders Resei, Schändls Dirn, eine Tirolerin, und ehemalige Sennerin, mit prächtigen Jodlern hervorthat. Aber auch der alte Schändl sang mit großem Wohlgefallen, so gut er es vermochte. Das Lied hieß »Der Jäger von Tirol«, und dessen erster Vers lautete:

»Schaut der Jäger in das Thal
Und sieht den gold'nen Sonnenstrahl,
So denkt er an die Sennerin
Und singt mit frohem Herzenssinn:
Mei' Deandl, wie wird's mir so wohl,
In Tirol,
Auf dem Gebirge von Tirol
Wird mir's so wohl.
Tralala, juh, juh, juh,
Tria holdrium, tria holdrium,
Tralala, juh, juh, juh,
Tria holdrium!«

Der prächtige Gesang hallte in wunderbarer Klarheit durch das Thal, und sein Echo tönte von den Bergen wider, auf denen sich, gleich wie am Morgen, ein violetter Duft ausgebreitet hatte, während die rings darüber ragenden Felsenhäupter in feenhaftem weißrotem Lichte prangten. Besonders herrlich leuchteten die entfernten Tirolerberge in einem förmlichen Alpenglühen.

»Ja, ja,« sagte der Geigenmacher, »auf dem Gebirge 113 von Tirol wird's eam freili wohl, wer's no' vermag, auffi z' kraxeln. Bei mir is's tralarum, aber 's Herz geht mir auf, wenn's so herrli reinleucht zu uns ins Boarnland, als wollt's uns grüaßen und sagen: »D' Boarn- und d' Tirolerberg halten in Freundschaft zam, so lang d' Welt steht, und so lang d' Welt steht, soll aa d' Leut nix mehr ausanander bringa, und in Frieden soll'ns neb'nanand leb'n in guata, treua Nachbarschaft.«

»Glaub's gern, Moasta,« versetzte der Zunderer, »daß's d' Tiroler schätzt's; Oes seid's ja der oanzige gwen anno Neune, dem die Tiroler Landstürmler 's Haus nit plündert hab'n; hab'n sogar an' extrige Schildwach vor Enka Thür g'stellt. I woaß's no' guat, warum dös g'schehn is. Weil's 'n Schmied von Seefeld draus, 'n Gruber Toni, der anno Fünfe als Schützenhauptmann vom Landsturm ganz Mittenwald hat auffressen woll'n, in Enkan Kuhstall versteckt habt's, wie die boarischen Chevaulegers kömma san und d' Tiroler verjagt hab'n.«

»Damit hat's sei' Richtigkeit,« entgegnete der alte Schändl, »und i g'freu mi no' heunt drüber, daß i mein' Freund damit 's Leb'n g'rett't hab. Er is halt aa in die Verhältnis einitrieb'n worn, da muaß ma 's oa und 's ander bedenken. Und doppelt g'freut mi dös Freundschaftsstuck, weil infolg davon anno Neun nit nur mei' Haus vor der Plünderung verschont blieb'n is, sondern der Gruber Toni deshalb aa 'n Mittenwalder Markt vor'm Einäschern bewahrt hat. A jede guate That find't sein' Lohn früher oder später. Dös war mein' Vata sei' Wahlspruch, und dös is der mei' aa, gel, Liesl?«

»Ja, wohl, Vata,« erwiderte das Mädchen, recht wohl wissend, auf was der Alte anspielte, da er ja erst heute 114 morgen eine solche gute That vollbracht. Und da sie wußte, wie gern der Vater von jener für Mittenwald so verhängnisvollen Kriegszeit erzählte, so bat sie ihn, über die vom Zunderer berührte Angelegenheit Näheres mitzuteilen.

Der alte Geigenmacher war mit Vergnügen hiezu bereit und erzählte ungefähr Folgendes:

Als nämlich im Jahre 1805 der Krieg zwischen Oesterreich und Frankreich, mit welch letzterem Lande sich der Kurfürst von Bayern verbunden hatte, aufs neue ausbrach und der österreichische General Mack sich mit der ganzen Armee in Ulm ergeben mußte, gelang es einer Abteilung, der Gefangenschaft zu entgehen und sich durch Bayern über Mittenwald und den Paß ScharnitzDer Engpaß von Scharnitz, etwa zwei Stunden von Mittenwald, an der Grenze zwischen Bayern und Tirol, ward schon von den Römern befestigt. Zur Zeit des dreißigjährigen Krieges ließ hier Claudia von Medici, die Witwe des Erzherzogs Leopold V., eine starke Festung, die Porta Claudia, aufführen, die damals den Schweden wie Franzosen Widerstand leistete. Im spanischen Erbfolgekrieg kam sie in den Besitz der Bayern, die sie zerstörten. Von den Oesterreichern wieder aufgebaut und 1796 verstärkt, fiel sie 1805 durch Umgehung in die Hände der Franzosen und wurde von ihnen und den Bayern so gründlich zerstört, daß jetzt außer einigen Mauern an den Bergabhängen und einer grasbewachsenen kleinen Schanze im Thal nichts mehr zu sehen ist. nach dem zwei Stunden von da entfernten Dorfe Seefeld zurückzuziehen.

Scharnitz war damals ohne Besatzung, nur der Major und Festungskommandant Swinnburne, ein geborener Engländer, und drei Kordonisten lagen in der Festung. Sie hatten nicht eine einzige Kanone zur Verfügung. Als die 115 flüchtigen Oesterreicher hindurchgezogen waren, ließ Swinnburne die Brücke aufziehen und das Wasser in den Graben laufen; zugleich schickte er nach Innsbruck um Geschütze und Mannschaft. Es kamen auch alsbald tausend Mann und zehn Kanonen, welche auf die Pässe Scharnitz und Leutasch verteilt wurden. An der Spitze zweier Schützenkompagnien standen der Chirurg Anton Seeger und der Schmied Anton Gruber von Seefeld.

Dieser letztere, dem seine Würde als Hauptmann alsbald zu Kopf gestiegen war und dem das Soldatenspiel besser gefiel als das Hufnägeleinschlagen bei den Fuhrmannsgäulen, unternahm sogleich einen Streifzug nach Mittenwald und mancherlei andere Dinge.

Der Posthalter Schorn berichtete diese Bedrängnis nach München, und es kam sofort Hilfe. In den letzten Tagen des Oktobers sprengte früh morgens um fünf Uhr plötzlich ein Kommando bayerischer Chevaulegers gegen Mittenwald heran. Hauptmann Gruber schlief noch ruhig in seinem Quartier, als bereits einige österreichische Soldaten und Milizen mit den Bayern scharmützelten. Durch diesen Lärm erwachte endlich Gruber aus seinem Schlaf, und Säbel, Stutzen, Geld und Stiefel zurücklassend, flüchtete er eiligst aus seinem Quartier zu seinem früheren Freunde, dem Geigenmacher Schändl, ihn um Gottes willen um Hilfe bittend. Als dieser nicht sofort einen Ausweg wußte, wies ihn dessen Sohn, nunmehr Liesls Vater, nach dem Kuhstall, in welchem sich der tapfere Hauptmann unter einer Kuh so lange versteckt hielt, bis ihn der junge Schändl durch die hintere Thüre hinaus ließ, worauf er den Bergen zulief, und so glücklich entkam. Für seine 116 glückliche Rettung aus Feindeshand ließ er in der heiligen Blutskapelle zu Seefeld einen feierlichen Gottesdienst halten.

Nun aber rückte auch Marschall Ney mit großen Massen heran und schlug am 3. November die Richtung gegen die Festung Scharnitz ein, die von ihm vergeblich zur Uebergabe aufgefordert wurde. Die Besatzung machte sogar einen Ausfall und drängte die Franzosen nach Mittenwald zurück. In allen Thälern am obern Inn ertönte die Sturmglocke, um den Landsturm aufzubieten. Im Eilmarsch kamen sechs Kompagnien Militär und sechs Kanonen aus Innsbruck zur Verstärkung des Passes. Der Landsturm der Oberinnthaler zog in einer Stärke von sechshundert Mann unter Kommando des Hauptmanns Seeger, des Baders von Seefeld, von hier in die Leutasch, wo Major Kraus und zwei Geistliche, Kurat Johann Nepomuk Müller und Frühmesser Bartholomäus Glatz, kommandierten und sich zwei Kompagnien Militär, drei Kanonen und eine Haubitze befanden.

Am Alpelberge, auf dessen Kamm die Grenze zwischen Bayern und Tirol sich hinzieht, stand ein aus vierzehn Mann bestehendes Piket des Tiroler Landsturms. Dieses schickte um neun Uhr morgens eine Ordonnanz von der Spitze des Berges zu Major Kraus mit der Meldung, der Feind ziehe in großer Anzahl von Mittenwald gegen den Fußsteig, welcher gegen das Alpel führe, und bat um Verstärkung. Aber Kraus hielt einen Angriff von dieser Seite nicht für möglich und glaubte, der Feind müsse den Paß von der Front angreifen. Auf eine abermalige Bitte um Verstärkung entgegnete er zornig:

»Verstehen denn die Bauern den Krieg besser als ich? Ich schicke keinen Mann und werde die nächste Ordonnanz, 117 die wieder mit einem solchen Gesuche zu mir kommt, auf der Stelle erschießen lassen!«

So mußte sich das Piket feuernd vor den einzeln heraufklimmenden Franzosen zurückziehen. Eine einzige Kompagnie wäre imstande gewesen, auf diesem Posten eine ganze Armee auszuhalten, denn der Weg, auf dem die Franzosen heraufkamen, war so steil, enge und abschüssig, daß eine entsprechende Anzahl Verteidiger, die auf dem Kamme des Berges eine günstige Stellung einnehmen konnten, den nur mühsam aus der Tiefe heranrückenden Feind in leichter Weise vernichten konnten.

Als Führer auf diesem Steig, seit jener Zeit »Franzosensteig« genannt, dienten den Franzosen Forstleute von Mittenwald. So kamen jene unter dem Befehle des Generals Loison den vor der Leutasch postierten Truppen in den Rücken, die nach langer und heftiger Gegenwehr in der Schanze kapitulierten. Loison stellte dann seine Truppen im Leutaschthal auf, um mit ihnen über Oberleutasch und Seefeld der Festung Scharnitz in den Rücken zu fallen. Inzwischen rückte Marschall Ney mit seiner ganzen Armee und zahlreichem Belagerungsgeschütz von Mittenwald gen Scharnitz, um die Festung mit Sturm zu nehmen. Die tapfere Besatzung schlug den Sturm dreimal ab, und mit großem Verlust, der besonders durch die am sogenannten Brunnensteineck herabgeschleuderten Steine und Schüsse verursacht wurde, wobei die Weiber den Tirolern ausgiebige Dienste leisteten, mußte sich der Marschall wieder nach Mittenwald zurückziehen.

Swinnburne suchte sich, als er die Vorfälle in der Leutasch erfuhr, mit seinen Leuten durch Loisons Armee 118 durchzuschlagen, was aber mißlang. Er wurde mit den Seinigen bei Seefeld gefangen.

Loisons Truppen öffneten hierauf dem Marschall Ney die Thore der Festung, vor welcher er wieder am frühen Morgen mit zwölftausend Mann erschienen war.

Zu den Gefangenen in Seefeld sagte er:

»In Scharnitz habt ihr euch tapfer gewehrt, aber ihr seid wohl dumme Bauern. Was geht denn die Bauern der Krieg an? Damit ihr aber seht, daß wir besser sind als ihr, so habe ich Befehl gegeben, die Gefangenen freizulassen.«

Die Festungswerke in Scharnitz wurden zerstört, und damit war die Insurrektion anno 1805 in Tirol unterdrückt.1809 wiederholten sich die Kriegsdrangsale in Mittenwald und die Kämpfe an der notdürftig wieder hergestellten Befestigung des Scharnitzpasses, dessen Kommandant der Gruber-Toni, der Schmied von Seefeld, war und welcher sich mit seinen Leuten flüchtete, als die Bayern anrückten.

Der Marsch über den Franzosensteig hatte wohl am meisten zur raschen Beendigung des opferreichen, blutigen Kampfes beigetragen, und er bildet noch heutigen Tages für die beiden Länder ein großes, historisches Interesse.

Aber auch für Marietta hatte dieser Gebirgspfad jetzt ein hohes Interesse, und sie fragte, sobald der alte Geigenmacher seine Erzählung beendet, ob der Steig weit entfernt sei.

»Bewahr Gott!« antwortete der Zunderer rasch. »Am Ferchensee draus, ganz unt', dann rechta Hand auf die hohen Tannen zua, in der Richtung gen 'n Grünkopf, durt, der Berg, der so blau herschaugt – ebba a 119 Viertelstund von da.« Und da Marietta aufmerksam nach der angezeigten Richtung blickte, glaubte der heute überaus pfiffige Alte die Aufmerksamkeit der anderen von Marietta ablenken zu müssen, indem er rief: »Höllseiten! Ueber die durtmalige G'schicht in der Leutasch und Scharnitz und aa über 'n Gruber-Toni existiert ja no' an' alt's Liad, dös i kann. Es is dös oanzige, dös i no' nit vergessen hon. I woaß's an, wer's g'macht hat, seinerzeit: die alt Blasi-Nandl. Is's nit a so, Moasta?«

»Ja freili',« rief der Geigenmacher, »der alten Nandl ihra Liad, wer sollt dös nit kenna? Dös paßt grad auf unsern Dischkurs über diesel Kriegszeit. Dös wird g'sunga mit Violabegleitung.«

Und alle stimmten in das Mittenwalder Volkslied vom Jahre 1805 ein, dessen Text lautet:

Mittenwalder.
        O Jammer, o Elend und Schricken,
Jetzt rucken die Franken schon an
Mit Bomben, Kartätschen und Stücken,
Mit zwanzigtausend Mann.

Und steht ihr auch wacker auf den Mauern,
Und machet euch fertig zum Streit,
Tyroler, ihr seid zu bedauern – –
Die Franken sind rüstige Leut!

 
Tiroler.
O, lasset die Franken nur kommen!
Wir Tiroler, wir sind auch nicht lahm,
Wir haben auch Stücke und Bommen,
Wir schießen sie alle zusamm'.

Dann holen wir unsere Weiber,
Stellen sie aufs Brunnensteineck,
Wir wehrn uns wie gen Mörder und Räuber,
Die Franken, die müssen uns weg. 120

 
Mittenwalder.
So g'schwind wird die Sache nicht gehen,
Tyroler, das bild't euch nicht ein.
Leicht kann es wohl noch geschehen,
Daß ihr schleicht in die Seitenweg' ein.

Dann seid ihr ja alle gefangen,
Die Franken, die sind wohl nicht feig,
Tyroler, es wird euch bald bangen:
Die Bayern, die wissen den Steig.

 
Tiroler.
Was kann es den Bayern auch nützen?
Es wird ihnen kosten viel Müh'.
Wir sind doch die tapferen Schützen
Und verstecken uns gleich hinter d' Küh'.

Den Hauptmann, den sieht man schon laufen,
Weil Kugeln jetzt kommen daher.
O Himmel, jetzt geht es zum Raufen,
Wir haben kein' Hauptmann nicht mehr.

 
Franken.
Ihr Bayern, seid fröhlich und munter,
Wir Franken, wir haben's vollend't.
O, Schützen, euer Prahlen geht unter,
Das Blättl, das hat sich gewend't.

Gleich zu Anfang des Gesanges hatte sich Marietta entfernt. Man achtete nicht auf sie und glaubte, sie hätte sich, ermüdet von der Arbeit, in den Heustadel begeben. Sie aber eilte gleich einem flüchtigen Reh, sich möglichst hinter Baumgruppen und Gesträuch deckend, der Richtung gegen den Franzosensteig zu, wie sie ihr der Zunderer gezeigt. Sie hatte alsbald den Ferchensee erreicht, in welchem das Abendrot wie flüssiges Gold schimmerte, und als sie denselben hinter sich hatte, und nun dem rechtsseitigen Berge zueilte, erblickte sie alsbald den mit Sehnsucht ihrer harrenden geliebten Mann.

121 Weinend und lachend zugleich warf sie sich an seine Brust, und sie vermochte nichts zu sprechen als:

»Jakobo, mein Jakobo! Du mich holen zu deiner Mutter, nicht wahr? Mich nicht mehr verlassen?«

Der Lautenmacher drückte sie gerührt an sich und blickte mit unendlicher Liebe in die ihm so teuren Züge. Dann ließen sich beide auf einen Baumstamm nieder. Die zweitägige Trennung dünkte beiden eine Ewigkeit gewesen zu sein.

»Ach, Jakobo, lieber im Elend bei dir sein, als im Ueberfluß ohne dich leben!« rief Marietta.

So war es auch dem Mann ums Herz. Die Wanderung mit dem geliebten Weib auf der Landstraße erschien ihm golden gegen die Aufregungen der zwei Tage in der Heimat. Aber noch konnte er seinen und Mariettas Herzenswunsch nicht erfüllen. Er wollte seine Verehelichung so lange als Geheimnis betrachtet wissen, bis er seine Schuld an Schändl wenigstens teilweise abgetragen. Er hoffte dieses aus dem Gewinn, den ihm seine Schwärzerei eintrug, bewerkstelligen zu können. Außerdem versprach er sich von dem nächsten Bubengericht als Resultat, daß ihn die schwarze Liesl ohnedem nicht mehr als Hochzeiter begehren würde und so die Trennung von selbst erfolgen müßte.

Er teilte demnach Marietta seinen Plan mit, demgemäß sie diese Woche über noch auf der Wiesmad verbleiben, Samstag abends aber ins Leutaschthal gehen solle, vorgeblich, um ihren kranken Mann dort zu besuchen. Er wolle in der Leutaschmühle bei der ihm befreundeten Müllerin das weitere veranlassen. Am Samstag gegen Abend würde wieder ein Bote erscheinen, um sie auf dem 122 wenigst beschwerlichen Weg in die Leutasch zu bringen. Er selbst werde am Sonntag nachmittag zu ihr kommen und das Nötige mit ihr besprechen.

Das war nun freilich nicht nach Mariettas Sinn. Sie weigerte sich anfangs geradezu, nochmals von ihm zugehen.

»Du willst mich verleugnen!« rief sie; »du dich schämen über mich! Aber ich werde nicht überleben, ich werde Tod suchen im Wasser dort.«

»Dös ging mir grad aa no' ab!« entgegnete Jakl. »I hon eh nimmer weit zum narrisch wern, Marietta, sei g'scheit! Mei' Vorteil verlangt's, daß d' no' bis zum Sunnta von mir entfernt bleibst. Is dir d' Arbet z' viel auf der Wiesmad, so kannst glei morg'n in d' Leutasch – i werd alles für di richten.«

»O nein, mir nie Arbeit zu viel! Arbeit freut mich, besonders mit Liesl; sie spricht so schön von dir, nennt dich den besten, schönsten Mann und lobt dich, daß ich werde bald eifersüchtig.«

»Dazua hast koan Grund,« versetzte Jakl, »g'wiß nit. Nur den G'fall'n thua mir und verrat der Liesl nit, daß du mei' Wei' bist. Gar neamd därf bis zum Sunnta davon wissen, gar neamd! Vertrau mir nur, i mach's scho' recht. I woaß mir ja aa koa höhers Glück, als wieder bei dir z' sein und der ganzen Welt sagen z' dürfen, daß du mei' liab's Weiberl bist.«

Bei diesen Worten drückte er die Weinende zärtlich an sich. Da war es ihm, als hörte er oben auf der nahen Ferchenseewand ein schallendes Gelächter. Aber während er noch aufmerksam zu den Felsen aufschaute, ließen sich von Schändls Wiesmad her mehrere Rufe vernehmen.

Liesl und die Dirn waren nämlich, sobald sie 123 Mariettas Abgang bemerkten, ausgezogen, sie zu suchen, denn sie konnte, unbekannt mit der Gegend, leicht verunglücken. Sie erfuhren durch einen Holzarbeiter, daß er die Frau in der Richtung gegen den Franzosensteig gesehen, und sofort nahmen auch sie den Weg dahin und huppten, um durch Mariettas Gegenruf auf ihre Spur zu kommen. Jakl nahm deshalb Abschied von seinem Weibe, veranlaßte sie, zur Wiesmad zurückzueilen und bat sie, diese Zusammenkunft geheim zu halten. Er versprach ihr, daß dies der letzte Abschied sein solle und daß sich in der nächsten Woche alles anders gestalten werde.

Es fiel diesmal dem jungen Weibe unendlich schwer, dem Manne gehorsam zu sein, aber sie konnte seinen Bitten nicht widerstehen. Schmerzbewegt riß sie sich von ihm los und suchte, wie taumelnd, den Weg zu Schändls Wiesmad zurück.

Jakl sah ihr nach, bis sie seinen Augen entschwunden war. Da hörte er hinter sich ein Geräusch, und er erschrak fast, die schwarze Liesl vor sich zu sehen.

Auch Liesl erschrak, aber aus Freude über dieses unerwartete Wiedersehen des Freundes.

»Jakl,« rief sie, »grüaß di Gott! Hat's mir heunt scho' den ganzen Tag g'ahnt, daß wir di als liaben Hoagast auf unser Wiesmad krieg'n. Du bist do' auf'n Weg zu uns, gel? Und wie prächti daß d' aussiehgst heunt, weil's d' die langa Haar und den langa Bart nimmer hast.«

Jakl, erst verlegen, fand durch diese Ansprache des treuen Mädchens seine Fassung wieder; doch fiel es ihm schwer, den treuherzigen Blick desselben auszuhalten.

»I bin dir so viel Dank schuldi, Liesl,« versetzte er, »daß i schier nit woaß, wie r i damit firti werd'.«

124 »Ge zua, wer red't denn von Dank? 's Best', was d' hast, dös hast mir ja scho' geb'n, und selm der Himmi könnt mir nix Bessers geb'n als a liab's Menschenherz, als dei' Herz. Und gel, dös g'hört mir in alle Ewigkeit?«

»Liesl,« entgegnete der junge Mann, »i bin di ganz g'wiß nit wert. I steh so tiaf unter dir, daß –«

»So tiaf,« fiel Liesl lachend ein, »daß die schwarz Liesl nix Schöners wünscht, als in die Tiafen von dir awisinken; oder kehr'n ma 'n Stiel um und sag'n ma, du stehst so hoch für mi, daß i mir einbild, i bin im Himmi ob'n, wenn's d' mi zu dir auffihebst.«

»O, Liesl, wenn 's d' wüßt, was mir im Kopf umgeht –«

»Dös kann i mir denken. Es taugt dir nit, daß der Vata die Sach g'richt hat. Aber i bitt di – dei' Ehr is mei' Ehr, und dei' Schand is mei' Schand.«

»Na', na', Liesl, a so is 's nit.«

»Grad a so is's!« erwiderte das Mädchen bestimmt; »aber geh jetzt mit zu die Eltern.«

»Für heunt nit, Deandl; i muaß heunt no' über'n Steig in d' Leutasch ummi. Durt hintern 'n Baam steht mei' Butten. I hon an' kloan Handel.«

»So fangst schon wieder an, di z' plag'n?« versetzte das Mädchen; »statt daß d' a weng ausrast und di erholst. So wärst nit meinthalb'n daher kemma an 'n Ferchensee, um mir Grüaß Gott z' sag'n?« setzte sie etwas verstimmt hinzu.

Das Huppen der Dirn in nächster Nähe ersparte dem Manne die Antwort, um welche er ohnedies verlegen war.

»Es kimmt wer,« sagte er ausweichend.

»'s is nur unser Dirn, 's Resei; wir suachen d' 125 Marietta. Sie is alloa furt, da awa, glaub i, und leicht kunnt sie si vergehn; es fangt scho' an, dämmeri z' wern. Gehst nit mit zu die Eltern?«

»Heunt nit; es wird mir z' spät; an' andersmal.«

»Wann? Morg'n?«

»I woaß 's nit, wann mei' G'schäft firti wird, aber i kimm. B'hüat di Gott für heunt, Liesl.«

»Liesl!« rief jetzt die Dirn abermals.

»Bin scho' da!« antwortete diese. Zu Jakl aber sagte sie: »B'hüat di Gott! 's war mir a große Freud, daß i di g'sehn hon. Kimm bald zu uns. Glück auf 'n Weg!«

Einen Moment verharrte sie noch. Sie meinte, es müßte sie der Geliebte an sein Herz ziehen; aber dieser sagte nur mit zärtlichem Ausdruck:

»B'hüat di Gott!«

Liesl eilte nun zu der Dirn, welche keine Ahnung von der Nähe Jakls hatte. Sie teilte ihr mit, daß sie Marietta auf die Wiesmad habe zurückkehren sehen.

Schweigend und in Gedanken vertieft, schlug Liesl mit der Begleiterin nun ebenfalls den Weg dorthin ein.

Jakl aber setzte sich auf einen Baumstamm und verhüllte sein Gesicht mit beiden Händen.

So fand ihn der herankommende Zundermichl.

Gleich darauf wanderten beide, der eine als Führer, der andere als Pascher, auf dem Franzosensteig über die Grenze von Tirol. 126


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