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In einem weit vorspringenden Thurmerker der Festung Wildenstein saß die Frau des Thorwarts und lugte ins Freie durch das schmale, tiefgewölbte Fenster, von welchem aus sich die ganze Gegend wie eine ausgebreitete Karte übersehen ließ, im weiten Ringe und hart bis an den Thorweg heran, der unmittelbar an die Mauern und Zugbrücken stieß, sodaß kein lebendes Wesen unbemerkt heranzukommen vermochte. Der Felsen, auf welchem die Festung lag, war ein eigenthümliches Gebilde, ein einziger ungeheurer Block von riesigem Umfang, der fern von allen andern Erhöhungen und Gebirgen mitten aus der Ebene emporstieg, als hätte bei den Umwälzungen in der Urzeit der Erde ein Feuerausbruch ihn dahingeschleudert oder eine plötzlich zum Eismeer erstarrte Flut so weit vorgeschoben. Nach drei Seiten stürzte der Felsen völlig steil in thurmhohen Wänden ab, welche nachhelfend von der Kunst so vollständig geglättet waren, daß kein anderes Geschöpf daran emporzuklimmen vermochte als ein von Flügeln getragenes. Unmittelbar über den Felsrändern und daran anschließend stiegen die Mauern empor, als wären sie eine Fortsetzung des Gesteins und mit demselben verwachsen. Gegen die vierte Seite hin verlor sich die Höhe in einem schmalen, langsam abgedachten Hügelgrat, über welchen der einzige Zugang in die Festung führte; aber auch diesen hatte die Natur in ihrer spielenden Laune zu einem unnahbaren Bollwerk geschaffen, indem sie zu beiden Seiten der ebenfalls steil abfallenden Felsenhänge einen Sumpf und weites Moorland ausbreitete, das, von nie versiegenden geheimen Quellen genährt, keinen Fuß breit festen Bodens gewährte und Jeden, der es zu betreten gewagt, unerbittlich in unergründliche Tiefen versinken ließ. Dennoch war diese natürliche Verteidigung noch durch ein großes Vorwerk unterstützt, welches den Abschluß des Hügels krönte und seine Mauern und Ravelins bis an die Hauptfestung erstreckte, sodaß die beiden Befestigungen sich verbanden, als wären es zwei furchtbare riesige Kämpfer, die sich zu Schutz und Trutz Rücken an Rücken gegen einander gestellt und gestemmt: jeder für sich kaum überwindlich, beide in solcher Vereinigung vollkommen unbezwingbar. Mitten aus dem äußern Gemäuer des Vorwerks stieg der Thurm empor, mit mächtigen Zinnen gekrönt und von tiefen Geschützluken durchbrochen, während darunter das Erdgeschoß zur Wohnung für den Thorwart eingerichtet war. Der Erker hatte das Ansehen einer großen, aus gemauerten Rippen gebildeten Laterne, welche, wenn sie beleuchtet war, über den Sumpf und das ebene Land ihren Schein bis an den äußersten Horizont trug, bis zu welchem sie die Aussicht eröffnete.
Die Frau schien ganz in das Anschauen der Gegend versunken, denn sie saß regungslos und hatte den Nähkorb mit der Arbeit müßig auf dem Schooße liegen. Der Anblick, welcher sich dem staunenden Auge öffnete, war auch wohl geeignet, dasselbe zu fesseln und in vertieftes Staunen zu versenken.
Kühle Wochen waren über das Land hinweggezogen, das sich bereits in das farbige Prachtgewand zu kleiden begann, mit welchem es den Herbst zu empfangen gewohnt ist, die schöne Abendzeit des Jahres, wo die Saat zur Ernte und die Blüte zur Frucht geworden. Die Felder waren leer und von den darauf stehenden Stoppeln der längst in Sicherheit gebrachten Aehrenhalme in einen traurigen graugelben Ton gekleidet. Die Wiesen daneben hatten nicht minder begonnen, sich mit welkenden Gräsern zu bräunen. Dazwischen, wo das Land schon für die neue Saat umgebrochen war, zogen mächtige dunkle Streifen dahin, daß neben den Farben des Welkens und den Zeichen des Todes der kräftige Ton neuen Lebens und der Trieb wiederholten Keimens nicht fehle. Am Rande des Horizonts ging die Sonne hinter dem Tannenwalde hinab, welcher die Moorebene wie ein gewaltiges Geländer umschloß. Noch flammte aber der Himmel in rothem Scheine, der höher hinansteigend sich in rosigen Duft auflöste, um zuletzt in den blauen, dunkelnden Nachthimmel zu verschmelzen, in welchen die tiefstehende Mondsichel wie eine verwehte Silberflocke hineinhing. Das Geröhricht auf dem Moor röthete sich, während die Wassertümpel, welche hier und da aus dem braunen, unsichern Sumpfboden hervorsahen, vom letzten Scheine aufblitzten. Dazwischen wallten einzelne breite Nebelstreifen über den feuchten Gründen und Hängen dahin, gleich als wäre es wahr, was die Sage von den Elfen und Nixen erzählt, welche ihr Unwesen im Moor treiben sollen, und deren flatternde Schleier und wehende Gewänder das Beginnen ihrer nächtlichen Tänze verkündeten. Wolkenlose Klarheit war überall und völlige Ruhe. Nur hier und da schrie eine verspätete Möve und am Monde vorüber huschte ein Dreieck von Kranichen, als ob sie vor der drohenden Kälte ihren Flug beschleunigten und die scharfen Windstöße verspürten, welche manchmal von Norden her über die Fläche strichen.
Die Frau saß in dem Erker, angeglüht vom Abendroth. In der Stube nebenan aber, zu welcher einige Stufen hinabführten und die mit einer festen Eichenthür gegen den Erker abgeschlossen werden konnte, war es schon vollständig dunkel; sie war nicht sehr hoch und schußfest gewölbt, sodaß sie schon bei Tag einen düstern und fast unwohnlichen Eindruck machte wie eine Klosterhalle oder ein Gefängniß. Die Frau hatte jetzt die Arbeit, welche sie ohnedies nicht mehr fortsetzen konnte, ganz beiseite gelegt; die Hände, welche zuvor blos geruht, waren in einander geschlossen, und das Nachsinnen schien in stilles Beten übergegangen. Erschreckt fuhr sie auf, als die Stubenthür rasch aufgestoßen wurde und, auf der dunklen Treppe kaum erkennbar, ihr Mann mit lauter Stimme hereinrief: »Was seh' ich, Alte? Du hast noch nicht einmal Licht? Ich glaube, Du hältst Zwiesprache mit den Fledermäusen, oder bist mit der Dämmerung ins Dämmern hineingekommen, wie weiland vor vierzig Jahren. Die Gänge sind alle finster und noch keine einzige Laterne angezündet.«
»Ich habe gar nicht gemerkt, daß es schon so spät ist«, antwortete die Frau. »Aber ich will gleich gehen und sie anzünden.«
»Laß nur!« erwiderte der Mann. »Ich hab' es bereits gethan. Es ist schon eine Viertelstunde über die Zeit, und ich möchte mich keinem Verweise von dem General aussetzen. Was hast Du nur?« fuhr er fort, indessen die Frau aus dem Erker hereintrat, die in der Mitte des Gewölbes an einer Kette hängende Ampel herunterließ und anzündete. »Was hast Du denn so Merkwürdiges zu denken, daß Du darüber alles Andere vergißt?«
»Was werde ich haben!« erwiderte sie mit einem tiefen Seufzer. »Du weißt es ja. Ich werde meine alten Gedanken nicht los, und Du wirst sehen, ich werde noch ganz tiefsinnig, wenn ich noch länger in der unglückseligen Festung bleiben muß.«
»Du bist eine Närrin«, sagte der Thorwart, indem er am Tische stehend sich eine Pfeife stopfte und dann an der Lampe anbrannte.
»Das ist leicht gesagt«, erwiderte sie. »Aber ich gäbe einen Finger der Hand darum, wenn wir wieder auf unserm alten Jagdschlosse säßen.«
»Ich begreife Dich nicht. Dort war es ja noch einsamer und öder als hier; dort war es wirklich dazu angethan, daß man melancholisch hätte werden können. Im Schlosse waren die Fledermäuse und Nachteulen Herr, und vor dem Thore konnten ungestört die Füchse und Hasen einander gute Nacht sagen.«
»Und ist es hier etwa anders?« sagte die Frau. »Auf diesem Felsen, der mitten im Sumpfe steht, als wenn er hineinverwunschen wäre, oder als wenn ihn der Gottseibeiuns hineingetragen hätte? So einsam und öde wie auf dem Jagdschloß ist es allerdings hier nicht, Gesellschaft gibt's genug, leider Gottes; aber das ist eine Gesellschaft, daß einem das Herz bricht, wenn man nur daran denkt.«
»Warum nicht gar!« entgegnete der Mann, indem er einen Schlüsselbund von der Wand herunternahm. »Es sind lauter Staatsverbrecher, die da sitzen. Wer wird sich das zu Herzen gehen lassen!«
»Sage das nicht!« rief die Frau in fast auffahrendem Tone. »Ich müßte mich sonst auf unsere alten Tage mit Dir verfeinden. Staatsverbrecher! Unglückliche Menschen sind es. Mag sein, daß Mancher darunter ist, der an keinen bessern Ort gehört, aber die meisten sind Ehrenmänner, die, wenn es nach Rechten ginge, ihren Platz mit denen vertauschen müßten, die sie hereingeschickt haben.«
»Meinetwegen«, sagte ausweichend der Mann. »Ich hab' es ja nicht zu verantworten. Ich kümmere mich nicht darum, schlage mir's aus dem Sinn und thue meine Schuldigkeit.«
»Das ist ja eben das Unglück«, eiferte die Frau, »daß ein solches Geschäft Deine Schuldigkeit ist. Der Herr Baron Adelhoven hat uns einen schlechten Dienst gethan, daß er Dich zu diesem Posten empfohlen hat. Ich wollte – ich sag' es nochmals – Du hättest noch das Pöstchen auf dem Jagdschloß, so klein und mager es war; aber Du hast immer höher hinaus gewollt, warst nicht zufrieden! Nun hat uns unser Herrgott gestraft. Nun sitzen wir hier bei den Gefangenen und sind selbst nichts Besseres. Wären wir nur wieder, wo wir gewesen sind!«
»Das redet der pure Unverstand aus Dir! Dann wäre ich immer noch, was ich gewesen bin, der Knecht, der Bediente eines adligen Herrn, und hinge von dessen Wink und guten Willen ab und müßte es leiden, wenn er mich einmal Knall und Fall davonjagen wollte. Hier essen wir doch herzogliches Brod; ich bin angestellt! Wir haben unser gutes Auskommen. Wenn ich einmal nicht mehr dienen kann, krieg' ich Pension, und wenn ich meine Augen zumache, weiß ich, daß für Dich auch gesorgt ist.«
»Die Sorge ist nicht nothwendig. Unser Herrgott wird mich nicht verlassen und wird nicht zugeben, daß ich Dir ins Grab sehen muß; Du bist in guten Jahren, und ich sterbe lange vor Dir. Wenn's aber anders beschlossen sein sollte im Himmel, dann weiß ich auch, was ich thue. Dann werde ich auch nicht zu Grunde gehen; dann gehe ich zu meinem lieben Fräulein. Die wird ihre alte Gertrud, die sie als Kind auf den Armen getragen und großgezogen hat, nicht verstoßen. Sie hat mir's tausendmal versprochen, und die hält ihr Wort. Ich kenne sie dafür, denn das Fräulein hat ein Herz wie ein leibhaftiger Engel. Ja so«, unterbrach sie sich selbst, »sie ist ja kein Fräulein mehr, sondern eine Frau. Aber nein, eilte Frau ist sie auch nicht; sie ist Wittib, ehe sie eine Frau geworden ist. Ach das arme Kind, meine gute Primitiva! War's nicht Elends genug, daß sie am Hochzeitstage ihren Bräutigam verlieren mußte, den ihr das wüthige Volk angesichts ihrer weinenden Augen todtgeschlagen hat? Ich hab' es dieser Tage gehört, daß auch ihr Vater auf den Tod darniederliegt. Sie soll aus der Residenz fort und zu ihm gereist sein. Das hätte ich auch nicht gedacht, daß es dem guten Kinde einmal so übel gehen müßte.«
»Was jammerst Du dann über Dich selbst und über uns«, sagte der Mann, »weil Dir nicht Alles nach Wunsch geht? Du siehst, es ist bei den reichen und vornehmen Leuten auch nicht anders. Sie müssen eben auch vorlieb nehmen, grob und fein, wie's der Tag abwickelt. Ich für meinen Theil, ich wollte nur, daß ich so viel zusammenbrächte, daß ich den Dienst ganz an den Nagel hängen und für mich selbst sein könnte. Ich wollte gern mit einer Wassersuppe und Kartoffeln vorlieb nehmen, wenn ich mein eigener Herr sein könnte. Drum, Alte, mach' Du mir nicht auch noch den Kopf warm! Ich habe ohnehin genug zu denken.« Er hatte einen Blick durch die Erkerfenster geworfen und fuhr fort: »Die Scheiben laufen an, es wird empfindlich kalt heut Nacht. Wenn der Nordwind so fortweht, ist bis morgen Alles zu Stein und Bein gefroren. Ich will hinuntergehen und in den Oefen nachsehen. Es ist gar zu kalt in den unterirdischen Kellern und Gefängnissen. Man wird morgen einheizen müssen; ich will sehen, daß Holz zugetragen wird.«
»Recht, Alter!« sagte die Frau hinzutretend und reichte ihm die Hand. »Es ist schön von Dir, daß Du an Deine armen Gefangenen so denkst. Du bist doch mein guter Mann! Ich will mit Dir gehen und Dir helfen.«
»Laß das nur!« entgegnete er. »Das kann der Bub' thun. Wo steckt er denn? Ich suche ihn überall. Da siehst Du wieder, was man von der Güte hat, die Du so herausstreichst. Das hab' ich auch Dir und meiner Güte zu verdanken, daß wir den faulen Schlingel auf dem Halse haben. Du hast ja nicht geruht, bis wir ihn aufgenommen haben, wie er vor vierzehn Tagen zerlumpt und ausgehungert an das Thor gekommen ist.«
»Brumm' nur wieder«, sagte die Frau lachend, »und mach' Dich selber ärger, als Du bist! Du hättest ihn auch nicht liegen lassen, wenn ich Dich auch nicht gebeten hätte. Es war ja eine Nacht, in der man keinen Hund vor die Thür gejagt hätte; der Bub' war ein wahres Leidensbild, und stumm ist er zu allem Unglück noch obendrein! Uebrigens ist nicht wahr, was Du ihm vorwirfst. Faul ist er nicht; er hat nur so ein eigenes Wesen, aus dem man nicht klug werden kann. Es ist was Verstecktes und Verstocktes in ihm.«
»Das haben alle Leute, die ihre fünf Sinne nicht beisammen haben. Ich bin nur begierig, ob man nicht herausbringt, wo er davongelaufen ist, der Bub'. Der General hat in die Stadt schreiben lassen; da wird man ja wohl dahinterkommen. Aber was ist denn das?« unterbrach er sich, als er, im Begriffe, die Erkerthür zu schließen, noch einen flüchtigen Blick in die dunkelnde Gegend hinausgeworfen hatte. »Da kommt ja noch ein Wagen gegen die Festung heran! Was hat denn das zu bedeuten? Und vier Pferde sind vorgespannt! Das muß etwas ganz Besonderes sein, oder es muß recht große Eile haben.«
»Ach, etwas Gutes wird's in keinem Falle sein; sie bringen wohl wieder neue Gefangene.«
»Nein«, sagte der Mann, schärfer hinaussehend, »sonst wäre der Wagen von einer Escorte umgeben. Ich will nur hinunter und sehen, daß das Thor richtig aufgemacht wird.«
»Und ich will hinaus«, sagte die Frau, »und will, nach dem Buben sehen. Vielleicht hat er sich schon in seine Kammer verkrochen.«
Der Thorwart hatte eine große Laterne von der Wand herabgenommen und den Docht behutsam angezündet; dann trat er auf die Schwelle und that einen grellen Pfiff, auf welchen ein paar große schwarze Zottelhunde herbeisprangen und ihm auf dem Fuße durch den schwach beleuchteten, hallenden Gang nachfolgten.
Frau Gertrud hatte sich unterdeß an einer Lade zu schaffen gemacht und eine kleine Handleuchte herausgenommen, als ein stark vernehmliches Klirren hinter ihr sie veranlaßte, sich rasch umzudrehen. Das Geräusch kam hinter dem Ofen hervor, wo auf einem Wandbret eine Menge Schlüssel an einer Reihe von Haken aufgehängt waren. Der mächtige Kachelofen sprang so weit in die Stube vor, daß hinter ihm ein dunkler Winkel entstand, den das Licht der Lampe nicht zu erhellen vermochte. Dort war das Schlüsselbret am sichersten angebracht, Entwendung oder Mißbrauch war gleich unmöglich; denn Jedermann mußte zuvor den Umweg um den Ofen machen, was nicht geschehen konnte, ohne bemerkt zu werden.
»Was gibt's denn da?« fragte die Frau verwundert, indem sie sich dem Ofen näherte und die Laterne emporhob. »Da rappelt's ja an den Schlüsseln herum!« Verwundert trat sie einen Schritt zurück: in der Ecke, zusammengekauert und fest schlafend, saß ein Knabe, in einen ärmlichen, groben Zwillichkittel gehüllt, dessen bunt und dicht aufgesetzte Flecke von großer Abnutzung und noch größerer Armuth zeugten.
Es war Richard, der Sohn der unglücklichen Cilly, Meister Will's unbändiger Pflegesohn.
»Da liegt er«, sagte die Frau vor sich hin. »Wir suchen ihn überall, und er liegt da und schläft auf dem Stubenboden so fest wie im besten Flaumenbett! Oder«, fuhr sie fort, indem sie ihn fester ansah und den Schein ihrer Leuchte auf sein Gesicht fallen ließ, »sollte es am Ende Verstellung sein? Ich hab's doch deutlich an den Schlüsseln rappeln hören. He Du! Wach' auf!« rief sie, indem sie ihn an der Schulter rüttelte. »Wach' auf! Der Herr ist in die Keller hinunter; Du sollst Holz in die Gänge tragen. Tummle Dich! Er ist schon voran.«
Der Knabe erhob sich langsam, indem er wie Jemand, der aus tiefem Schlafe erwacht, sich mit beiden Händen die Augen rieb und dann die vor ihm stehende Frau mit dem gut gespielten Ausdruck ängstlicher Ueberraschung ansah, welche sich eines Fehlers bewußt ist und Strafe für denselben fürchtet. Er verzog das Gesicht, als ob er im Begriffe wäre, in Thränen auszubrechen.
»Na, weine nicht!« sagte die Frau begütigend. »Ich thue Dir nichts zu Leide für dieses Mal; doch eile, sonst könnte es beim Herrn noch etwas absetzen! Aber sage mir nur, wie Du hereingekommen bist und wann? Ich habe ja nichts gehört und gesehen von Dir. Rede! Ja so, der arme Narr kann ja nicht reden. Na, wenn Du auch nicht reden kannst, so kannst Du wenigstens hören, und dann merke Dir, was ich sage! Du mußt Dich hereingeschlichen haben in die Stube, sonst hätte ich Dich sehen müssen. Das kann ich nicht leiden. Mir ist nichts so zuwider als die Schleicherei, wie sie die Katzen im Brauch haben, und wenn wir gute Freunde bleiben sollen, so gib das auf und das hinterlistige heimliche Wesen dazu!«
Der Knabe starrte sie an, als ob er sie nicht recht verstehe, dann blickte er scheu nach der Thür, nickte ein paar Mal mit dem Kopfe und war mit einem raschen Seitensprung auf der Schwelle und aus der Thür.
»Gott verzeih' mir die Sünde, wenn ich ihm Unrecht thue!« sagte die Frau, indem sie ihm nachschritt. »Aber Alles, was er thut, thut er so geschwind und so verstohlen, als wenn er fürchtete, erwischt zu werden. Wie er jetzt hinausgesprungen ist! Gerade wie eine Katze!«
Gellender Glockenton vom äußern Thore her verkündete, daß Jemand Einlaß verlangte. Die Wache rief an, die Soldaten traten unter dem finstern, langen und niedrig gewölbten Thorbogen unters Gewehr, während der Thorwart eine in der Mauer befindliche kleine Luke öffnete, von welcher aus zwei starke Drähte nebeneinander über den Graben gezogen waren, sodaß sie eine Art von hängendem Gleis bildeten, auf welchem eine eingehängte Blechkapsel wie ein Weberschiff hin und her geschnellt werden konnte; denn die Zugbrücke wurde nicht eher niedergelassen, als bis der Einlaß Fordernde seinen Namen und die Ursache, welche ihn hergeführt, angegeben und seine Beglaubigung in die Kapsel gelegt und zurückgeschnellt hatte.
Eben schwirrte die Blechbüchse von draußen wieder herein, als General Bauer, welcher den Dienst als Festungscommandant zu versehen hatte, eilends herankam, um sich ebenfalls nach der Ursache der zu so ungewohnter Zeit eingetretenen Störung zu erkundigen. Er war sehr unwillig, und sein ohnehin stark gefärbtes Gesicht noch mehr geröthet, theils vom Weine, theils auch vielleicht, weil er bei der Abendtafel gestört worden war. »Oeffnet unbedenklich!« sagte er, nachdem er das Schreiben aus der Kapsel genommen und erbrochen hatte. »Es sind die Commissare Seiner herzoglichen Durchlaucht. Sorge Er dafür, Thorwart, daß für die Herren sogleich der Gaststock in Bereitschaft gesetzt wird!«
»Für wie viele Personen, Excellenz Herr General?« fragte knixend die Frau des Thorwarts, welche inzwischen ebenfalls herbeigekommen war.
»Glaubt Sie«, fuhr sie der Commandant unwillig und derb an, »daß ich durch die eisenbeschlagenen Thorbalken hindurchsehen und zählen kann, wie viele Leute im Wagen sitzen? Kann Sie nicht warten, bis das Thor herunter ist?«
Die Frau trat zurück, das Gesicht wie mit Blut begossen vor Unmuth über das barsche Benehmen, das sie ohne Erwiderung hinnehmen mußte, und vor Beschämung; denn die unter dem Gewehr stehenden Soldaten zischelten einander zu und lachten darüber, daß der General die vorwitzige Alte so abgetrumpft.
Indessen hatte das ungeheure Thor in seinen knarrenden Angelrollen sich langsam niedergelassen und lag auf den drüben befindlichen mächtigen Steinwiderlagern als sichere Brücke fest. Der Thorwart schritt hinaus, um die Riegel der äußern Pforte zurückzuziehen und die Schlösser zu öffnen, dann polterte das vom langen Warten unruhig gewordene Viergespann über die schwankenden Holzbohlen und rasselte durch den donnernden Thorbogen in den innern Hof. Ein Knecht trat hinzu, um die Zügel in Empfang zu nehmen. Er trug eine Pelzmütze, welche so tief in das Gesicht hereingezogen war, daß man von der Stirn gar nichts und von den Augen nicht viel bemerkte. Ueberdies war er durch einen starken Höcker verunstaltet und mit einem krummen Bein behaftet, das es ihm ziemlich schwer machte, die unruhigen und muthigen Pferde zu halten und dem Stalle zuzuführen. Desto gelenkiger war der Kutscher des eben angekommenen Wagens; trotz des schweren Pelzes, in den er gekleidet war, sprang er mit einer Behendigkeit zu Boden, daß der Stallknecht ihn mit zwinkernden Augen von der Seite ansah. »Wie ist's, Schwager?« sagte er. »Du springst ja wie ein Achtzehnjähriger! Das ließest Du wohl bleiben, wenn Du meinen Klumpfuß hättest.«
Der Kutscher wechselte schnell einen Blick mit dem Knechte; dann rief er: »'s wird auch eine Zeit gewesen sein, wo Du Deine Sprünge gemacht hast. Jetzt aber sieh nach meinen Pferden! Der vordere Handgaul geht ein bischen krumm. Weißt Du kein Mittel?«
»Ei jawohl«, sagte der Knecht mit einem eigenthümlichen Lächeln, indem er die Pferde dem Stalle zuführte. »Wir wollen einmal den Huf untersuchen und das Eisen herunterreißen.«
Der Kutscher folgte ihm raschen Schrittes und beide verschwanden in dem Stalle, dessen Thür sich sorgfältig hinter ihnen schloß.
Inzwischen hatte der Thorwart mit ehrerbietiger Verbeugung den Wagenschlag geöffnet, und der Gerichtsrath Weber ließ vorsichtig seine wohlbeleibte Gestalt aus dem Wagen zu Boden gleiten, indem er mit den Beinen sorgfältig nach den verschiedenen Stufen des Wagentritts und dann nach dem Boden suchte. Hinter ihm wurde van Overbergen's hochgescheiteltes Haupt sichtbar und daneben auf dem Rücksitz saß eine schmale und bleiche Gestalt, welche einem Gehülfen oder Schreiber des Gerichts anzugehören schien; denn unter den Tüchern und Mänteln neben ihm sahen mächtige Actenbündel heraus, die er aufs sorgfältigste hütete und ängstlich festhielt, als fürchte er, es könne ihm etwas davon abhanden kommen.
»Da sind wir endlich wieder, werthester Herr General!« rief der Gerichtsrath. »Sie haben uns wohl längst schon erwartet?«
»Das weiß Gott«, erwiderte dieser. »Als Fähnrich habe ich auf mein erstes Avancement nicht so sehnsüchtig gewartet als auf Ihre Ankunft. Hoffentlich ist die Stunde derselben auch diejenige, welche mich von diesem Orte erlöst, wo ich als Commandant nur der erste Festungsgefangene bin. Sie bringen doch Alles mit, was nöthig ist, um in dem Felsennest aufzuräumen?«
»Das thu' ich«, sagte der Gerichtsrath, indem er sich anschickte, dem General zu folgen, der mit einer einladenden Handbewegung nach dem Mittelgebäude im Hofraum zeigte, welches zwar etwas weniger hoch als die übrigen Baulichkeiten, dafür aber durch bequemere Formen und größere Fenster als Wohngebäude gekennzeichnet war. Unter der geöffneten Flügelthür zu beiden Seiten einer stattlichen Treppe standen Diener mit brennenden Doppelleuchtern und warteten der Ankunft des Gebieters. Overbergen machte sich noch im Wagen zu schaffen und warf einen flüchtigen Rundblick auf den ganzen Hofraum, als bewundere er den Umfang und die Festigkeit der Gebäude. Im Grunde aber geschah es wohl nur, um sich schnell in der Oertlichkeit zurecht zu finden.
»Die Arbeit war im höchsten Grade schwierig, mein Verehrtester«, sagte der Gerichtsrath im Gespräch fortfahrend zum General, »und das Material von so ungeheurem Umfang, daß es unmöglich war, dasselbe früher zu bewältigen; aber jetzt werden wir wohl zum Ende gelangen.«
»Nun«, sagte Bauer, »wenn jetzt wirklich das Ende kommt, soll Alles vergessen sein! Sie wissen, daß ich diesen Posten nur übernahm, weil es zu wichtig war, in wessen Hände die Gefangenen kommen würden. Wir konnten sie nur einem von den Unsern anvertrauen. Hoffentlich bin ich jetzt erlöst und deshalb will ich auch glauben, daß sich die Sache so lange hinziehen mußte, obwohl ich nicht leugne, daß das nach meiner Ansicht nicht nothwendig gewesen wäre. Ich hätte jedenfalls kürzern Proceß gemacht.«
»Das ging nicht an. Man mußte gewisse Formen beobachten, um den Schreiern und der Verleumdung in etwas den Mund zu stopfen. Dazu war die Einsetzung eines eigenen Gerichtshofs ganz das geeignete Mittel. Die Aufrührer können nicht sagen, daß man ihnen ihr Recht vorenthalten habe, und unser Zweck ist doch erreicht; denn die Zusammensetzung des Gerichts ist es ja doch, worauf es ankommt, und diese war und blieb in unsern Händen.«
»Meinetwegen denn«, sagte der General, als sie an der Thür angekommen waren. »Nun aber und für heute kein Wort mehr von Geschäften! Hören Sie, kein Wort mehr! Die Herren sind meine Gäste. Ich hatte mich eben, als Sie ankamen, zu Tische gesetzt und bin beim ersten Gang unterbrochen worden. Haben Sie noch Befehle zu ertheilen und Anordnungen zu treffen, so thun Sie es jetzt, damit wir später nicht noch einmal gestört werden. Ich liebe es nicht, unterbrochen zu werden, wenn die Flaschen einmal entkorkt sind.«
»Es bedarf keiner weitern Anordnungen«, entgegnete Weber, »als daß die Verhörzimmer geheizt und gehörig vorbereitet werden, da ich morgen mit dem Frühesten die Verhandlungen zu beginnen gedenke.«
»Hat Er das gehört?« rief der General dem Thorwart zu, der trotz des kalten Windes, der immer schärfer über den Hofraum blies, noch immer mit entblößtem Kopfe dastand, weil der General ihm nicht geheißen hatte, sich zu bedecken. »Daß Alles pünktlich gelüftet und geordnet ist! Laß Er auch heizen! Ich kann es nicht leiden, wenn die Stuben kalt sind.«
»Zu Befehl, Excellenz«, erwiderte der Thorwart kurz und wollte sich entfernen, als der General sich umwendend ihn nochmals zurückrief. »Noch etwas! Wie ich vorhin herunterkam, bin ich Seinem Burschen begegnet, der Holz in die Kasemattengänge trug. Was soll das bedeuten?«
»Wir bekommen starken Frost heute Nacht, Excellenz«, entgegnete der Thorwart. »Das Wasser überdeckt sich jetzt schon mit einer Eiskruste; es ist sehr kalt in den Kasematten, und da hab' ich gedacht –«
»Ich will doch nicht hoffen, daß er den Gefangenen einheizen will?« schrie der General. »Damit hat es Zeit, bis ich es befehle. Er geht mir hübsch mit dem herzoglichen Holz um! Das Rebellengesindel soll sich nur ein bischen ans Heulen und Zähnklappern gewöhnen! Dafür, daß ihnen zur rechten Zeit eingeheizt wird, werden schon Andere sorgen.« Er brach in ein rohes Lachen aus, welches wie die Röthe seines Gesichts zeigte, daß das Entkorken der Flaschen schon vor ziemlich geraumer Zeit begonnen haben mochte, und bald waren die Herren sammt dem die Acten schleppenden Schreiber über die Treppe verschwunden.
Die Diener schlossen die Thür und auf dem Hofraum war es wieder vollkommen öde und still. Im Thorbogen flackerte die Laterne in dem eisigen Winde; neben demselben, im Halbschatten des Gewölbes und durch dasselbe in etwas vor dem Winde geschützt, schritt die Schildwache hin und wieder, um sich durch stetige Bewegung des Frostes zu erwehren. Unter der Thür des Festungsgebäudes selbst kauerte Richard und sah dem Thorwart entgegen, der mit hochgehobener Laterne an ihn hinantrat; zugleich deutete er wie fragend in den Gang nebenan, wo neben der Mündung einer dunklen, engen Treppe, die zu den Gefängnißräumen hinunterführte, eine Bürde Holz lag.
»Bist Du endlich da, Taugenichts?« rief der Thorwart. »Wo hast Du denn gesteckt? Jetzt brauch' ich Dich nicht mehr. Der Herr Commandant Excellenz will nicht, daß die Gefangenen warm bekommen. In Gottes Namen, ich hab's nicht zu verantworten. Aber bald geht's mir wie meinem Weibe: ich wollte, der Teufel holte den General; ein naher Verwandter von ihm muß er ohnehin sein. Wie dumm!« fuhr er fort, nachdem er einen Augenblick inne gehalten und sich umgesehen hatte. »Wie kann man sich so vom Zorn übergehen lassen! Da könnt' ich mir eine schöne Suppe einbrocken, wenn er erführe – na, er erfährt's nicht. Es ist Niemand weit und breit da und der Bub' kann ja nicht reden. Mach', daß Du in Dein Bett kriechst!« rief er, indem er die schweren Eisenriegel an der Thür in den Ring stieß und bald um die Ecke des Ganges verschwand, der nach seiner Wohnung führte.
Der Knabe folgte ihm bis dahin, wo eine kleine Thür in eine lichtlose Kammer führte, in der neben dem Holzvorrath ein Strohsack mit einer Decke ihm als Lager bereitet war. Er öffnete die Thür mit absichtlichem Geräusch, damit der Thorwart sein Eintreten gewiß hören sollte; augenblicklich aber steckte er den Kopf wieder zur Thür hinaus, um zu horchen, ob der Thorwart wirklich in seine Stube trete. Zufrieden nickte er, als er auch hier den Schlüssel im Schlosse drehen hörte, verweilte horchend noch einige Sekunden und huschte dann wieder heraus, niedergeduckt im Schatten des Ganges und beinahe am Boden hinschleichend, bis er zu der abwärts führenden Treppe kam. Vorsichtig griff er jetzt in die Tasche, wie Jemand, der sich überzeugen will, daß er das zu seinem Vorhaben unerläßliche Geräthe wirklich bei sich habe; dann bog er um die Ecke und glitt die Stufen hinab, die sich um einen starken Mittelpfeiler abwärts wanden und kein Ende zu nehmen schienen. Ein breiter, niedrig gewölbter Gang empfing ihn dann, in welchem ihn moderige Kellerluft und das Schweigen einer Gruft umgab. Es war vollständig dunkel; an einer einzigen Stelle fiel durch einen hohen, in dem dicken Gemäuer angebrachten Lichtfang ein schwacher Schein auf das dunkelbraune Pflaster und ließ ahnen, daß droben auf der Oberwelt der Mond seine stille Fahrt begonnen haben mußte.
Behutsam, mit angehaltenem Athem und bei jedem Schritte horchend, tastete sich Richard an dem Gemäuer fort, an welchem frierende Wassertropfen niedersickerten und seine Hände befeuchteten. Lange Zeit hatte kein Laut sich geregt. Plötzlich stand er wie vor Schrecken erstarrt, denn ein stark klirrendes Geräusch schlug deutlich an sein Ohr. Er horchte gegen die Stiege hin. »Es ist nichts«, sagte er dann aufathmend. »Ich hab' geglaubt, es ist der Thorriegel, was so klirrt. Es muß aber einer von den Gefangenen gewesen sein, der sich im Schlafe bewegt und mit seinen Ketten rasselt.« An mehreren Eisenthüren kam er noch vorüber, hinter denen lautlose Stille waltete; aus einer Zelle jedoch drangen halblaute Worte, der Eingekerkerte schien zu beten. Aus der nächsten ließen sich Töne vernehmen, die fast wie Gesang klangen, bis zum Unhörbaren gedämpft durch die dicken Mauern und die Eisenthore mit dem doppelten Eisenbeschlag. »Dort«, murmelte Richard, auf einen in der Tiefe auftauchenden hellern Fleck hinstarrend, »dort müssen die Stufen sein, die zu der Krankenkeuche hinaufführen! Dort –« Er sprach den Gedanken nicht aus, der in seiner Seele lag, aber mit fliegendem Athem vollendete er hastig seinen Weg. Mit wenigen Sätzen war er die Treppe hinan und in einen etwas freundlicher aussehenden Raum gelangt, wo ein hart an der Decke angebrachtes schmales Fenster den Mondstrahlen ungehinderten Eingang gewährte und eine minder schwer verwahrte Thür beleuchtete. Zitternd vor Hast griff er in die Tasche seines Kittels, zog einen Schlüssel hervor und hatte im Augenblicke das Vorhängeschloß geöffnet, indem er zugleich durch die Ritzen flüsterte: »Sei still, Mutter, und erschrick nicht! Halte Dich ruhig! Ich bin's, der Richard.« Er schlich sich hinein, die Thür geräuschlos hinter sich anziehend, und stand in einer engen Kammer mit einem hohen, von starken Eisenstangen vergitterten Fenster und ohne andere Einrichtung als ein schlichtes Bettgestell nebst einem ärmlichen Lager, von welchem Cilly sich wie unsicher und schlaftrunken erhob und mit verglasten Augen dem Kommenden entgegensah. Sie war so ergriffen, daß die Mahnung des Knaben, ruhig zu sein, überflüssig gewesen wäre; sie vermochte keinen Ton aus der Kehle zu bringen. Erst als Richard, ohne Worte in lautes Schluchzen ausbrechend, sich ihr an den Hals warf, kam Leben und Bewegung in sie; ihre Arme schlugen um seinen Nacken zusammen und ihre stürzenden Thränen mischten sich mit den seinigen.
»Du kommst zu mir?« rief sie dann, indem sie ihn von sich wegdrängte, ihm das Haar von der Stirn strich, um ihn näher zu betrachten, und ihn dann mit Küssen überdeckte. »Mein Richard, mein lieber Bub', mein Eins und mein Alles! Dich seh' ich wirklich noch einmal? Wie ist es nur möglich, daß Du zu mir kommst?«
»Ich bin schon über acht Tage in der Festung« erwiderte er, sich eng an sie anschmiegend. »Wie sie gekommen sind und Dich fortgeholt haben, hab' ich mich eine Weile stillgehalten, weil ich gedacht hab', der Vetter Will würde mich sonst einsperren, daß ich nicht zu Dir könnte. Dann hab' ich's aus ihm herausgefragt, wo sie Dich hingebracht und was sie im Sinn haben mit Dir. Da hab' ich –« er zauderte, und es kostete ihn sichtbar einige Ueberwindung, fortzufahren – »da hab' ich den Kasten des Vetters aufgebrochen, hab' ihm sein Geld genommen und bin fort damit. Ich hab's nicht gestohlen, Mutter«, rief er feurig, »hab's nicht stehlen wollen! Ich geb's ihm wieder, gewiß und wahrhaftig, aber ich hab' wohl eingesehen, daß ich Geld haben muß. Einem Besenbinderbuben, der mir unterwegs begegnet ist, hab' ich sein Gewand und seine Waar' abgekauft und bin hierher und hab' mich ein paar Tage um das Schloß herumgeschlichen, bis ich Alles ausgekundschaftet hatte. Dann hab' ich mich recht elend gestellt und ans Thor gelegt und hab' gethan, als wenn ich stumm wär', damit ich mich selber ja nicht verrathen könnt'. Die Thorwartin ist eine gute Frau; die hat mich aufgenommen und hat mir zu essen gegeben. Dafür hab' ich ihr geholfen Holz zutragen und Wasser bringen, und so bin ich in die Gefängnisse 'runtergekommen und auch zu dem Deinigen, Mutter.«
»O Du gutes Kind«, schluchzte Cilly. »Wie lieb hast Du mich! Hab' ich denn so viel Liebe um Dich verdient?« Sie wollte ihn wieder an sich drücken, aber erschreckt wandte sie sich ab, denn der Mond schien ihm eben voll ins Gesicht und beleuchtete seine Züge. »Wie er ihm ähnlich ist!« seufzte sie schaudernd in sich hinein. »Ich Elende! Alles hab' ich mir selbst vergiftet und vernichtet. Nicht einmal meines eigenen Kindes darf ich mich freuen.«
»Was ist Dir, Mutter?« fragte der Knabe, indem er sie an sich drückte. »Mußt nicht mehr traurig sein! Ich hab' den Schlüssel und weiß den Weg aus dem Schloß und durch den Sumpf. Aber heut Nacht muß es geschehen. Es hat gefroren und der Weg ist nur zu gehen, wenn es gefroren hat. Die Herren vom Gericht sind aus der Stadt angekommen. Wer weiß, was sie morgen mit Dir im Sinn hätten. Du mußt fort mit mir und das gleich! Komm', Mutter, komm'!«
»Ja, ja«, erwiderte sie wie geistesabwesend und als verstände sie nicht völlig, was er sagte. »Ich komme schon, ich hör' Dich schon; ich will mich beeilen.« Sie begann auch an ihren Kleidern herumzunesteln, aber anstatt sich besser zu verwahren, machte sie es umgekehrt und war im Begriff, ihr Umschlagetuch abzulegen. »Ich komme schon«, sagte sie wieder. »Wohin willst Du mich denn führen?«
»Das weiß ich selber noch nicht«, antwortete der Knabe. »Das wird sich schon finden. Du wirst es mir wohl sagen, wohin wir gehen. Wir bleiben jetzt bei einander, wir werden schon ein Plätzchen finden, wo wir beisammen sein können. O, es soll Dir gut gehen! Ich will arbeiten. Jetzt hab' ich erst gesehen, wozu das Arbeiten gut ist und daß ich auch schon arbeiten kann. Und für Dich, Mutter, kann ich und thu' ich Alles. Komm' nur! So, nimm Dein Tuch über Kopf und Hals! Es ist arg kalt draußen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Alle Stunden geht die Runde an den Mauern vorüber; jetzt ist sie gerade vorbei. Ehe sie wiederkommt, müssen wir schon weit im Freien sein.«
»Gleich, gleich«, murmelte Cilly, indem sie sich mit der Hand, als ob sie sich nicht zu besinnen vermöge, über die Stirn fuhr. »Ich weiß schon, daß er auf mich wartet draußen. Er hat es mir gestern durchs Fenster zugerufen.«
»Wer denn?« fragte Richard verwundert. »Ermuntere Dich doch, Mutter! Du bist noch ganz verschlafen und weißt nicht, was Du redest. So, komm'! Gib Acht, daß Du nicht auf die Stufen herunterfällst – es sind drei – und gib keinen Laut von Dir! Wir müssen unter der Festung im Kanal durch. Still! Gerade über uns steht die Schildwache.«
Der Knabe hatte vorsichtig Cilly's Hand ergriffen und führte sie behutsam durch den Gang nach einem unverwahrten Gewölbe, dessen Thür in sehr locker gewordenen Angeln hing, während der Raum selbst theilweise verschüttet war. Der Knabe hatte ganz richtig beobachtet. Das Wasser stand in der Mitte des hier beginnenden Kanals nur einige Schuh breit; zur einen Seite war Rand genug, um in gebückter Stellung darauf fortkriechen zu können; zuletzt aber senkte sich das Gewölbe tiefer herab, daß es fast den Wasserspiegel erreichte. »Es geht nicht anders«, flüsterte der Knabe der Mutter zu, »wir müssen ein wenig tauchen, aber es ist nicht tief und keine Gefahr dabei. Wir werden nur naß und kalt und wollen dann tüchtig laufen, daß wir wieder warm und trocken werden und daß es Dir nicht schadet, Mutter!«
Cilly gehorchte dem Wort und Wink ihres Führers; es war, als ob sie die Rollen getauscht hätten, als wäre er der Kundige, Weltkluge, Erwachsene und sie das unerfahrene Kind. Bald war der Kanal durchwatet und die Flüchtlinge standen im Freien, hart am Fuße und im weithin reichenden Schatten des ungeheuren Burgfelsens; vor ihnen im hellen Mondesglanze dehnte sich bleich und duftig das überfrorene Moor. Die Eiskrusten der kleinen Wasserlachen spiegelten; dazwischen sahen schwarz die dunklen Moosstellen hervor, nur leicht von den Schneeflocken bedeckt, welche eben zu fallen begannen.
»Gott sei Dank!« flüsterte Richard. »Es ist Alles still. Ich höre den Schritt der Schildwache; sie geht eben an der andern Seite hinab. Den Augenblick wollen wir benutzen. Wenn dort der einzelne Weidenbaum erreicht ist, haben wir das Aergste hinter uns. Von dort führt ein Streifen Felsengrund durch das Gewässer, fast bis an den Hügelrand. Komm', Mutter!. Schnell! Wir müssen hinüber sein, ehe der Schnee unsere Fußtapfen verrathen kann.«
Cilly an der Hand nach sich ziehend, flog der Knabe über das Moor dahin, so sicher, daß das Eis nur leise knirschte unter seinem Tritte, so schnell, daß der Fuß nicht Zeit hatte, auf dem weichen Grunde tiefer einzusinken. Lautlos, wie ohne Willen, folgte Cilly. Der Wind hatte sich stärker erhoben, er hatte ihr Tuch gefaßt und ihr Haar gelöst, daß beide im Wind und in dem immer dichter fallenden Schneegestöber flatterten.
Geraume Zeit eilten beide dahin, ohne daß ein Wort gewechselt wurde. Schon war die niedrige Hügelreihe erkennbar, welche den Sumpf umrahmte; ganz nahe rückte der Weidenbaum heran, den das scharfe Auge des Knaben schon von fern gewahrt und zum Zielpunkte genommen hatte. Immer schärfer und bestimmter traten jetzt die Umrisse des knorrigen Baums hervor, welcher sich schwarz von der beschneiten Fläche abhob und die kahlen stumpfen Zweige starr in die Höhe streckte; eben ging der Weg über ein Stück Gestein, das einzeln aus dem weichen Grunde hervorragte, ein kleines Gegenstück zu dem großen Felsen, auf welchem die Festung stand.
»Sei vorsichtig, Mutter!« Mahnte der Knabe. »Der Stein ist glatt vom Schnee. Wir haben bald festen Boden hinter uns, es sind keine hundert Schritte mehr.«
Cilly, die bis dahin in einer Art Betäubung dem Knaben gefolgt war, hob ihren Blick zum ersten Male; sie riß ihre Hand aus der seinigen und streckte dieselbe starr gegen den Weidenbaum aus, indem sie einen Augenblick wie versteinert stehen blieb. »Dort!« schrie sie auf im Tone des wildesten Entsetzens. »Siehst Du dort die schwarze Gestalt, wie sie sich hoch aufrichtet, wie sie mit den erhobenen Armen mir droht? So stand er da, so hatte er die Arme gehoben, so hat er mir noch im Zusammenstürzen gedroht.«
»Mutter«, rief Richard ängstlich, »was fällt Dir ein? Sieh genauer hin! Es ist nichts als ein Baum.«
»Nein«, rief sie wieder, indem sie den Arm, mit dem er sie umfassen wollte, zurückschleuderte, »er ist's, er deutet mir zurück, er will nicht haben, daß ich entfliehen soll. Ich gehe auch nicht mehr. Laß mich los!« kreischte sie, als Richard sie erfaßte. »Siehst Du denn nicht, wie er die Arme ausstreckt nach mir? Er greift nach mir, er will mich an sich reißen!«
Die Kräfte des Knaben reichten nicht aus, das Widerstreben der Halbwahnsinnigen zu besiegen; sie riß sich mit einem gellenden Schrei los und wollte sich umwenden, aber ihr Fuß glitt auf dem eisigen Gestein aus, und mit voller Gewalt stürzte sie auf die scharfen Zacken und Kanten gegen den Sumpf hinunter. Beinahe ebenso schnell, als sie fiel, war der Knabe zu ihr hinabgesprungen, zerrte sie auf das Gestein und mühte sich vergeblich, die Ohnmächtige, welche nur noch leise wimmernde Töne ausstieß, aufzurichten. Durch den Sturz hatte sie sich am Fuße verletzt und das ringsum den Schnee färbende Blut zeigte bald nur zu deutlich, wie schwer die Verwundung sein mußte. »Mutter«, rief er ihr verzweifelnd ins Ohr, indem er bald ihre Hände faßte, bald wieder seinen Mund an ihre erstarrenden Lippen brachte, »nimm Dich zusammen! Es ist ja nicht mehr weit. Mutter, so höre mich doch!«
Es war umsonst; wohl versuchte Cilly, nachdem sie sich etwas erholt, sich zu erheben, aber mit einem Schmerzensrufe brach sie zusammen und neigte sich geschlossenen Auges gleich einer Sterbenden auf das rauhe kalte Kissen zurück, das Schnee und Gestein ihr unterbreiteten.
Aufschreiend warf sich der Knabe über sie. Er konnte sich nicht mehr täuschen, es war unmöglich, die Mutter zu retten; er hatte sie nur dem Kerker entrissen, um sie in den Tod zu führen; ehe der Tag kam, mußten Schmerz, Schrecken und Kälte die ohnehin schwer Erkrankte tödten, und wenn das nicht geschah, war mit dem Erscheinen des Lichts doch die Entdeckung gewiß. Was sollte er beginnen? Sollte er allein fliehen und in einem der Dörfer am Hügelrande Hülfe suchen? Aber welche Hülfe konnte das sein? Konnte er Anderes erwarten, als von den Bewohnern wieder eingeliefert und in das Gefängniß zurückgebracht zu werden? Und konnte er denn die Unglückliche allein lassen? Es war immerhin doch möglich, daß sie in seiner Abwesenheit zu sich kam, daß sie es versuchte, weiter zu gehen, und dann in dem weglosen Moor sich verirrte und rettungslos versank! Im Uebermaße seines Schmerzes rang er die Hände, hob sie in wilder Verzweiflung gen Himmel und ballte sie in ohnmächtiger Wuth nach der Festung hin, die sich erhob wie ein riesiger Wächter, der sich spähend aufgerichtet, sein Opfer nicht entrinnen zu lassen. Endlich erlahmte auch die Kraft seiner Jugend und die Spannung der Leidenschaft ermattete in der eisigen Umarmung der Nacht; vom Weinen ermüdet, vom Frost eingeschläfert, sank der Knabe hin; als ruhten sie daheim im friedlichen, warmen Bette, lagen sie bald neben einander, das erstarrende Kind an die Brust der sterbenden Mutter geschmiegt.
Die Sonne des andern Tags kam lange nicht hervor hinter dem grauen, undurchdringlichen Gewölk, welches nach der klaren Frostnacht in schneller Wandlung vom Firmament Besitz ergriffen hatte. In der Festung herrschte ungewöhnliche Thätigkeit. Die Besatzung war zahlreicher als sonst unter das Gewehr getreten; in den Gängen, wo sonst tagelang nichts hörbar war als der einsame Fußtritt des Schließers, schritten viele Menschen laut und eilig hin und wieder. In einer großen Stube standen Soldaten, Eisenknechte und Gerichtsdiener plaudernd beisammen und warteten auf die Ankunft des Gerichtshofs.
»Es ist schon bald neun Uhr«, sagte ein Korporal zum Thorwart, der eben aus dem Nebenzimmer trat, »und noch läßt sich keiner von den Herren sehen. Gestern hieß es doch, daß die Verhandlungen in aller Frühe beginnen sollten!«
»Meinetwegen«, brummte der Thorwart ärgerlich. »Mich geht's nichts an. Ich hab' Alles in Bereitschaft gesetzt. Mich kann kein Vorwurf treffen.«
»Freilich«, rief der Korporal mit pfiffigem Augenblinzeln. »Aber wir hätten's vorauswissen können, daß es nicht gar so früh werden wird. Wir haben's von der Wachstube aus gesehen, die Fenster bei der Excellenz waren bis Mitternacht erleuchtet; wir haben das Lachen und das Anstoßen mit den Gläsern bis herunter gehört! Wenn man so spät in die Federn kommt, kann man so bald nicht wieder heraus! Aber jetzt rührt sich doch was, ich höre Säbelklirren auf der steinernen Stiege.«
Der Korporal hatte recht gehört; bald kamen die Schritte näher. Er sprang hinzu, öffnete die Thür und stand dann mit den Soldaten stramm aufgerichtet, die rechte Hand zur Begrüßung an den Helm gelegt. Der General trat ein. In voller Uniform, die Brust mit Orden bedeckt, die Feldbinde um den Leib, den Hut mit dem herabhängenden Federbusche auf dem Haupte, den Säbel im Arm, trat er mit militärischen Schritten vor dem Gerichtsrath ein, welcher mit bleichem Angesicht folgte, während das des Generals noch stärker glühte als am Abend zuvor. Er pustete, ohne die Begrüßung der Mannschaft zu erwidern, wie Jemand, der sich sehr erhitzt fühlt und in einen noch wärmern Raum tritt. »Höllenelement!« rief er dem Thorwart zu. »Ist Er verrückt, so einzuschüren? Er hat sich wohl schon vor Tagesanbruch an den Ofen gemacht und hat gedacht, wir werden beim Nachtlicht an unser Geschäft gehen, wie die Tagelöhner?«
Dem Thorwart flog die Röthe des Unwillens über das Gesicht. »Excellenz haben gestern selbst befohlen«, sagte er, »daß schon in aller Frühe –«
»Den Teufel hab' ich befohlen«, rief dieser entgegen. »Schweig' Er und raisonnir' Er nicht! Ich kann's nicht leiden. Noch ein einziges Wort, und ich lass' Ihn auf einen halben Tag krummschließen.«
Er verschwand mit Weber im Nebenzimmer. In diesem stand ein kleiner, grün behangener Tisch, an dessen unterer Ecke der Schreiber, die Feder in der Hand, hinter Papier und Tintenfaß saß und sich zum demüthigen Gruße fast bis an den Tisch niederbeugte.
»Gehen Sie und lassen Sie die Gefangenen nach der angegebenen Reihe vorführen!« rief ihm der Gerichtsrath zu, indem er einen Pack Schriften auf den Tisch warf.
»Ah, das sind wahrscheinlich die Urtheile?« sagte der General. »Nun, das wird hoffentlich nicht lange währen. Mir ist schrecklich heiß, da kann ich's nicht lange in der Stube aushalten.«
»Es sind die Urtheile«, erwiderte Weber, »und die Verkündung derselben wird allerdings nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Aber die Hitze, Herr General, die kommt, wie ich glaube, nicht vom Zimmer, die stammt noch von gestern her. Der Burgunder ist ein schwerer Wein, der sich auf die Nerven legt, und Sie haben ihm tüchtig zugesprochen.«
»Ho, ho«, lachte der General, »Sie haben's auch nicht fehlen lassen und mir jedesmal Bescheid gethan.«
»Ja, das spür' ich«, sagte der Gerichtsrath seufzend, indem er sich über die dünnen, blonden Haare fuhr. »Ich bin solche Gelage nicht gewohnt, die Wirkung ist bei mir eine ganz andere als bei Ihnen; während Sie glühen, fröstelt's mich, als ob ich das kalte Fieber hätte.«
»Das macht«, rief der General mit lautem Lachen, »weil Sie keine Soldatennatur haben, weil Sie sich in der Stube und hinter dem Actentische ganz zusammengesessen haben. Aufrichtig gesagt, lieber Gerichtsrath, ich kann Ihre Collegen nicht leiden, aber bei Ihnen, das wissen Sie, mach' ich eine Ausnahme. Am meisten zuwider sind mir solche verschlossene, schweigsame und lauernde Gesichter wie dieser Mucker, dieser van Overbergen, den Sie mitgebracht haben. Es ist nur gut, daß er bald zu Bette gegangen ist. Mir hätte sonst kein Glas geschmeckt. Was hat doch der Leisetreter hier zu schaffen?«
Der Gerichtsrath sah sich um, ob Niemand zugegen sei; dann zuckte er die Achseln und flüsterte dem General zu: »Allerhöchster Befehl. Ihre Durchlaucht die Frau Herzogin-Mutter und Regentin hat ihn mit geheimen Aufträgen an den Exminister geschickt, von denen dessen Schicksal abhängt.«
»Sein Schicksal?« fragte der General verwundert. »Was soll das heißen? Ist denn das noch nicht entschieden?«
»Sein Urtheil ist das einzige, welches noch nicht die allerhöchste Bestätigung erhalten hat. Herr van Overbergen soll sein Glück bei ihm versuchen, indessen auch ich noch ein Verhör mit ihm abzuhalten gedenke.«
»Aber wozu alle die Umstände?« rief der General. »Man hat einmal durchgegriffen und sollte ja nicht davon ablassen und sich wieder schwach zeigen. Hat sich unsere Maxime nicht glänzend bewährt? Ist es nicht so ruhig in der Stadt, als wenn nichts vorgefallen wäre? Regt sich nur ein Mensch im ganzen Lande?«
»Keine Seele«, bestätigte der Gerichtsrath. »Ein heilsamer Schrecken ist in alle gefahren; Jeder hat mit der Sorge für sich zu thun. Die vielen Verhaftungen haben gezeigt, daß es der Regierung Ernst ist; fast keine Familie gibt es, der nicht um das Schicksal eines Angehörigen bange wäre und die deshalb fürchten muß, etwas Anderes laut werden zu lassen als Versicherungen der Unterwerfung und Bitten um Gnade.«
»Sehen Sie also«, sagte triumphirend der General, »wie sehr ich Recht gehabt habe? Das Volk hat keinen Willen, es ist wie ein Kind, das weint, wenn es sich etwas in den Kopf gesetzt hat, und das man verzieht, wenn man ihm nachgeben wollte; schlägt man dem Balg gleich anfangs tüchtig auf die Hand, so läßt er sich das Weinen und Bitten für alle Zukunft vergehen. Die Rädelsführer, die Unruhestifter, die Hetzer sind jetzt entfernt und unschädlich gemacht, ich gehe jede Wette ein, ehe ein Jahr ins Land geht, ist das ganze Volk so zahm und ergeben, daß man es um den Finger wickeln kann.«
»Sie wissen, daß ich im Ganzen auch Ihrer Ansicht bin«, entgegnete Weber, »doch ist nicht zu verkennen, daß hinter der Unterwerfung noch viel versteckter Grimm und Groll vorhanden ist. Ich möchte nicht gut dafür stehen, ob nicht noch einmal Feuer emporschlüge, wenn man in die Asche blasen wollte, zumal wenn –«
»Lassen Sie das Feuer aufschlagen!« lachte der General wild. »Wenn die Glut unter der Asche noch nicht ganz gelöscht ist, dann wird ein zweiter, noch stärkerer Aderlaß sie löschen. Blut thut den Dienst so gut und noch besser wie Wasser. Glut und Blut, das reimt sich nicht umsonst so gut. Aber was war das für ein Wenn, das Sie noch Ihrer Besorgniß angehängt haben?«
»Wenn sich verwirklichen sollte, wovon man spricht«, sagte Weber. »Seine Durchlaucht der Herzog Felix soll in den nächsten Tagen von seiner Reise zurückkehren, er hat in der Nachbarresidenz jenen Baumeister wieder getroffen –«
»Baumeister?«
»Nun ja, den Franzosen oder Niederländer, was weiß ich, der dem Herzog gleich nach seinem Regierungsantritt Pläne vorgelegt hat, welche ihn so sehr entzückten, Baupläne zu einem neuen Lustschloß.«
»Ach ja, ach ja, ich erinnere mich«, sagte der General, »ein Deutsch-Franzose aus dem Elsaß, nicht wahr? Rigollet, wenn ich nicht irre. Was ist's mit dem?«
»Der Herzog hat ihn dort wiedergesehen, ist an die alten Pläne erinnert worden und jetzt noch mehr davon eingenommen als zuvor. Er soll fest im Sinne haben, das Schloß jetzt bauen zu lassen, und weil es an Geld dazu fehlen dürfte, soll die Verbrauchssteuer wieder eingeführt werden, welche unter dem seligen Herrn den ersten Funken in das Pulverfaß geworfen hat.«
»Höllenelement!« rief der General, indem er den losgeschnallten Säbel auf den Tisch warf. »Das ist eine starke Zumuthung! Da wird es allerdings böse Gesichter setzen, bis sie diese Pille schlucken! Aber sie werden sie schlucken, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Wenn der Herzog mich gewähren läßt, werden sie sie schlucken, und wenn sie die Gesichter noch so arg darüber verziehen.«
»Sie trauen sich ein wenig viel zu, Herr General«, sagte Weber bedenklich. Solche Dinge lassen sich eben doch nicht blos militärisch behandeln.«
»Ho ho, ich bin mit meinem Latein nicht so schnell zu Ende«, rief der General entgegen. »Wenn die Steuer wieder eingeführt werden soll, gibt es ein Mittel, aber auch nur ein einziges, um Unruhen vorzubeugen. Legt man sie den Leuten einfach so auf wie das erste Mal, dann ist es möglich, daß sie desperat werden und in der Desperation noch einmal losschlagen, wenn sie auch voraus wissen, daß es vergeblich ist! Darum muß man gleich den doppelten Betrag fordern. Das ist eine pure Unmöglichkeit; da werden Sie sich aufs Bitten legen, werden Vorstellungen machen, Petitionen einreichen, und wenn der Herzog aus Gnade die Hälfte erläßt, so zahlen sie die Steuer, gegen die sie sich zuvor bis aufs Blut gesträubt haben, ohne Widerrede und sind noch in ihrem Gott vergnügt, daß sie so leichten Kaufs davongekommen sind.«
Der General brach wieder in sein rohes Gelächter aus. Auch der Gerichtsrath stimmte unwillkürlich bei. »Ich muß gestehen«, sagte er, »Sie haben Ihre Carrière verfehlt; statt eines Generals hätten Sie ein Finanzminister werden sollen.«
Der Schreiber pochte schüchtern an die Thür; dann steckte er den Kopf herein und meldete, der erste Gefangene sei vorgeführt. Der General als Vorsitzender des Gerichts nahm hierauf seinen Platz an der Mitte des Tisches ein; der Gerichtsrath als Untersuchungsrichter setzte sich daneben, der Schreiber nahm unten am Ende des Tisches Platz.
Die Verhandlungen begannen und waren rasch beendet.
Sie bestanden darin, einem der Gefangenen nach dem andern sein Urtheil zu verkünden. Es war eine ansehnliche Reihe von Unglücklichen, die einander folgten, meist abgehärmte Gestalten, mehr oder minder gebrochen von dem Erlebten und noch mehr gebeugt von dem, was ihnen bevorstand; wechselnd mit Fassung, Schmerz oder Grimm, vernahmen sie das Loos, das sie erwartete. Die meisten waren von den eindringenden Truppen mit den Waffen in der Hand ergriffen worden, viele davon durch Wunden ihrer Theilnahme am Kampfe überführt; fast alle, das Vergebliche aller Verteidigung einsehend, hatten die Wahrheit gesagt, sich selbst wie die Sache, für die sie gekämpft, verloren gebend. Es waren Leute aus allen Ständen, von jedem Alter, Bürger, deren Kinder und Frauen vergeblich auf die Rückkehr der Väter warten, Studenten, Gesellen, Arbeiter, deren Mütter und Verwandte für immer die Kinder entbehren sollten, deren Leben endete, sobald die Kerkerthür hinter ihnen ins Schloß fiel.
Fast alle Urtheile lauteten auf lebenslängliches oder doch so langwieriges Gefängniß, daß dem Verurtheilten nur die Gewißheit blieb, den Kerker einmal als Leiche oder als vergessener, altersschwacher Greis zu verlassen. Mehrere waren zum Tode verurtheilt, aber die Gnade der Regentin hatte die Strafe in Gefängniß umgewandelt. Eine nicht kleine Anzahl von Urtheilssprüchen war gegen Flüchtige ergangen, denen es im letzten Augenblicke noch gelungen war, die Grenze zu erreichen und ein nacktes, mühseliges Leben in die Verbannung zu tragen. Unter ihnen war Kaufmann Rund. Hahn, der zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurtheilt gewesen, ward durch den Tod infolge seiner Wunden von diesem traurigen Schicksal erlöst. Dreher Gerbel war zu gleichem Loose bestimmt, aber auch in dem schweren Augenblicke verließ ihn die derbe Kraft und die schlichte Biederkeit seines Gemüthes nicht.
»Ich habe das vorausgesehen«, sagte er, indem er seinen Namen mit festen Zügen unter das Eröffnungsprotokoll schrieb, »und will Ihnen die Freude nicht machen, daß Sie mich verzagt sehen sollen. Wir sind unterlegen; Sie haben die Oberhand erhalten – Sie brauchen Ihre Uebermacht, Sie üben Rache an uns und nennen das Recht. In Gottes Namen denn! Für mein Weib und meinen Buben ist es keine Schande, daß ihren Mann und Vater eine solche Strafe trifft; weiß doch alle Welt, für was sie mich trifft. Mir selbst aber ist es gleichgültig, wie ich die paar Jahre verbringe, die ich noch zu leben habe! Zur lebenslänglichen Zwangsarbeit bin ich verurtheilt?« fuhr er fort. »Das macht mich lachen. Dazu bin ich ja von Jugend auf schon verurtheilt gewesen; man ist wohl zur Arbeit gezwungen, wenn man leben will, und die Arbeit wird mir nicht schwer ankommen, wenn ich auch lieber an meiner lieben Drehbank stünde. Wissen Sie noch, Herr Gerichtsrath«, rief er, indem er einen Schritt näher an den grünen Tisch trat, »wissen Sie noch, wie wir uns damals bei dem Leichenbegängniß des Lieutenants Bergdorf in dem Wirthshaus an der Straße getroffen haben? Ja freilich, Sie müssen das wissen! Es war ja damals, wie man Sie gerade abgesetzt hatte und wie Sie mit den blauen Brillen herumgeschlichen sind. Sie glauben mir gewiß aufs Wort, daß ich damals nicht mit Ihnen getauscht hätte. Jetzt hat sich das Alles verändert: Sie sind wieder obenauf, ich bin ganz unten und werde durch den Koth gezogen, aber das sage ich Ihnen gerade heraus ins Gesicht: ich tausche doch noch nicht mit Ihnen.«
Der Gerichtsrath schien nach einer Erwiderung zu suchen, aber er fand das geeignete Wort nicht, dem kühnen Aufrührer treffend zu entgegnen. »Frechheit ohne gleichen!« murmelte der General, aber auch nicht so laut, als er sonst seine Bemerkungen auszusprechen gewohnt war. Es war etwas in dem Wesen des schlichten Bürgers, was den hochgestellten Richter wie den barschen Soldaten einschüchterte. Einen Augenblick herrschte peinliche Stille in dem Zimmer; nur der Schreiber kritzelte absichtlich sehr laut mit der Feder, damit doch etwas zu hören sein sollte; er hatte den Kopf ganz auf sein Protokoll heruntergesenkt, als wollte er zeigen, daß er durchaus nichts gehört und jedenfalls keine Silbe von den verwegenen Worten des Rebellen verstanden habe.
Der Schall von hin und wieder laufenden Schritten unterbrach die Pause. Zugleich ließen sich rufende Stimmen in den Gängen vernehmen. Im Vorzimmer wurde laut und immer lauter durcheinander gesprochen. »Sehen Sie, was es gibt!« rief der Gerichtsrath, die Gelegenheit schnell ergreifend, dem Schreiber zu; aber ehe dieser zur Thür gelangen konnte, flog selbe auf, und der Korporal stand mit der Meldung auf der Schwelle, daß die Gefangene, welche eben jetzt hätte vorgeführt werden sollen, nicht zu finden sei.
Bleich wie die Wand stand der Thorwart hinter ihm und sah in das zornig aufflammende Gesicht des Generals. »Es ist mir ganz unbegreiflich«, stammelte er. »Die Gefangene war ziemlich schwer erkrankt und deshalb auf Anordnung des Doctors in die Krankenkeuche gebracht worden, welche ein großes Fenster und Luft und Licht hat. Die Gitter am Fenster sind ganz unverletzt, aber die Thür war offen, und im Vorhängschlosse steckt der Schlüssel. Es ist mir ganz unbegreiflich, wer mir den Schlüssel gestohlen haben kann, und noch weniger verstehe ich wie sie aus dem Schloß gekommen ist.«
»Wie könnte derlei vorkommen«, tobte der General, »wenn Er Seine Schuldigkeit thäte? Seine Schuldigkeit wäre es gewesen, die Schlüssel gehörig zu verwahren.«
»Ich thue mein Möglichstes, Excellenz«, sagte der Thorwart, »und habe die Schlüssel in meiner Stube an einem Platze verwahrt, wo so leicht Niemand dazu kommen kann. Es scheint aber, als ob der stumme Bube, den ich mit Ihrer Erlaubniß in Dienst genommen habe, die Hand im Spiel gehabt; der allein hätte sich in das Zimmer schleichen können, und jetzt ist er nirgends zu finden, ist also wahrscheinlich mit der Gefangenen entflohen.«
»Seh' Er sich vor!« rief der General »Ich werde aufs strengste untersuchen, und wenn Ihm eine Versäumniß zur Last fällt, soll Er Seiner Strafe nicht entgehen. Wenn Er keine Spur findet, wie die Gefangene aus der Festung kommen konnte, so will ich einmal selbst gehen und will Ihn suchen lehren. Sorge Er für Beleuchtung! Einige Mann von der Garnison und von der Dienerschaft sollen mich begleiten! Lassen Sie sich nicht aufhalten!« fuhr er dann zu dem Gerichtsrath gewendet fort. »Ich werde bald wieder hier sein und will nur zeigen, daß die Festung unter meinem Commando kein Taubenschlag ist, sondern eine Mausfalle, zu der es wohl einen Eingang, aus der es aber keinen Ausgang gibt. Wer ist die Entflohene?«
Der Gerichtsrath trat zu ihm hin. »Cäcilie Will«, sagte er, »eines Webers Tochter aus der Residenz. Sie ist angeschuldigt, den Lieutenant Bergdorf beim ersten Aufstand durch einen Schuß von der Barrikade verwundet und, da er an den Folgen dieser Wunde gestorben ist, einen Mord begangen zu haben, auf welchen sich begreiflich die später erlassene Amnestie nicht erstrecken konnte. Es hat Niemand von der That etwas gewußt, allein die Person, welche von äußerst wilder und trotziger Gemüthsart ist und selbst mitunter an Geistesstörung zu leiden scheint, hat sich selbst verrathen. Es wird der Gerechtigkeit nicht viel daran liegen, wenn ihr dieses Opfer entgeht. Gehen Sie indessen immer hin, General, sie aufzusuchen! Ich werde mich in der Zwischenzeit mit einer wichtigern Persönlichkeit beschäftigen und mir den Exminister und Exprofessor vorführen lassen.«
»Thun Sie das!« erwiderte der General ebenfalls vertraulich. »Ich komme bald wieder, um daran Theil zu nehmen. Es ist schade, daß es keine Folter mehr gibt. Bei diesem Menschen käme es mir nicht darauf an, einmal eine Schraube etwas fester anzuziehen.«
Die Schritte der sich Entfernenden verloren sich allmälig, die Stimmen verhallten; nur einige von den Soldaten waren zur Bewachung im Vorzimmer geblieben. Es währte nicht lange, so trat Führer, von zwei Gerichtsdienern bis an die Thür geleitet, ins Verhörzimmer; er trug einen für die Jahreszeit etwas kühlen und ihm auch viel zu weiten gelben Oberrock aus sommerlichem Stoffe.
»Angeklagter Führer!« begann der Gerichtsrath, indem er den sich ruhig und würdevoll Verbeugenden durch eine Handbewegung einlud, sich auf den für die Gefangenen bestimmten hölzernen Stuhl niederzulassen, »ich habe Sie vorführen lassen, um Ihnen nochmals zu eröffnen, daß die gegen Sie geführte Untersuchung geschlossen ist und die Acten zum Spruche reif sind. Dessenungeachtet ist man allerhöchsten Orts nicht abgeneigt, Ihnen noch eine Gelegenheit zu geben, offen Ihre Verirrung zu bekennen, Ihre Mitschuldigen namhaft zu machen, den Plan, den Ort und alle Nebenumstände der Verschwörung zu entdecken und dadurch dem Gerichte die Möglichkeit zu geben, auch fürder gegen Sie die Gnade walten zu lassen, die man so gern walten lassen möchte.«
»Wenn das die Ursache ist«, entgegnete Führer, indem ein heiteres, fast ironisches Lächeln über sein von der Gefängnißluft etwas fahl gewordenes Antlitz flog, »dann bedaure ich, daß Sie sich noch einmal bemüht haben, und beklage lebhaft, die Meinung, welche man, wie Sie sich auszudrücken belieben, allerhöchsten Orts von mir hat, nicht rechtfertigen zu können. Soviel man mir gesagt hat, stehe ich hier vor Gericht; von einem Gerichte erwarte ich mein Recht und kann es um so getroster, als ich mir eines Unrechts nicht bewußt bin. Ich bedarf also keiner Gnade und mache auch keinen Anspruch auf diese.«
»Sophistereien, Spitzfindigkeiten«, entgegnete, geringschätzig der Richter, »wie sie vielleicht auf dem Katheder den Beifall der leicht geblendeten Jugend erwirken können; hier sind sie nicht am Platze, dem Richter gegenüber, dessen traurige Aufgabe es geworden ist, die Thatsachen, welche jeder Verbrecher geheim halten will, ans Licht zu bringen und den Widerstrebenden trotz seines Leugnens zu überführen.«
»So lösen Sie denn Ihre Aufgabe! Ueberführen Sie mich!« sagte Friedrich, und das Lächeln zuckte stärker um seine Lippen.
»Das werde ich. Angeklagter bleibt demnach dabei, daß er dem Gerichte keinerlei Eröffnung zu machen habe?«
»Ich bleibe dabei; vielmehr bin ich es, der eine Eröffnung erwartet, nämlich darüber, wie man meine völlig grundlose Verhaftung und Gefangenhaltung zu rechtfertigen gedenkt.«
»Lassen Sie diese Winkelzüge!« rief der Richter unmuthig. »Sie wissen nur zu gut, daß Sie beschuldigt sind, die unlängst in der Hauptstadt wegen der Zurücknahme einiger allerhöchsten Maßnahmen ausgebrochenen Unruhen angestiftet, unterstützt und sogar geleitet zu haben. Sie widersprechen nicht, am fraglichen Tage in der Stadt gewesen zu sein, und sind doch nicht im Stande, Ihre Anwesenheit daselbst in genügender Weise zu erklären.«
»Wie?« fragte Führer verwundert. »Ist der Ort, an welchem man mich gefunden, nicht eine vollständig genügende Erklärung? Sie selbst haben mich am Sterbebette meiner Mutter verhaftet, welche wenige Augenblicke vor Ihrer Ankunft den letzen Athemzug verhaucht hatte.«
Der Gerichtsrath blätterte in den Acten und beugte das Gesicht tief darauf nieder, als ob er emsig etwas suche. »Es will aber verlauten«, sagte er, »daß Sie schon zuvor in der Stadt gewesen seien und zwar an einem andern Orte, und daß Sie erst, als die Rebellion niedergeworfen war, und lediglich zu Ihrer Rettung sich an den bezeichneten Ort geflüchtet haben.«
»Beide Behauptungen sind Lügen«, erwiderte Führer ruhig. »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich auf die mir von Freundeshand zugekommene Nachricht von der schweren Erkrankung meiner Mutter meinen in der Schweiz gewählten vorläufigen Aufenthaltsort verließ. Ich habe Ihnen die Richtung bezeichnet, in der ich reiste; ich habe Ihnen gesagt, daß ich gegen Abend auf dem Posthause zu Laufendorf von jener Richtung her ankam, daß ich auf Pferde warten mußte und deshalb erst spät in der Stadt eintraf. Ohne Zweifel sind seit meinen letzten Vernehmungen diese Umstände erhoben worden und müssen sich als vollkommen wahr erwiesen haben.«
»Das Gericht«, sagte Weber, indem er das Gesicht noch tiefer in den Acten vergrub, »kann sich nicht damit befassen, sich in das Gewebe von Ausflüchten einzulassen, wodurch der Angeklagte die Sache lediglich verwirren möchte, um so weniger, als das gerade Gegentheil dessen, was er vorbringt, durch Zeugen dargethan ist.«
»Durch Zeugen?« rief Friedrich verwundert. »In der That, es gelingt Ihnen zum ersten Male, mich zu überraschen; denn ich erinnere mich nicht, daß in dem ganzen bisherigen Gange der Verhandlungen jemals von Zeugen die Rede gewesen ist.«
»Sehr einfach«, sagte Weber barsch. »Das kommt daher, daß die Zeugen erst jetzt aufgefunden werden konnten.«
»In der That, das begreife ich«, entgegnete Führer mit Hohn; »es muß mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden gewesen sein, solche Zeugen zu finden! Ich kenne nun zwar die Formen nicht, nach welchen das Ausnahmegericht, vor welchem ich stehe, verfährt, allein vielleicht dürfte es gegen dieselben nicht verstoßen, wenn ich verlange, daß der Zeuge dem Angeklagten gegenübergestellt werde?«
»Das kann geschehen«, erwiderte der Gerichtsrath, indem er sich mit allem Anschein kühler und besonnener Unbefangenheit erhob. »Ziehen Sie die Klingel, Schreiber! Lassen Sie den Zeugen eintreten!«
Nach einigen Augenblicken trat derselbe ein; es war der Schreiber Billinger, viel feiner gekleidet und besser aussehend als früher, aber mit demselben verlebten Ausdruck in Gesicht und Haltung; seine Züge waren noch wüster als sonst, sein Blick noch matter und scheuer geworden. Die Hände faltend, die Augen zu Boden gesenkt, stand er und wartete des Kommenden.
»Sie kennen diesen Mann?« fragte der Gerichtsrath. »Ist es derselbe, den Sie bei Ihrer dem Gerichte gemachten Anzeige im Sinne hatten? Ich erinnere Sie daran, daß Sie Ihre Aussage beschworen haben, seien Sie daher eingedenk, daß es Ihre Pflicht ist, die ganze Wahrheit zu sagen, ohne Gunst und ohne Haß, ohne Ansehen der Person; und nun wiederholen Sie dem Angeklagten in das Angesicht, wo Sie denselben am Tage des letzten Aufstandes in der Hauptstadt gesehen haben!«
»Sprechen Sie ungescheut!« sagte Friedrich, da der Zeuge etwas zu zögern schien. »Ich bin selbst begierig, Ihre Wahrnehmungen zu erfahren.«
»Es war ungefähr um drei Uhr nachmittags«, begann Billinger mit etwas unsicherem Tone.
»Also um drei Uhr!« unterbrach ihn der Untersuchungsrichter. »Hören Sie das, Angeklagter? Also lange vor der Zeit, zu welcher Sie auf der Post zu Laufendorf gewesen sein wollen. Doch fahren Sie fort, Zeuge!«
»Ich hatte in meinem Stübchen gesessen«, begann dieser wieder, »und eifrig geschrieben, als ich durch den Lärm auf der Straße aufgeschreckt wurde und aus Neugierde auch hinunter lief, um zu sehen, was es denn gebe. Der Hauptlärm war über den Domplatz und gegen das Brückenthor hin. Dort, hieß es, würden Barrikaden gegen die anrückenden Truppen gebaut, und da ich so etwas noch nie gesehen habe, lief ich auch hin und sah einige Augenblicke zu, wie denn das gemacht werde. Da sah ich auch diesen Herrn unter den Aufrührern stehen; ich sah, wie er anordnete, wie die Balken gelegt werden sollten, und hörte, wie er sagte, wenn die Feinde kämen, sollte man die Gewehre, die alle meistens den Hochschuß hätten, nur immer ein paar Zoll unter der Brust halten, dann ginge jeder Schuß mitten durch das Herz.«
»Seltsam!« sagte Führer gelassen. »Das Alles haben Sie gehört und gesehen, und Sie glauben nicht, daß Sie sich geirrt, daß Sie die Person verwechselt haben?«
»Nein, nein«, rief Billinger, indem er ihm einen tückischen, haßvollen Seitenblick zuwarf. »Ich kenne Sie schon, Herr Professor; ich habe Sie mir nur zu gut gemerkt.«
»Das scheint sich allerdings zu bewähren«, begann Führer wieder. »Wenn ich nicht irre, bin ich Ihnen schon bei dem ersten Aufruhr begegnet und hatte damals Gelegenheit, Sie aus den Händen eines wüthenden Volkshaufens zu befreien, der in Ihnen einen Spion entdeckt zu haben glaubte. Doch da Sie so genaue Wahrnehmungen machen konnten, müssen Sie doch recht nahe an der Barrikade gestanden haben.«
»Gewiß, gewiß«, rief der befangene Zeuge in großer Hast, »so nahe, daß ich Sie fast mit den Händen hätte greifen können. Wenn Sie sich nur umgesehen hätten, hätten Sie mich auch bemerken müssen.«
»In der That, ich wundere mich, daß das nicht geschehen ist«, sagte Friedrich, indem er den Zeugen durchdringend ansah, welcher völlig verwirrt zu werden begann, als er gewahrte, daß der Angeschuldigte selbst auf seine Erzählung einging. »Doch denke ich noch immer, daß ein Irrthum möglich gewesen sein könnte. Woran haben Sie mich denn erkannt?«
»Woran?« lachte Billinger, indem er Trotz und Keckheit zusammenraffte. »An Allem! Ich habe Sie ja oft genug gesehen! Vor Allem aber an Ihrem hellen Rocke; der hat ja über Alles herausgeleuchtet.«
»So?« erwiderte Führer, indem er sich stolz erhob und gegen den Gerichtstisch vortrat. »Damit, mein Herr, dürfte der Zeuge und seine Aussage wohl erledigt sein.«
»Wie so?« fragte Weber, der nicht sogleich begriff, mit weit aufgerissenen Augen.
»Der Zeuge«, fuhr Führer mit triumphirender Ruhe fort, »will mich an diesem meinem hellfarbigen Rock erkannt haben. Sie haben mich verhaftet, mein Herr; Sie wissen, daß ich vom Kopf bis zum Fuße schwarz gekleidet war, Sie selbst haben mich in diesem schwarzen Anzug hierher gebracht. Aller Verkehr nach außen ist mir, seit ich mich hier befinde, unmöglich gemacht; der helle Ueberwurf aber, den ich auf der Barrikade getragen haben soll, stammt aus der abgelegten Garderobe des Herrn Commandanten und ist mir nur geliehen, damit ich nicht in meinem Gefängnißkittel vor Ihnen erscheinen mußte.«
Der Gerichtsrath war keiner Erwiderung fähig; er wechselte die Farbe, der Zeuge aber begann zu zittern, daß er sich am Tischrande halten mußte. »Kann ich vielleicht abtreten?« stammelte er, während die Feder des Schreibers wieder hörbar kritzelte. Wortlos nickte der Richter.
»Auch meiner bedürfen Sie wohl nicht mehr«, rief Führer, indem er sich in ganzer Manneshöhe aufrichtete. »Nach diesem Vorgange werden Sie mich wohl nichts mehr zu fragen haben; ich aber sage Ihnen noch eins. Geben Sie es auf, die Gewaltthat, die man gegen mich im Sinne hat, mit dem Scheine des Rechts zu bemänteln! Sie üben Gewalt, himmelschreiendes Unrecht. Nun denn, wenn Sie den Muth dazu haben, so seien Sie wenigstens auch ehrlich genug, es einzugestehen!«
Der Gerichtsrath bewegte die Lippen, aber es kam kein Wort zum Vorschein; es war ihm wie die Erscheinung eines Engels, als ohne Pochen und sonstiges Anzeichen die Thür aufging und van Overbergen's schlanke Gestalt in derselben erschien. »Ich höre«, sagte er, mit ausgesuchter Artigkeit grüßend, »daß Sie eben in einer Unterhaltung mit dem Herrn Minister begriffen sind. Sie wissen, daß auch ich ein Wort mit demselben zu sprechen habe. Vielleicht ist es Ihnen genehm, mir jetzt eine Unterredung mit ihm unter vier Augen zu gestatten?«
Wie von einem Marterstuhle losgekettet, sprang der Gerichtsrath auf und rief dem Schreiber zu: »Gehen Sie hinaus, Kleemann, und sehen Sie, was es mit der entsprungenen Cäcilie Will für eine Bewandtniß hat. Auch ich will nachsehen, welche Entdeckungen der Herr Commandant vielleicht inzwischen gemacht hat. Der Angeklagte Führer«, sagte er, sich entfernend, zu Overbergen, »ist ganz zu Ihrer Verfügung, mein Herr. Ich wünsche nur, daß Ihre Worte auf sein verstocktes Gemüth bessern Eindruck machen als die meinigen.«
»Ich zweifle nicht daran«, sagte Overbergen, indem er mit aller gewinnenden Offenheit, welche ihm zu Gebote stand, zu Führer trat und ihm die Hand bot. »Ich denke allerdings den Ton zu treffen, welcher bei diesem Manne anklingen soll, damit er erkennt, daß es ein Freund ist, der zu ihm redet.«
»Ein Freund, mein Herr?« entgegnete Führer, indem er zurücktrat und die dargebotene Hand abwies.
»Ich gestehe, daß diese Eröffnung mich noch mehr überrascht als die vom Herrn Gerichtsrath so eben gemachte. Sie müssen sehr gering von meinen Fähigkeiten und meiner Thätigkeit als Staatsmann denken, wenn Sie mich an die Freundschaft des Mannes glauben machen wollen, den ich als meinen entschiedensten und gefährlichsten Feind kenne.«
»Dennoch halte ich es für möglich, Sie davon zu überzeugen«, begann Overbergen wieder. »Ich bin ein Feind der Grundsätze, die Sie vertreten und üben – könnte ich deshalb nicht doch der Freund des Mannes sein, der sich dazu bekennt?«
»Nein«, sagte Friedrich fest. »Wenigstens nach meinen Begriffen ist der Mann mit seinen Grundsätzen eins; sie lassen sich nicht von einander ablösen, wie etwa Schale und Kern.«
Overbergen sah ihn kopfschüttelnd und mit einem Lächeln an, in welchem sich Mitleid mit Bewunderung zu mischen schien. »Junger Mann«, rief er, »wem sagen Sie das? Leben Sie wirklich noch in solchen Wahngebilden? Ich weiß wohl, daß diejenigen nicht unglücklich sind, welche es vermögen, noch in ihnen zu leben, aber dadurch, daß ein Wahngebilde schön ist, hört es nicht auf, ein Wahngebilde zu sein, und was Sie aussprechen, ist nach der täglichen Erfahrung nichts als eine schöne Täuschung! Der Mensch ist vergänglich und darum auch veränderlich. Die Wissenschaft beweist Ihnen, daß Sie mit jedem Augenblicke körperlich ein Anderer sind und werden, und nur das geistige Wesen wollen Sie für unwandelbar erklären? Ich für meinen Theil habe es längst aufgegeben, an Ueberzeugungstreue zu glauben, weil ich nicht an eine Ueberzeugung glaube. Meinung ist Alles. Ich habe es zu oft erlebt, daß dasjenige, was heilige Ueberzeugung genannt wurde, in kurzer Zeit ins Gegentheil umschlug und daß dann die Aenderung zu einer neuen, noch heiligern Ueberzeugung wurde. Ich habe Manchen kennen gelernt, der später weder begreifen konnte, noch erinnert sein wollte, daß er jemals einer andern Ueberzeugung angehört habe.«
»Ich bin nicht gesonnen«, erwiderte Führer, »mit Ihnen zu rechten, mein Herr. Hier ist nicht der Ort, um allgemeine Grundsätze aufzustellen. Ich bleibe bei den meinigen; wenn Sie also in dem angedeuteten Sinne mit mir zu sprechen haben, so bitte ich, sich jede Mühe zu ersparen; sie wäre doch vergeblich.«
»Warum doch diese Schroffheit?« rief Overbergen mit erkünstelter Wärme. »Auch ich denke nicht daran, mit Ihnen über Grundsätze zu streiten; die Zeit dazu dürfte einem von uns beiden auch wohl zu kurz werden. Aber mit dem Staatsmann möchte ich ein Wort sprechen, mit dem vernünftigen Manne, der sich gewiß keine Aufgabe stellt, von der er sich insgeheim selbst gestehen muß, daß sie zu erfüllen ein Ding der Unmöglichkeit ist.«
»Zählen Sie«, fragte Führer, »die Erfüllung der Aufgabe, die ich mir gestellt, zu den Unmöglichkeiten?«
»Ja«, entgegnete Overbergen fest. »Ich will, wie gesagt, mit Ihnen nicht streiten, ich will Ihnen sogar zugeben, daß Ihre Grundsätze in gewissem Sinne edel, Ihre Absichten redlich sind, daß Sie Gutes stiften wollen, aber warum soll ich vor Ihnen nicht offen reden? Sie stehen einer Macht gegenüber, einer unsichtbaren Macht, welche nicht will, daß Ihre Grundsätze die herrschenden werden, daß das Gute, welches Sie stiften wollen, auf Ihre Weise und durch Sie gestiftet werde! Diese Macht will es selber schaffen, will es in ihrem Sinne, im großen, umfassenden Sinne der Weltherrschaft schaffen, und diese Macht ist jetzt schon nahezu unwiderstehlich, sie wird bald alle Gewalt offen und verborgen an sich gebracht haben, und wenn ihr das auch nicht gelänge, besitzt sie immerhin doch Kraft genug, Ihr und Ihrer Genossen Werk jederzeit wieder zu stören, zu vernichten oder auf Jahrzehnte hinaus zu untergraben. Sie kämpfen also vergeblich und müssen das einsehen. Darum widersprechen Sie nicht sich selbst und Ihrer ruhigern Einsicht und geben Sie den vergeblichen Kampf auf!«
»Augenblicklich, sobald Sie mir bewiesen haben, daß er wirklich vergeblich ist, daß der Sieg unter allen Umständen Ihnen werden muß.«
»Das will ich; eine einfache Beobachtung genügt zu diesem Beweise. Sie und diejenigen, welche denken wie Sie, haben zu allen Zeiten Vorbilder gehabt; zu allen Zeiten gab es Männer, welche ihrer Zeit voraus waren, welche für die Befreiung ihrer Zeit, für die Erhebung ihrer Zeitgenossen kämpften, aber zu jeder Zeit sind sie auch unterlegen, und was ihnen zu schaffen gelang, ist mit ihnen oder kurz nach ihnen wieder mehr oder minder in Trümmer gefallen. Das ist geschehen weil es Einzelne sind, weil Jeder in jedem Zeitraum nur für sich streitet und leidet, und weil Jeder das alte Werk beinahe von vorn beginnen muß. Wir stehen diesen Bestrebungen seit Jahrhunderten in einer festgeschlossenen Genossenschaft gegenüber, in einer Genossenschaft, die nicht stirbt, in welcher der Einzelne nichts gilt, sondern nur die Sache, die jeden Fußbreit, den wir offen zu weichen gezwungen sind, im Stillen dreifach wieder gewinnt. Die Berechnung ist klar und der Sieg für uns nur eine Frage der Zeit, Zeit aber haben wir, weil wir für die Ewigkeit bauen. Sie schweigen? Sie haben mir nichts zu erwidern?«
»Nichts«, entgegnete Führer ernst, »als daß es traurig wäre, wenn Sie Recht hätten, sehr traurig; denn dann wäre das Leben nicht der Mühe werth, auch nur einen einzigen Athemzug zu thun.«
»Warum doch?« rief Overbergen eifrig. »Gewinnen Sie es nur einen Augenblick über sich, und wäre es auch nur der Prüfung wegen, sich auf unsern Standpunkt zu stellen, und das Leben wird Ihnen sofort in ganz anderem, im einzig richtigen Lichte erscheinen! Sie werden ein unabsehbares Feld der uneingeschränktesten Thätigkeit vor sich haben, Sie werden die Möglichkeit erblicken, alle Ihre schönen Wahngebilde oder Ideale zu verwirklichen, freilich in etwas anderem Sinne und nach anderem Plane, aber doch im Grunde dieselben Ideale! Denken Sie nicht, daß man von Ihnen einen plötzlichen Umschwung verlangt, daß man Ihnen zumuthet, plötzlich von Ihrer Ueberzeugung abzugehen, Ihre Partei aufzugeben. Uns ist es genug, wenn Sie nicht gegen uns sind. Enthalten Sie sich denn des Kampfes, wenn Sie nicht für uns sein können! Es wird eine Zeit kommen, in welcher die ausgezeichneten Kräfte, womit der Himmel Sie ausgerüstet hat, dennoch ihre Früchte tragen und auf dem rechten Felde.«
»Sie verschwenden Zeit und Worte«, sagte Führer, sich erhebend. »Ich habe mir mein Leben lang vorgenommen, das zu sein, als was ich mich zeigte. Nach Ihrer Auffassung müßte ich lernen, etwas zu scheinen, was ich nicht bin und nicht sein will; das überhebt mich der Antwort. Ich diene der Lüge nicht, weder der offenen noch der geheimen. Wenn aber wahr wäre, was Sie behaupten«, fuhr er wärmer werdend fort, »wenn Ihrer Partei der endliche Sieg bestimmt wäre, dann ist es unser Triumph, Ihnen diesen Sieg wenigstens so lange als möglich zu erschweren und jede Sekunde der Verzögerung ist durch das Leben und die Kraft von tausend Männern gleich mir nicht zu theuer bezahlt.«
Overbergen sah ihn einen Augenblick ruhig und durchdringend an. »Sie sind halsstarriger, als ich Sie zu finden gedachte«, sagte er dann mit Achselzucken. »Unter diesen Umständen habe ich auch wenig Hoffnung, Sie einem andern Vorschlag geneigter zu finden, welcher die eigentliche Ursache ist, die mich zu Ihnen führt. Was ich Ihnen bis jetzt gesagt, mag auf Rechnung der persönlichen Theilnahme kommen, die ich für Sie hege –«
»Lassen Sie hören!«
»Sie werden mir zutrauen«, fuhr jener näher tretend fort, »daß ich Ihnen gegenüber und unter vier Augen nicht daran denken kann, das Gaukelspiel eines gerichtlichen Verfahrens aufrecht zu erhalten, das man gegen Sie ins Werk gesetzt – hier ist nicht von Recht und solchen Erwägungen die Rede. Was geschah und geschehen mußte, ist lediglich nach den Umständen als eine Maßregel der unabweislichen Nothwendigkeit zu beurtheilen. Ich bin deshalb an Sie gesendet, um Sie zur Abgabe einer Erklärung zu bestimmen.«
»Einer Erklärung?«
»Oder eines Versprechens, wenn Sie das lieber wollen. Man empfindet an gewisser Stelle sehr unangenehm die Art und Weise, wie Ihre Verbindung mit Seiner Durchlaucht dem Herzog sich gelöst hat. Man wünscht an diesem gewissen Orte über die fraglichen Vorgänge den Schleier des vollkommensten Geheimnisses gebreitet zu sehen.«
»Das wird kaum möglich sein«, entgegnete Führer. »Soviel ich weiß, ist das Geheimniß schon ziemlich durchlöchert und nicht von meiner Seite, der ich aus nahe liegenden Erwägungen die Verbreitung selbst nicht wünschen kann.«
»Alles, was bis jetzt über die Sache verlautet hat«, fuhr Overbergen fort, »ist ein leeres Gerede, das sofort verstummt, wenn ihm der Halt genommen, wenn ihm eine bestimmte Erklärung entgegengesetzt werden kann, die Erklärung, daß es nur politische Gründe gewesen seien, welche Ihr Zerwürfniß und Ihren Rücktritt herbeigeführt. Geben Sie uns das Versprechen, daß Sie diese Erklärung zu der Ihrigen machen und immer dabei bleiben wollen!«
Friedrich stand einen Augenblick sinnend mit untergeschlagenen Armen. »Nein«, sagte er dann; »ich bin gern bereit, über die ganze Sache zu schweigen, aber ich kann nicht wissen, welche Fälle eintreten könnten, Fälle, in welchen meine Ehre es forderte, daß die Wahrheit nicht verschwiegen bliebe. Ich kann mich daher weder durch eine solche Erklärung noch durch das verlangte Versprechen binden; ich diene der Lüge nicht, weder der offenen, noch der geheimen.«
»Bedenken Sie wohl!« sagte Overbergen nachdrücklich. »Ehe Sie sich entscheiden, sollten Sie doch erst fragen, um welchen Preis –«
»Um jeden Preis!« rief Führer feurig.
»Um jeden? Das ist ein umfangreiches Wort, mein Herr! Man ist weit gegen Sie vorgegangen, so weit, daß man vielleicht nicht mehr zurückkann, wenn Sie nicht selbst die Hand zum Einlenken bieten. Wenn Sie nicht so sprechen wollen, wie man von Ihnen verlangt, wenn Sie über das nicht schweigen wollen, was man verschwiegen haben will, dann wäre man gezwungen, auf Mittel zu denken, die Ihnen das Sprechen überhaupt unmöglich machen.«
»Ich verstehe«, sagte Führer ernst »Man will mich in ewigem Kerker begraben. Ich habe so etwas erwartet und habe es versucht, mich mit diesem Gedanken vertraut zu machen, die Wirklichkeit wird mich gefaßt finden.«
»Sie könnten sich irren«, begann Overbergen mit steigendem Tone. »Riegel und Schlösser sind mitunter unzuverlässige Bundesgenossen. Es gibt ein anderes Mittel, das sicherer und unfehlbar wirkt.«
»Wäre es möglich?« rief Führer erschüttert. »Man denkt an meinen Tod? Man wagte wirklich so weit zu gehen? Das habe ich allerdings nicht erwartet; ich habe nicht gedacht, daß mein Leben so bald, daß es auf solche Weise zu Ende gehen soll! Aber was habe ich vom Leben noch zu erwarten? Was ich gesollt, hab' ich gethan, ich lasse Niemand zurück, der mein Verschwinden aus der Reihe der Lebenden als eine Lücke betrauern wird. Thun Sie denn Ihr Aeußerstes! Ich bleibe bei meinem Entschlusse; vollziehen Sie den Ihrigen!«
»Das werden wir«, rief Overbergen mit feierlichem Ernst. »Täuschen Sie sich nicht darüber! Das werden wir.«
Er verschwand. Nach wenigen Augenblicken erschien der Schließer, um Führer wieder in den Kerker zurückzugeleiten.
Indessen hatte der Commandant mit seiner Begleitung die untern Festungsräume und Kasematten, wo Cäcilie Will gefangen gehalten worden, begangen und bald gefunden, daß die Flucht auf keinem andern Wege als durch das unbeachtete Gewölbe und von da durch den Kanal bewerkstelligt sein mußte. Er ergoß sich in eine Flut von Zornesworten über die unbegreifliche Nachlässigkeit, daß die Pforten des Gewölbes nicht abgeschlossen worden; er gab Befehl, diese Versicherung sogleich anzubringen, und wich nicht von der Stelle, bis in seiner Gegenwart durch den Schlosser des Hauses die Thürbänder zurecht gemacht und ein schweres Schloß vorgehängt war. Den Schlüssel übergab er dem Thorwart. »Seh' Er sich den Schlüssel wohl an!« sagte er. »Ihm ist er anvertraut, Er hat dafür zu sorgen und zu haften. Ich will es diesmal dahingestellt sein lassen, ob Er unschuldig ist und nicht für den Ausbruch kann, aber das sag' ich Ihm, wenn wieder etwas Derartiges vorkommt, so ist es Sein Letztes und wenn ich selbst Ihm den Degen in den Leib rennen müßte.«
Der Unmuth des Generals wurde etwas durch die Meldung abgeleitet, daß die Entflohenen gefunden worden seien. Die Wache hatte bei dem Ausblick über die Mauer ein paar menschliche Gestalten im überschneiten Moor wahrgenommen und davon Anzeige gemacht; eine Abtheilung Soldaten war hinausgeeilt und hatte die Beiden, leblos und erstarrt vor Kälte, auf einem Handschlitten in die Festung geschafft. Der General trat eben in den Hofraum, als der Zug ankam. »Also hat ihr richtig der Bub' fortgeholfen!« rief er. »Dafür soll er einen Denkzettel erhalten, an dem er sicher zu tragen hat. Wie steht's mit den Beiden?« wandte er sich gegen den herbeigerufenen Arzt der Besatzung. »Wenden Sie alle Mittel an, sie ins Leben zurückzurufen und für die Strafe empfindlich zu machen, die ihrer wartet!«
Der Arzt, ein alter Mann mit ernstem, würdigem Angesicht und fast ganz kahlem Haupt, faßte ruhig Cilly's Hand, beugte sein Ohr zu ihrer Brust herab, um den Herzschlag zu behorchen, und ließ dann die erstarrte Hand ruhig wieder zurückgleiten. Bei Richard war seine Untersuchung noch viel kürzer. Er hatte ihm die Halsbinde gelüftet und Schläfe und Brust mit dem Flügel seines Rockes gerieben. »Bei dem Frauenzimmer«, sagte er dann, »ist mein Geschäft zu Ende, die hat's überstanden. Ich will zwar noch einen Versuch machen, um meine Schuldigkeit zu thun, aber ich weiß voraus, daß es vergeblich ist; den Knaben aber hat seine Jugendkraft erhalten. Das Herz schlägt noch; er braucht nur etwas Ruhe und Wärme und wird sich bald vollständig erholt haben.« Das Reiben hatte wirklich auch schon genügt, um in Richard's jugendlichem Körper den Kreislauf des Blutes neu zu beleben; nach wenigen Augenblicken schlug er die Augen auf und blickte verwirrt und unsicher um sich; als er aber die Umstehenden gewahrte, sprang er trotz der Erstarrung in die Höhe, blickte um sich und warf sich dann mit lautem Jammerschrei auf Cäcilie. »Mutter! Mutter!« rief er in ergreifendem Tone. »Da sind wir wieder in Deinem Gefängniß, und es ist Alles umsonst gewesen!«
»Man sehe den ausgesuchten Bösewicht!« rief der General. »Er spricht auch ganz geläufig; also hat er sich nur stumm gestellt und hat sich hier eingeschlichen blos um sie zu befreien. Der Bube gehört an den Galgen; aber wenigstens soll er spüren, was er gethan hat. Fort mit ihm, der Stock des Profoßen soll ihn lehren, wie ich auf solche Späße antworte!«
Die Soldaten standen einen Augenblick zögernd; beim Anblick der Leiche und des kaum erst ins Leben zurückgekehrten Knaben schienen sie eine Wiederholung des Befehls abwarten zu wollen, ehe sie gehorchten.
»Nun«, rief der General mit funkelnden Augen, »wird man gehorchen, oder muß ich es noch einmal sagen?«
Die Soldaten schickten sich an, Richard zu ergreifen, der sich an die todte Mutter schmiegte und mit blitzenden Augen es darauf ankommen zu lassen schien, daß man ihn mit Gewalt von der Leiche trenne. Da trat die Frau des Thorwarts in den schweigenden Kreis und stellte sich vor ihn. »Excellenz haben wohl nicht gehört, was er gesagt hat?« rief sie. »Es ist seine Mutter, wegen der er das Alles gethan hat.«
Der General wandte sich zornig nach ihr, aber als er dem fest auf ihn gerichteten Blicke der Frau begegnete, sah er sie einige Sekunden finster und schweigend an. »Die Mutter«, sagte er dann. »Nun ja, weil es die Mutter ist, mag's ihm hingehen. Lassen Sie die Leiche in die Kapelle bringen, Herr Doctor, oder in die Krankenstube, wenn Sie noch Versuche mit ihr machen wollen! Den Buben nimmt der Profoß in Verwahr. Er ist verschlagen und keck. Das gibt einmal einen tüchtigen Soldaten; er soll Tambour werden. Und jetzt keine Widerrede mehr«, rief er den Umstehenden zu, »wenn man nicht will, daß ich mein Wort zurücknehme und ihn, statt zum Trommler, zur Trommel machen lasse!«
Schweigend und rasch wurden die Befehle vollzogen. Die Anwesenden verloren sich, bald war der ganze Hofraum wieder leer.
Nur unter der Stallthür stand der krummbeinige Pferdeknecht in der Pelzmütze mit dem Kutscher zusammen, welcher den Gerichtsrath in die Festung gebracht hatte. Je abgerissener der Knecht aussah, desto stattlicher war die Erscheinung des Kutschers, der in seinem gleichfarbigen Anzug aus hellgrauem Tuche mit gelben Vorstößen, der tadellos weißen und sauber geknüpften Halsbinde und dem glatt rasirten Kinn das vollkommene Bild eines herrschaftlichen Dieners abgab, der im Bewußtsein seiner Wichtigkeit nicht verfehlt, auf sein Aeußeres die gehörige Sorgfalt zu verwenden. Als die Diener ihrer Herren und als Angehörige des Hauses hatten sich beide unbeanstandet der Schaar angeschlossen, welche bei der Untersuchung der Gänge thätig gewesen war, und waren eben davon zurückgekommen.
»Merkwürdig«, sagte der Knecht, indem er den Kutscher von der Seite ansah und eine aus dem Stalle geholte Pferdedecke auszuklopfen begann, damit der Laut der Schläge das Gespräch für etwaige unbemerkte Lauscher unverständlich mache. »Man sollte es kaum glauben, Herr Doctor, wie Sie entstellt sind. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie es sind, ich würde Sie für einen leibhaftigen Kutscher halten.«
»Es ist immer gut«, lachte der Angeredete, »wenn man im Leben Allerlei treibt; man weiß nie, wozu man etwas brauchen kann. Es kommt mir jetzt trefflich zu statten, daß ich als Bauerjunge in meiner Kindheit tüchtig gelernt habe, mit Roß und Wagen umzugehen, und daß ich als Student es nicht versäumte, mich in der edlen Kunst des Komödienspiels zu üben. Als ich vernahm, daß eine Commission nach der Festung abgehen solle, warf ich mich in dieses Costüm und ging zu dem Lohnkutscher, der nach seinem Vertrage solches Miethfuhrwerk zu besorgen hat. Er brauchte eben Jemand; so nahm er mich ohne Verdacht auf und ich bin glücklich hereingekommen.«
»Gott sei Dank, ich auch«, sagte der Knecht. »Während sie dem alten Windreuter die Steckbriefe in alle Himmelsgegenden nachschickten und ihn so genau beschrieben, daß ihn ein kleines Kind erkennen könnte, logire ich ihnen da gerade unter der Nase, sodaß sie über mich wegsehen, und habe Gelegenheit gehabt, Alles auszustudiren. Ich weiß, wo die Zelle des Herrn Professors ist, wir sind daran vorübergekommen. Es ist im untern Gange auf der linken Seite die dritte, und den Weg, wo es hinausgeht, hat uns der Bube gezeigt; aber jetzt hängt eben das vertrackte Schloß an der Thür.«
»Wir müssen den Schlüssel dazu bekommen«, sagte Riedl. »Dafür laß mich sorgen! Der Gerichtsrath will noch heute in die Residenz zurück; ich muß also mit. Aber in ein paar Tagen bin ich wieder da, oder Du erhältst sonst Nachricht von mir. Bis dahin sei auf der Hut und vergiß unsere Losung nicht! Es ist die alte, daß es Zeit sei, dem Gaul die Eisen herunterzureißen!«
»Ob ich werde«, rief der Alte, sich abwendend, und fuhr dann leise fort: »Da kommt der Halunke von Schreiber, den sie mit herausgeführt haben, daß er den falschen Zeugen macht. Wenn ich doch an dem meine Wuth auslassen dürfte, wie an der Decke da!«
Der Kutscher trat gelassen und unverdächtig in den Stall zurück. Der Knecht aber hieb auf seine Decke los, daß Billinger, welcher eben näher kam, erschreckt beiseite sprang, um nicht getroffen zu werden. »Der Herr Gerichtsrath will sogleich fort«, rief er aus der Entfernung von einigen Schritten. »Sag' es dem Kutscher, daß er Pferde und Wagen bereit hält!«
Der alte Windreuter erwiderte nichts, sondern fuhr in seiner Beschäftigung fort. Billinger, welcher glauben mochte, daß er ihn nicht gehört habe, trat lauter rufend näher und hatte im nächsten Augenblick ein paar tüchtige Hiebe weg. »Himmelelement! Kerl!« rief er, wieder zurückspringend, »gib doch Acht! Du schlägst ja mich statt Deiner Decke!«
»Ach was«, brummte der Alte. »Hab' schon gehört, was Sie gesagt haben, und werd's besorgen. Wenn Sie nicht getroffen sein wollen, so gehen Sie mir aus dem Wege! Es ist kein Streich verloren als der, der daneben geht.«