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Einige Tage später herrschte lebhaftes, lärmendes Drängen in dem Hafen einer nördlichen deutschen Seestadt. Ein großes Segelschiff sollte vor dem vollen Hereinbrechen des Winters die letzte Fahrt in die neue Welt unternehmen. Mannschaft und Reisende hatten Gepäck und Habseligkeiten schon längst an Bord gebracht und eilten nun von allen Seiten der Hafenmauer zu, von der mächtige Steinstufen zu den Booten hinunterführten, welche die Passagiere nach dem Schiffe bringen sollten, das in einiger Entfernung auf den grünen, weißgekrönten Wellen leicht schwankte, die hier und da einzeln von der hohen See in den Hafenraum eindrangen, an die Schiffswände schlugen und klatschend an den riesigen Quadern des Dammes emporspritzten. Ueber den Hafen hinaus war die See in frischer, majestätischer Bewegung; noch war sie nicht furchtbar, aber mit finsterem Ernst rollten die wechselnden Wellenhügel heran und schon in der Entfernung von einigen Schußweiten senkte sich ein graues Gewölk herab, als ob die Wasser des Himmels mit denen der Erde zusammenfließen wollten. Auf dem dunkeln Wolkengrunde aber blitzten hier und da die weißen Flügel von rasch niederschießenden Möven, denen die bewegte Luft weit mehr behagte als den Reisenden, die, der See ungewohnt, sich davon einen nicht eben angenehmen Anfang ihrer Fahrt versprachen.
Auf dem Damme, zunächst an den Stufen, hatte sich eine Familie auf ein paar einfachen Holzkisten gelagert. Sie war später gekommen als die Uebrigen, und eben tanzte unter den kräftigen Ruderzügen von vier Matrosen das Boot heran, das sie an Bord bringen sollte.
Es war Meister Rempelmann, der Schuster, mit den Seinigen.
Der Mann hatte eben den Verschluß der Kisten noch einmal vorsichtig geprüft und stand jetzt nachdenklich dem Boote entgegenschauend, neben ihm, an seinen Rock sich anklammernd, sein Knabe mit Augen voll furchtsamer Neugier. Die Frau saß auf den Kisten, in Schooß und Arm das kleinere Mädchen haltend, welches sein Gesicht, um dem Anblick des Meeres zu entgehen, an ihrer Brust versteckt hatte und darüber eingeschlafen war. Der Wind spielte mit den Haaren der Frau, die an einer Schläfe losgegangen waren. Sie bemerkte es nicht und starrte unbeweglich in die weite graue See mit Augen, so trüb und naß, als ob sich das Bild derselben darin spiegelte.
»Siehst Du«, sagte der Meister zum Buben, »das große Schiff dort mit der roth- und weißgestreiften Fahne und mit den Sternen darüber? Das ist das Schiff, auf dem wir in die neue Welt fahren.«
»Wo ist denn die neue Welt, Vater?« fragte der Bube. »Ich sehe sie ja nicht.«
»Dort über dem großen Wasser«, antwortete Rempelmann. »Wir müssen drei Wochen lang Tag und Nacht fahren; dann sind wir erst dort.«
»Vater, ich fürchte mich vor dem großen Wasser«, sagte der Knabe, seine Hand fester fassend und sich an ihn drängend. »Bleiben wir lieber da! Warum gehen wir denn in die neue Welt?«
Der Meister versuchte über die Rede des Knaben zu lächeln, aber es gelang ihm schlecht; denn sein Blick traf die Frau, in deren umflorten Augen die nämliche Frage stumm zu lesen war. »Warum wir in die neue Welt gehen?« sagte er nach kurzem Innehalten und wie zur Antwort für beide. »Das will ich Dir einmal ausführlich sagen, wenn Du ein paar Schuh größer geworden bist und Dein erstes Paar Stiefel vom Leisten nimmst. Dann erst wirst Du's begreifen. Wir gehen in die neue Welt, weil ich Dein Vater bin und weil ich nicht haben will, daß einer einmal die Achseln zucken kann, wenn Du von mir redest. Und wir gehen auch, weil mir die alte Welt verleidet ist. Ich hatte gemeint, wenn ich wieder frei wäre, würde ich vergessen können, was geschehen ist,« aber ich kann es nicht. So lustig ich mich wieder über die Arbeit hergemacht habe, es war mir immer, als ob einer hinter mir stünde und mir über die Achseln hereinsähe und heimlich zurief: Du plagst Dich doch umsonst; den Schandfleck bringst Du doch nicht mehr von Dir. Da hat mich die Arbeit nicht mehr gefreut, und wenn ich nicht fort wär', ich glaub', ich wär' ein Lump geworden. Drüben aber, da soll's wieder so flink gehen wie sonst. Für uns ist's ja keine neue Welt, weil wir die alte mit hinübernehmen! Wir bleiben ja bei einander, nicht wahr, Grete?« Er faßte sie mit der Hand am Kinn und wischte ihr ein paar große Thränen ab, die ihr über die Backen liefen. »Nicht wahr, Alte«, fuhr er dann fort, »oder fürchtest Du Dich auch vor dem großen Wasser?«
»Lach' mich nicht aus, Mann!« erwiderte die Frau mit einem Seufzer. »Ja, ich fürchte mich. Es kommt mir schrecklich vor, daß ich drei Wochen lang mich so zwischen Himmel und Wasser hintreiben lassen soll, wo wir nichts unter uns haben als ein paar dünne Breter, und unter denen ist der Abgrund. Ich darf gar nicht daran denken! Aber Du willst es so; Du bist der Mann. Wo Du bist und meine Kinder, da ist meine ganze Welt, die alte und die neue dazu.«
»Recht so, Grete!« sagte Rempelmann herzlich. »Soll Dich auch nicht reuen! Ich will drüben bald wieder ein tüchtiges Geschäft auf dem Strumpfe haben. Es heißt ja, wer arbeiten kann und will, der lebt in Amerika wie der Vogel im Hanfsamen; darauf läßt sich Meister Rempelmann finden; also kann's uns nicht fehlen. Und wenn's uns schwer ankäme, dann muß man's machen wie allemal im Leben: wenn man mit seinem eigenen Loos zufrieden sein will, muß man an solche Leute denken, denen es noch viel schlechter und trauriger geht, und dann ist man immer gleich wieder mit dem zufrieden, was man hat! Wir gehen doch frei und ungehindert und freiwillig fort, und kein Mensch kann uns was anhaben. Nicht alle haben's so gut und Mancher muß sich wegstehlen wie ein Dieb bei der Nacht und hat kein Handwerk gelernt, auf das er sich in der neuen Welt so gut verlassen kann wie ich auf meine Schusterei. Da guck' einmal die Straße hinunter, dort gegen die Stadt hin, zwischen den Landhäusern und Gärten! Siehst Du den Herrn, der da herankommt? Er kommt mir mit sammt seinem Bedienten so bekannt vor, als hätt' ich ihn schon oft gesehen, und ich weiß doch nicht recht, wo ich ihn hinthun soll. Das, glaub' ich, ist einer, mit dem's nicht recht richtig ist. Er fährt mit uns auf unserem Schiff; da werden wir wohl Zeit haben, dahinterzukommen. Jetzt aber wollen wir gehen und ihm nicht in den Weg kommen; man muß unglücklichen Leuten nicht aufdringlich sein.«
»Ahoi! Wie lange soll's noch dauern?« rief eine derbe Stimme die Stufen herauf, und ein schwerer eiserner Bootshaken an einer langen Stange schlug auf das Steinpflaster nieder, daß die Funken davon sprühten und der Knabe erschreckt beiseite sprang. »Wenn Ihr Passagiere seid, die mitwollen nach New-York, so sputet Euch! Die Fair-Helen hat schon klar gemacht und wird nicht lange auf Euch warten.«
Eilfertig stiegen der Meister und die Seinigen die Treppe hinab, während die Matrosen das Gepäck hinunterschafften.
»So«, rief der Meister, »ich setze mich in die Mitte, Du, Grete, mit dem Mädel links und Du, Kleiner, rechts! Habt keine Furcht und haltet Euch nur fest an mich an! Dann thut Euch das bischen Schaukeln von den Wellen nichts zu Leide.«
Der Schuster war nicht der Einzige gewesen, welcher die auf der Straße Herankommenden bemerkt hatte. Seit geraumer Zeit bereits schritten auf dem Hafendamme zwei Männer hin und wieder, denen selbst der etwas unangenehme Seewind den luftigen Spaziergang nicht zu verleiden schien. Sie waren in ein eifriges und angelegenes Gespräch vertieft. Dennoch fanden sie von Zeit zu Zeit Muße genug, den Weg nach dem Hafen zu überblicket, daß es wohl keinem Menschen gelungen wäre, auf demselben unbemerkt heranzukommen. Wären nicht alle, die zum Hafen eilten, mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen, so hätte es dem einen oder andern kaum entgehen können, daß an der Hafenecke, wo der Strand längs einer Gartenmauer hinlief, über welche laublose Bäume herübersahen, sich von Zeit zu Zeit die Gartenthür halb öffnete und in derselben einige Männer sichtbar wurden, welche unverkennbar zu den beiden Spaziergängern gehörten und nur ein Zeichen abzuwarten schienen, um zu ihnen zu stoßen. Jetzt waren die Beiden wie zufällig an der innern Ecke der Dammtreppe angelangt. Der Matrose, welcher mit dem Boote eben abstoßen wollte, gewahrte sie. »Ahoi!« rief er. »An Bord, was noch mit der Fair-Helen in See will! In einer halben Stunde geht's dahin.«
»Wir wollen allerdings noch auf die Fair-Helen«, sagte der eine der Männer, »aber Ihr müßt warten; wir haben noch Geschäfte.«
»Hat sich was zu warten«, lachte der Matrose. »Kapitän Wulster wird gleich bereit sein, ein paar Stunden todt zu liegen! Da gelten keine Geschäfte, Herr, wenn einmal der Anker aufgewunden wird. Also frisch herein, oder ich stoße ab!«
»Halt' immer noch eine Weile an, Klas!« erwiderte der Mann. »Meine Geschäfte gehen doch vor, und wenn Du mich nicht kennst, so höre, daß mich die Polizeiherren geschickt haben! Ich habe noch etwas auf dem Schiffe zu besorgen, und ehe ich nicht die Erlaubniß dazu gebe, verläßt die Fair-Helen den Hafen nicht.«
»Daß Dich ein Wetter erschlage!« brummte der Matrose. »Der Kapitän wird nicht übel loslegen, wenn er den conträren Wind spürt.«
Meister Rempelmann aber nickte seinem Weibe zu, als wenn er sagen wollte: Siehst Du, wie gut wir's haben? Um uns kümmert sich Niemand.
»Sie sehen, Excellenz«, sagte der Mann, indem er den Kragen seines Mantels höher hinaufzog, »daß wir Alles thun, was in unsern Kräften steht; aber mehr sind wir wirklich nicht im Stande.«
»Ich werde nicht verfehlen«, entgegnete der andere Mann, der einen feinen, kostbaren Pelz trug, »gehörigen Orts die Bereitwilligkeit des Senats gebührend hervorzuheben. Aber was Sie mir zugesagt haben, ist bis jetzt nur halb geschehen. Die Wünsche meiner Regierung sind nicht vollständig erfüllt, wenn der flüchtige Verbrecher nicht festgenommen wird.«
»Ich bedaure«, entgegnete der Beamte, »aber Sie kennen die Ansichten des Senates. Wir sind eine freie Stadt, welche in den meisten Fällen Flüchtlingen aller Art eine Zufluchtsstätte gewährt; eine Verletzung dieser Grundsätze würde einen ungeheuren Sturm des Unwillens und vielleicht ernstliche Ruhestörungen hervorrufen, Es ist daher unerläßlich, daß Sie uns eine ganz bestimmte und unausweichliche Aufforderung Ihres Souveräns oder einen Befehl Ihrer Gerichte übermitteln.«
»Aber wozu das?« rief der Andere. »Ich habe mich urkundlich und in jeder Weise als den Minister Seiner Durchlaucht meines gnädigsten Herzogs ausgewiesen. Setzen Sie Bedenken in mich oder zweifeln Sie an meiner Vollmacht?«
»Das würde mir nicht zustehen«, erwiderte der Beamte mit artiger Ergebenheit, aber bestimmt. »Ich habe auch nicht zu entscheiden, sondern nur den Verhaltungsbefehlen nachzukommen, welche mir gegeben sind. Den Polizeiherren sind die von Excellenz gegebenen Anhaltspunkte nicht genug; sie bestehen darauf, daß nur infolge eines ganz ausdrücklichen und bestimmten Verlangens Ihres Herzogs auf die Festhaltung und Auslieferung des Flüchtlings, den Sie uns bezeichnet haben, eingegangen werden könne. Alles, was ich konnte, und vielleicht mehr, als ich sollte, besteht schon darin, daß ich Ihnen zusagte, die Abfahrt des Schiffes, auf welchem der Gesuchte sich befinden soll, um einige Zeit zu verzögern.«
»Gut, so muß ich mich zufrieden geben«, sagte Schroffenstein. »Ich habe bereits an den Herzog telegraphirt, ihm meine Entdeckung angezeigt und um seinen Befehl gebeten.«
»Schön«, sagte der Beamte, indem er seine Uhr hervorzog. »Es ist jetzt neun Uhr. In drei Stunden längstens kann telegraphische Rückantwort da sein; trifft bis dahin eine solche und zwar eine förmliche Requisition zur Verhaftung nicht ein, so muß ich Mann und Schiff reisen lassen. Vielleicht sind wir indessen so glücklich, Ihnen in der andern Angelegenheit besser dienen und Ihnen auf die Spur der Dame verhelfen zu können, welche Sie ebenfalls suchen.«
»Dadurch würden Sie mich allerdings zu noch wärmerem Danke verpflichten«, rief Schroffenstein. »Ich gestehe Ihnen ganz unumwunden, daß diese Angelegenheit mir fast noch mehr am Herzen liegt als die andere, denn die junge Dame, die sich von jeher durch sonderbares, überspanntes und excentrisches Wesen ausgezeichnet, gehört leider zu meiner Familie. Durch besondere Ereignisse, namentlich den Tod ihres Mannes, der von einem rebellischen Pöbelhaufen vor ihren Augen ermordet wurde, hat sich das in so hohem Grade gesteigert, daß zeitweise vollständige Geistesstörung eintritt, in welcher sie die verkehrtesten Dinge treibt, große Theile des ihr nicht gehörigen Vermögens verschleudert und sich der Aufsicht Ihrer Angehörigen entzieht, um auf die tollsten Abenteuer auszugehen. Im Interesse meiner Familie ist es mir das Wichtigste, sie zu finden, und ich verhehle nicht, ihretwegen bin ich eigentlich hierher gekommen und war dabei nur noch zufällig so glücklich, die Spur des entlaufenen Hochverräthers zu entdecken. Wenn es mir nun gelänge, meine unglückliche Verwandte aufzufinden, so würde ich das ungeheuer hoch anschlagen, nicht nur um die Ehre der Familie zu wahren, sondern noch mehr, um für die Wiederherstellung der Unglücklichen sorgen zu können! Ich bin Ihnen daher in hohem Grade verpflichtet, daß Sie mir zu diesem Zwecke gleich eine so ausgezeichnete Gelegenheit bezeichnet haben.«
»Allerdings«, sagte der Polizeimann, indem er nach dem Gartenhause hinüberblickte, »die Irrenanstalt des Doctor Wernhold ist in jeder Hinsicht eine musterhafte zu nennen, die arme Dame wird in den besten Händen sein und die Leute des Doctors werden die zarte Angelegenheit gewiß in der schonendsten Weise vollführen. Noch aber, ich verhehle es Ihnen nicht, sind meine Hoffnungen gering. Excellenz wissen, daß bereits seit gestern alle unsere Spürorgane in Bewegung sind, daß aber bisher alle Bemühungen vergeblich waren, und ich befürchte ernstlich, daß Sie sich auf falscher Fährte befinden.«
»Das bin ich nicht«, sagte Schroffenstein. »Ich habe ihre Spur, obwohl man mich in verschiedener Weise absichtlich zu täuschen suchte, nicht aus den Augen verloren; sie weist genau hierher. Auch die Anwesenheit jenes Mannes bestätigt meinen Verdacht: es haben zwischen ihm und der Gesuchten Beziehungen stattgefunden, welche die Annahme vollkommen begründen, daß er jedenfalls um ihren Aufenthalt weiß. Deshalb liegt mir vor allem daran, mich mit ihm zu besprechen. Doch da kommt er! Ich möchte ihm nicht jetzt schon begegnen und denke, im Schiffe dürfte das geeigneter sein.«
»So lassen Sie uns in das Boot steigen und hinüberrudern! Ich will einstweilen dem Kapitän meine Befehle mittheilen.«
Sie stiegen die Treppe hinab und sprangen in das Fahrzeug. »Stoß' ab nach der Fair-Helen!« sagte der Beamte.
»Da kommen noch andere Passagiere«, entgegnete der Matrose. »Die wollen wir auch gleich mitnehmen.«
»Stoß' ab!« entgegnete der Beamte heftig. »Ich nehme es auf mich. Die sollen nur in einem andern Boote nachkommen!«
Murrend gehorchte der Bootsmann, und bald war der Nachen so weit entschwunden, daß nur ein sehr scharfes Auge die darin Sitzenden zu erkennen vermocht hätte. Jetzt erschienen die Erwarteten auf dem Hafendamme. Führer, in Pelzrock und Mütze, hatte so ziemlich das Aussehen eines Kaufherrn oder Geschäftsmanns; er schritt bedächtig einher, tief ergriffen von dem Ernst des Augenblicks, der ihn auf immer hinwegtragen sollte von Heimat, Vaterland und Allem, was ihm lieb gewesen in beiden. Riedl hatte seinen Arm in den des Freundes gelegt; er war im Gegensatz zu Führer heiter und konnte seine Freude nicht verbergen, daß der Augenblick wirklich da war, in welchem er sein Werk als vollständig gelungen und den Freund aus der Macht seiner Verfolger gerettet ansehen konnte. Hinter beiden ging Windreuter, einen Mantelsack auf der Schulter.
»Bis hierher und nicht weiter!« rief Riedl, als er mit Führer an den Treppen anlangte. »Da ist eben das Boot abgefahren. Wir haben uns ein bischen verspätet und müssen einen andern Nachen nehmen. So haben wir, bis derselbe herbeikommt, noch Zeit, ein letztes Lebewohl zu tauschen. Ich danke dem Himmel, daß ich Dich dem Wind und Wasser übergeben kann und Dich den Gewalten der treulosen Erde entrissen sehe.«
»Du treues, redliches Herz!« sagte Führer weich, indem er ihn an beiden Händen faßte, ihm herzlich in die Augen sah und einen Kuß auf die bärtigen Lippen drückte. »Wie soll ich Dir für Deine Ausdauer, für Deine Klugheit, für Deinen Eifer danken? Wahrhaftig, es ist Vieles, was in diesem Augenblick mein Herz bestürmt, aber nichts Bittereres als der Gedanke, mich von Dir trennen zu müssen. Wie wär's, wenn Du mit mir gingest? Verlasse mit mir dieses Land, mit dessen Verhältnissen Deine Ansichten und Überzeugungen doch nicht zusammenstimmen!«
O, was nicht ist, kann werden«, rief Riedl lachend. »Mir kommt's manchmal vor, als wäre meine Zeit gar nicht mehr so fern; es geht mir wie Bürger's Rappen: ich witt're Morgenluft. Vielleicht komm' ich bald nach, aber erst will ich doch abwarten, bis die Reihe, Minister zu sein, auch an mich gekommen ist.«
»Wie kannst Du so scherzen!« sagte Friedrich. »Noch dazu in diesem Augenblicke!«
»Weil ich es für klüger halte, als über etwas zu trauern, was doch nicht zu ändern ist. Geh mit Gott, Freund, und mit gutem Muthe! Du trägst Alles in Dir, was ein Mann braucht, um glücklich zu sein, und wenn es wahr ist, was ich einmal gehört habe, daß zu einem deutschen Glück eine kleine Beimischung von Leid unerläßlich ist, so wird's Dir auch daran nicht fehlen; denn dessen bin ich gewiß, Du wirst ein gut Theil Sehnsucht nach dem Vaterlande mit hinübernehmen, nach seinen Wäldern, seinen –«
»Du hast Recht«, unterbrach ihn Führer. »Ich werde das Vaterland nie vergessen können. Vergiß auch Du mich nicht! Vergiß nicht die Gänge, um die ich Dich gebeten! Wohl nehme ich eine unerfüllte Sehnsucht mit. Primitiva hatte mir beim flüchtigen Abschied so gewiß zugesagt, mir vor der Abreise noch einmal zu begegnen, ich hatte mich so sehr darauf gefreut, sie wiederzusehen. Ihr Ausbleiben ist mir geradezu unerklärlich. Wenn Du zurückkehrst, laß es Dein Erstes sein, sogleich nach ihr zu forschen! Ich fürchte beinahe, daß ihr ein Unheil zugestoßen ist, sonst hätte sie gewiß nichts abzuhalten vermocht!«
»Deine Zuversicht ist sehr fest«, lächelte Riedl, »aber ich glaube auch, daß Du Recht hast. Doch vertraue auf mich! Ich werde sie finden, selbst wenn sie sich vor mir verstecken wollte, und werde ihr Deinen Abschiedsgruß bringen.«
»Es ist das Leben«, sagte Führer ernst, »was ich scheidend in ihr begrüße! Sonst lasse ich nur Todte zurück, Todte unter und über der Erde. Vergiß nicht, auch der letztern an meiner Statt zu gedenken!«
»Ich werde, mein Freund«, sagte Riedl, indem er ihm die Hand schüttelte. »Doch über der Erde hast Du Niemand mehr zu suchen.«
»Niemand mehr? Wie meinst Du das?«
»Du sollst es hören; ich hab' es absichtlich für den letzten Augenblick gespart, weil ich mir dachte, die Mittheilung würde Dir und mir über den Abschied leichter hinweghelfen, und jetzt hab' ich so lang gewartet, daß kaum mehr Zeit ist, Dir davon zu erzählen. Dort kommt das Boot schon angerudert. Aber was thut's? Ich fahre noch mit hinüber, begleite Dich an Bord und lasse mich dann zurückfahren.«
Sie stiegen die Stufen hinab. Windreuter hatte sich auf die Brüstung niedergesetzt, den Kopf in beide Hände gestützt und war so tief in Gedanken versunken, daß er ihr Weggehen gar nicht bemerkte und Riedl ihn anrufen mußte.
»Was treibst Du denn, Alter?« sagte er. »Geht Dir der Abschied so nahe?«
»Weiß nicht, Herr Doctor«, erwiderte Windreuter, indem er sich durch die halbergrauten buschigen Haare fuhr und ihm in das Boot half. »Es ist mir so eigen, wie mir mein Lebtag nicht gewesen ist; es muß wohl der Abschied sein, was mich so aus der Ordnung bringt. Zwei Nächte hinter einander, seit ich das Meer gesehen habe, hat mir immer vom Balthes geträumt – Sie wissen ja, wen ich meine. Ich hab' ihn immer gesehen, wie er untergesunken ist, hab' das Glucksen und Gurgeln beim Untersinken gehört, hab' gesehen, wie er die starren Augen auf mich richtete und den Arm in die Höhe hob, als wenn er mir winken wollte.«
»Einbildungen, Alter«, sagte Riedl lachend. »Die Seeluft wird Dir solche Gespenster schon aus dem Kopfe blasen.«
»Und welche Nachricht ist es, die Du mir zu bringen hast?« fragte Führer, als Riedl neben ihm Platz genommen hatte.
»Du kannst sie errathen«, erwiderte dieser. »Ulrike ist nicht mehr! Auf Deinen Wunsch hab' ich sie aufgesucht, um wegen der Zukunft mit ihr zu reden, weil Du Dir doch einmal in den Kopf gesetzt hattest, es sei Deine Pflicht, trotz alledem sie nicht hülflos zu lassen. Ich traf sie als eine Sterbende. Du weißt, sie hat nicht viel Freude gehabt von ihrem fürstlichen Abenteuer; nach jener verhängnißvollen Begegnung war es ihr wie einem Nachtwandler gewesen, der aus seinem Schlummerzustand erwacht und ernüchtert herunterstürzt. Sie lebte wohl noch, aber der Traum war dahin und sie selber zerschmettert an Herz und Geist. Es ist kein Wunder, wenn sie in ein hitziges Fieber verfiel, in dem sie wochenlang mit dem Tode und der Bewußtlosigkeit kämpfte. Als sie sich aufraffte, brachte ein neues, furchtbares Ereigniß, über das ich mich nicht aufzuklären vermochte, einen heftigen Rückfall hervor, der nach wenigen Tagen ihre Auflösung veranlaßte. Sie starb wie eine, die würdig gewesen, Dein Weib zu heißen. Dieser Brief enthält ihren letzten Gruß und ihre letzte Bitte um Verzeihung.«
Eine Thräne schimmerte in Friedrich's Auge, als er den Brief empfing, den er sogleich erbrechen wollte.
»Nicht jetzt!« sagte Riedl, ihn abhaltend. »Während der langen Fahrt wirst Du Zeit und Muße genug haben, Dich mit diesem Testamente des Leichtsinns zu befassen.«
Das Boot legte an der Fair-Helen an und das Gespräch stockte. Die Freunde stiegen empor; auch Windreuter kletterte nach. Oben an der letzten Stufe der Strickleiter war es, als ob er plötzlich von Schwindel erfaßt würde; er schwankte und erbleichte, und ohne einen daneben stehenden Matrosen, der ihn am Arme packte und an Bord riß, wäre er unfehlbar in die See gestürzt.
»Alter, Du machst Dich lächerlich«, sagte Riedl zu ihm, während Führer einige Schritte auf dem Deck vorwärts machte. »Bist Du eine so gräßliche Landratte, daß Du beim ersten Schritt auf ein Schiff schwindlig wirst?«
»Ich weiß nicht, was mit mir vorgeht, Herr Doctor«, sagte Windreuter. »Aber es ist nicht richtig in meinem Kopfe. Ich bin kein Neuling auf dem Wasser, ich bin schon über Wege gegangen, wo sich kaum ein Zweiter nachzugehen getraut hätte, und habe den Schwindel nicht gekannt; aber wie ich meinen Fuß auf die Schiffsbretter setzen wollte, da war's wieder, als stünde der Balthes vor mir mit seinen gesträubten Haaren und den stieren Augen und wollte mich zurückdrängen. Was bedeutet das, Herr Doctor?«
»Das bedeutet«, sagte Riedl, »daß ich gleich mit dem Schiffsbader reden will, damit er Dir gehörig zur Ader läßt.«
Er wandte sich suchend nach Führer um und gewahrte ihn bereits im Gespräche mit Schroffenstein und dem Beamten, während der Kapitän des Schiffes mit finsterer und unwilliger Miene neben beiden stand. »Was gibt es da?« rief Riedl verwundert. »Sollten wir noch nicht zu Ende sein? Ich will doch in der Nähe bleiben und beobachten.«
»Sie hier, mein Herr?« hatte Führer gerufen, als ihm Schroffenstein unerwartet auf dem Deck entgegengetreten war und eine Unterredung von wenigen Minuten verlangt hatte. »So ist es Ihnen wirklich gelungen, mir beim letzten Schritte noch eine Schlinge um den Fuß zu werfen!«
»Ihr Erstaunen zeigt«, sagte Schroffenstein, »wie wenig Sie die Einrichtungen des Staates kennen, welche Sie so schwer getadelt und so kühn umzugestalten unternommen haben. Sie sehen aber, daß deren so sehr bestrittene Trefflichkeit sich doch bewährte! Sie sind in meiner Gewalt, mein Herr, und die Behörden der Stadt haben mir in diesem Manne bereits einen Beamten beigegeben; aber ehe ich von meiner Macht Gebrauch mache, möchte ich Ihnen gern beweisen, daß ich nie Ihr Feind gewesen bin, ich möchte Ihnen sogar die Möglichkeit bereiten, Ihre Reise ungehindert antreten zu können.«
»Darauf wäre ich in der That begierig«, sagte Friedrich, »wenn ich auch nicht glaube, daß die Behörden dieser Stadt, welche sich eine freie nennt, sich so bereitwillig finden lassen werden, ihren Arm zum Schergendienste zu leihen.«
»Davon nachher! Ehe der Minister mit Ihnen spricht, mein Herr, sehen Sie in mir den Vater, der eine Aufklärung von Ihnen verlangt.«
»Den Vater?«
»Sie wissen ohne Zweifel«, fuhr Schroffenstein etwas beiseite tretend fort, »daß das Fräulein von Falkenhoff die Gemahlin meines Sohnes geworden ist, daß sie aber auf dem Wege von der Trauung wieder zur Wittwe wurde. Nach den bei uns geltenden Gesetzen, nach Familienrecht und Herkommen steht die junge Dame mit ihrer Person und ihrem Vermögen unter der Obhut des Oberhauptes der Familie, welches ich zu sein die Ehre habe. Dieselbe hat es jedoch in einem Anfalle von Wahnsinn, zu dem ihr überreiztes Wesen sich gesteigert, für besser gefunden, sich meiner Aufsicht zu entziehen. Es ist mir nicht unbekannt, daß Sie die Dame kennen; während Ihrer kurzen staatsmännischen Laufbahn haben verschiedene Beziehungen zwischen ihr und Ihnen stattgefunden. Ich habe sie sogar stark im Verdachte, daß sie bei Ihrer Befreiung mit die Hand im Spiele gehabt hat. Es liegt also die Vermuthung nahe, daß Sie auch jetzt deren Aufenthalt kennen.«
»Sie irren allerdings nicht«, entgegnete Friedrich, »wenn Sie meine Befreiung zum großen Theile den Gefühlen der Freundschaft zuschreiben, welche das Fräulein von Falkenhoff von jeher für mich gehegt hat, dennoch ist Ihre Vermuthung ohne Grund, mein Herr. Wir haben Abschied genommen von einander, und ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen, habe, so sehr ich es gewünscht hätte, keine Silbe mehr von ihr gehört.«
»Besinnen Sie sich wohl, mein Herr!« sagte Schroffenstein, indem er einen drohenden Ton annahm. »Ueberlegen Sie Ihre Worte! Ihre Zukunft, vielleicht Ihr Leben hängt davon ab. Sagen Sie mir Primitiva's Aufenthalt, und Sie sollen ungehindert reisen! Aber eilen Sie! Wir haben keine Sekunde zu verlieren.«
»So vergeuden Sie selbst nicht die kostbare Zeit!« erwiderte Friedrich kalt. »Sie haben bereits gehört, was ich weiß; nehmen Sie aber auch die bündige Erklärung dazu, daß, wenn ich auch den Aufenthalt der Dame kennte, Sie wohl der letzte wären, dem ich denselben bezeichnen würde. Es ist dies eine Zumuthung, die nur Ihnen möglich ist, nur Sie können glauben, daß ich um den Preis eigener Rettung das Opfer, das Ihnen glücklicherweise entronnen ist, Ihnen wieder überliefern werde!«
»Sie wollen also nicht? Gut, so werde ich nochmals zu der Stadt zurückkehren und meine Nachforschungen erneuen, Sie aber mögen sich's selbst zuschreiben, wenn sich der letzte Auskunftsweg, der sich Ihnen geöffnet hätte, Ihnen durch Sie selber verschließt. Kommen Sie!« fuhr er zu dem Beamten gewendet fort. »Lassen Sie uns hören, ob inzwischen die Nachforschungen in der Stadt von besserem Erfolge begleitet waren, und ob noch keine Nachricht von meinem Hofe angekommen ist!«
»Damn!« rief der Kapitän, welcher dabei stand und zugehört hatte, unwillig. »Wie lange soll das noch dauern? Wie lange soll ich noch warten?«
»Ich habe Ihnen den Befehl der hohen Polizeiherren mitgetheilt«, sagte der Beamte mit Würde. »Der Senat hat die Zusage gegeben, Ihre Abfahrt bis zum Mittag zu verzögern; bis dahin muß Alles entschieden sein. Mit dem Glockenschlage zwölf lichten Sie die Segel, früher keine Sekunde, wenn Sie nicht mit den Kanonen der Hafenbastei Bekanntschaft machen wollen.«
» Damn!« brummte der Kapitän, indem er ärgerlich an seinem Backenbarte zupfte. »Wär' ich eine Viertelstunde früher gefahren, dann hätten sie das Nachsehen gehabt mit ihrem Befehl, und kein Hahn hätte darnach gekräht! Machen lauter unnütze Weitläufigkeiten, diese Deutschen! Will mir's aber merken für ein ander Mal.«
»Verfluchter Spion!« rief Riedl unwillig, indem er dem abfahrenden Boote mit geballter Faust nachdrohte. »Aber Dir soll doch ein Strich durch die Rechnung gemacht werden! Komm, Friedrich! Wir gehen auch nach dem Strande zurück. Nimm Geld und Deine Papiere zu Dir! Laß, wenn es sein muß, Gepäck und Fahrgeld im Stiche! Was liegt daran? Wenn sie wiederkommen, sollen Sie Dich nicht mehr finden. Die Stadt hat Winkel genug, um Dich zu verbergen.«
»Ich folge Dir, mein Freund«, sagte Friedrich, »nicht um mich zu retten; denn ich glaube nicht ernstlich, daß die edle freie Stadt so gegen ihre Grundrechte und Freiheiten sich versündigen würde; aber es gilt jetzt Primitiva! Sie ist offenbar hier oder doch in der Nähe. Schroffenstein verfolgt sie, wie ich aus seinen Reden vernommen, als eine wahnsinnige, den Ihrigen entlaufene Abenteurerin. Kann ich nun fort, ohne sie gesehen zu haben? Muß ich sie nicht retten? Und wenn ich selbst darüber zu Grunde gehe, in die Hände dieses Elenden darf sie nicht fallen!«
»Da haben wir's!« rief Riedl, die Hände zusammenschlagend. »Er hat selbst den Kopf noch in der Schlinge stecken und denkt schon daran, Andere zu retten! Das ist echt deutscher Edelmuth; aber diese an sich so vortreffliche Eigenschaft ist gerade unser Unglück. Wir Deutschen können nicht einen Augenblick uns von diesen erhabenen Anschauungen losmachen, und wenn's im Ernst einmal darauf ankommt, nur eine Viertelstunde lang, ich will nicht sagen schlecht, sondern nur ein bischen klug, nur ein klein wenig egoistisch zu sein, da bringen wir's nicht zu Wege, wir gehen an unserem Edelmuth zu Grunde, der Einzelne so gut wie das ganze Volk!«
Sie wandten sich dem Schiffsbord zu und wollten daran hinunterklettern. »Komm' mit, Alter!« sagte Riedl zu Windreuter. »Wir werden Dich brauchen.« Dieser beugte sich wie Jemand, der hinabsteigen will, über den Rand, faßte nach der Leine, suchte mit dem Fuße nach der Strickleiter; aber wieder schien es, als ob ein Nebel seine Augen verhüllte; er verfehlte beide, und mit dem kreischenden Ausruf: »Balthes! Da ist er wieder!« stürzte er mit schwerem Falle ins Meer, das aufrauschend sich über ihm schloß. Das Boot, welches die beiden Freunde besteigen sollten, hielt an; rufend und helfend eilten von allen Seiten die Matrosen mit Stricken und Stangen herbei und suchten den Alten aufzufischen, aber es war keine Spur von ihm zu sehen. Der Versunkene tauchte nicht wieder empor, das Wasser schlug nach wie vor mit mächtigen Wellen an das Schiff. Passagiere und Schiffsvolk, die herbeigeeilt waren, standen ergriffen und schauten einander mit befremdlichen Gedanken an. Der Schiffsprediger kam auch herbei, faltete die Hände und gab das Zeichen zu einem allgemeinen stillen Gebete für den so unerwartet Dahingegangenen.
»Wunderbar«, sagte Riedl zu Führer. »Ist das nun Zufall, oder gibt es wirklich eine Nemesis? Du hast gehört, was der Verunglückte von den bösen Träumen erzählte, die ihn seit ein paar Tagen verfolgten? Ich kenne ihn lange; ich habe ihn einmal vor Gericht vertheidigt, weil er angeschuldigt war, seinen Kameraden in den See gestürzt zu haben; ich habe ihn frei bekommen, weil er nicht unmittelbar Hand an ihn gelegt, sondern nur den Kahn stärker angetrieben hatte, daß der in demselben aufrecht stehende Betrunkene über Bord stürzte. Es war ein böser Zufall, ein Unglück, wenn Du so willst, aber kein Verbrechen, und doch ist es, als ob der Richter da droben ein anderes Verdict aussprechen wollte, als meine Geschworenen von damals. Im Begriffe, das Land zu verlassen, wo er die Schuld auf sich geladen, und in der neuen Welt ein neues Leben zu beginnen, ereilt ihn die Vergeltung; ein böser Zufall, ein Unglück läßt ihn denselben Tod finden wie sein Opfer. Es ist, als ob nur das Reine hinübergehen sollte in die neue Welt. Nehmen wir's als eine gute Vorbedeutung für Dich! Der alte Bursche wird wohl auch am Meeresgrunde da unten zur Ruhe kommen.«
Ueber dem Gewirr war es nicht beachtet worden, daß abermals ein Boot vom Hafendamme abgestoßen war und eben an der Fair-Helen anlegte. »Ahoi!« rief ein Matrose. »Laßt die Falltreppe los! Ihr Dummköpfe, seht Ihr nicht, daß ein paar Weibsen in der Jolle sitzen? Die werden doch nicht auf der Strickleiter hinaufklettern sollen?«
Jetzt hatten die Ankommenden das Deck erreicht; Primitiva, von einem Mädchen geleitet, eilte schwankenden Schrittes auf Führer zu. »Gott sei Dank!« rief sie. »Sie sind hier. O, nun ist Alles gut! Der Himmel hat meine Schritte recht gelenkt, daß ich noch vor der Abreise ankam. Ich sehe Sie noch, sehe unser Werk gelungen, sehe Sie geborgen und kann Ihnen noch einmal Lebewohl sagen, so recht von Herzen wie es in der Verwirrung der Flucht nicht möglich war.«
»Primitiva!« rief Führer mit freudig bebender Stimme. »Sehe ich Sie denn wirklich wieder? Muß ich nicht scheiden, ohne Sie noch einmal begrüßt, ohne Ihnen noch einmal gedankt, ohne Ihnen gesagt zu haben –«
Er hielt inne. Primitiva schlug die Augen nieder, aber sie fühlte den Muth nicht, um die Vollendung der unterbrochenen Rede zu fragen. »Auch mir gewährt es große Freude, Sie wiederzusehen«, sagte sie nach einer Weile. »Ich verhehle nicht, daß es die Erfüllung des einzigen, des schönsten Wunsches ist, den ich hegte. Gehen Sie denn mit Gott, mit meinen besten Wünschen, mit –« Sie unterbrach sich, um tief aufzuathmen. »Ich werde«, fuhr sie dann fort, »in das südliche Frankreich gehen zu meinen Verwandten, die Sie kennen, und dort in stiller Zurückgezogenheit mein Leben der Trauer und der Erinnerung weihen. Versprechen Sie mir, Friedrich, daß Sie mir bisweilen Nachricht von sich geben wollen! Es werden die Lichtblicke, die Sterne sein in dem nächtlichen Dunkel meines Daseins.«
»O mein Gott«, rief Führer, »woran mahnen Sie mich! In der Freude des Wiedersehens habe ich einen Augenblick vergessen, welche Gefahr Ihnen droht. Graf Schroffenstein ist hier; er sucht Sie und will Sie zwingen mit ihm zurückzukehren!«
»So hat er wirklich meine Spur gefunden?« erwiderte Primitiva. »Der Umweg, den ich machte, um ihn zu täuschen und irre zu führen, und infolge dessen meine Hierherkunft sich verzögerte, war also doch vergeblich. Immerhin, ich fürchte ihn nicht.«
»Ich weiß doch nicht«, sagte Riedl hinzutretend, »ob Sie sich die Sache nicht etwas zu leicht vorstellen; ich habe nur Einiges von seinem Gespräche gehört, aber es scheint, als ob er Sie auf Grund gesetzlicher Bestimmungen mit Hülfe der Gerichte zurückfordern wolle.«
»Aber das ist ja unmöglich«, rief Primitiva. »Sagen Sie doch selbst! Wohl hat er mir bereits gedroht, mich als eine Wahnsinnige einsperren zu lassen. Wie sollte er das ins Werk setzen können? Welches Gericht würde ihn dabei unterstützen?«
»Vertrauen Sie darauf nicht zu viel!« sagte Riedl achselzuckend. »Es gibt keine Ungerechtigkeit, die sich nicht hinter ein Gesetz verschanzen könnte; es gibt keinen Gewaltstreich, der nicht schon irgend einmal von irgend einem Gerichte unter dem Buchstaben eines Gesetzes ausgeführt worden wäre. Wie ich befürchte, hat er sich von den Gerichten Ihrer Heimat mit Vollmachten versehen lassen. Die hiesigen Behörden werden vielleicht nicht umhin können, ihm zu entsprechen.«
»Zur Ehre dieser Stadt glaube ich das nicht«, rief Primitiva. »Ich will mich dem Gerichte vorstellen, ich will ihm sagen, daß er die Vormundschaft über mich nur aus dem Grunde wünscht, um die Verwaltung meines Vermögens zu erlangen. Sie sollen mich sehen und hören und urtheilen, ob ich wahnsinnig bin.«
»Es ist immerhin schlimm genug«, sagte Riedl; »in unserm Lande besteht leider ein Gesetz, welches dem Familienoberhaupte in adligen Geschlechtern eine Art von Vormundschaft über die Frauen einräumt. Es ist ein Gesetz, das schon seit ein paar Jahrhunderten veraltet ist, auch ein Stück jener Vernunft, die, um mit Goethe zu reden, zum Unsinn geworden ist, eine Art Folterinstrument, das man nicht mehr gebraucht, dessen Gebrauch vielleicht nicht mehr für möglich gehalten wird, das aber doch noch vorhanden und in der Rüstkammer aufbewahrt ist, wenn es einem Folterknechte einfallen sollte, sich seiner bedienen zu wollen.«
»Aber so rathe lieber«, sagte Friedrich, »statt Deine Bedenken aufzuzählen! Gewiß ist nur das Eine, daß das Fräulein in die Schlingen dieses Elenden um keinen Preis fallen darf. Wir wollen an das Land zurück! Noch haben wir Zeit. Wir wollen mit einander fliehen!«
»Um ihm geradezu in die Hände zu laufen?« entgegnete Riedl. »Da seid Ihr auf dem Schiffe noch sicherer! Wer weiß, ob er nicht schon die Spur der Dame gefunden hat, ob er von ihrem Hiersein nicht bereits unterrichtet ist? Im schlimmsten Falle müßten Sie sich entschließen, einen unfreiwilligen Ausflug nach Amerika zu machen.«
»Und wenn er Alles wüßte«, rief Führer feurig, »er soll nur kommen und soll versuchen, Sie mir zu entreißen! Nur mit meinem Leben werde ich Sie lassen!«
»Das ist sehr schön, sehr ritterlich«, sagte Riedl, »und in den Zügen der Dame lese ich, daß es ihr auch gar nicht mißfällt, aber bei einiger kühler Ueberlegung wirst Du selbst zugeben müssen, daß hier mit Gewalt nichts auszurichten ist. Wozu auch die Gewalt? Es gibt ein viel einfacheres Mittel, welches alle Weitläufigkeiten und Einwendungen mit einem Male abschneidet.«
»Wie?« fragte Primitiva rasch.
»Das Mittel! Nenne das Mittel!« drängte Führer.
Riedl sah ihm lächelnd ins Gesicht. »Nun«, sagte er, »für einen Professor der Rechte und einen gewesenen Minister ist diese Frage wirklich etwas stark naiv! Sie läßt sich nur durch Deine sichtbare Erregung und Zerstreuung entschuldigen. Jenes alte Gesetz, das adlige Frauen unter die Obhut des Familienoberhauptes stellt, spricht nur von solchen, die unvermählt sind, verheirathete Frauen stehen nur unter dem Manne. Also heirathe das Fräulein! Dann laß den mittelalterlichen Henkersknecht mit seinem Folterinstrumente kommen! Mache Hochzeit! Wenn mich nicht Alles trügt, wird der Entschluß dazu Dir eben nicht gar zu schwer werden.«
»Primitiva«, rief Friedrich erglühend, indem er auf sie zueilte, die ebenfalls mit Purpur übergossen dastand, »haben Sie dieses Wort vernommen, das mir an das Ohr dringt wie die Verheißungen des gelobten Landes? Ja, das war das rechte Wort, das ist wahrhaftig ein Zauber, der alle Bande sprengt und alle Verwicklungen löst! Reden Sie, Primitiva! Können Sie sich entschließen, das innerste Geheimniß unserer Seelen, den schönsten Traum unserer Jugend wahr zu machen?«
Er erfaßte ihre Hand und zog sie sanft an sich; sie widerstrebte nicht und sah mit einem Blicke zu ihm empor, aus dem ihre ganze Seele aufleuchtete. »Ja«, flüsterte sie innig, »lassen Sie mich denn das Geständniß dessen erwidern, was immer vom ersten Augenblick unseres kindischen Begegnens an zwischen uns gewaltet: seit ich denke und fühle, hab' ich Sie geliebt. Ich nehme Ihre Hand an, mein Freund; ich will mit Ihnen gehen bis an das Ende der Welt; ich will die Ihrige sein.«
»Bravo!« rief Riedl, indem er das sich umschlingende Paar ebenfalls mit den Armen umfaßte. »Nun sollt Ihr aber auch gleich beim Wort genommen werden! Frei seid Ihr alle beide und ungebunden; ich kann das bezeugen; Eure Papiere habt Ihr zur Hand; an Zeugen wird es auch nicht fehlen; der Kapitän und ich werden genügen, und vorhin bei dem Unfall hab' ich auch einen Schwarzrock gesehen; der muß sogleich herbei! Das ist so recht ein Stück Leben nach meinem Sinne! Vor einer Viertelstunde der Tod, jetzt frisches, volles Leben; dort ein unvermutetes Begräbniß, hier eine Hochzeit aus dem Stegreif! Haltet die Ringe bereit! Ehe der Spion wiederkommt, sollt Ihr verbunden sein, daß kein Consistorium der Welt Euch wieder trennen kann!«
Das von seinem eigenen Glück überraschte Paar vernahm nur halb, was der redliche Freund im freudigen Ergusse seines Herzens plauderte; sie gewahrten es kaum, als er ging, und wurden zur Wahrheit dessen, was ihnen noch immer wie ein schöner Traum erschien, erst zurückgeführt, als Kapitän und Prediger mit verwunderten Gesichtern herbeitraten, von den Verhältnissen Kenntniß nahmen und bald ihre Fragen in die herzlichsten Glückwünsche verwandelten. Es war kein Grund vorhanden, die Verbindung der Liebenden zu beanstanden, und so währte es nur kurze Zeit, bis Matrosen und Passagiere abermals einen verwunderten und neugierig andächtigen Kreis auf dem leeren Platze vor dem Hauptmast bildeten; am Fuße desselben stand der Prediger und legte die Hände des auf einer Bastdecke vor ihm knieenden Brautpaars in einander.
Freudiger, mit mehr innerer Wahrheit ist wohl noch kein Ja vor dem festlichsten Altar gesprochen worden.
»Wunderbar«, schloß der Prediger seine kurze Anrede, »sind die Wege, welche der Herr die Seinigen führt, aber mit ihm und durch ihn führen sie alle zum Ziele! Dieses Paar wird nicht verbunden an heiliger Stätte; keine Orgel, kein Gesang der Gemeinde begleitet es auf dem wichtigsten Gange; es ist kein festliches Gewand, in welchem sie den gemeinsamen Weg durch das Leben antreten, aber der Geist des Ewigen weht dennoch um uns her im gewaltigen Athem der Meerluft! Wie erhabener Orgelton braust das Rollen der Wogen, und ihre Perlen spritzen zu uns herauf als Schmuck! Ueber uns steht der Himmel gewölbt als der gewaltigste Dom, wir fühlen alle, daß der Herr bei uns ist in diesem Augenblick, und so bleibe er auch bei uns allen und bleibe bei diesem Paare mit seinem schönsten Segen bis zur Erfüllung ihrer Tage! Amen!«
Alle standen ergriffen und schweigend.
»Hochwürdiger Herr«, sagte Riedl nach einer Pause, indem er die Hand des Predigers schüttelte, »schade, daß wir schon auseinander müssen! Sie haben mir so recht nach dem Sinne geredet. Und Sie, schöne Frau«, rief er Primitiva zu, welche Hand in Hand mit dem Gatten an den Bord getreten war und mit verschwimmenden Augen in die Meerferne hinausstarrte, »lassen Sie sich's nicht gereuen, bei Ihrer Trauung keinen Kranz getragen zu haben! Diese Stunde hat doch ein unsichtbares Kränzlein auf Ihre Locken gedrückt und ein unverwelkliches! Seid denn glücklich!« fuhr er mit gerührtem Tone fort. »Seid so glücklich, meine Freunde, als Ihr es verdient, und seid so lange glücklich, als Ihr nicht ganz meiner vergeßt! Das ist mein Amen.«
Zur gleichen Zeit saß Herzog Felix in seinem Wohnzimmer am Schreibtisch, welcher, mit Schriften und Rollen überdeckt, im wilden Durcheinander das getreue Bild einer Gemüthsstimmung gab, die, von vielerlei Eindrücken bestürmt, in wechselnder Neigung bald nach diesem, bald nach jenem Gegenstande greift, um ihn nach kurzer Zeit in veränderter Stimmung wieder fahren zu lassen, weil das aufgeregte Gemüth in ihm nicht fand, was es bedurfte und was es darin zu finden gehofft. Der junge Fürst war in tiefes Brüten versunken; er dachte nicht daran, daß er noch im Morgenanzuge war und daß draußen für Stadt und Land schon heller, geschäftiger Tag begonnen hatte. Die dichten, auf allen Seiten herabgelassenen Vorhänge erzeugten in dem Gemache eine künstliche Nacht, nur von der Arbeitslampe auf dem Schreibtisch kümmerlich erhellt; den Kopf in die Hand gestützt, starrte der Herzog auf die Rollen, welche vor ihm ausgebreitet lagen; aber er erblickte die Linien und Umrisse nicht, auf denen seine Augen ruhten, seine Gedanken wurden unverkennbar anderswohin gezogen.
Die Rollen waren die Pläne zu dem neu zu erbauenden Lustschlosse.
Unweit davon lagen andere Papiere, unverkennbar kurze Zeit vorher besichtigt und gelesen; es waren Führers Absagebrief, eine Denkschrift, die er einst für den Fürsten ausgearbeitet und worin er alle seine Grundsätze und Anschauungen über die Regierungskunst niedergelegt und gezeigt hatte, wie sie in Wirklichkeit durchgeführt werden müßten, der Bericht über die Verschwörung der Adligen und daneben das Urtheil, das demselben Manne das Leben absprach und das noch immer der Unterschrift harrte. Halb davon verdeckt lag der Ring, welcher einst des Fürsten erste Gabe an den Jugendfreund, das erste Zeichen der ihm zugewendeten Gnade, das Pfand der Gesinnungsverwandtschaft gewesen; der Ring war heruntergeglitten, gleich als ob er fühle, daß auf diesem Blatte für ihn keine Stelle mehr sei.
Der Herzog war von dem kurzen Besuch an dem großen Nachbarhofe nicht zurückgekommen, wie er gegangen war. Das Mittel, welches ihn zerstreuen, von seinen bisherigen Grundsätzen und Anschauungen abbringen sollte, war allerdings nicht ohne Wirkung geblieben, aber die Wirkung war zum großen Theil in das Gegentheil umgeschlagen. Anstatt ruhig und gefaßt zu sein, kam er eher aufgeregter, hastiger und unstäter zurück, und die wenigen Tage, seit welchen er die Regierung wieder übernommen, gingen in stetem Schwanken unsicherer Entschließungen dahin. Er war nicht dazu zu bringen, nach der einen oder der andern Seite entschiedene Schritte zu thun, durchgreifende Anordnungen zu treffen. Auch in seinem Aeußern prägte sich der Zustand seines Gemüthes aus. Die Farbe des edel geformten Angesichts war merklich verblichen, als ob ein Schatten der vergangenen Tage darauf zurückgeblieben; die kurze Zeit hatte ihn ernster und männlicher aussehend gemacht. Er glich einem jungen, schöne Zukunft verheißenden Baume, welchem der Stab, den sorgende Vorsicht ihm beigegeben, entrissen wurde, noch ehe der Stamm genug erstarkt war, um den Stürmen widerstehen zu können, welche über ihn hinbrausten, die Krone faßten und den Stamm beugten; die Gesundheit des eigenen Wuchses und die Festigkeit der Wurzeln allein war es, was ihn aufrecht zu halten und vor dem Brechen zu bewahren vermochte.
Der Fürst war am Nachbarhofe mit aller erdenklichen Auszeichnung und Zuvorkommenheit empfangen und behandelt worden. Man befliß sich, ihm zu zeigen, welchen Werth man auf seinen Besuch legte und welche noch größere Folgen man von demselben erwartete. Ohne Scheu und mit wohlgefälligem Nachdruck ließ man ihn daher in das ganze Räderwerk und Getriebe des Staatswesens blicken, wie es dort seit Jahrhunderten in hergebrachter Weise gehandhabt wurde. Man hoffte, die Klugheit des Baues, die Sicherheit der Anordnung, die bisher immer eingetroffene Gewißheit des Erfolgs würden nicht verfehlen, ihn von seinen unreifen Umgestaltungsgedanken vollständig zu heilen. Die Wucht und Folgerichtigkeit dieser Grundsätze verfehlte auch nicht, einen starken Eindruck auf ihn zu machen, um so mehr, als sich damit zugleich die Aussicht eröffnete, das Herrschen und Regieren mehr zu einer angenehmen, behaglichen Zerstreuung und Unterhaltung zu machen, als zu einer strengen, das ganze Leben umfassenden und verzehrenden Arbeit, welche die andere Auffassung von ihm forderte. Dennoch waren die Gedanken, welche er in dem so langen Umgang mit Führer eingesogen, unwillkürlich und unbewußt so sehr zu den seinigen geworden, daß sie der Umänderung einen langen und festen, um so nachdrücklichern Widerstand entgegensetzten, als er es nicht los werden konnte, sich selbst darüber zu grollen, daß er überhaupt von seinem Platze gewichen, daß er, als fühle er sich seiner Aufgabe nicht gewachsen, dieselbe andern Händen überlassen hatte. Hätte er nicht den Vorwurf des Wankelmuthes befürchtet, er wäre schon nach den ersten Tagen zurückgekehrt, um die Zügel des Regiments wieder zu übernehmen und das, was er begonnen oder durch sein Verschulden herbeigeführt hatte, selbst zu vollenden und dafür einzustehen im Guten wie im Schlimmen.
Was er bei seiner Rückkehr vorfand, hatte die Gährung in ihm vollends zum Ausbruch gebracht. In der Fremde hatte man es mit feiner Klugheit so einzurichten gewußt, daß ihn keine Nachricht von dem erreichte, was zu Hause vorging, ohne daß er sie suchte; dies aber that er nicht, weil Scham und Reue ihn davon abhielten. Was er dennoch vernahm, war so verstümmelt und verändert, daß es keinen vollen Eindruck auf ihn machte, und daß die nackte Wahrheit, die er bei seiner Rückkehr vor sich sah, ihn nur desto mächtiger ergriff. Jetzt erst empfand er, wie es doch seine eigene Schöpfung gewesen, was er mit dem Freunde und durch denselben ins Leben gerufen hatte, jetzt erst ward es ihm klar, was er in der Uebereilung mit ihm dahingegeben. Die Fürstin hatte nicht Wort gehalten. Sie hatte versprochen, daß er einen gereinigten, für ein neues Bauwerk geebneten Boden finden sollte; er fand nichts als Ruinen der noch in Trümmern erhabenen Prachtgebäude, welche er geschaffen hatte und welche nun durch ihn dalagen, wie vom Brande verwüstet, wie von einem Erdstoß in Schutt gestürzt. Eine Flut der unangenehmsten Geschäfte hatte ihn empfangen. Er war gewohnt gewesen, wo er erschien, von allen mit Achtung und Liebe empfangen und begrüßt zu werden; als er jetzt zum ersten Male sich zeigte, fand er nur leere Straßen. Wer es vermeiden konnte, ihm zu begegnen, that es; wer es nicht mehr konnte, stand gebeugten Hauptes und mit gesenktem Blicke – es war die Gewalt, welcher der Gruß galt, den man ihr nicht zu verweigern wagte. Die Nachrichten von Führer's Schicksal, von dem über ihn ausgefertigten Urtheil wie von seiner Flucht, die Kunde von all dem Elend, das eingezogen war in Stadt und Land, erschütterten sein weiches Herz, die Botschaft von Ulrikens Tode schreckte es vollends in seinen tiefsten Tiefen auf. Was Alles hatte er vorgehabt! Welch schöne Hoffnungen hatte er erweckt, welch erhabene Vorsätze gefaßt, und wie waren sie nun verwirklicht! Er hatte Segen gesäet und Fluch geerntet, und er selbst war es gewesen, durch den sich die Frucht so verwandelt hatte. Es mochte das Bild des aus der Heimat vertriebenen Freundes, es mochte das bleiche Todtenangesicht der unseligen Ulrike sein, was eben in jener Stunde an dem einsamen Fürsten vorüberzog.
Solche ernste Stimmungen waren jedoch nicht von langer Dauer. Die Lebenslust begann bald wieder sich zu regen und gewann, von der vollen Kraft der Jugend unterstützt, leicht und schnell die Oberhand wieder. Fehlte es doch auch nicht an einer Menge von zufälligen und absichtlich bereiteten Anregungen. In den Stunden des Umschlags schüttelte er dann das Grausen der Vergangenheit von sich; er sah die Zukunft heiter und rosig vor sich liegen und schalt sich selbst einen Thoren, der sich das Leben unnütz verbittere. Was hatte er denn Anderes gethan, als daß er von seinem Rechte Gebrauch gemacht? Und wenn es nicht sein Recht gewesen, wo war derjenige, der es wagte, ihn deswegen zur Verantwortung zu ziehen? Hatte er Anderes gethan als so viele Fürsten vor ihm, darunter selbst solche, welche die Welt zu ihren schönsten Sternen zählt? Stand es nicht auch jetzt noch bei ihm, was aus der Zukunft seines Volkes werden sollte? Konnte er nicht jetzt noch mehr gewähren, als er jemals zugesagt, als man von ihm erwartet hatte, und zwar aus eigenem Wollen und Thun, nicht am Gängelbande fremden Rathes? In solcher Stimmung sah er auch, wenn er Ulrikens gedachte, nur ihren Leichtsinn vor sich und fühlte sich frei von aller Schuld gegen sie und ihren Gatten; hätte er die Blume verschmähen sollen, die sich von selbst in seinen Weg geneigt? Dann gedachte er auch Führer's als eines überlästigen, pedantischen Mannes, der ihm alle Freude verwehrte, der darauf ausgegangen, ihn zum Sklaven seiner Unterthanen zu machen; er rief sich die in den Acten aufgehäuften Beweise vor die Seele, daß derselbe Mann, der es gewagt, ihm jenen übermüthigen Absagebrief zu schreiben, dennoch insgeheim das Haupt der Aufrührer gewesen, daß er sich heuchlerisch am Sterbebette der Mutter verborgen und hinterher feig und kleinmüthig von seiner That hinweggeleugnet. Entschlossen raffte er sich dann aus seinem Trübsinn auf und blickte nach den gefüllten Freudenbechern, welche von gefälligen Händen ihm von allen Seiten kredenzt wurden.
»Ich bin ein Grillenfänger«, sagte er, sich rasch aufrichtend. »Geschehenes ist nicht zu ändern, und wenn ein Unrecht begangen wurde, so wäre es ein noch größeres Unrecht, es wäre unverzeihliche Schwäche, das Geschehene zu bereuen. Fort also mit der Nacht, mit all ihrem Dunkel und ihren Gespenstern! Ich wende mich dem Tage zu, seinem hellen Lichte, seiner bunten Farbe, seinem fröhlichen Leben!«
Er zog die Klingel, und der Oberkammerdiener Bornemann trat ein. Schnell ward auf den Wink des Fürsten die Lampe beseitigt; die Rollvorhänge hoben sich, der Glanz der winterlichen Morgensonne strömte in das Gemach und verscheuchte die düstern Gedanken nächtlicher Einsamkeit; was davon nicht zu verscheuchen war, was greifbar und körperlich zurückblieb, wie auf dem Schreibtisch die Blutsentenz, das übergoß er wenigstens mit flüchtigem Goldglanz des Augenblicks.
»Gott sei Dank!« sagte der Oberkammerdiener, indem er sich anschickte, dem Fürsten beim Ankleiden behülflich zu sein. »Ich begann schon ernstlich besorgt zu werden. Durchlaucht waren so vertieft, daß ich einigemal im Begriffe war, Sie zu unterbrechen; ich habe es aber doch nicht gewagt. Aber Durchlaucht strengen sich wirklich zu sehr an, Sie arbeiten zu viel! Durchlaucht sollten sich Erholung gönnen! Es ist bald neun Uhr vorüber. Durchlaucht haben ohne Zweifel vergessen, daß diesen Morgen ein kleines Jagdvergnügen im Tannenwalde gleich vor der Stadt abgehalten werden sollte und daß Sie nach demselben ein leichtes Jagdfrühstück im Hause der Generalin Helmhang erwartet?«
»Sie erinnern mich eben recht«, rief der Herzog, indem ein eigenthümliches Lächeln über seinen Mund zuckte. »Kleiden Sie mich schnell an! Ich will die Jagd nicht versäumen und besonders das Frühstück nicht. Ich will mich von diesen Bedenklichkeiten losmachen«, murmelte er in sich hinein. »Die Generalin ist ein interessantes Weib; vermuthlich ist sie's, die hinter dieser Einladung steckt. Warum soll ich an der Blume vorübergehen? Schnell!« rief er wieder. »Lassen Sie Alles bereit sein! Ich sehne mich, Morgenhelle und frische Lust zu genießen; der Ritt wird mir gut thun. Mittags, wenn ich zurück sein werde, lassen Sie den Baumeister Rigollet wissen, daß ich ihn zu sprechen wünsche! Erfahren Sie, Bornemann, daß ich mich entschlossen habe, das bewußte Lustschloß aufführen zu lassen; ich will mir einen wirklichen Ruheplatz nach meinem Sinne bauen!«
»Daran thun Durchlaucht vollkommen recht«, sagte der Oberkammerdiener schmeichelnd. »Das ist ein herrlicher Gedanke und auch vom allgemeinsten Nutzen. Wie viel Geld wird da wieder unter die armen Leute kommen! Ich bitte Durchlaucht die Hand küssen zu dürfen für diesen mildthätigen Entschluß; aber wenn ich nicht irre, ist noch gestern Abend spät ein Schreiben an Durchlaucht eingelaufen. Ich hab' es, wenn ich nicht irre, auf den Tisch gelegt; es schien mir nach Handschrift und Siegel vom Herrn Baumeister zu sein.«
»Ich habe nichts bemerkt«, sagte Felix, rasch an den Schreibtisch tretend, und zog die Papiere auseinander. Führer's Ring rollte ihm entgegen; er schob ihn beiseite und griff nach dem Briefe. »Hier«, rief er, indem er ihn hastig erbrach. »Ohne Zweifel wieder eine neue Idee, den Bau noch glänzender zu machen! Dieser Rigollet ist unerschöpflich an Reichthum und unvergleichlich an Schönheit der Gedanken. Er ist ein Meister ersten Ranges, ein wahrer Künstler, und ich muß darauf denken, ihn ganz an meinen Hof zu fesseln. Was ist das?« unterbrach er sich selbst nach den ersten Zeilen; die Farbe seines Angesichts veränderte sich, eine Blutwelle schlug bis an die Stirn und kehrte dann zurück, um desto größere Blässe hervortreten zu lassen. »Gehen Sie!« rief er plötzlich dem Kammerdiener zu. »Ich will allein sein. Gehen Sie!« wiederholte er, als derselbe verwundert und wie fragend stehen blieb. »Wie oft«, rief er nochmals, mit dem Fuße stampfend, »soll ich es Ihnen noch sagen, daß Sie gehen sollen? Ich reite nicht zur Jagd; ich habe mich anders besonnen.«
»Aber«, stammelte der Kammerdiener betroffen, »die Frau Generalin – ich will sagen, das Jagdfrühstück?« fügte er, sich verbessernd, bei.
»Das soll die Frau Generalin allein verzehren!« rief der Fürst ungeduldig. »Zum letzten Male, gehen Sie!«
Verwundert und kopfschüttelnd verließ der Kammerdiener den Fürsten. »Wieder einmal Sturm«, flüsterte er in sich hinein. »Was muß es da wieder gegeben haben? Daraus mag der Henker klug werden!«
Der Herzog war in den Stuhl vor dem Schreibtisch zurückgekehrt; er hielt das Blatt in der Hand und las wiederholt mit lauter Stimme, wie um sich zu überzeugen, daß das wirklich geschrieben war, was er las.
»Das Lustschloß«, schrieb Rigollet, »dessen Entwurf das Glück gehabt hat, von Eurer Durchlaucht durch so besondern Beifall ausgezeichnet zu werden, ist meine Lieblingsschöpfung und der Wunsch, dasselbe ausführen zu können, der halbe Inhalt meines Lebens. Eure Durchlaucht können daher beurtheilen, in wie hohem Grade erfreulich es mir sein mußte, die fast schon aufgegebene Aussicht auf diese Ausführung nun doch verwirklicht zu sehen. Dennoch bin ich in der schmerzlichen Lage, Eurer Durchlaucht den Verzicht auf die Ausführung meines Lieblingswerkes anzeigen zu müssen. Vielleicht wäre es mein Recht, den Grund dieser Erklärung verschweigen zu dürfen, aber Eure Durchlaucht haben Ihrerseits ein Recht, denselben zu fordern, und so stehe ich nicht an, zu bemerken, daß das Unternehmen ganz ungewöhnliche Kosten in Anspruch nehmen wird, deren Beschaffung in der von Eurer Durchlaucht beabsichtigten Weise geeignet wäre, mir jene Ruhe des Gemüths zu zerstören, ohne welche jede künstlerische Thätigkeit unmöglich ist. Sie wollen die Kosten durch schwere Belastung Ihrer Landeskinder aufbringen – dazu kann ich meine Hand nicht bieten; ich kann nicht mithelfen, Ihr Volk unglücklich zu machen. Halten Sie es einem Künstler zu gute, daß er sich erlaubt, diese Ansicht Ihnen gegenüber so frei auszusprechen!«
»Auch das noch!« rief der Herzog, indem er aufsprang und das Billet auf den Tisch schleuderte. »Will Alles zusammen helfen, mich zu erbittern und zu beschämen? Wagt Jedermann den Stachel seines Stolzes gegen mich zu kehren, und habe ich nichts, was ich als Waffe dagegen halten könnte? Bin ich wirklich so tief gesunken, daß sich Alles von mir wendet wie von einem rettungslos Aufgegebenen?«
Er hielt inne, denn die Thür wurde leise geöffnet und der Kammerdiener, behutsam den Kopf hereinsteckend, rief: »Verzeihung, Durchlaucht! Ich glaubte Sie vorher davon verständigen zu müssen: Ihre Durchlaucht die Frau Herzogin-Mutter mit Herrn van Overbergen und andern Herren kommen in großer Eile hierher; es muß etwas ganz Außerordentliches vorgefallen sein.«
Die Meldung war kaum geschehen, als die Erwähnten, Gerichtsrath Weber mit ihnen, auch bereits auf der Schwelle erschienen.
»Verzeihung, mein Sohn«, rief die Herzogin, indem sie seinen ehrerbietigen Handkuß annahm, »daß ich Dich schon so früh und in so zahlreicher Gesellschaft in Deiner Einsamkeit überfalle! Aber es sind wichtige Nachrichten eingetroffen. Reden Sie, meine Herren!«
»Allerdings«, sagte Overbergen in feierlichem Tone, »wichtige Nachrichten, ein großes Ereigniß, welches, gleich einem Wunder, beweist, daß die Lenkung der Weltgeschichte noch immer in der Hand einer ewigen und allmächtigen Vorsehung ist. Der Verbrecher, welcher sich seiner Strafe durch die Flucht entzogen hat, ist entdeckt und in dem Augenblick, als er das Schiff besteigen wollte, das ihn nach Amerika bringen sollte, angehalten worden. Minister Schroffenstein, der ihm nachgeeilt war, hat es bei den dortigen Behörden erwirkt, daß er aufgehalten wird, bis die Befehle Eurer Durchlaucht eingeholt sind.«
»In der That?« rief Herzog Felix ergriffen. »Führer gefangen? So wäre er noch einmal in meine Macht gegeben!«
»Die Du jetzt besser zu brauchen wissen wirst!« rief die Herzogin.
»Sie rathen ohne Zweifel, daß ich ihn festhalten, zurückbringen und strafen lassen soll?« fragte der Fürst, indem er alle der Reihe nach prüfend betrachtete. »Und Sie gewiß auch, mein frommer Herr? Sie, Herr Rath, als Richter und Rechtskundiger? Nun denn, ich will Ihnen gestehen, ich denke etwas anders über das Ereigniß. Ich hatte mich im Stillen gefreut, daß Führer meiner Macht entzogen war, ich hatte gerade darin einen Wink der Vorsehung zu erkennen geglaubt, daß sie mir ersparen wolle, über jenes inhaltsschwere Blatt zu entscheiden; ich glaubte eine Mahnung von oben zu hören, daß ich nicht Richter sein solle über das, was geschehen ist zwischen mir und jenem Manne.«
»Bedenken Durchlaucht«, rief Overbergen, »wie nothwendig es ist, daß ein strenges Beispiel gegeben wird, zumal bei einer so hervorragenden Persönlichkeit! Es ist nicht sein Tod, auf den ich dringen möchte. Durchlaucht können immerhin Ihrer Gnade freien Spielraum lassen, aber Sie können ihn nicht ziehen lassen, er darf nicht straflos bleiben, um Ihrer im fremden Lande zu spotten.«
»Spott!« sagte Felix finster und halblaut vor sich hin. »Wollte Gott, Spott wäre das Einzige, was ich von ihm zu besorgen hätte!«
»Sohn«, rief die Herzogin näher tretend, »warum sprichst Du nicht? Warum zögert Deine Entscheidung? Solltest Du neuerdings schwankend werden?«
»Nein«, sagte der Fürst nach längerer Pause, »aber ich besinne mich eben auf den Inhalt der Untersuchung, ich rufe mir ins Gedächtniß zurück, daß der, der mir früher der nächste Freund gewesen, zum Aufrührer geworden ist, daß er vermocht hat, mich so zu betrügen!«
»Gewiß«, rief die Herzogin, »und nicht jetzt erst hat er es gethan, sondern schon früher, schon zu der Zeit, als Du ihn noch für Deinen treuesten Freund hieltest, als Du ihn zur Regierung beriefst! Nie hatte er einen andern Gedanken, als seine geheimen Pläne zu verwirklichen, langsam auf Beseitigung des Fürsten, der ihm sein Vertrauen geschenkt, hinzuarbeiten, bis der Augenblick gekommen sein würde, auf den Trümmern Deines Throns den Freistaat aufzurichten. Das war seine Absicht, während er Dir zu dienen vorgab; darin bestand seine Thätigkeit schon beim ersten Aufruhr.«
»Das ist nicht wahr«, rief Felix abwehrend. »Das kann nicht wahr sein. Dafür habe ich Beweise.«
»Und ich habe die Gegenbeweise«, rief die Herzogin. »Gerichtsrath Weber, sprechen Sie! Von Ihnen habe ich gehört, daß Sie Ohrenzeuge gewesen, wie er aufrührerische, republikanische Reden gehalten hat.«
»Wirklich?« fragte Felix. »Wissen Sie etwas Derartiges? Wann und wo ist das geschehen?«
»In der Nacht des Aufruhrs«, sagte Weber, »wenige Augenblicke, ehe der Tod Seiner Durchlaucht des seligen Herzogs bekannt wurde. Es war an der Ecke, wo die Marienstraße gegen das Thomasgäßchen einbiegt. Der Professor forderte das Volk auf, jetzt, wo es einmal die Gewalt in Händen habe, nicht am Anfang stehen zu bleiben, sondern das Heft in der Hand zu behalten und das Herzogthum ganz abzuschaffen.«
»Du hörst, mein Sohn«, rief die Fürstin triumphirend. »Was sagst Du nun?«
»Was ich sage?« rief Felix, indem er sich hoch aufrichtete. »Daß dieser Herr, der sich einen Richter, einen Rechtskundigen nennt, der Untersuchungen geführt und gewagt hat, Recht zu sprechen über Andere, ein Lügner ist! Er hat gelogen, ja himmelschreiend gelogen! Erfahren Sie denn: ich selbst war an jenem Abend bereits unerkannt in der Stadt! Verkleidet stand ich zur nämlichen Zeit an dem bezeichneten Orte unter der Menge, unmittelbar hinter Führer, und habe jedes Wort gehört, das aus seinem Munde kam. Aus meinen Augen, Elender!« fuhr er gegen Weber gewendet fort. »Sie haben es gewagt, Ihre Blicke bis zu einer der höchsten Richterstellen des Landes zu erheben – beinahe war ich verblendet genug, sie Ihnen zu verleihen. Gehen Sie jetzt oder mein Zorn wird Ihnen die Stelle anweisen, die Ihnen gebührt. All meine Ungewißheit ist gehoben«, rief er den Uebrigen in ernstem Tone zu, »meine letzten Zweifel sind geschwunden, aber mit ihnen auch der letzte Rest von Glauben an Alles, was ich aus Ihrem Munde gehört habe; fortan weise ich alle Ihre Rathschläge zurück! Wer mir einmal einen Tropfen Gift in meinen Becher gegossen, kann mein Vertrauen nie wieder genießen. Sie, mein Herr van Overbergen, über dessen eigentliche Thätigkeit und Erfolge in meinem Lande ich erst in jenem Nachbarstaate vollkommene Klarheit erhalten habe, Sie werden wohl thun, sich wieder dahin zu begeben, wo Ihrer ein größerer Wirkungskreis wartet, als ich Ihnen hier zu gestatten gesonnen bin. Des Führers auf meiner Herrscherlaufbahn bin ich allerdings beraubt, durch eigene Schuld und durch fremdes Verbrechen, aber ich will mich bestreben, selbst zu sehen, selbst zu handeln, und hoffe die Kraft und das Verständniß dazu in dem zu finden, was ich erlebt!«
Er griff nach Führer's Ring und steckte ihn an den Finger.
»Niemand wage es«, rief er wieder, »bei meinem höchsten Zorne, sich in das Schicksal des Mannes zu mischen, der einst mein Minister gewesen! Ich selbst werde die Antwort geben. Man erwarte meine Entscheidung!«
Zürnenden Angesichts und majestätischen Schrittes verließ er das Gemach und ließ die Fürstin mit einer Ohnmacht ringend zurück, in welcher Overbergen sie unterstützte. »Wehe«, flüsterte sie ihm zu, »Alles ist verloren!«
»Nicht doch«, erwiderte dieser ebenso mit zuversichtlichem Lächeln; »es ist nur ein Plan verunglückt; ein anderer zu anderer Zeit und unter andern Umständen gelingt desto sicherer!«
Am Elbstrande harrte indessen die Fair-Helen noch immer des Augenblicks, der sie aus dem Hafen erlösen sollte; ungeduldig schritt der Kapitän hin und her und sah jeden Augenblick nach der Uhr. » Damn«, rief er, »schon halb zwölf Uhr! Macht Euch bereit, Ihr Burschen! Sobald es zwölf geschlagen, lichten wir die Anker, und wenn wir die Kette sprengen müßten.«
»Da kommen die Herren«, rief von seinem Platze der Steuermann herunter. »Sie haben es sehr eilig, wie es scheint; hinter ihnen auf dem Wege kommt noch ein Mann gelaufen und winkt mit einem Blatt oder Brief; es scheint ein Bote zu sein, aber sie achten nicht auf ihn, sondern sind schon ins Boot gestiegen und stoßen ab.«
Nach wenig Augenblicken betrat Schroffenstein mit dem Beamten das Deck; an Primitiva's Arm trat ihm Führer entgegen.
»Also habe ich doch Recht gehabt!« rief der Minister. »Meine Nachrichten waren gegründet, und man weiß jetzt, mein Herr, was man von Ihren Versicherungen zu halten hat.«
»Ich weise jede solche Beschuldigung zurück, mein Herr!« entgegnete Führer. »Als ich Ihnen sagte, daß ich den Aufenthalt dieser Dame nicht kenne, hab' ich Ihnen die Wahrheit gesagt. Kurze Zeit nach Ihrer Entfernung kam sie hierher auf das Schiff.«
»Ich habe weder Zeit noch Interesse, das zu untersuchen«, sagte Schroffenstein, indem er sich verächtlich ab- und dem Beamten zuwendete. »Das ist die Dame, von der ich Ihnen gesagt habe. Sie haben das Ersuchschreiben der herzoglichen Gerichte, diese wahnsinnige Abenteurerin festzunehmen und mir als ihrem nächsten Verwandten zu übergeben. Ich ersuche Sie, den Befehl zu vollziehen.«
»In der That«, sagte der Beamte, etwas befangen durch die Ruhe und Würde, mit welcher Primitiva den ganzen Vorgang betrachtete, »wenn ich die Ehre habe, mit Fräulein Primitiva von Falkenhoff oder der verwittweten Frau Gräfin von Schroffenstein zu sprechen, so muß ich Sie auffordern, diesem Herrn zu folgen.«
»Das wird sie nicht«, rief Friedrich entgegen. »Erlauben Sie, daß ich für die Dame antworte! Sie ist nicht, die Sie genannt haben, sie trägt jetzt den Namen Primitiva Führer, sie ist meine Frau; vor wenig Augenblicken wurden wir in aller Form getraut.«
Der Beamte stand betroffen, Schroffenstein aber rief erglühend und außer sich: »Vermählt? Das kann, das darf nicht sein! Leere Ausflüchte! Ohne Zustimmung des Vormunds ist eine solche Verbindung ungültig.«
»Hierin dürften Sie sich doch irren, Excellenz«, sagte Riedl dazwischentretend. »Um eine Heirath zu hindern, reicht Ihre rechtliche Befugniß nicht aus. Sie können nach Ihren Begriffen ein Schildchen in Ihrem Stammbaum schwarz ausfüllen, aber die Frau meines Freundes wird dieses Unglück zu ertragen wissen.«
»Wer spricht hier von ungültig?« rief der hinzutretende Kapitän dazwischen. » Damn, warum soll eine Ehe ungültig sein, bei welcher Kapitän Wulster Zeuge gewesen ist? Das Paar ist auf meinem Schiffe getraut, einem guten amerikanischen Schiffe; das Deck davon ist so gut wie amerikanischer Boden. Die Ehe ist gültig, und den will ich sehen, der dagegen Einspruch thut!«
»Sie sehen, mein Herr«, ergriff Primitiva das Wort, »daß Ihre Bemühungen vergebens sind; die Beute, in deren Besitz Sie sich schon wähnten, ist Ihnen entschlüpft. Geben Sie es denn auf, mich weiter zu verfolgen! Ich will Alles vergessen und will versprechen, Ihrer nur freundlich zu gedenken. Gewinnen auch Sie es über sich, nicht zu grollen, wenn Sie den Namen eines Weibes hören, das sein schönstes Glück in dem Gedanken findet, dem Manne ihres Herzens ganz zu gehören und ihm zu folgen, wohin ihn die Wege seines Schicksals auch führen mögen.«
Rathlos, vor Grimm an den Lippen kauend, stand Schroffenstein, als eben der Bote, den man vom Ufer aus schon bemerkt hatte, nachgerudert kam. »Ah«, rief er jetzt erleichtert aufathmend, »das Telegramm Seiner Durchlaucht! Nun denn, begleiten Sie Ihren Herrn Gemahl! Wir werden nun erfahren, welches die Wege sind, die ihn sein Schicksal führt.« Er erbrach das Blatt, las und ließ es zu Boden fallen; dann wandte er sich ohne Wort und Blick dem Borde und dem Boote zu. Der Beamte folgte.
Riedl hatte das Telegramm aufgefangen, als es den Händen des Grafen entglitt. »Das scheint nicht nach Wunsch ausgefallen zu sein«, rief er lachend. »Laßt doch hören! Ah, das Telegramm ist von Seiner Durchlaucht dem Herzog selbst. »Ich befehle«, las er, »der Abreise meines einstigen Ministers, Professor Führer, nicht das Geringste in den Weg zu legen. Das sei ihm ein Beweis, daß der Freund nicht zum Feinde geworden! Er soll von mir hören, und was er hört, soll ihn mir versöhnen. Herzog Felix.««
Auf den Thürmen der nahen Stadt hoben die Hämmer aus, um die zwölfte Stunde zu verkünden; die Matrosen begrüßten den ersten Ton mit wildem, freudigem Hurrah und rannten in buntem Gewirr an ihre Posten. Die Ankerwinde begann zu knarren, die Taue klapperten, die Stimme des Kapitäns tönte durch den Aufruhr.
Wortlos hing Riedl an Friedrichs Mund, schüttelte Primitiva die Hand und eilte dann hinunter in das Boot. Er stand am Ufer und winkte mit dem Tuche, als die Fair-Helen ihre gewaltigen Flanken zum Wellentanze zu wiegen begann; die Segel blähten sich, majestätisch wendete sich das stolze Schiff und flog mit der Behendigkeit und Sicherheit eines befreiten Vogels aus dem Hafen zwischen den Bastionen hindurch in das freie offene Meer.
Am Mastbaum standen Primitiva und Friedrich; innig an einander gelehnt sahen sie auf das entschwindende Gestade zurück und wehten mit den Tüchern hinwieder zum Abschiedsgruß.
»Da sinkt hinunter, was unsere Welt gewesen ist!« rief Friedrich, indem er seine Gattin an sich drückte. »Wir schweben von ihr hinweg, als wären wir selige Geister, einem schweren und schmerzenreichen Körper entronnen, einer neuen Heimat entgegenziehend, einer Heimat ewigen Glücks! Lebe denn wohl mit Allem, was uns theuer war, mit Leid und Lust, mit Sorge und Hoffnung, lebe wohl, geliebtes, mit Schmerzen geliebtes Land! Wir gehören dir nicht mehr, aber unsere Herzen werden nie aufhören, bei dir zu sein! Sei glücklich, geliebte deutsche Heimat, so glücklich, als unsere kühnsten Träume dich gedacht, und ich weiß, du wirst es sein! Ich fühle es in diesem Augenblicke, der mich anweht wie Odem der Weissagung, du wirst frei und glücklich sein, die Zeit wird kommen, in der alle herrlichen Kräfte in dir zusammenwirken im schönen harmonischen Ebenmaße, die Zeit der Freiheit, in der kein Zwiespalt mehr sein wird zwischen Fürst und Bürger, keine Feindschaft mehr zwischen Mütze und Krone!«
Ende
Druck von Bär & Hermann in Leipzig.
Papier von Julius Lange in Jeßnitz bei Dessau.