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Drittes Kapitel.
Kugeln und Aepfel

Im Gemache der Herzogin-Mutter waltete das schweigende Dunkel einer Gruftkapelle.

Die greise Fürstin hatte die immer verdeckten Fenster noch stärker verhüllen lassen, denn seit einigen Tagen hatte sich der Zustand ihrer Augen sehr verschlimmert. Sie saß im Lehnstuhl und hatte den glühenden Kopf ermüdet und ruhebedürftig in die Kissen zurückgelegt. Primitiva hatte einen feuchten, kühlenden Verband über Augen und Stirn der Leidenden befestigt. Der Leibarzt stand ehrerbietig neben der Kranken und hielt ihre Rechte in der Hand, vorsichtig und mit Bedacht die Pulsschläge zählend und abwägend.

»Ich kann nichts thun, als Durchlaucht die vollständigste Ruhe empfehlen«, sagte er nach einer Weile. »Sie wird am ersten, ja sie wird allein im Stande sein, die Verstimmung und Erregung zu beseitigen, welche sich der Kopfnerven bemächtigt hat.«

»Nein, Doctor«, sagte die Fürstin unwillig. »Wie oft soll ich Ihnen noch wiederholen: es ist nicht der Kopf, die Augen sind es, welche leiden! Dafür sollen Sie mir helfen!«

»Geruhen Durchlaucht, mir zu glauben!« sagte der Arzt kaltblütig. »Wenn Sie aber in meine Diagnose Zweifel setzen, so gestatten Sie gnädigst, Ihre Augen zu untersuchen und die Verhüllungen für einen Moment hinwegzunehmen! Es ist unumgänglich, wenn ich –«

»Die Hüllen weg?« rief sie, indem sie sich halb erhob und ihre Hand aus der des Doctors befreite, gleichsam als ob sie ihn von sich abwehren wollte. »Damit die Helle noch schrecklicher in meine armen Augen hereindringe? O, sie sind viel leidender, viel empfindlicher, als sie waren. Jeder Schimmer dringt mir wie eine Dolchspitze in Augen und Gehirn! Manchmal kommt es mir sogar vor, als ob ich besser sähe. Das dunkle, dämmerige Schwarz, das mich seit Jahren umgibt, ist wie durchsichtig geworden, es ist, als sähe ich in ein Meer von Blut oder in rothen Feuerschein –« Sie vollendete nicht und sank mit einem leichten Schauder in den Lehnstuhl zurück.

»Dennoch bleibe ich bei meiner Ansicht«, begann der Arzt wieder. »Die örtliche Reizung der Augen, worüber Durchlaucht klagen, wird durch den angewendeten Verband sehr bald gelindert sein; aber völlig kann ich dieselbe nur beseitigen, wenn Durchlaucht sich Ruhe gönnen. Die Anstrengungen und Aufregungen der letzten Zeit haben Durchlaucht zu sehr in Anspruch genommen. Ihr Kopf ist leidend und dadurch sind die ohnehin schon kranken Augen ebenfalls ins Mitleiden gezogen.«

»Ruhe?« seufzte die Fürstin, nachdem sie einen Augenblick schweigend gesessen, wie um mit ihren Erinnerungen Rath zu halten. »Sie könnten doch wohl Recht haben, Doctor. Ich habe diese Zeit her viel arbeiten und denken müssen. Es ist doppelte Anstrengung für mich, wenn man nichts auf die Außenwelt ableiten kann und Alles blos innerlich für sich verarbeiten muß. Sie sollen Ihren Willen haben; ich will mir Ruhe gönnen. Herzog Felix wird ja heute schon zurückerwartet, er ist vielleicht in diesem Augenblicke bereits eingetroffen! Ich werde Ihnen folgen, Doctor, und von heute an ausruhen. Geleiten Sie den Doctor, Fräulein von Falkenhoff – nicht doch, Frau von Schroffenstein!« fuhr sie, gegen Primitiva gewendet, fort. »Sehen Sie zugleich nach, wer im Vorzimmer ist; ich bin für Niemand zu sprechen als für Seine Durchlaucht den Herzog.«

Schweigend gehorchte Primitiva. Die Herzogin lehnte wie leblos in ihrem Stuhle, nur ihre Lippen bewegten sich und ihre Hand faßte tastend unter dem Ueberwurf nach einer Schnur auf der Brust, an der ein kleines Kreuzchen hing; sie zog es hervor und drückte es rasch an die Lippen.

»Graf Schroffenstein ist im Vorzimmer«, meldete Primitiva, wieder eintretend, »in Angelegenheiten, welche Durchlaucht bekannt sind und durchaus keinen Aufschub leiden. Er verlangt die Ausfertigungen, welche Durchlaucht zur Unterschrift vorgelegt sind.«

»Der neue Minister ist sehr diensteifrig«, sagte die Fürstin halb vor sich hin, »aber er hat ganz Recht; er denkt wohl auch, daß nur an geschehenen Dingen nicht mehr zu rütteln ist. Er will die Urtheile über einige der gefangenen Rebellen«, fuhr sie, sich zu Primitiva wendend, fort, »die noch zu unterzeichnen sind. Ich hatte es beinahe vergessen. Doch nein, vergessen habe ich sie nicht; ich will Ihnen und mir meine Schwäche nur eingestehen, ich wollte es darauf ankommen lassen, ob nicht die Ankunft meines Enkels mich der traurigen Mühe überheben würde. Es soll nicht sein! Gut denn, so will ich unterzeichnen. Er soll mir nicht nachsagen können, daß ich das übernommene Werk nur halb gethan. Kommen Sie, liebe Schroffenstein, und erweisen Sie mir noch einmal den Secretärsdienst! Legen Sie mir die Papiere vor und leiten Sie meine Hand nach der Stelle, wo mein Namenszug zu stehen hat!«

Primitiva trat an den Tisch, wo ein Stoß von Papieren übereinander geschlichtet lag.

»Sie zittern«, sagte die Herzogin, als Primitiva ihre Hand ergriff, um sie auf das Blatt zu legen. »Warum? Wohl aus Theilnahme für die Verbrecher, deren Loos ich entscheide? Beruhigen Sie sich, meine Liebe, ich habe mir ausführlichen Vortrag erstatten lassen und Alles wohl erwogen. Es ist Keiner darunter, der nicht verdiente, was ihn trifft, ja der nicht noch zehnmal Härteres verdiente. Auch gilt es hier keine Erwägung und Entscheidung mehr; es gilt nur eine letzte Form, das längst Entschiedene und Erwogene zu vollziehen.«

»Dennoch haben Durchlaucht selbst das Geschäft ein trauriges genannt –«

»Das ist es auch«, entgegnete die Fürstin, »aber darum nicht minder nothwendig. Daß Sie davon ergriffen werden, glaube ich wohl«, fuhr sie fort, indem sie den Anfangsbuchstaben ihres Namens mit festem Zuge auf eins der Blätter nach dem andern schrieb, »Sie sind noch zu jung für solche Eindrücke; Sie haben ein zu weiches Herz.«

»Es mag so sein«, entgegnete Primitiva ernst, »mindestens danke ich dem Himmel, daß nicht meine Hand es ist, die den entscheidenden Zug auf diese Unglücksblätter zu setzen hat. Ich würde den Gedanken nicht ertragen, daß unter all den Schuldigen auch nur ein einziger Verirrter, ein Verleiteter sein könne, und daß, wenn sie auch schuldig sind, die Strafe nicht sie allein trifft, sondern viele andere schuldlose Herzen mit ihnen und vielleicht noch härter als sie!«

»Sie mögen tragen, was sie selbst über sich heraufbeschworen haben!« rief die Herzogin in rasch aufloderndem Grimme, hinter welchem sie ihr eigenes Schwanken zu verbergen trachtete. »Im Herzen sind sie alle schuldig, im Kopfe sind sie alle Verräther, alle angesteckt von den gottlosen Neuerungen – aber Sie zittern schon wieder und noch stärker als zuvor. In der That, ich werde auch für Sie den Arzt rufen lassen müssen.«

Die Fürstin hatte vollkommen richtig bemerkt. Primitiva hatte eben wieder eins von den Blättern ergriffen und einen Blick darauf geworfen, als sie erblaßte und zu schwanken begann, daß ihre Erregung selbst der Blinden unmöglich entgehen konnte. »Entschuldigen Sie, Durchlaucht!« sagte sie mit gepreßter Stimme. »Das Blatt, welches jetzt folgt, enthält ein Todesurtheil.«

»Ich weiß«, sagte die Herzogin; »es ist das einzige, das noch fehlt, das einzige, das vollzogen werden soll. Geben Sie! Das Gericht hat über Viele den Tod verhängt – ich habe ihn bei allen umgewandelt. Aber der stolze Bürgerssohn, der es gewagt, bis in unsere Höhe zu dringen und einen Fürsten zum Spielball seiner Pläne zu machen, der sich erkühnt, seine Hand gegen mich aufzuheben, der soll aus den Reihen der Lebenden verschwinden, und meine Hand wird nicht zittern, ihn verschwinden zu machen.« Sie erhob die Hand, um rasch zu unterzeichnen, aber ebenso schnell hielt sie inne, den Kopf und die schmerzenden, verhüllten Augen in die freie Hand stützend. »Ich glaube seine Stimme zu hören«, sagte sie. »Er ist ein tüchtiger Mensch, und es hätte Bedeutendes aus ihm werden können, wenn er seine Gaben recht verwendet hätte. Wenn auch der Kopf verschroben ist, im Herzen hat er eine gesunde Stelle: er ehrt seine Mutter und liebt sie.«

»Seine Mutter ist nicht mehr unter den Lebenden«, sagte Primitiva. »Der gütige Himmel hat es ihr erspart, den Fall ihres Lieblings zu erleben. Vielleicht erinnern sich Durchlaucht, daß er an ihrem Sterbebette verhaftet wurde.«

»Ganz recht, ich erinnere mich«, rief die Fürstin. »So weit hat er die Heuchelei getrieben; die Leiche der Mutter selber war ihm nicht zu heilig, sie und ihre Krankheit zum Deckmantel verbrecherischer Pläne zu brauchen.«

»Durchlaucht«, rief Primitiva erregt, »das ist nicht wahr; wer es auch sei, der ihn dessen beschuldigte, er hat eine Lüge gesagt. Einer so unedlen Handlung ist Führer nicht fähig.«

»Wie wissen Sie das?« fragte die Fürstin, indem sie sich nach Primitiva umwandte, als ob sie in ihrem Gesichte zu lesen vermöchte. »Doch ja, ich erinnere mich, gehört zu haben, Sie sollen ja den Professor kennen; man will von Beziehungen wissen, die zwischen Ihnen stattgefunden haben.«

»In früherer Zeit, Durchlaucht«, entgegnete Primitiva. »Er war der Studienfreund und Spielgenosse meines verstorbenen Bruders, zum Theil auch der meinige, da ich mit meinem Bruder erzogen wurde.«

»Wirklich?« begann die Herzogin wieder. »Dann begreife ich vollkommen, dann mag es Ihnen wohl schwer fallen, daß gerade Sie die Hand führen sollen, die sein Todesurtheil unterzeichnet. So erfahren denn auch Sie trotz Ihrer Jugend schon, daß man auf Menschen nicht bauen darf. Was ich Ihnen gesagt, ist erwiesen, durch die unwiderleglichsten Beweise dargethan – es thut mir Leid, daß ich den Glauben an den Jugendfreund zerstören muß! Er hat auch Sie getäuscht durch falschen Schein – ich sage Ihnen, die Menschen sind alle falsch. Die Sünde überwuchert die edelsten Keime und es gibt nur eins, was die Pflanze schützen kann, damit sie werde, was sie sein soll; das ist der Stab des Glaubens, an dem sie sich aufranken muß, das ist die vertraute Hand des kirchlichen Gärtners, der Alles von ihr entfernt, was ihr schaden könnte. Der Unglückliche, den ich mit Ihnen bedauere, ist auch eins der Opfer der unseligen neuen Philosophie, jener gottlosen Professorenweisheit, welche nicht davor zurückbebt, den Schöpfer selbst und seinen Schöpfungsplan zu kritisiren; darum ist es besser, er sterbe, als daß er durch seine Fähigkeiten vielleicht noch größeres Unheil stiftet. Ich unterschreibe das Urtheil um Vieles leichter, weil ich weiß, daß seiner Mutter der Schmerz erspart ist, zu erfahren, wie weit es mit ihrem Sohne gekommen ist. Wie mag sie sich gefreut haben, die Arme, als er ihr dereinst geboren wurde, und wie würde sie Gott angefleht haben, ihr lieber die Mutterfreude für immer zu versagen, hätte sie ahnen können, daß ihr geliebtes Kind den Tod des Verbrechers sterben würde! Geben Sie das Urtheil!«

»Durchlaucht«, sagte Primitiva mit bebender Stimme, »alle andern Urtheile sind widerruflich, ein Wort des Fürsten kann Kerker wieder öffnen, kann die verlorene Ehre wiedergeben – dieses eine ist unwiderruflich, dieser eine Federzug nimmt, was keine Fürstenmacht der Erde wiedergeben kann! Sie haben überall Gnade walten lassen; gewähren Sie Gnade auch hier, gewähren Sie zum mindesten Aufschub!«

»Ich wollte Beides gewähren«, sagte die Fürstin streng. »Ich hatte seine Zukunft in seine eigene Wahl gelegt, hatte ihn zum Meister seines Geschicks gemacht; er hat Alles von sich gestoßen. Geben Sie das Urtheil! Sein Blut komme über ihn selbst!«

Primitiva stand in schwerem Kampfe. Ihr Auge ruhte fest auf dem Antlitz der Blinden, als ob sie sich überzeugen wolle, daß dieselbe das nicht gewahre, was ihr plötzlich durch den Sinn schoß; dann erhob sie die Hand, wie um das Blatt mit dem Todesurtheil ihrer Hand zu unterbreiten. Ohne im Augenblicke selbst klar zu überlegen, warum sie das thue und was sie damit beabsichtige, ließ sie dasselbe aber beiseite liegen und schob ein anderes leeres Blatt, das daneben lag, an dessen Stelle.

Die Fürstin schrieb mit festem Zuge ihren Namen darauf.

»Sind wir zu Ende?« sagte sie dann nach einer Pause. »Dann nehmen Sie die Papiere und übergeben sie Schroffenstein! Seine Sache ist es nun, für den schleunigsten Vollzug zu sorgen. Ziehen Sie auch die Glocke, daß meine Sibylla kommt, und lassen Sie mich allein!«

Primitiva faßte die Hand der Fürstin und beugte sich über dieselbe. »Und meine Bitte, Durchlaucht?« sagte sie.

»Wie?« fragte diese, sich rasch umwendend. »Nach Allem, was ich Ihnen gesagt, dachte ich, Sie würden mich mit dieser Bitte nicht wieder belästigen.«

»Ich muß, Durchlaucht«, entgegnete Primitiva ruhig; »ich muß es jetzt noch mehr als zuvor. Durchlaucht wissen, daß mein Vater vor wenigen Wochen in die Ewigkeit abgerufen wurde. Meinen Gatten hat mir ebenfalls der Tod entrissen. Meine Angelegenheiten erfordern meine Anwesenheit auf meinen Gütern.«

»Das Alles können Sie durch Ihren Verwalter, durch Ihre Leute besorgen lassen. Ich möchte Sie nicht von mir gehen lassen, ich bin zu sehr an Sie gewöhnt.«

»Es ist mir eine große Auszeichnung«, entgegnete Primitiva, »aus Eurer Durchlaucht Munde zu erfahren, daß Sie mit meinen Diensten nicht unzufrieden waren, aber ich bin außer Stände, mir diese Zufriedenheit länger zu erwerben. Was ich in den letzten Zeiten erlebt habe, hat mein Gemüth so sehr ergriffen und erschüttert, daß ich über meinen zukünftigen Lebensplan mit mir zu Rathe gegangen bin und mir einen solchen gewählt habe, welcher mich weitab vom Hofe und dessen Verbindungen führt.«

»Sie sagten, Sie wollten in das südliche Frankreich, wo Sie Verwandte haben – war es nicht so? Sie wollten in ein Stift eintreten? Ich bin weit entfernt, einen so gottseligen Entschluß zu tadeln, aber es eilt nicht bei Ihnen. Sie haben noch Leben genug vor sich, in meinem Stundenglase sind nur noch wenige Sandkörner; Sie können es wohl abwarten, bis sie abgelaufen sind.«

»Es ist mir leider unmöglich«, sagte Primitiva fest. »Meine Anordnungen sind bereits unwiderruflich getroffen. Ich kann nicht hier bleiben, auch wenn ich wollte, und werde auch niemals wieder hierher zurückkehren. Gestatten mir demnach Durchlaucht, daß ich für alle mir erwiesene Huld danke und mich zu beurlauben bitte.«

»Wie soll ich das verstehen?« sagte die Fürstin nach einigem Besinnen. »Sie sprechen in Räthseln und hinter Ihren Worten birgt sich ein Geheimniß. Sie wollen mich täuschen! Nicht die Erschütterungen des Erlebten sind es, die Sie von mir fortführen, Sie haben einen näher liegenden, einen persönlichen Grund, Sie haben etwas vor –«

»Ich bin immer wahrhaft gewesen«, sagte Primitiva, »ich will auch jetzt Durchlaucht nicht verschweigen, daß ich mir eine große, gefahrvolle Aufgabe gesetzt habe. Diese gilt es noch zu erfüllen; es gilt, an diese Erfüllung Alles zu setzen, was ich bin und habe. Die freudige Erinnerung, wenn mein Vorhaben gelingt, soll mich in meine Einsamkeit begleiten; wenn sie mißlingt, wird der Schmerz darüber die einzige Beschäftigung meines Lebens sein.«

»Und ich darf nicht erfahren, was Sie vorhaben?« sagte die Fürstin wieder. »Ich wüßte nicht, was Sie vor mir zu verbergen brauchten, wenn es nicht Unrecht oder Ungebühr enthält. Haben Sie Ihr Gewissen wohl geprüft? Ist nichts in Ihnen, was Sie vor dem Wege, den Sie betreten wollen, warnt?«

»Nein, Durchlaucht, mein Gewissen befiehlt mir so zu handeln, wie ich entschlossen bin.«

»Nun denn«, sagte die Fürstin, »so will ich Sie nicht halten und nicht länger in Sie dringen. Ich habe Sie lieb gewonnen während der vielen Jahre, die Sie um mich waren; Sie waren mir die liebste von allen meinen Damen, weil Sie ein weiches, warmes Herz haben; wenn ich auch oft darüber gescholten, es hat mir doch wohl gethan, aus Ihren Worten, aus Ihrer sanften Stimme es herauszuhören. Gehen Sie denn mit Gott!« fuhr sie fort, zwischen Stolz und Rührung schwankend. »Ich werde Sie sehr vermissen. Doch vielleicht besinnen Sie sich und kehren wieder zu uns zurück. Nehmen Sie meine Hand zum Kusse! Ich bin Ihre gnädige Fürstin und wohlgeneigte Herrin.«

Primitiva faßte die Hand und beugte sich darauf nieder. »Nun?« rief die Fürstin. »Sie haben mir doch sonst oft die Hand geküßt! Sie zögern zum Abschied?«

Primitiva beugte sich wieder und brachte ihre Lippen nahe an die Hand der Herrscherin; sie schien dieselbe küssen zu wollen; aber sie unterließ es, wie von einer unangenehmen Bewegung ergriffen, und richtete sich auf.

»Nun?« rief die Fürstin ihr gegenüber in einem Tone, der alles das ausdrückte, was sie durch ihre erloschenen Augen nicht zu sagen vermochte.

»An Ihrer Hand ist Blut, Durchlaucht«, sagte Primitiva. »Ich vermag nicht, sie zu küssen.« Mit tiefer Verneigung schritt sie aus dem Saale, während gleichzeitig durch eine Tapetenthür die Kammerfrau eintrat.

»Ist es das?« murmelte die Herzogin, nach der Richtung gewendet, in welcher Primitiva verschwunden war. »So fahre hin! Ich will auch Dich zu den Verlorenen werfen und nicht murren! Hab' ich es doch vorher gewußt, daß auf Menschen kein Verlaß ist! Alle sind sie wandelbar, alle schwach. – Bist Du da, Sibylla? Bringe mich auf mein Ruhebett!« fuhr sie dann fort. »Ich bin herzlich müde und will ausruhen; der Tagelöhner, der seine Arbeit gethan hat, darf es ja auch, nicht wahr? Ich will sehen, ob ich schlafen kann; dann wird das Getobe in Herz und Gehirn rasten, dann werde ich wenigstens eine Weile von ihrem Thun nichts wissen. – Ach, Sibylla«, seufzte sie, indem sie erschöpft in den Divan sank, »es ist manchmal recht bitter, eine Fürstin zu sein.«

Sie lag bald regungslos und wie schlafend, während die Kammerfrau neben ihr Platz nahm; nur die Hände suchten leise das kleine Kreuzzeichen unter der Mantille und umschlossen es fest.

Der Minister schritt indessen unruhig im Vorzimmer hin und her. Der Gerichtsrath Weber hatte mehrere Male den Versuch gemacht, ihn auf diesem Spaziergang zu begleiten und ein Gespräch zu unterhalten, aber Schroffenstein war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, zu sichtbar von ernsten Besorgnissen bewegt, als daß Weber im Stande gewesen wäre, sein Vorhaben auszuführen. Er beschränkte sich daher bald darauf, in kaum geringerer Befangenheit als sein Gebieter, das Benehmen desselben zu beobachten und zu verfolgen.

»Wieder eine Viertelstunde!« rief Schroffenstein, als die Uhr im Saale aushob und schlug. »Jeden Augenblick kann Seine Durchlaucht eintreffen und noch immer wird gezögert! Es kann Alles auf dem Spiele stehen, wenn der Herzog kommt, und nicht vor seinem Eintreffen Alles geschehen und abgethan ist, daß nichts mehr zurückgenommen werden kann! An Ihnen liegt ein großer Theil der Schuld«, rief er dem Gerichtsrath im Vorbeischreiten zu. »Sie mußten schneller sein, durften sich nicht durch Nebenrücksichten aufhalten lassen! Das Urtheil über den Exminister wäre das erste gewesen, das zu erledigen war; alle andern konnten warten.«

»Aber bitte, Excellenz«, sagte der Gerichtsrath, »wollen Sie erwägen, daß ich erweislich mich aller nur möglichen Beschleunigung beflissen habe. Ist es meine Schuld, wenn Ihre Durchlaucht durch Personen von allerhöchstem Vertrauen mir Befehle zukommen ließ?« »An meine Befehle hatten Sie sich zu halten«, rief Schroffenstein, »und sonst an keine! Sie mußten wissen –« Er brach plötzlich ab; denn die Thür zu den Gemächern der Herzogin öffnete sich und Primitiva trat heraus. »Endlich!« rief ihr Schroffenstein entgegen. »Sie kommen von Ihrer Durchlaucht, meine liebe Tochter; wie befindet sich die Frau Herzogin?« Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Ich erblicke in Ihren Händen wichtige Papiere, die ohne Zweifel für mich bestimmt sind.«

»So ist es«, erwiderte Primitiva zögernd.

»O, dann geben Sie! Geben Sie schnell! Es ist Gefahr im Verzug; es sind die letzten Urtheile über die Gefangenen vom jüngsten Aufstand; sie sind ohne Zweifel unterzeichnet. Dem Himmel sei Dank, so wird diese verbrecherische Partei bald bis auf die letzte Spur ausgetilgt sein!«

Unschlüssig, ob sie erwidern und was sie thun solle, ließ Primitiva geschehen, daß er die Papiere aus ihrer Hand nahm und flüchtig überblickte. »Erlauben Sie«, rief er, »daß ich gleich meine weitern Befehle gebe und Sie bitte, inzwischen einen Augenblick zu verweilen! Ich habe dringend und unaufschieblich mit Ihnen zu sprechen. Hier, Herr Gerichtsrath«, fuhr er dann gegen diesen gewendet fort, »der letzte Theil Ihres Commissoriums! Machen Sie sich sofort auf die Reise! Hier haben Sie die unterzeichneten Urtheile. Ihre Aufgabe ist, dafür zu sorgen, daß die Verkündung sofort erfolgt und daß zwischen Verkündung und Vollzug nicht ein Haar breit Zwischenraum entsteht.«

»Ich werde eilen, Excellenz, als ob es mein eigenes Leben gälte«, erwiderte Weber. »Excellenz können unbedingt auf mich vertrauen. Ich werde mir gewiß damit die vollste Zufriedenheit erwerben. Dann aber«, fuhr er näher tretend leise fort, »darf ich wohl hoffen, so harten und ungegründeten Tadel, wie Excellenz vorhin ausgesprochen, nicht mehr zu vernehmen; dann darf ich mir wohl schmeicheln, Ihre und die allerhöchste Anerkennung –«

»Gewiß, gewiß. Zählen Sie darauf!«

»Die Stelle eines Präsidenten am Obergericht, in der Hauptstadt ist eben erledigt«, sagte der Gerichtsrath mit seinem süßesten Tone. »Ich kann nicht leugnen, daß sie der Inbegriff aller meiner Wünsche wäre. Vielleicht wäre mein kleines Verdienst nicht zu gering, mir die Stufe zu dieser Stelle zu werden –«

»Sie sollen sie haben«, rief Schroffenstein, indem er ihn auf die Schulter klopfte. »Fliegen Sie, mein Bester! Kommen Sie mit der Nachricht zurück, daß geschehen ist, was geschehen muß, und Sie sind Präsident!« Der Gerichtsrath eilte mit tiefster Verbeugung und aufleuchtender Miene aus dem Saale; der Minister wandte sich ab und murmelte mit geringschätziger Handbewegung in sich hinein: »Geh nur! Du bist eine tüchtige Zange, wo es gilt etwas festzuhalten oder in die glühenden Kohlen zu fassen, aber zu mehr taugst Du nicht, und wenn die Glut vorüber ist, gehörst Du in den Winkel.«

»Nun, Excellenz«, sagte Primitiva, indem sie mit zurückhaltendem Anstand näher trat, »Sie hatten den Wunsch ausgedrückt –«

»Allerdings, meine theure Tochter«, rief der Minister, schnell in den Ton biederer Zärtlichkeit übergehend. »Sie machen mich glücklich, daß Sie meinem Wunsche so bereitwillig willfahren, dennoch muß ich mich über Ihre Grausamkeit beklagen, welche mir den Freudenkelch nicht vergönnt, ohne ihn mit einem Tropfen Bitterkeit zu vermischen.«

»Es soll sehr zuträglich sein«, entgegnete Primitiva, »mitunter etwas Bitterkeit zu genießen; zu viel Süßigkeit verdirbt den Magen. Aber ich wüßte nicht, wodurch Ihr Vorwurf gegründet wäre, Excellenz.«

»Sie können fragen?« rief Schroffenstein. »Sie wissen, welche Bande uns vereinigen! Die innigsten, welche es in der Familie gibt! Sie sind die Frau meines geliebten, leider so früh mir entrissenen Sohnes, sind meine nicht minder geliebte Tochter, und Sie haben für Ihren Vater keine andere Begrüßung als den kalten Hoftitel, keinen andern Namen als die kalte Excellenz?«

»Ich finde«, sagte Primitiva kalt, »daß die Benennung vollkommen dem Verhältniß entspricht, in welchem wir zu einander stehen. Doch zur Sache! Was soll ich von Ihnen hören, mein Herr?«

»Nun denn«, entgegnete Schroffenstein ärgerlich, »wenn Sie durchaus in diesem Tone mit mir sprechen wollen, so kann auch ich im gleichen erwidern. Ich wünsche von Ihnen zu erfahren, ob Sie über die Vorschläge nachgedacht haben, welche ich Ihnen über Ihre Zukunft gemacht habe.«

»Ueberflüssige Mühe, mein Herr – Sie kennen meine Antwort.«

»Ich will diese Antwort noch nicht als gegeben erachten, ich will annehmen, daß Sie die Verhältnisse nicht genau gekannt, nicht vollständig erwogen haben. Deshalb wollte ich Ihnen noch einmal zur Aufklärung bemerken, daß ich Ihr Schwiegervater, daß ich das Haupt der Familie bin, welcher Sie jetzt anzugehören die Ehre haben, und daß mir als solchem das Recht zusteht, über Ihre Zukunft und über Ihre Lebensweise ein Wort mitzusprechen.«

»Brechen Sie davon ab!« rief Primitiva. »Ich hatte mich entschlossen, Ihrem Sohne anzugehören. Warum ich es that, ist etwas, was ich nur mit mir selber abzumachen habe und mit Gott; er ist mein Zeuge, daß es mein redlicher Wille, ihm anzugehören, wie ich es vermöchte, daß ich fest entschlossen war, als Frau getreulich meine Pflicht zu erfüllen. Der Himmel hat mein Opfer nicht angenommen; er hat noch im letzten Augenblicke meine Kette gesprengt. Ich bin wieder frei und gehöre, da auch mein guter, trefflicher Vater heimgegangen ist, Niemand an als mir selber. Mein eigener Wille ist es daher, der über mich und meine Zukunft zu entscheiden hat, und wie diese Entscheidung lautet, habe ich Ihnen bereits mitgetheilt!«

»Allerdings. Sie haben dabei nur eins vergessen, gnädige Frau«, sagte Schroffenstein mit boshaftem Lächeln. »Rechten Sie mit den Gesetzen des Landes, wenn es Ihnen unangenehm ist und Ihre Pläne durchkreuzt, aber diese Gesetze machen nun einmal die Verfügungen von Frauen aus den edlen Geschlechtern im Interesse des Standes von der freundlichen Mitwirkung eines männlichen Beistandes abhängig. Ich bin Ihr nächster Verwandter und Angehöriger, als solchem steht mir die Verwaltung Ihrer Güter und die Aufsicht über Ihre Person zu.«

»Ich bedaure«, entgegnete Primitiva, »daß ich dieses wohlthätige Gesetz nicht gekannt habe, mein Entschluß ist aber darum nicht minder unwiderruflich. Ich kann Sie auch mit der Mühe, meine Güter zu verwalten, nicht mehr behelligen. Ich habe eine günstige Gelegenheit, den ganzen Nachlaß meines Vaters in erwünschter Weise zu verwerthen, bereits benutzt, ich besitze nichts mehr. Das Stammschloß der Familie, auf dem mein Vater lebte und starb, wo ich meine Jugend verlebte und welches ich zum Andenken erhalten haben möchte, habe ich meinem Neffen zu Genuß und Verwaltung übergeben. Ich selbst habe mein Vermögen in Papiere umgesetzt und werde ein Land verlassen, in welchem mich von allen Seiten nur schmerzliche Erinnerungen berühren, um in freundlicher Gegend eine stille Zufluchtsstätte zu suchen.«

Der Minister wechselte die Farbe und hatte Mühe, einen Rest von Fassung zu behalten. »Wie?« stammelte er. »Ihre Besitzungen veräußert? Das können Sie nicht, das dürfen Sie nicht! Ein solcher Verkauf ist ungültig ohne meine Zustimmung. Ich werde die Gerichte zu Hülfe rufen und ihn annulliren lassen.«

»Nach Belieben«, erwiderte Primitiva ruhig. »Ich werde indessen auch nicht unterlassen, zu handeln, und aus der Ferne den Erfolg Ihrer Bemühungen abwarten.«

»Aus der Ferne?« lachte Schroffenstein grimmig. »Sie könnten sich doch geirrt haben, Frau Gräfin; es könnte vielmehr geschehen, daß Sie den Erfolg in sehr großer Nähe abwarten müßten; noch gibt es, Gott sei Dank, Mittel und Wege, widerspenstige Weiber zu bändigen.«

»Gebrauchen Sie dieselben, ich hindere Sie nicht!« entgegnete Primitiva. »Was ich von den Gesetzen des Landes weiß, kann nicht zu meinem Nachtheil gedeutet werden. Meine Ehe mit Ihrem Sohne wurde unmittelbar nach der Trauung getrennt; das Vermögen, das ich ihm verschrieb, ist daher wieder an mich zurückgefallen. Ich bin Ihnen aus keinem Vertrage verpflichtet und die Gerichte werden Ihnen kaum an die Hand gehen, mein Vermögen in Ihre Hände zu bringen. Eine Verbrecherin bin ich auch nicht. Mit welchem Rechte wollten Sie mich also in Ihrer Nähe zurückhalten?«

»Mit dem Rechte der Vormundschaft«, rief Schroffenstein wüthend. »Glauben Sie, der Grund, weshalb Sie einwilligten, ihm zu gehören, sei mit meinem unglücklichen Sohne begraben? Glauben Sie, daß es unmöglich wäre, eine phantastische Thörin an unüberlegten Schritten zu hindern, durch welche sie sich selbst zu Grunde richtet und die Ihrigen bloßstellt? Glauben Sie, daß es keine Aerzte gibt, welche ein Gebaren wie das Ihrige für Wahnsinn erklären? Besinnen Sie sich noch einmal, gnädige Frau! In einem Gefängniß kann ich Sie vielleicht nicht zurückhalten, aber es gibt andere Anstalten, welche nicht so heißen und doch den gleichen Zweck erfüllen.«

Der Lakai, welcher vor der Eingangsthür stand, öffnete dieselbe leise und trat ein. »Entschuldigen Sie, wenn ich störe! Hier ist ein Brief für die Frau Gräfin.«

»Endlich!« rief Primitiva, ihm entgegengehend und nahm ihm das Blatt ab, welches sie hastig öffnete und las. »Thun Sie, mein Herr, was Sie glauben verantworten zu können!« fuhr sie gegen Schroffenstein gewendet fort. »Ich bin auf Alles vorbereitet. Ich bleibe bei meinem Entschluß, und wenn noch etwas gefehlt hätte, ihn unumstößlich zu machen, so ist er es durch diese Zeilen geworden.«

»Frau Gräfin« rief Schroffenstein, knirschend vor Wuth, alle seine Mittel fehlschlagen zu sehen, »ich warne Sie zum letzten Male. Verschmähen Sie meinen Rath nicht und fügen Sie sich meinem Willen! Sie sollen sonst erfahren, daß ich die Macht habe, ihn durchzusetzen.«

»So lassen Sie endlich diese Drohungen«, entgegnete Primitiva sich abwendend, »und gebrauchen Sie Ihre gerühmte Macht! Noch diesen Abend bin ich außerhalb des Bereichs derselben, und wie wenig ich Sie fürchte, mögen Sie daraus erkennen, daß ich Ihnen das offen sage. Ich habe von Ihrer herzoglichen Durchlaucht meine Entlassung erhalten und werde noch vor Einbruch der Nacht die Stadt verlassen haben.«

»Nimmermehr!« rief Schroffenstein. »Und wenn ich Sie mit Gewalt zurückhalten müßte!«

Stimmen vor der Thür unterbrachen das Gespräch. Der Lakai hatte dieselbe halb geöffnet und sprach abwehrend mit einer Dame, welche durch dieselbe einzutreten versuchte. »Es ist unmöglich, meine Dame«, sagte er. »Wenn Sie mir nicht glauben, so treffen Sie hier Personen vom allerhöchsten Dienste, welche Ihnen bestätigen werden, daß Niemand zu Ihrer Durchlaucht gelangen kann. Höchstdieselben sind leidend und haben sich vollständig zurückgezogen.«

»So ist es in der That«, sagte Schroffenstein, indem er der Fremden entgegentrat, welche vom Kopf bis zum Fuß in Schwarz gekleidet und in einen weiten Schleier gehüllt war, welcher Gestalt und Angesicht vollständig verbarg. »Der Diener hat Ihnen die Wahrheit gesagt; es ist unmöglich, heute zu Ihrer Durchlaucht zu gelangen.«

»Ich will auch nicht zu Ihrer Durchlaucht«, entgegnete die Fremde hastig. »Ich will zum Herzog.«

»Sie sind im Irrthum, wenn Sie Seine Durchlaucht hier suchen, er ist nicht in der Stadt.«

»Doch, doch«, fuhr die Fremde hastig fort, »er ist vor einer halben Stunde angekommen. Ich sah selbst seinen Wagen, sah ihn aussteigen und bin bis in sein Vorzimmer gedrungen, aber es gelang mir nicht, in seine Gemächer zu kommen. Es hieß, er habe sich sofort zu der Herzogin-Mutter begeben; er muß also hier sein und ich muß ihn sprechen. Ich kann und darf mich nicht zurückweisen lassen. Meine Bitte leidet keinen Augenblick Verzögerung; Leben und Tod hängen davon ab.«

»Leben und Tod?« sagte Schroffenstein näher tretend. »Ah, nun errathe ich, was Ihre Stimme und Erscheinung, welche mir gleich bekannt erschienen, mich bereits vermuthen ließen; Sie sind –«

»Sie haben ganz Recht, daß Sie verstummen«, sagte die Fremde, »daß Sie meinen Namen nicht nennen. Ich habe keinen Namen mehr, denn ich habe kein Recht mehr, denjenigen zu führen, den ich einst tragen durfte. Ja, ich bin die Unselige, die Sie meinen«, fuhr sie leidenschaftlich fort, »bin das elende Weib, welches kommt, das Leben des Mannes zu erbitten, dem sie einst angehört, den sie elend gemacht und ins Verderben gestürzt hat! Warum auch verhülle ich dieses Angesicht? Ich habe kein Recht, meine Schande zu verbergen. Es ist ein Theil meiner gerechten Strafe, daß alle Welt das Brandmal auf meiner Stirne schauen mag!«

Sie zog den Schleier zurück. Die Ueberraschten sahen in das eingefallene, todtenbleiche Antlitz Ulrikens, aus welchem ihnen die einst so schönen blauen Augen mit unheimlichem Feuer entgegenloderten. »Ich kann Ihnen nur wiederholen, meine Gnädige«, antwortete Schroffenstein, »daß Sie sich im Irrthum befinden, wenn Sie Seine Durchlaucht hier suchen. Mein Wort zum Pfande dafür! Sonst zweifle ich allerdings nicht, daß eine solche Bitte gerade aus Ihrem Munde nicht vergebens ausgesprochen werden dürfte.«

»O«, rief Ulrike in Thränen ausbrechend, »ich fühle den ganzen Hohn, den unermeßlichen Abgrund von Schmach, den Sie in dieses Wort zusammendrängen! Dennoch soll mich der Vorwurf nicht zurückhalten; es ist ja das Einzige, was ich noch zu thun vermag.«

»Es wird schwer halten«, entgegnete der Minister mit Achselzucken. »Die Sachen sind im Stadium der Entscheidung angelangt; Sie haben etwas sehr lange mit Ihrer Bitte gezögert.«

»Es ist nicht meine Schuld«, erwiderte Ulrike. »Seit Wochen war ich durch ein heftiges Nervenfieber an das Krankenbett gefesselt. Zwei Tage sind es, daß ich zum Bewußtsein zurückkam. Kaum vermögend, mich aufrecht zu erhalten, habe ich mich hierher geschleppt, aber ich komme doch noch zur rechten Zeit. Ich habe gehört, das Urtheil über Führer soll gesprochen, aber noch nicht bestätigt sein.

»Das ist die Wahrheit«, sagte Schroffenstein. »Indessen gereicht es mir zum Vergnügen, Ihnen mindestens einen Trost gewähren zu können. Ich kann Ihnen ganz gewiß versichern, daß Seine Durchlaucht der Herzog das über Ihren Gemahl ausgesprochene Urtheil nicht bestätigen wird. Jetzt aber entschuldigen Sie, wenn ich Sie verlasse und eile, Seine Durchlaucht in seinen Gemächern zu begrüßen! Das mag Ihnen der beste Beweis sein, daß Sie hier vergeblich auf ihn warten. – Von Ihnen, Frau Gräfin von Schroffenstein«, sagte er, sich mit der artigsten Verbeugung und freundlichsten Miene zu ihr wendend, »nehme ich noch nicht Abschied. Ich bin der gewissen Ueberzeugung, daß Sie um meinetwillen Ihre Abreise verschieben werden.«

Mit gewichtigen Schritten eilte er durch die vom Lakai ehrerbietig geöffnete Thür hinweg. Ulrike stand unschlüssig und wollte eben an Primitiva, deren Anwesenheit sie jetzt erst gewahr geworden, eine Frage richten; sie kam jedoch nicht dazu, denn beinahe gleichzeitig, als hinter dem Minister sich die Saalthür geschlossen hatte, öffnete sich an der gegenüberstehenden Seite eine andere, in die Seitencorridors führende Tapetenthür, und Herzog Felix, noch im Reiseüberwurf, trat ein, hastigen Schrittes auf die Gemächer der Herzogin zueilend.

Ulrike stieß einen Schrei aus, in welchem Ueberraschung und Entsetzen sich mischten. Mit weit aufgerissenen Augen und ausgebreiteten Armen stand sie einen Augenblick unbeweglich, um im nächsten vor die Füße des Herzogs zu stürzen, die sie mit dem Jammerausruf »Gnade!« umklammern wollte. Es gelang ihr nicht. Der Herzog, nicht minder als sie über die unerwartete Begegnung bestürzt, machte eine Geberde, welche fast wie Abscheu aussah, und trat einige Schritte zurück. »Was soll das?« rief er im Tone der Entrüstung, hinter welchem er vergebens seine Erregung zu verbergen suchte. »Wer sind Sie? Was drängen Sie sich hier mir in den Weg? Fort! Hier ist nicht der Ort für Geschäfte.«

»Nein, ich lasse Sie nicht!« rief Ulrike, indem sie sich, auf den Knieen liegend, ihm wieder in den Weg wälzte. »Hier müssen Sie mich hören. Ueberall, wo ich Ihnen begegne, will ich mich an Sie drängen und nicht ruhen, bis Sie das Wort Gnade ausgesprochen haben. Ich habe ein Recht, es von Ihnen zu fordern; ich habe es durch meine Schande erkauft, es ist der Preis meines Verbrechens, den ich von Ihnen fordere!«

»Ich werde Sorge tragen«, sagte der Herzog mit eisiger Kälte, »daß die Bewachung meines Schlosses in Zukunft verlässiger gehandhabt wird. Weg von mir! Ich kenne Sie nicht und habe Sie nicht gekannt. Beim Verlust Ihres Dienstes«, rief er dem Kammerdiener zu, »sorgen Sie, daß die Wahnsinnige hinweggebracht wird und nie wieder dieses Schloß betritt!«

Ulrike, von Schmerz und Entsetzen erfüllt, hatte nur halb vernommen, was er sprach; die Sinne vergingen ihr darüber. Auf den Knieen liegend, glitt sie vornüber auf Arme und Angesicht zusammen und lag wie todt auf den Boden hingestreckt. Nur das schmerzhafte Zucken, welches den Körper überflog, zeigte, daß noch Leben in ihr war.

»Stehen Sie doch auf!« rief ängstlich der Lakai, der sie aufzuheben versuchte. »Machen Sie mich nicht unglücklich! Wenn Sie nicht wollen, daß ich Leute rufe und Sie mit Gewalt hinwegbringen lasse, so stehen Sie auf!«

»Ueberlassen Sie es mir, für diese Dame zu sorgen«, sagte Primitiva hinzutretend, »und schicken Sie indessen nach einem Wagen! Erheben Sie sich!« fuhr sie dann, zu Ulrike gewendet, in dem sanften Tone fort, der ihre Stimme auszeichnete, dem man es anhörte, daß er von Herzen kam und der eben darum auch unmittelbar zu Herzen ging. Auch hier verfehlte er seine Wirkung nicht.

Ulrike erhob sich verwundert; halb aufgerichtet blickte sie in das milde Antlitz empor, das sie über sich niedergebeugt sah. »Sie, eine Frau, Sie kommen zu mir?« sagte sie zweifelnd. »Sie wissen, wer ich bin, was ich gethan, Sie waren zugegen und haben gehört, was mir geschah, und Sie kommen doch zu mir? Sie stoßen mich nicht von sich wie einen giftigen Wurm, der einem in den Weg kommt?«

»Kommen Sie zu sich, meine Gute«, sagte Primitiva liebevoll. »Sammeln Sie Ihre Gedanken, suchen Sie möglichst Ruhe in Ihr bewegtes Gemüth zu bringen, und kann es beitragen, Sie zu trösten, so glauben Sie, daß Ihr Schicksal mir tief zu Herzen geht, daß ich Sie aus innerster Seele beklage!«

»O sagen Sie das noch einmal!« rief Ulrike, sich auf ihre Kniee aufrichtend, indem sie Primitiva's beide Hände ergriff und an die Brust preßte. »Sie retten mich vor Verzweiflung! Wenn es noch eine Menschenseele gibt, die Mitleid mit mir hat, wenn es noch ein Frauenherz gibt, das mich nicht ganz verstößt, dann darf ich hoffen, daß mein Bemühen nicht gänzlich erfolglos sein wird. O helfen, rathen, sagen Sie mir, was muß ich thun, um ihn zu retten? Ach, er muß ja gerettet werden!«

»Fassen Sie sich!« fuhr Primitiva in leiserem Tone fort. »Gewinnen Sie es über sich, mich einen Augenblick ruhig anzuhören! Verrathen Sie sich nicht bei dem, was ich Ihnen sagen werde, denn wir wissen nicht, ob unser Gespräch hier unbelauscht ist. Noch ist alle Hoffnung auf Rettung nicht verloren.«

»Nicht verloren?« rief Ulrike freudig. »O mein Gott! Seit hundert entsetzlichen Stunden der Qual der erste Augenblick der Freude! In den Martern der Höllenglut der erste kühlende Lufthauch! Ich darf also hoffen? Ach ja, mir fällt ein, der Minister hat gesagt, der Herzog werde das Urtheil nicht bestätigen.«

»Es wäre traurig, wenn unsere Hoffnung auf dem Worte jenes Mannes beruhte«, erwiderte Primitiva. »Der Elende, nur von seinem Haß erfüllt, hat Sie durch ein doppelsinniges Wort betrogen. Allerdings wird der Herzog das Urtheil nicht bestätigen – es wird ihm gar nicht vorgelegt werden. Die Regentin wird es thun. Es ist bereits so gut wie bestätigt.«

»Und dennoch geben Sie Hoffnung?«

»Dennoch. Ein glückliches Ungefähr wird den Vollzug des Urtheils wenigstens um einige Stunden verzögern. Diese Zeit muß benutzt werden. Alles ist bereit zur Flucht!«

Ulrike faßte mit der Hand an die eigene Stirn, als ob sie sich überzeugen wollte, daß es nicht ein Traum sei, was sie vernommen. »Gerettet also?« preßte sie innig hervor. »Alles bereit zur Flucht, sagen Sie? Aber durch wen?«

»Fragen Sie nicht! Lassen Sie sich genügen, daß es so ist!«

»Sie haben Recht«, sagte Ulrike traurig. »Ich sehe es ja ein, ich bin nicht würdig, daran Theil zu haben, ich verdiene nicht, darum zu wissen, wie er gerettet wird und von wem. Aber die eine Bitte versagen Sie mir nicht. Sie haben durch Ihre Worte die Hälfte der Centnerlast hinweggenommen, die meine Seele niederdrückt. Nennen Sie mir Ihren Namen! Meine Zeit wird bald zu Ende sein; ich fühle es deutlich und frohlocke darüber, aber sagen Sie mir Ihren Namen, damit ich ihn einschließen kann in mein letztes Gebet!«

»Meinen Namen?« sagte Primitiva zögernd. »Ich weiß nicht, ob er Ihnen bekannt sein wird. Vielleicht haben Sie durch Ihren Mann von mir gehört. Er war der Jugendgespiele meines verstorbenen Bruders.«

»Sie sind«, rief Ulrike aufspringend, und über ihr todtenähnliches Gesicht flog etwas wie der Schimmer von zurückkehrendem Leben – »Sie sind das Fräulein von Falkenhoff? O, wohl hat er mir von Ihnen erzählt! Es war die schönste Erinnerung seiner Jugend. Sie sind die Dame, von der die rothe Schleife stammt. O, ich hätte es errathen sollen! Beim ersten Blick in dieses edle Antlitz, in diese milden Augen hätt' ich es errathen sollen. Ja«, fuhr sie fort, indem Thränen ihren Blick verschleierten, »retten Sie meinen, retten Sie jenen edlen Mann, den ich den meinen nennen zu dürfen verscherzt habe. Sie sind dessen würdig, Ihnen darf er Leben und Freiheit verdanken, aus Ihrer Hand darf er ein solches Geschenk annehmen, die meinige hätte es nur entweiht. O, Sie sind edel, Sie sind rein, Sie sind gütig wie ein Engel – seien Sie Friedrichs Engel! Begleiten Sie ihn durch das Leben! Seien Sie so glücklich, als Sie großherzig sind, und leben Sie wohl!«

Ehe Primitiva etwas zu erwidern vermochte, fühlte sie Ulrike an ihrem Herzen liegen, fühlte sich fest von ihren Armen umschlungen und ein langer, inniger Kuß brannte auf ihrem Munde; im nächsten Augenblick hatte die Unglückliche sich losgerissen und eilte davon. Langsam, in feierlicher Ergriffenheit folgte Primitiva.

Eine Stunde später trieb wüstes Schneegestöber über die Stadt dahin, und der Nordwind wirbelte die Flocken so dicht durcheinander, daß Alles in die Häuser flüchtete und in wenigen Augenblicken die Straßen wie ausgestorben erschienen. Nur vor einem stattlichen Hause in einer der Hauptstraßen standen zwei Burschen,, dicht in Mäntel gehüllt, die weiten Kappen tief über die Stirn herabgezogen; sie schienen allein dem wilden Spiel des Elements Trotz bieten zu wollen.

»Eine schöne Mission das«, brummte der eine, indem er sich den Schnee abschüttelte. »Die Excellenz hat gut anschaffen; sie sieht aus der warmen Stube auf uns herunter und lacht uns aus.«

»Zum Glück wird's nicht mehr lange dauern«, erwiderte der andere. »Ich habe mich vorhin in den Hof hineingeschlichen und habe gesehen, daß der Reisewagen schon herausgeschoben ist, hoch aufgepackt, wie wenn Jemand eine weite Reise vorhat. Horch! Da klappert etwas wie Hufeisen auf dem Pflaster. Richtig, der Kutscher führt schon die Pferde heraus. Nun wird's gleich fortgehen, denk' ich.«

Der Bursche hatte ganz richtig bemerkt. Nach wenigen Augenblicken kam ein Knecht aus dem Hause, schlug die Thorflügel auseinander, und ein stattlicher, wohlbepackter Reisewagen rollte durch das Einfahrtsthor hinaus.

»Das geht ja prächtig«, sagte der erste Bursche. »Dort von dem Prellstein kann ich mich wohl hinten auf die Bagage hinaufschwingen, daß sie von dem blinden Passagier so geschwind nichts merken. Hast Du gesorgt, daß der Wagen zum Nachfahren in Bereitschaft ist?«

»Gewiß, er paßt schon dort an der Ecke.«

»So sei auf der Hut und fahre hinter uns drein, daß die Räder wegfliegen.«

Ein heftiger Windstoß wehte dem Kutscher beim Herausfahren den Mantel empor, daß er, bloß mit sich selbst beschäftigt, von dem, was hinter dem Wagen vorging, nichts bemerken konnte. Der Knecht aber ließ krachend das Thor zufallen und machte sich in aller Eile und ohne sich umzublicken vor dem Unwetter davon. Niemand gewahrte die alte Frau, welche in einfacher bürgerlicher Tracht mit einem jüngern Mädchen, das ähnlich gekleidet war, aus dem Hause trat und bald in dem Schneewehen verschwand.

Ohne ein Wort zu verlieren, gingen beide die Straße entlang, bis sie an eins der Seitenthore kamen. Unmittelbar daneben befand sich eine geringe Schenke, wo unter einem offenen gedeckten Schuppen ein leichtes ländliches Fuhrwerk stand; ein Bauerbursche war emsig beschäftigt, es zur Fahrt herzurichten.

»Da sind wir, Hans«, sagte die ältere Frau. »Nun spute Dich, daß wir weiter kommen!«

»Wir könnten wohl das Unwetter abwarten, Frau«, sagte der Bursche. »Weil's gar so arg thut, wird's hoffentlich nicht lange dauern. Es ist mir nur um meine Braunen zu thun. Bei solchem Wetter und gegen den Wind laufen sie sich gar zu leicht heiß, und können dann verschlagen.«

»Es geht nicht, Hans«, sagte die Frau. »Wir müssen fort. Mein Alter wartet, und wir haben drei tüchtige Stunden zu fahren. Es wird ohnehin Nacht, bis wir heimkommen, und wenn das Wetter nicht mehr lange anhält, wie Du meinst, so wird's Deinen Braunen nicht viel Schaden thun. – Steig' indessen auf den Sitz hinauf, Base!« fuhr sie gegen ihre Begleiterin gewendet fort, während der Knecht seine Arbeit beendete und dann mit unwilligem Schweigen dem Stalle zuging. »Du wirst wohl ein bischen frieren. Du bist es eben nicht gewohnt. Aber bei uns auf dem Lande hat man kein anderes Fuhrwerk.«

Die Angeredete folgte schweigend; sie zog eine dicke, große Decke über Kopf und Rücken, daß sie ganz das Aussehen einer Bäuerin hatte, welche in die Stadt zu Markte fährt. Nach wenigen Augenblicken waren ein paar rasche ländliche Pferde vorgespannt und das Wägelchen sauste durch den Schneewirbel dahin. Es währte nicht lange, so kam ein schöner Reisewagen mit geschlossenen und verhangenen Fenstern vorüber; auf dem hochgethürmten Gepäck saß ein Bursche eng zusammengekauert. In der Entfernung weniger Schritte rasselte ein leichtes Fuhrwerk nach. An einer Straßenscheide lenkte der Reisewagen in eine kleinere Straße ein; eilfertig folgte ihm das Fuhrwerk. Das Bauerwäglein mit den beiden Frauen rollte arglos auf der Hauptstraße dahin.

Die Dämmerung brach schon stark herein, als in der Ferne die Mauern und Thürme von Wildenstein sichtbar wurden. Der Knecht hatte Recht gehabt; es hatte bald aufgehört zu schneien und zu wettern, aber der Himmel war trüb und aschgrau geblieben und am Horizont stand eine breite, schwere Wolkenwand, hinter welcher die Sonne hochroth und steigende Kälte verheißend hinunterging. Die Ebene, mit makelloser Schneedecke überzogen, flimmerte weithin; Bäume und Gebüsche am Wege begannen sich mit Eisduft und Silbernadeln zu bekleiden; darüber stieg finster und unheimlich die schwarze Gesteinmasse der Festung empor. Es war schon völlig dunkel, als der Wagen an der Zugbrücke anhielt und auf erfolgte Meldung über dieselbe in den Hof polterte.

»So, da wären wir«, sagte Frau Gertrud im Herabsteigen und reichte ihrer Gefährtin die Hand, um das Gleiche zu thun. »Grüß Dich Gott, Alter! Da ist die Base; kannst ihr auch Grüßgott sagen. Es hat schwer gehalten, bis die Mutter die Erlaubniß dazu gegeben hat, daß sie uns besuchen darf.«

»Nun, grüß' Gott, Base Katharine!« sagte der Thorwart, welcher dazu getreten war und der Angekommenen die Hand bot, in welche diese kräftig einschlug, aber schweigend und ohne die Umhüllung, in der sie steckte, zu lüften. »Es ist mir lieb, daß Du uns endlich einmal heimsuchst, nur schade, daß es auf so kurze Zeit ist. Am liebsten wäre mir's, Du könntest ganz bei uns bleiben. Meine Alte könnte die Hülfe wohl brauchen. Aber komm' zuerst herein! Du wirst tüchtig ausgefroren sein in dem Hundewetter. In der Stube ist's warm; wir wollen uns beim Ofen zusammensetzen und recht ausplaudern. Grüß' mir Deinen Herrn!« sagte er dann, indem er sich zum Weggehen anschickte und dem Knecht, welcher mit dem Fuhrwerk wieder fortfahren wollte, ein Geldstück in die Hand drückte. »Ich komme ohnehin dieser Tage ins Dorf hinunter, da will ich ihm schon meine Danksagung machen und meine Schuldigkeit ausrichten.«.

Die Soldaten waren neugierig aus der Wachstube getreten und standen in dem matt beleuchteten Thorbogen beisammen. »Teufel«, sagte der eine, »die Base ist eingewickelt, daß man kaum die Nasenspitze sieht. Aber sie muß bildsauber sein und ist gewachsen wie ein Tannenbaum. Das ist recht; der Besuch kommt auch für uns gelegen. In dem Felsenneste da ist ohnedem kein einziges leidliches Dirnengesicht.«

»Gott sei Dank! So weit wär's gegangen«, rief Frau Gertrud, als sich die Stubenthür hinter den Eintretenden geschlossen hatte, und sank erschöpft auf den nächsten Stuhl nieder. »Das möchte ich nicht zum zweiten Male ausstehen. Wie wir zum Thor herein sind, ich glaube, ich hätte keinen Tropfen Blut gegeben, und das Herz hat mir geschlagen bis in den Hals hinauf.«

»Pst, pst, nicht so laut!« unterbrach sie der Thorwart. »Man kann immer nicht wissen, ob nicht die Wände Ohren haben. Legen Sie ab, gnädige Frau, machen Sie sich's commod und setzen Sie sich hinter den Ofen.«

»Das ist unnöthig«, sagte Primitiva, indem sie ihr Tuch abnahm. »Ich friere nicht, ich habe die Kälte fast nicht empfunden. Mir ist vielmehr heiß, als läge ich im Fieber.«

»Ja, ja«, entgegnete der Thorwart, »man sieht's Ihnen wohl an, Sie glühen über und über, wie ein Winterapfel, aber es ist doch immer besser, wenn Sie sich hinter den Ofen setzen. Man kann nicht wissen, ob nicht die Neugier noch irgend Jemand herführt. In dem Winkel aber ist's dunkel, da kann man Sie nicht so ausspeculiren, und wir haben auch die gute Ausrede, daß Sie von der Reise tüchtig ausgefroren sind.«

Gertrud hatte inzwischen einen Stuhl in den bezeichneten Winkel gerückt und führte Primitiva dahin. »Hierher, mein Herzchen!« sagte sie. »Setzen Sie sich nieder! Ach, ist das ein Glück, daß Sie einmal bei mir wieder einkehren! Nun hab' ich's Ihnen doch einmal zeigen können, wie lieb ich Sie habe.«

»Das wußte ich ja längst, meine gute Gertrud«, entgegnete Primitiva, »und eben weil ich es wußte, weil ich Deine Treue kenne und auf Deine Ergebenheit für mich baue, habe ich mich in dieser Angelegenheit an Dich gewendet und habe Dir damit mein ganzes Schicksal in die Hände gegeben. Ich wußte gewiß, daß Du meine Bitte erfüllen würdest, und habe die Sekunden gezählt, bis endlich heute Dein Brief mit der Nachricht eintraf; es war gerade noch zur rechten Zeit. Heute noch muß geschehen, was wir vorhaben. Morgen ist's vielleicht schon zu spät.«

»Heute noch?« sagte der Thorwart nachdenklich und legte überlegend den Finger an die Nase. »Na meinetwegen; von mir aus ist Alles vorbereitet.«

»Braver Mann!« rief Primitiva, seine Hand ergreifend. »Wie soll ich Ihnen danken, daß Sie mein Vorhaben unterstützen – was sage ich! – daß Sie es ausführen, denn ohne Ihre Hülfe, was wäre ich im Stande zu unternehmen?«

»Danken?« sagte der Thorwart lachend. »Warum nicht gar, gnädige Frau! So was dankt sich von selbst. Aber lieb ist es mir doch um meiner Alten willen, weil sie immer so sehr dawider war, daß ich den Posten angenommen habe. Nun muß sie doch eingestehen, wie gut es war, daß ich es gethan habe. Wie könnte ich sonst einem braven und redlichen Manne aus der Noth helfen? Wie könnte ich Ihnen dienen, gnädige Frau, und wie könnte ich, was mir auch gerade nicht zuwider ist, dem Commandanten eine Suppe einbrocken, an der er tüchtig zu schlucken haben soll? Aber er hat's redlich verdient an mir und an Andern. Geht er doch mit den Leuten um, nicht wie mit Menschen, sondern wie mit Hunden.«

»Schön, mein Freund«, sagte Primativa. »Es soll auch Ihr Schade nicht sein. Ich will Sie fürstlich belohnen und für Ihre ganze Zukunft sorgen. Ich verlasse dieses Land; es steht bei Ihnen und Ihrer Frau, ob Sie mich begleiten und für immer bei mir bleiben wollen.«

»Nein, gnädige Frau«, erwiderte der Thorwart nach einigem Besinnen. »Wenn ich es denn doch sagen muß, das kann nicht sein, das würde zu viel Verdacht erwecken und am Ende auf die Spur führen. Es muß durchaus den Anschein haben, als ob ich gar nicht die Hand im Spiel gehabt. Man muß es gar nicht für möglich halten, daß ich etwas davon weiß. Sieh nach dem Essen, Alte!« rief er der Frau zu. »Ich will indessen der gnädigen Frau erzählen, wie ich mir's ausgedacht habe.«

»Nun denn, wenn Sie mich nicht begleiten wollen«, sagte Primitiva, während der Thorwart sich neben sie setzte und die Frau in der anstoßenden Küchenthür verschwand, »so werde ich sonst für Ihre Zukunft sorgen. Ich habe es so eingeleitet, daß meine gute Gertrud als meine Pflegerin und Erzieherin aus dem Nachlaß meines Vaters ein schönes Gütchen in meinem heimischen Dorfe erhält.«

»Das nehme ich an«, sagte der Thorwart freudig. »Darnach greife ich mit beiden Händen. Ich habe mir mein Lebtag nichts Anderes gewünscht, als meine alten Tage ohne Sorge zubringen zu können, und ohne daß ich irgend einem Menschen noch den gehorsamen Diener machen muß. Wenn Alles glücklich vorüber ist, will ich noch ein paar Monate auf meinem Posten bleiben, dann werde ich krank und immer kränker, bis man sieht, daß ich den Dienst nicht mehr versehen kann, und mir in Ehren den Abschied gibt; dann setze ich mich auf das Gütchen und will mir's noch einmal wohl werden lassen in meinen alten Tagen! Hören Sie also! Die Festung, die ich jetzt in- und auswendig kenne, wie meine Rocktasche, ist ein wahres Nest des Teufels; er könnte sie selber nicht pfiffiger gebaut haben, um ja keine arme Seele entwischen zu lassen, die er einmal gekapert! Und doch bin ich hinter etwas gekommen, was vielleicht Niemand weiß als ich. Im untersten Gewölbe ist ein Brunnen, tief in den Felsen gehauen; das ist für die Zeit, wenn die Festung etwa belagert wäre und könnte von außen kein Wasser bekommen. Ich habe mir das Gewölbe näher betrachtet; da habe ich neben dem Brunnen eine Platte bemerkt, die mir locker schien. Darauf bin ich einmal des Nachts hinunter, habe es genauer untersucht und habe gefunden, daß nicht weit von dem Brunnen eine Stiege in den Stein gehauen ist. Von der führt ein Gang unter dem Moor fort bis in den Wald, durch den die Landstraße geht. Dort, in einem Dickicht, zwischen uralten Bäumen und Felstrümmern, geht's wieder an das Tageslicht heraus. Da will ich den Herrn hinausführen. Von dort kann er leicht in einer halben Viertelstunde ins nächste Dorf kommen, ein Fuhrwerk nehmen und zur nächsten Bahnstation fahren. Ich aber mache hinter ihm wieder Alles zu, wie es war, und verschließe die Thüren und das Brunnengewölbe. Dann kann kein Mensch Verdacht auf mich werfen und sie haben auch keine Spur, die sie bei der Verfolgung leiten könnte. Sie freilich müssen noch ein paar Tage bei uns aushalten, damit es nicht auffällt, dann bringt meine Alte Sie wieder fort, wie wir Sie hereingebracht haben. Horch!« unterbrach er sich plötzlich und dämpfte die Stimme zum Flüstern. »Es kommt Jemand.«

Auf dem Gange wurden die abgemessenen, schweren Tritte von Bewaffneten hörbar.

»Was ist das?« flüsterte Primitiva erschrocken, während die Frau des Thorwarts ängstlich aus der Küche hereinblickte, wo man das Feuer auf dem Herde emporlodern sah. Jetzt stießen Gewehre klirrend auf den Pflasterboden, die Thür ging auf und halb auf der Schwelle rief ein bärtiger Unteroffizier laut herein: »Auf Befehl Seiner Excellenz des Herrn Commandanten sollen sämmtliche Schlüssel an mich abgeliefert und morgen mit dem Tagsappell beim Herrn Commandanten wieder in Empfang genommen werden!«

»So?« entgegnete der Thorwart gleichgültig, indem er in vollster Unbefangenheit, über Primitiva hinweglangend und sie dadurch verdeckend, die Schlüssel von der Wand nahm. »Das ist mir recht, daß mir der Herr Commandant die Sorge abnimmt, hab' ich doch dann auch wieder einmal eine ruhige Nacht.«

Der Unteroffizier ging. »Mein Gott, welches Unglück!« rief Primitiva leise. »Der Commandant scheint Verdacht geschöpft zu haben. Nun ist wohl Alles unmöglich! Wie sollen wir nun in die unterirdischen Gänge gelangen?«

»Haben Sie keine Sorge!« entgegnete der Thorwart mit listigem Lachen. »Seit dem letzten Fluchtversuche hat sich der Herr Commandant das so in den Kopf gesetzt und läßt öfters unvermuthet alle Schlüssel holen. Das ist nichts Besonderes und stört uns auch nicht. Ich habe das schon vorbedacht und habe mir deshalb die Schlüssel, die wir brauchen, alle in Wachs abgedrückt. Ich habe in meinen jüngern Jahren auch am Ambos gestanden und habe mir daher am Herdfeuer solche Dinger zusammengehämmert, die freilich nicht recht wie Schlüssel aussehen, aber doch den Dienst genau thun wie solche.«

Trommelwirbel, durch die Entfernung und durch die dicken Mauern gedämpft, erscholl in das stille Gemach. »Sie trommeln zum Abendgebet«, sagte der Thorwart. »Jetzt geht Alles zur Ruhe. Ein Viertelstündchen noch, wenn Alles ruhig bleibt, dann gehen wir an unser Geschäft. Ich will indessen herrichten, was nöthig ist.« Schweigend kramte er unter seinen Geräthschaften und suchte eine Blendlaterne und verschiedenes Eisenwerkzeug hervor, schweigend sah Primitiva vor sich hin in das halbdunkle Gemach, schweigend saß die Frau am Herde. Sie hatten alle das Kochen und die Speisen vergessen und erwarteten in stiller Sammlung den entscheidenden Augenblick.

»Jetzt wird es Zeit sein«, sagte der Thorwart nach einer Weile. »In Gottes Namen! Verriegle die Thür, Alte, und bete ein Vaterunser, daß wir glücklich wiederkommen!«

Mit tonlosen Geisterschritten glitten die beiden Gestalten durch den Gang und verschwanden in der Tiefe der Wendeltreppe. Sie mochten etwa die Hälfte hinabgestiegen sein, als der Thorwart überrascht innehielt und Primitiva's Hand faßte, als wolle er sie auffordern, still zu sein und zu horchen. Das Geräusch einer Feile, welche eine Eisenstange zu bearbeiten schien, ertönte deutlich durch die Stille.

»Alle Teufel!« flüsterte der Thorwart. »Was gibt's hier? Das raspelt ja wie eine Feile. Sollte einer der Gefangenen sich selbst befreien? Bleiben Sie ruhig hier! Ich will mich behutsam vorwärts schleichen. Ich habe Augen wie eine Katze, die auch im Dunkeln sieht. Der Kerl macht sich's ganz bequem und hat sogar Licht«, sagte er, als er die Stufen hinabgeschlichen war. »Aber was ist denn das? Der arbeitet ja an dem nämlichen Gefängniß herum, zu welchem auch wir wollen! Halt, Kerl!« rief er plötzlich vorspringend, indem er die Laterne in die Höhe hob und zugleich mit dem Hammer zu einem wuchtigen Streiche ausholte. »Was machst Du da? Ist das nicht der neue Knecht droben aus dem Stall?«

Mit dem ersten Laute war das Licht des Arbeitenden erloschen, aber die Laterne des Thorwarts warf ihren Schein auf ihn. Es war der alte Windreuter, der eine Eisenstange zur Abwehr hoch über dem Kopf geschwungen hielt. »Zurück, Thorwart«, rief er, »oder Dein Schädel macht mit meiner Eisenstange Bekanntschaft!«

»Oho«, entgegnete der Thorwart, »da müssen wir erst sehen, wer des Andern Meister wird. Was willst Du hier?«

»Das siehst Du wohl«, war die Antwort, »daß ich den Käfig da durchfeile und den Vogel herauslassen will, der drinnen sitzt!«

»Um Gotteswillen, haltet ein!« rief Primitiva herbeieilend und zwischen die Beiden tretend, die sich drohend gegenüber standen. »Wir sind in der gleichen Absicht hier. Wer seid Ihr?«

»Wer ich bin?« antwortete Windreuter. »Daran ist wohl nichts gelegen. Aber ein Freund von dem Professor, der da drinnen sitzt, der hat ein Leben an mich zu fordern, und dafür hat er von mir verlangt, daß ich den Gefangenen befreien soll. Ich hab' es ihm versprochen, und ich will's halten. Wenn Sie dasselbe im Sinn haben, dann ist's desto besser, dann können wir's mit einander machen.«

»Meinetwegen«, sagte der Thorwart. »Dadurch bekommt es noch mehr den Anschein, daß der Ausbruch mit Gewalt geschehen ist und daß er durch Euch ausgeführt wurde. Dann fällt auf mich und auf den Weg, den wir machen, gar kein Argwohn. Das paßt in unsern Kram. Ihr seid schon bald durch, wie ich sehe.«

Es währte nicht lange, so waren die Eisenstangen an der Kerkerthür durchfeilt, dieselbe ging auf und Friedrich ward sichtbar, mitten in seiner Zelle stehend und voll Spannung, was das Geräusch zu bedeuten habe, das bereits seit geraumer Zeit zu ihm gedrungen. Jetzt fiel das Licht auf seine Gestalt.

»Holla«, rief Windreuter, »da wären wir durch! Heraus, Herr Professor! Folgen Sie uns! Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»Wohin soll ich folgen? entgegnete Führer. »Wer seid Ihr?«

»Zum Reden ist keine Zeit«, rief der Thorwart dazwischen. »Kommen Sie nur heraus! Was es bedeutet, das sehen Sie doch und müssen erkennen, daß wir nichts Böses mit Ihnen im Sinne haben.«

»Und wenn Sie doch Zweifel haben«, sagte Windreuter, »so nehmen Sie den Zettel da und lesen Sie!«

Führer entfaltete das Blatt. »Von Riedl«, rief er. »Der Redliche! Er hat also meiner nicht vergessen!«

»Nein«, sagte Windreuter. »Für wen der sich einmal interessirt, den vergißt er nicht wieder, das weiß ich am besten! Aber beeilen Sie sich! Wir haben wirklich keine Minute zu verlieren. Drüben über dem Moor, wo es in den Steinbruch hineingeht, wartet er auf Sie mit dem Fuhrwerk. Dann geht's über die Grenze und auf der Eisenbahn fort bis ans Meer. Ich gehe mit Ihnen, Herr, auch noch über das Meer, bis nach Amerika.«

»Folge dem, der dies bringt!« las Führer. »Ich erwarte Dich. Impavidum ferient ruinae.« – »Er hat ganz Recht, aber seine Worte machen auf mich einen ganz andern Eindruck, als er denkt. Ich will nicht vor dem Einsturz weichen, der mir droht. Ich bleibe und will ihm furchtlos entgegentreten.«

»Nicht möglich, Herr!« rief der Thorwart. »Sie haben gewiß schon gehört, daß das Urtheil über Sie gefällt ist. Vielleicht heute Nacht kann der Befehl kommen, und vielleicht schon morgen in der Frühe führt man Sie auf den Wall hinaus und schießt Ihnen zwölf Kugeln in den Leib.«

»Das wird nicht geschehen«, sagte Friedrich. »Das sind bloße Schreckbilder, die mich nicht irre machen! Ich habe mir Alles wohl überdacht. Das wäre offenbarer Mord, und solchen zu begehen wird man sich scheuen. Ich will nicht den Schein auf mich laden, als fürchte ich mich vor solchen Gespenstern. Nehmt meinen Dank für Euren guten Willen, bringt ihn auch dem treuesten der Freunde, aber sagt ihm, daß ich bleibe!«

»Aber in des Teufels Namen, Herr«, rief Windreuter ungeduldig, »glauben Sie denn, es handelt sich um Sie allein? Wenn Sie sich auch aus dem Erschießen nichts machen, was soll denn aus uns werden? Sollen wir uns Ihretwegen für nichts und wieder nichts zu Grunde gerichtet haben? Ich habe mich Ihretwegen in die Festung als Pferdeknecht eingeschlichen – ich muß mit Ihnen hinaus oder ich bin entdeckt und es geht mir zwiefach an den Kragen! Soll das der Dank sein für all unsere Mühe und Anhänglichkeit?«

»Friedrich«, rief jetzt Primitiva, die bisher im Dunkel gestanden, indem sie auf die Schwelle trat, »werden Sie sich noch weigern, wenn auch ich Sie bitte, zu fliehen?«

»Primitiva!« rief Friedrich außer sich, indem er die Hände auf der Brust zusammenpreßte und dann weit nach ihr ausbreitete, als wolle er auf sie zueilen und sie in seine Arme schließen. Nach den ersten Schritten jedoch stand er still, ließ die Arme sinken und stammelte: Sie hier, gnädige Frau? Sind Sie es denn wirklich?«

»Ja«, entgegnete Primitiva. »Auch ich bin hier, um Sie zu retten. Die Gefahr, von der Sie hören, ist kein Hirngespinnst, das Bluturtheil schwebt wirklich über Ihrem Haupte. Glauben Sie mir, ich habe die Sentenz gesehen und nur durch einen Zufall deren Unterzeichnung vereitelt, aber in diesem Augenblick ist meine List vielleicht schon entdeckt, man wird eilen, den dadurch gewonnenen Vorsprung wieder einzuholen, wir haben vielleicht nur noch diese Stunde, dann ist jede Rettung ausgeschlossen! O folgen Sie mir und opfern Sie nicht einer thörichten Grille ein Leben, das noch lange nicht abgeschlossen ist, dem sich ein schöner, weiter Wirkungskreis öffnen kann. Kommen Sie! Bei Allem, was uns verbindet, bei den Idealen und Träumen unserer Jugendzeit beschwöre ich Sie, zum Beweise, daß Ihnen jene Zeit unvergessen ist, daß sie Ihnen jemals werth war, fordere ich von Ihnen, folgen Sie uns, und meine Hand lassen Sie es sein, die Sie aus dem Kerker führt!«

Sie ergriff seine Hand, er widerstrebte nicht mehr.

»Jetzt rasch!« rief der Thorwart. »Jetzt gilt's, das Schloß an der Thür zum Kanalgewölbe wegzuschlagen, denn es muß aussehen, als wenn wir da hinaus wären! Ueber dem Kanal müssen auch ein paar Steine ausgebrochen werden, damit es natürlicher aussieht. Dann soll's weiter gehen!«

In wenig Augenblicken war das gethan. Schweigend, behutsam, angehaltenen Athems durchschritt der Zug den höher ansteigenden Gang, bis sie an einer schweren Eisenthür ankamen.

»Jetzt um Gotteswillen still!« flüsterte der Thorwart. »Jetzt stehen wir an dem Winkel im Sternwall neben der Kapelle, wo die eingescharrt werden, die so glücklich sind, innerhalb dieser Festung zu sterben; gegenüber ist das Thor zum Brunnengewölbe. Ich will voran und will es öffnen. Dann soll eins nach dem andern nachhuschen, und der liebe Gott gebe den Schildwachen einen festen Schlaf und ein dickes Trommelfell, sonst sind wir alle verloren!«

Mit hochklopfendem Herzen standen alle; geräuschlos öffnete sich das Eisenthor, kalte Schneeluft wehte herein und die halbe Helle einer klaren Winternacht drang den Wartenden entgegen. Der Thorwart schlich an der Mauer hin zu einem Thor, das gegenüber sich zeigte und von dem er den Querbalken abnahm, mit dem es verwahrt war. Lautlos schritt eins nach dem andern den Spuren des Thorwarts nach, schon standen sie dem Eingang nahe, da erhob sich im Winkel des Gemäuers eine kleine, niedergekauerte Gestalt und eine jugendliche Stimme rief laut: »Halt! Was gibt es da? Da will Jemand entfliehen!«

Es war Richard, in das neu empfangene Gewand eines Tambours gekleidet.

»Verdammter Bube«, rief der Thorwart, »wie kommst Du hierher? Aus dem Wege! Schweig' und verrath' uns nicht!«

»Warum nicht?« rief Richard. »Ich will Euch verrathen. Niemand soll hinauskommen aus der Festung! Meine arme Mutter ist auch nicht hinausgekommen. Heda! Holla! Wache!«.

»Kerl, ich erwürge Dich, wenn Du nicht schweigst«, rief Windreuter und hatte mit einem Sprunge den Knaben an der Gurgel gefaßt.

»Unglücklicher, Du verdirbst uns alle«, sagte Führer hinzutretend; der Schein von des Thorwarts Laterne fiel auf sein Gesicht.

»Was? Sie sind's, Herr Professor?« rief Richard sich losmachend. »Sie wollen fort? Gehen Sie nur, Sie halt' ich nicht auf, Sie sind ein braver Mann, ein guter Mann, an Ihrem Unglück will ich nicht schuld sein. Die Frau Räthin hat meiner armen Mutter viel Gutes gethan und Sie, Sie wissen es wohl nicht mehr, aber ich habe es nicht vergessen, wie ich einmal zu Ihnen gekommen bin, da haben Sie mir von den schönen rothen Aepfeln gegeben, die auf Ihrem Kasten lagen. Das vergess' ich Ihnen nicht, Herr Professor! Machen Sie, daß Sie fortkommen! Ich habe Sie nicht gesehen!«

»Ich erkenne Dich wieder«, rief Führer. »Komm' mit mir! Ich werde für Dich sorgen.«

»Nein«, sagte der Knabe, »ich muß hier bleiben. Dort in dem Winkel haben sie meine gute Mutter eingescharrt. Ich bin aus meiner Schlafkammer gestiegen, um für sie zu beten, weil sie mich bei Tag nicht herüberlassen und mich immer auslachen. Aber ich will allen zum Trotz ein ordentlicher Mensch werden und ein braver Soldat; ich will meiner Mutter im Grabe noch Ehre machen, daß sie sich über mich freuen kann, und solange es sein kann, geh' ich nicht von ihrem Grabe weg.«

»Fort!« drängte der Thorwart wieder. »Die Sekunden eilen. Glücklicherweise scheint Niemand das Rufen gehört zu haben.«

»Eilen Sie!« sagte Richard. »Ich will indessen hier bleiben und den Schnee auspeitschen, daß man die Spuren von den Fußtritten nicht sieht.«

Sie traten in das Gewölbe. Rasch waren die Steine neben dem Brunnenschachte gehoben; einige Stufen führten abwärts in einen finstern Gang.

»Hier geht's hinein, Herr Professor«, sagte der Thorwart. »Da haben Sie Fackeln! Gehen Sie nur getrost voran! Sie können nicht irre gehen. In einer Viertelstunde sind Sie im Freien.«

»So leben Sie wohl, Primitiva!« sagte Friedrich, indem er ihr die Hand bot und ihr tief in die Augen sah. »Ich danke Ihnen meine Zukunft; soll dieser Dank zusammengedrängt bleiben in den einen flüchtigen Augenblick?«

»Nein«, erwiderte sie flüchtig. »Ich scheide noch nicht von Ihnen. Sobald es mir gelungen ist, aus der Festung zu kommen, eile ich Ihnen nach, an der Küste treffen wir uns wieder. Ich will gewiß wissen, daß Sie vollständig gerettet sind, und will feierlich und förmlich von Ihnen Abschied nehmen.«

Führer verschwand mit Windreuter in der Tiefe, die sich finster über ihnen schloß. Der Thorwart und Primitiva verriegelten das Gewölbe und kehrten über die Sternwallecke in das Gefängniß zurück. Auch das Eisenthor legte sich wieder in seine Angeln. Kein Laut war hörbar geworden, nichts regte sich; im Winkel des Walles, auf einem unförmlich aufgeschütteten Hügel kniete der kleine Tambour und betete.


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